Begegnungen mit dem Transzendenten - Horst Gunkel - E-Book

Begegnungen mit dem Transzendenten E-Book

Horst Gunkel

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Beschreibung

Der Autor stellt Szenen aus seinem Leben vor, die aufzeigen, wie er zunächst verstört bemerkte, dass er hin und wieder dem Transzendenten, dem Göttlichen, begegnete. Allmählich verändert er so sein Leben und aus einem materialistisch eingestellten jungen Mann wird ein Buddhist, der sich um die Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl bemüht. Der Weg, den der Autor dabei zurücklegte, ist beileibe kein gradliniger. Als alter Mann blickt er auf diesen Weg zurück und berichtet in einzelnen Szenen daraus. Einige für seine Entwicklung zum Anhänger des Buddha und dessen Lehre relevanten Szenen aus seinem Lebensbericht sind in diesem Band abgedruckt. In diesen Szenen wurden auch ganz profane Ereignisse geschildert, denn auch in Alltag spiritueller Menschen überwiegen doch ganz alltägliche Probleme, die Horst mitunter sehr selbstkritisch beleuchet. - Teilweise finden sich Verweise auf in diesem Band nicht abgedruckte Szenen aus Horsts Lebensgeschichte, diese finden sich im Internet unter www.kommundsieh.de/Horst - Leben.html Kursiv und fett gedruckte Begriffe sind in einem Glossar am Ende des Buches erklärt.

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch

Der Autor stellt Szenen aus seinem Leben vor, die aufzeigen, wie er zunächst verstört bemerkte, dass er hin und wieder dem Transzendenten, dem Göttlichen, begegnete. Allmählich verändert er so sein Leben und aus einem materialistisch eingestellten jungen Mann wird ein Buddhist, der sich um die Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl bemüht. Der Weg, den der Autor dabei zurücklegte, ist beileibe kein gradliniger. Als alter Mann blickt er auf diesen Weg zurück und berichtet in einzelnen Szenen daraus. Einige für seine Entwicklung zum Anhänger des Buddha und dessen Lehre relevanten Szenen aus seinem Lebensbericht sind in diesem Band abgedruckt. In diesen Szenen wurden auch ganz profane Ereignisse geschildert, denn auch in Alltag spiritueller Menschen überwiegen doch ganz alltägliche Probleme, die Horst mitunter sehr selbstkritisch beleuchet. - Teilweise finden sich Verweise auf in diesem Band nicht abgedruckte Szenen aus Horsts Lebensgeschichte, diese finden sich im Internet unter http://www.kommundsieh.de/Horst–Leben.html

Kursiv und fett gedruckte Begriffe sind in einem Glossar am Ende des Buches erklärt.

Der Autor

Horst Gunkel, Jahrgang 1951, arbeitete 40 Jahre als Lehrer an einem beruflichen Schulzentrum. Er engagierte sich in zahlreichen Vereinen und Bürgerinitiativen zum Schutz des Lebens in all seinen Formen. Von 1981 bis 1995 war er in zahlreichen Gremien und zwei Regionalparlamenten aktiv. Von 1987 bis 2000 leitete er außerdem das ÖkoBüro Hanau. Anfang der 90er Jahre begegnete er dem Buddhismus und erkannte schnell, dass ein Engagement hierin (noch) wichtiger sei als sein bisheriges politisches Wirken. Er legte alle politischen Ämter nieder und setzte sich im Netzwerk Engagierter Buddhisten für ökologische, pazifistische und soziale Projekte ein. 1996 kam er zur Buddhistischen Gemeinschaft Triratna (damals: Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens), für die er zunächst in Frankfurt/M. eine Meditationsgruppe aufbaute, dann die Buddhistische Gemeinschaft Gelnhausen.

Inhaltsverzeichnis

Diogenes und der Mensch

Wie ich einmal starb

Buddha in Indien suchen

Der Großauheimer Tempel

Suche den Sangha

Was wollte mir der Engel sagen?

Jesus in der Grundschule

Klaus Wölfling

Jayacitta und die FWBO

Die Sache mit dem Rumpsteak

Nachspielzeit

Kühhude

Nachts auf dem Friedhof meditieren

Ratnasambhava erscheint

Der Vier-Stufen-Plan

Aksobhya löst meine Krise

Die Bodhisattvas von Spanien

Geheimer Ort: Guhyaloka

Von Hähnchen und Mythen

BuddhaNetz-Info & Co

Habsburger

Meditation – laut und schweißtreibend

Ein Projekt auf Zeit: MaO

Worterklärungen

Wo finden sich weitere Erzählungen?

Verzeichnis der Abbildungen

Avalokitesvara (tausendarmig)

Der Großauheimer Tempel (1997)

Scully mit Kerz´ (Vanitas-Bild)

Volksschule Großauheim (Foto von 2003)

Papst Johannes XXIII.

Die Essener Rūpa

Ratskeller Großauheim

Retreatort Kühhude (Sauerland 1996)

„Ratnasambhava“

Dharsendo in Guhyaloka (2003)

Das BuddhaNetz-Info (1998)

Schreinraum in der Habsburgerallee (Ffm 2003)

Kette des bedingten Entstehens und Spiralpfad

Inspirations- und Zufluchtsbaum von Triratna

Diogenes und der Mensch

kursiv und fett gedruckte Begriffe (wie „Horsts Lebensbericht“) sind im Glossar am Ende des Bandes erklärt

Es muss im Jahre 1956 gewesen sein, vielleicht aber auch erst 1957, ich war damals ungefähr fünf Jahre alt, und ich war krank. Wie immer, wenn das der Fall war, war mir im Wohnzimmer auf dem Sofa, das war so eine Klappcouch, wie sie in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mode war, von meiner Mutter ein Krankenlager gebaut worden. Damit es mir nicht zu langweilig wurde, hatte ich einige Bilderbücher mit in mein Krankenbettchen bekommen, und außerdem war der Radioapparat angeschaltet. Aber die Tanzlieder der fünfziger Jahre waren nicht das, was das Herz eines fünfjährigen Knaben höher schlagen ließ, und auch die Bilderbücher kannte ich nun wirklich zur Genüge.

Hin und wieder sah meine Mutter nach mir, ansonsten arbeitete sie, wie sich das damals für Mütter und Hausfrauen gehörte, in der Küche. Weiß der Himmel, was Mütter da nur immer machen müssen, aber es musste wohl eine ganze Menge sein, denn Mama hatte viiiiiiiiiiel zu wenig Zeit für mich, fand ich. Als meine Mama jedoch wieder mein Krankenzimmer betrat, bat ich wie so oft: „Du, Mama, erzähl´ mir doch eine Geschichte.“

Für´s Märchenerzählen war eigentlich mein Papa zuständig, aber da weder Sonntag noch Abend war, war der natürlich nicht zuhause, sondern auf der Oberpostdirektion, wo er als Justitiar arbeitete. Diesmal jedoch hatte ich Glück, Mutter war willens, mir eine Geschichte zu erzählen. Sie setzte sich auf mein Bettchen und ich mummelte mich behaglich in meine Federdecke. Es ist ja sooooo schön, wenn man von seiner Mama eine Geschichte erzählt bekommt!

Es war diesmal eine Geschichte aus der griechischen Antike von einem Weisen namens Diogenes, den kannte ich schon aus anderen Geschichten, die mir meine Mama bei früheren Anlässen erzählt hatte. Meine Mama kannte viele interessante historische Geschichten. Diogenes war völlig besitzlos – und glücklich. Er hatte nichts, als das, was er auf dem Leib trug, und er ernährte sich von dem, was er geschenkt bekam oder fand. Insofern lebte er so ähnlich wie der Buddha, aber das wusste ich damals natürlich noch nicht. Diogenes hatte auch (wie der Buddha) keine Wohnung und kein Haus. Diogenes schlief in einem alten Weinfass, das niemand mehr brauchte und das daher am Straßenrand lag.

Und eines Tages ging Diogenes mitten in die Stadt Sinope und dort auf den Marktplatz, so erzählte mir meine Mama. Jemand hatte ihm eine Laterne geschenkt, damit er auch bei Dunkelheit noch spazieren gehen und hinterher wieder sein Weinfass finden konnte. Nun hätte man denken können, dass Diogenes sparsam mit der Kerze, die in der Laterne drin war, umging, denn woher hätte er eine neue nehmen sollen, wenn die alte abgebrannt war? Er hatte schließlich kein Geld, um sich eine neue zu kaufen. Aber das focht den Diogenes nicht an. Er ging vielmehr mitten am helllichten Tage auf den Marktplatz – mit seiner Laterne, die Kerze darin angezündet.

„Aber Diogenes, was machst du denn am hellen Tage hier mit der Laterne?“, fragte man ihn dort.

„Ich suche etwas“, sagte der alte Weise, „und das ist sehr schwer zu finden.“

Da erboten sich ihm hilfsbereite Leute an: „Können wir dir helfen, Diogenes, was suchst du denn?“

„Nein, liebe Leute, dabei könnt ihr mir leider nicht helfen. Wisst ihr, ich suche einen Menschen – und die sind sehr rar.“

Da wunderten sich die Leute sehr: „Wie, Diogenes, einen Menschen? Keinen bestimmten, irgendeinen? Aber schau doch nur: der ganze Marktplatz ist voll davon!“

„Nein, nein“, antwortete da Diogenes, „ihr versteht mich nicht, das hier sind doch alles nur Leute. Was ich wirklich suche, ist einen Menschen, einen WAHREN Menschen!“

„Weißt du, Horst,“ sagte meine Mutter, „es langt nicht, dass man aussieht wie ein Mensch, dass man zwei Arme und zwei Beine hat, das haben alle Leute. Ein wahrer Mensch muss sich auch verhalten wie ein Mensch. Und Mensch, das heißt in der alten Sprache Latein nämlich: homo sapiens, das bedeutet auf Deutsch „der weise Mensch“. Und der Diogenes war so ein weiser Mensch. Wenn aber doch die anderen so ziemliche Dummerchen waren, eben nur „Leute“, mit wem sollte sich dann der weise Diogenes vernünftig unterhalten können? Und eben deshalb suchte er einen Menschen, einen wahren Menschen.“

Ich blieb mit fragendem Staunen in meinem Bettchen liegen, während meine Mutter wieder in die Küche ging. Ich lag wieder allein in meinem kleinen Bett, aber mir war keineswegs mehr langweilig. Ich brauchte auch keine Bilderbücher mehr und schon gar nicht mehr den blöden Radioapparat. Ich war gefesselt von Diogenes´ Weisheit! Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so da lag oder vielleicht auch saß. In mir arbeitete es. Ich weiß auch nicht mehr, wie es in mir arbeitete. Möglicherweise habe ich an diesem Tag zum ersten Mal in meinem noch frischen Leben meditiert.

Ich weiß nur noch, dass am Ende dieser Reflexion, dieser Kontemplation, dieser Meditation, was es auch immer gewesen sein mag, ein Entschluss stand. Und dieser Entschluss war so stark, war ein so Vollkommener Entschluss, dass ich das Bedürfnis hatte, ihn der Welt mitzuteilen, und dass ich daher sogar ein strenges Verbot übertrat, das Verbot, aus meinem Bettchen aufzustehen und barfuß durch die Wohnung zu laufen. Ich stieg also vom Sofa herunter, trippelte mit meinen kleinen nackten Füßchen durch die Wohnung in die Küche und verkündete dort stolz und voller Inbrunst: „Du, Mama, wenn ich groß bin, und wenn der Diogenes dann wieder mit seiner Laterne kommt, dann will ich, dass er mich sieht und erkennt: Das ist ein Mensch!“

So tief sich der Entschluss damals auch in mein Herz eingebrannt hatte, ich muss dennoch zugeben, dass ich nicht von meinem fünften Lebensjahr bis heute, da ich 70 bin, pausenlos daran gearbeitet habe, mich auf die Begegnung mit Diogenes vorzubereiten. Tatsache ist vielmehr, dass ich diese Episode für lange Zeit meines Lebens nicht nur aus den Augen verloren, sondern schlicht vergessen hatte, oder besser: dass sie ins Unbewusste abgesackt war und dort wartete, bis die Zeit reif dafür war. Das war dann Anfang der neunziger Jahre der Fall. Inzwischen schien mich für lange Zeit weniger der Diogenes zu faszinieren, sondern eher das Weinfass. Doch zu der Sache mit dem Wein zu späterer Zeit mehr, wir werden ihn leider in allzu vielen Szenen meines Lebens wieder begegnen.

Ich weiß nicht mehr, was der Anlass war, aber ich erinnerte mich zu Beginn der neunziger Jahre plötzlich wieder dieser Geschichte. Vermutlich war es einfach so, dass ich die Spielchen der Leute, also derer, die keine wahren Menschen in der Diogenes´schen Definition sind, lang genug mitgemacht hatte, und dass ich sie inzwischen satt hatte. Auf jeden Fall wollte ich jetzt wieder ein Mensch im Sinne von Diogenes sein. Und obwohl ich sicher noch weit davon entfernt war, von Diogenes als ein solcher erkannt zu werden, nahm ich diese Selbstverpflichtung an. Ich bezeichnete mich von Stund´ an als: „der Mensch“. Wenn ich also beispielsweise etwas zu meinen Kindern sagte, so hieß das jetzt nicht mehr: „Ich geh´ einkaufen“, sondern: „Der Mensch geht jetzt einkaufen!“

Und auch am Telefon, so stellte ich zu meiner Verwunderung fest, meldete ich mich nicht mehr mit meinem Namen, sondern mit: „Der Mensch!“ Das kann man nun für eine ziemliche Spinnerei, vielleicht auch für eine blöde Marotte halten, aber auf diese Weise verdeutlichte ich mir immer wieder mit meinem Denken und mit meinem Reden, wie ich handeln wollte. Und es zeigte Wirkung.

Es zeigte sogar Wirkung in einer Weise, die ich absolut nicht für möglich gehalten hatte. Ich, der seitdem ich erwachsen war, nichts mehr mit der Religion „am Hut hatte“, wie ich zu sagen pflegte, ertappte mich dabei, wie ich, wo immer ein einschlägiges Buch herumlag, darin zu blättern begann. Vielleicht suchte ich unbewusst darin einen Menschen. Ich hatte sogar in meinem Bücherschrank ein Buch über den Propheten Mohammed gefunden, das dort wohl seit zwanzig Jahren ungelesen herumstand und verstaubte. Nun las ich es und wusste dann: Nö, an dem wäre der Diogenes achtlos vorbei gegangen.

Doch dann geschah es. Ich fand ein herrenlos herumstehendes Buch mit dem Titel: „Die großen nichtchristlichen Religionen“. Also schaute ich hinein, las hier einen Abschnitt über das Judentum, dort einen über den Hinduismus und stieß schließlich auch auf einen Artikel über die Lehre des Buddha. Kaum hatte ich die „Vier Edlen Wahrheiten“ und den „Edlen Achtfältigen Pfad“ gelesen, zwei kurze Aufzählungen, die die allerwenigsten Leute irgendwie ansprechend finden würden, wenn sie diese zum ersten Mal lesen, da wusste ich: Das ist es! Der Buddha war ein wahrer Mensch. Da ist einer, den Diogenes gefunden hätte. Und das besonders Schöne: Buddha hat eine ganze Menge gelehrt. Ich fasste sofort unerschütterliches Vertrauen in den Buddha und wusste – ich bin ein Buddhist! Und der Diogenes war sicher auch auf dem Weg zur Buddhaschaft. Mein erster Schritt auf dem Pfad zur Erleuchtung war gegangen, der Schritt von dukkha (dem Wissen um die Unvollkommenheit alles abhängig Entstandenen) zu śrāddha (tiefem, unerschütterlichen Vertrauen in die Lehre).

Ich möchte diesen einführenden Abschnitt nicht schließen, ohne einen Dank auszusprechen. Einen Dank an diejenigen, die mir geholfen haben, den Pfad, den ich seitdem gehe, zu finden: dem Diogenes nämlich, Sangharakshita und – meiner Mutter!

Wie ich einmal starb?

Der Anfang dieser Szene spielt im Jahre 1996. Ich war noch nicht allzu lange auf dem Pfad unterwegs, den der Buddha aufgezeigt hatte, und ich war erst seit einigen Monaten bei der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna, die damals noch „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens“ hieß. Es war mein zweites Retreat, es dauerte 14 Tage und fand im Sauerland statt, im Retreatzentrum Kühhude. Bodhimitra leitete das Retreat, und wir wussten, dass die nächste Übung wieder einmal die mettā bhāvana sein sollte. In dieser Übung erzeugt man liebevolle Zuneigung und Wohlwollen in fünf Phasen. In der ersten Phase für sich selbst, in der zweiten für einen guten Freund, dann für eine neutrale Person und anschließend für eine Person, die man gewöhnlich eigentlich ablehnt. Zum Abschluss sendet man mettā, diese positive Energie, allen Wesen im ganzen Universum zu.

Wir hatten diese Meditation schon mehrfach geübt, und mir gingen allmählich die Freunde und die Feinde für die zweite bzw. vierte Phase aus. Also überlegte ich mir schon vor der Meditation, wen ich in den einzelnen Phasen mit mettā, mit wohlwollender Empathie, bedenken könnte. Und da ich inzwischen der Auffassung war, dass ich und der/die/das Andere nur Illusionen unseres Denkens seien, kam ich auf eine ganz besondere Idee.

Ich hatte mich – wie jede/r von uns - im Laufe meines Lebens entwickelt. Manche dieser Entwicklungsstufen waren mir aus heutiger Sicht genauso fremd wie andere Personen. Warum sollte ich nicht in allen Phasen der mettā bhāvana mich selbst nehmen? Mich in den verschiedenen Phasen meines Lebens. Ich war jetzt vierundvierzig Jahre alt, also im fünften Jahrzehnt meines Lebens. Und ich nahm mir vor, mich in der ersten Phase in meiner damaligen Ausprägung als einer, der in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts den Pfad des Buddha geht, in meine Meditation zu nehmen, dann in der zweiten Phase den politisch engagierten Aktivisten der 80er Jahre, anschließend den Stenografie-Funktionär der 70er Jahre, in der vierten Phase dann den Schüler im Gymnasium der 60er Jahre und schließlich Horst im Kindergarten der 50er Jahre.

Ich setzte mich also in Meditation, Bodhimitra schlug den Gong, und die Meditation begann. Es war eine sehr angenehme Meditation, zunächst entwickelte sich alles so, wie ich es erwartet hatte. Inzwischen war ich in der vierten Phase, die der schwierigen Person vorbehalten ist, und war mit diesem pubertierenden Jugendlichen Horst mitten in den sechziger Jahren beschäftigt.

Bodhimitra schlug abermals den Gong und ich wollte mich gerade anschicken, ins Jahr 1957 einzutauchen und im Kindergarten zu erscheinen, da löste sich die tatsächliche Meditation von dem, was ich mir vorgenommen hatte. Ich kam nicht im Kindergarten an, ich war noch einige Jahre jünger. Meine Mama hatte die kleine Zinkbadewanne, die maximal 30 Liter fasst, auf zwei der alten hölzernen Küchenstühle mit den dunkelgrünen Sitzflächen gestellt, und ich saß darin. Sie forderte mich auf, herauszukommen, ich aber bat, noch kurz drin bleiben zu dürfen, was mir zugestanden wurde, aber nur sehr kurz. Dann ging es heraus.

Meine Mama hielt mir ein großes Handtuch hin und ich hielt mich vorsichtig beim Heraussteigen an der nur 30 cm hohen Seitenwand der Wanne fest, um auf das schmale Stück Sitzfläche des Stuhls zu klettern, das von der kleinen Wanne nicht bedeckt war, dahinter gähnte der Abgrund, eine tiefe Schlucht von der Sitzfläche des Stuhls bis gaaaaaaanz weit unten auf den mit Linoleum belegten Küchenfußboden.

All das klingt alles andere als spektakulär, doch das Erstaunliche war: Diese Küche kannte ich nicht. Ich hatte vor dieser Meditation keinerlei bewusste Erinnerung an diese Küche. Dieser Raum war nämlich nur eine Küche bis Anfang 1953. Kurz nach dem Tod meines Großvaters wurde die provisorische Küche meiner Eltern aufgelöst und danach die Küche meiner Großmutter in der gleichen Wohnung benutzt. Ich muss also damals jünger als zwei Jahre gewesen sein. Und diese märchenhafte Erfahrung während meiner Meditation versetzte mich selbstverständlich in großes Staunen. Ich war mit dem Staunen noch keineswegs fertig, als Bodhimitra die Glocke zum Ende der Meditation dreimal schlug, aber ich wollte am Ende dieser Zeitreise gern noch etwas in der wunderbaren Welt des Jahres 1953 verweilen, in die ich so unverhofft gekommen war.

Doch da geschah etwas noch Merkwürdigeres: Der Automatismus, der bei der Rückführung von den 60er Jahren eingesetzt hatte und der mich statt ins Jahr 1957 auf eine Zeitreise ins Jahr 1953 versetzt hatte, schlug erneut zu!

Die Bäume waren noch kahl, aber es war kein Winter mehr; noch sehr frisch, ja, aber nicht mehr so kalt. Wir gingen zu Fuß durch eine landwirtschaftlich genutzte Gegend in einer deutschen nicht bewaldeten Mittelgebirgslandschaft. Wir mieden die Dörfer und versuchten uns nach Westen durchzuschlagen. Unsere Kleidung war inzwischen schäbig und verschmutzt, und wir stanken auch ziemlich. Es war schließlich ein verdammt langer Marsch. Zwar war mein Rucksack inzwischen ziemlich leer, aber das Gewicht des Maschinengewehrs drückte heftig. Wir versuchten uns nach Westen durchzuschlagen, dorthin, wo laut Angaben des Oberkommandos der Wehrmacht die Front sein sollte, aber wo wir erwarteten, keine Front mehr zu finden. Wenn wir die ersten amerikanischen Fahrzeuge hören würden, so hatten wir verabredet, werfen wir die MGs weg und nehmen das weiße Tuch aus dem Rucksack, um uns zu ergeben. Endlich in Gefangenschaft! Endlich Friede!

Wir waren eigentlich nur noch zwei MG-Schützen, der junge Mann, vielleicht 19 oder 20 Jahre alt, und ich, mehr als doppelt so alt. Und dann waren da noch einige Leute bei uns, darunter auch Zivilisten. Ich weiß nicht mehr, wie viele wir waren, aber auf jeden Fall höchstens zehn. Darunter auch ein alter Mann, der ein Kleinkind trug, und eine Frau, vermutlich seine Tochter oder Schwiegertochter, die Mutter des kleinen Kindes, bei ihr war auch noch ein etwas größeres Kind. Warum wir zusammen waren, als wir nach Westen flohen, weiß ich nicht, vielleicht hatten die Zivilisten einfach Angst und fühlten sich sicherer in der Begleitung bewaffneter Wehrmachts-Soldaten. Aber wir alle wussten, dass wir auf Nebenwegen nach Westen wollten, zum Ami.

Unsere MGs hatten wir vorsichtshalber nicht weggeworfen, denn wir waren ja Deserteure und als solchen drohte uns die Erschießung, wenn wir einer Patrouille oder einem überzeugten Nazi über den Weg liefen. Der junge Mann und ich hatten abgesprochen, dass wir, sollten Kettenhunde auftauchen, so nannten wir die deutschen Feldjäger, die in Doppelstreifen mit Krädern unterwegs waren um Deserteure aufzuspüren, dass wir dann selbstbewusst auftreten würden, von einem schriftlichen Befehl sprechen würden, den Feldjägern das Dokument überreichen und - sowie diese dadurch abgelenkt waren - blitzschnell unsere Waffen nehmen und sie erschießen würden. Das war zwar nicht allzu moralisch, aber es war Krieg und es galt unser Leben und das des kleinen Trupps zu retten. Also schritten wir wachsam voran und bemühten uns, allen Fahrzeugen und Dörfern auszuweichen, um eben auch nicht auf die „Kettenhunde“ zu treffen.

In diesem Moment kamen aus dem Seitental rechts in ungefähr zwei Kilometern Entfernung zwei Tiefflieger. „Deckung“, rief ich, und wir sprangen in die Straßengräben, in der Hoffnung von den Tieffliegern nicht erspäht zu werden, ich auf der linken Seite des Weges, der Junge auf der rechten Seite. Ich drehte mich um, auch die anderen waren in Deckung gegangen. Ich spähte rasch nach den Fliegern, da ertönte plötzlich MG-Feuer rechts neben mir. Dieser Idiot von einem grünschnabeligen Soldaten hatte doch tatsächlich das Feuer eröffnet! Ich wollte rüberspringen und ihm das MG entreißen, doch da drehten die beiden Tiefflieger schon bei und kamen auf uns zu. „Verdammte Scheiße“, rief ich. Es blieb nichts anderes übrig, als dass ich den linken unter Feuer nehme und er den rechten. Tiefflieger sind zwar im Vorteil, aber ganz aussichtslos ist es nicht. - ROT.

Das Letzte, was ich sah, war: ROT. Alles rot.

Ich saß wie geschockt auf meinem Meditationssitz in Kühhude und Tränen liefen in Windeseile über meine Wangen, aber ich hatte keine Zeit zu versuchen, diese äußerst verstörende Situation zu bewältigen, denn die Zeitreise ging weiter. Weiter zurück, von den 40er Jahren in die 30er.

Wir fuhren aus der Stadt heraus. Wir standen dicht gedrängt auf der Ladefläche eines LKW und hatten unsere Spaten dabei, vor uns LKWs mit Männern, hinter uns LKWs mit Männern. Manche hatten Hakenkreuzfahnen dabei, manche Gewehre. Wir hatten Spaten.

„Absitzen!“, ertönte das Kommando, als unser Laster hielt. Unser Ziel war noch ein ganzes Stück von dieser Ausfallstraße aus der Stadt entfernt und ging über eine gepflasterte Straße durch den Wald. Tausende von Menschen waren unterwegs, alle in Reih´ und Glied.

„Ein Lied!“, kam der Befehl und wir sangen, ließen den Wind kalt über den Westerwald pfeifen. Aber es war in Wirklichkeit nicht kalt, es war ziemlich warm, es war schließlich Sommer. Dann sahen wir vorn links unser Ziel, das Reichsparteitagsgelände. Wir mussten warten bis wir an der Reihe waren. Es hatte etwas Komisches: Jetzt, da nicht mehr marschiert wurde, standen Dutzende, fast schien mir, als seien es Hunderte von Männern am Straßenrand an den Bäumen und pinkelten, es wirkte absurd. Aber dann ging ich auch, schließlich würde die Veranstaltung an die vier Stunden dauern, in denen wir zunächst aufzumarschieren und dann stillzustehen hatten.

Es bemächtigte sich meiner ein merkwürdiges Gefühl, als wir auf das imposante Gelände aufmarschierten. Ich mochte die Nazis nicht. Ihr aggressives, selbstherrliches Auftreten und ihr Kommandoton liefen meinem Empfinden eigentlich immer zuwider. Aber hier entstand plötzlich etwas anderes, ein seltsames Gefühl von Größe, von erhabenem Aufbruch, von Bedeutung, einer Faszination, der ich mich in diesem Moment nicht entziehen konnte, die vielmehr von mir Besitz ergriff. Ich war zu so etwas wie dem Objekt der Machtergreifung geworden, so jedenfalls fühlte es sich an. Ich fühlte es und betrachtete mich gleichzeitig wie einen Dritten, mit Verwunderung ob dessen, was sich da zutrug.

Diese Inszenierung auf dem Zeppelinfeld hatte etwas von phantastischer Größe: Die monumentalen Bauwerke, die Marschmusik, die Fahnen, der Aufmarsch, alles folgte einer gigantischen Choreografie. Und ich war Teil davon! In diesem Moment fühlte ich mich nicht mehr fremd, ich empfand mich als Teil des großen, starken deutschen Volkes, das im Aufbruch war, den ihm gebührenden Platz in der Weltgeschichte wieder einzunehmen. Es war, als wäre ich eine Stimme in einem gewaltigen Chor oder ein Ton in der Monumental-Inszenierung einer Wagner-Oper. Ich spürte, wie diese kolossale Ergriffenheit auch die anderen Menschen beherrschte. Es war, als wäre ich eine aufblühende Schlüsselblume auf einer unendlichen Wiese inmitten Millionen anderer Schlüsselblumen, die von einer strahlenden Sonne in den Frühling geführt wird. Und zum ersten Mal fragte ich mich, ob das wirklich die Magie war, die vom Führer ausging, der hier auftreten sollte. Es war fast, als erwarteten wir die Niederkunft Gottvaters auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.

Hier standen wir, Tausende, Abertausende, Zehntausende, gefühlt sogar Hunderttausende, klein wie Ameisen, um ihm zu huldigen, IHM, dem Führer. Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer! Heil! Wir die Ameisen – er die Lichtgestalt.

Und dann war es endlich so weit: Der Badenweiler Marsch erscholl, und von rechts bewegten sich einige winzig kleine Figuren auf der gigantischen Zeppelintribüne entlang. Doch genau in dem Moment, der eigentlich als Höhepunkt der Inszenierung gedacht war, stellte sich bei mir eine abgrundtiefe Ernüchterung ein. Dieser kleine komische Mann da vorn und alle seine aberwitzigen Männeken um ihn herum waren genau so gelenkte Statisten einer Choreografie. Sie waren genau so Gefangene einer Inszenierung, die sie zwar selbst mit initiiert hatten, aber zu deren Gefangenen sie inzwischen geworden waren. Aber das sind meine Worte heute, mit denen ich versuche, das Gefühl, das sich meiner damals bemächtigte, zu beschreiben. Was ich wirklich dachte, war ein ernüchternd einfacher Satz: „Der Führer ist eine Ameise. Der Führer ist auch nur eine Ameise!“ Das war die nüchterne Erkenntnis eines einfachen Mannes - damals auf dem Zeppelinfeld während des Reichsparteitages der NSDAP.

Und genau im Moment dieser ernüchternden Erkenntnis zog mich der große Mahlstrom der Zeitreise aus Nürnberg weg und an meinen früheren Arbeitsplatz. Ich hatte gerade meine Tagesarbeit erledigt, die Lohnzettel für die Lohnabrechnungen am morgigen Freitag so weit fertig gemacht, wie das heute möglich war, das Grundbuch abgeschlossen und die Buchungen fein säuberlich mit Tinte auf den Konten eingetragen. Ich packte meine metallene Brotdose in meine abgewetzte Aktentasche, deren Henkel abgerissen war, und die ich daher schon seit Jahren unter dem Arm tragen musste. Auch die Thermoskanne kam in diese Tasche hinein, nachdem ich den letzten Tropfen aus dem Deckel, der als Trinkgefäß diente, ausgeschlürft und die Kanne sorgsam zugeschraubt hatte.

An der Tür drehte ich mich – wie üblich – ein letztes Mal für diesen Tag um, um mich zu vergewissern, dass ich alles ordentlich hinterließ: Die Schreibutensilien lagen fein säuberlich im rechten Winkel zur Schreibtischkante, die Schreibtischtür, hinter der sich die Handkasse verbarg, sorgsam abgeschlossen, so wie jeden Tag.

Ja, ich konnte heruntergehen. Mein Büro lag im Obergeschoss. Im Erdgeschoss und auch gut der Hälfte des Obergeschosses waren die Werkstätten. Die Fahrzeuge gelangten über eine geschwungene Rampe nach dort oben, denn dies war ein großer Autohof. Ich gelangte unten auf den Hof, einige Fahrzeuge standen noch herum, der Boden war aus festgefahrenem schwarzen Sand, wobei die Farbe wohl durch das Öl hervorgerufen wurde, nach dem es überall roch.

Wenn es, wie an diesem Tag, regnerisch war, schimmerten die Pfützen auf den Schlaglöchern des Hofes schillernd von Öl. Ich zog den Kragen meines Sakkos hoch, es war novemberlich kalt und garstig-regnerisch. Mein Blick schweifte wie immer über den Hof und das Werkstattgebäude, auf dem in einer albernunmodernen Schrift der Name der Firma prangte, diese Schriftart war bestimmt noch nie modern gewesen, vermutlich eine ziemlich dilettantische Arbeit aus der Gründungszeit der trotz der wirtschaftlichen Lage inzwischen prosperierenden Firma.

Und auch ein letztes kleines Ritual zog ich, wie jeden Tag, durch. Ich ging auf die rechte Seite des Werkstattgebäudes, wo ein Rohr aus dem Boden kam und an der Mauer aufwärts führte. Hier war ein klobiger Wasserhahn, an dem ein langer Schlauch für die Fahrzeugwäsche angeschlossen war. Wie jeden Tag klemmte ich meine Aktentasche zwischen die Beine, damit sie nicht auf dem öligen Boden stand, nahm mit der linken Hand das Endstück des Schlauches, drehte mit der rechten den Hahn auf und ließ dann Trinkwasser in meine rechte Hand laufen, die ich zum Munde führte. Genau vier Mal, wie jeden Tag. Dann drehte ich den Wasserhahn ab, wischte mir den Mund mit dem rechten Sakkoärmel trocken und legte das Endstück des Schlauches, der aufgerollt war, wieder über den Hahn, musste ja alles seine Ordnung haben.

Ich verließ das Firmengelände, ging rechts der Straße entlang. Es war bereits dunkel und die Gaslaternen waren an. Nach etwa 200 m gelangte ich an die breite Allee, die Reichsstraße, überquerte diese unweit der Autoampel, in der Zeiger auf das rote oder grüne Feld zeigten, und ging noch die wenigen Schritte zu dem Mietshaus, in dem wir wohnten. Ich schloss die Haustüre auf, ging die Treppe ins Dachgeschoss hoch, vierte Etage, und schloss nunmehr die linke Tür auf, wie jeden Tag.

„Ah, pünktlich wie immer! Und das Essen ist auch gleich fertig“, das war die Stimme von Rehlein, meiner Frau. Sie stand am Herd, wie sich das gehörte. Ich umarmte sie von hinten, gab ihr einen Kuss auf die linke Wange und versuchte in den Topf zu schauen. „Riecht lecker“, sagte ich.

„Naja, Linseneintopf mit Kartoffeln“, klärte Rehlein mich auf. „Aber ich war beim Metzger und habe für fünf Pfennig Wurstenden geholt, dann schmeckt´s doch gleich viel herzhafter.“

„Du bist ein Schätzchen, Rehlein.“

„Und du, Bärchen,“, kam die Antwort, „kannst schon mal Brot aufschneiden.“

Jemand berührte mich an der Schulter. Verstört öffnete ich die Augen. Dhammaketu, ein belgisches Ordensmitglied, war das, sonst war niemand mehr im Meditationsraum. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, stand etwas ungelenk auf.

„Ist alles in Ordnung, Horst?“ Ich nickte.

„Möchtest du darüber sprechen?“

„Nein, danke, Dhammaketu, ich kann nicht darüber sprechen. Vorläufig nicht. Vielleicht viel später einmal, in zwanzig Jahren, oder so.“

Dhammaketu nickte. Dann gingen wir schweigsam ins Hauptgebäude, an diesem warmen Sommertag des Jahres 1996.

EPILOG

Natürlich habe ich mich damals und auch später immer wieder einmal gefragt, ob das reale Erinnerungen waren oder einfach meine Phantasie. Ich bin nicht wirklich zu einem Ergebnis gekommen. Ich glaube auch nicht, dass das nötig ist, vielleicht ist es nicht einmal hilfreich. Aber ich möchte doch einige dieser Überlegungen hier auch anführen.

Die Szene in der Küche des Jahres 1953 kann real gewesen sein. Diesen Raum gab es, warum dies plötzlich auftauchte und nicht die Szene, die ich eigentlich als Hintergrund meiner Meditation nehmen wollte, weiß ich nicht. Hier scheint ein unbewusster Mechanismus gegriffen zu haben.

Für die Kriegsszene spricht, dass ich als Teenager öfter aus unerklärlichen Gründen vom Krieg träumte, und in mindestens einem Traum war ich auch mit so einer Gruppe von Leuten unterwegs und hatte mich von der Truppe abgesetzt. Auch kamen in meinen Träumen häufig kleine Flugzeuge am Himmel vor, die entweder abstürzten oder aus denen Feuer züngelte. Gegen die Echtheit dieser Szene spricht, dass es natürlich eine Menge von Kriegsfilmen gibt. Ich habe zwar früher nur selten welche gesehen, und wenn, dann Antikriegsfilme, aber natürlich können da Versatzstücke im Unterbewussten hängen geblieben sein. Wenn ich mich recht erinnere, steht die Farbe rot auch am Ende des Filmes „Wem die Stunde schlägt“, in dem Ernest Hemingway seine Erlebnisse im spanischen Bürgerkrieg beschreibt. Das könnte mich dann beeinflusst haben.

Lange Zeit hat mich vor allem die Szene auf dem Reichsparteitag beschäftigt. Da gab es nämlich ein ziemlich verstörendes Ereignis etwa fünf bis zehn Jahre vor dieser Meditation. Ich war damals mit meiner Familie im Wohnmobil unterwegs. Wir waren auf der Rückreise von einem Urlaub auf dem Balkan, und wir wollten eine Stelle zum Übernachten in Nürnberg suchen, dort noch irgendwo zu Abend essen und dann am nächsten Tag nach Hause zurück fahren.

Aber wir hatten uns ziemlich verfahren und nichts Passendes gefunden, in Wirklichkeit waren wir auf einer Ausfallstraße aus Nürnberg heraus. „Dreh halt um,“ schlug meine Begleiterin vor.

Ich aber sagte: „Warte mal, hier kommt mir etwas bekannt vor!“ Ich sagte das, obwohl ich noch nie in diesem Leben in Nürnberg war. „Wir müssen da links ab“, erklärte ich bestimmt, meine Begleiterin sah mich skeptisch an. Es ging nunmehr kerzengerade durch ein Waldstück.

„Das hat keinen Sinn, dreh um“, sagte sie. „Nein,“ erwiderte ich, „dort kommt eine Kreuzung und dahinter ist ein großer Landgasthof. Davor müsste es genügend Parkraum geben.“

Jetzt erst tauchte vorn eine Kreuzung mit einer Ampel auf – und tatsächlich, dort war ein großer Landgasthof, der offensichtlich schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte.

„Und gleich nach dem Waldende links gibt es einen großen Parkplatz“, prophezeite ich meiner Begleiterin weiter. Ich bog links ab – tatsächlich ein riesiger Parkplatz – und dahinter: das Reichsparteitagsgelände. Ich hielt und stutzte, wie von einer fernen Erinnerung berührt, als ich das monumentale Bauwerk erstmals in diesem Leben sah. Und sie sah mich an wie einen Geist, ihr Blick verfinsterte sich. Wir haben beide niemals darüber gesprochen.

Natürlich kann es sein, dass mich diese Szene innerlich so berührt hat, dass sie Ursache des Auftretens des Reichsparteitagsgeländes in meiner Meditation viele Jahre später war. Das wäre eine logische Erklärung. Etwas anders würde sich die Sache darstellen, wenn die Szene in Nürnberg erst nach meiner Meditation gewesen wäre. War sie aber nicht.

Es gibt da allerdings noch diese andere Szene in dem Autohof einer mir damals nicht bekannten Großstadt. Und das hat mich dann später wirklich erschüttert. Was jetzt kommt, war nämlich im Jahr 2004 oder 2005, also rund zehn Jahre nach der Meditation. Ich lebte inzwischen in Frankfurt und hatte mich gerade bei CarSharing angemeldet. In unmittelbarer Nähe meiner Wohnung, die sich in der Habsburgerallee (Bundesstraße 3) befand, sollten zwei Fahrzeuge von „stadtmobil“, dem CarSharing-Unternehmen, stehen. Ich ging dorthin, in die Rhönstraße. Es gab zwei Einfahrten zu dem Innenhof. Rechts stand das CarSharing-Auto.

Irgendetwas berührte mich merkwürdig. Irgendetwas erinnerte mich an... ja, woran eigentlich? Ich war doch noch nie in meinem Leben hier. Ich drehte mich zum Innenhof: eine große Autowerkstatt, sie hatte Ähnlichkeit mit etwas... Und diese merkwürdig geschwungene Rampe, mit der Autos in die obere Etage der Werkstatt fahren konnten, wo hatte ich das denn schon gesehen? Mein Blick war jetzt oben am Gebäude angekommen, bei der Aufschrift: „Ostend-Garage“. Eine merkwürdige mir bekannt vorkommende Schrift. Einzelne, metergroße Buchstaben in einer Schrifttype, die bestimmt noch nie modern gewesen war. Sie sollte irgendwie Zukünftiges ausdrücken, sah aber doch unbeholfen gestrig aus. Das „O“ von Ostend erinnerte an ein Osterei, aber auch entfernt an das Renault-Emblem.

Und in diesem Moment stand vor meinem geistigen Auge das Bild aus meiner Meditation auf, das Bild, als ich mich beim Abschied, wie jeden Tag noch einmal, umdrehte. Der Boden war jetzt, im beginnenden 21. Jahrhundert, allerdings nicht mehr voller schwarzem öligen Sand, er war jetzt betoniert. Der Rest sah genauso trostlos aus wie damals. Ich schaute unwillkürlich auf die rechte Seite des Gebäudes, wo ich damals die vier Schluck Wasser getrunken hatte, konnte aber dort nichts erkennen, denn ein Kleinlaster stand davor. Ein eigentümliches Gefühl umschloss mein Herz: wenn jetzt da tatsächlich dieser Wasserhahn...? Ich umschritt das Fahrzeug: und wirklich, ein aus dem inzwischen betonierten Boden herausragendes Rohr, an dessen oberen Ende genau dieser altertümliche Wasserhahn befestigt war. Nur der Schlauch war nicht mehr dran.

Als ich diese Erinnerung im Jahr 2016 aufschrieb, entschloss ich mich, noch einmal nach Frankfurt zu fahren, ich wollte mir das noch einmal ansehen, wollte es auch zur Illustration dieses Berichtes mit einem Foto unterlegen. Am Montag, dem 29. Februar 2016, war ich dort. Leider ist die Werkstatt inzwischen abgerissen. Das Vorderhaus mit den beiden Einfahrten steht noch, doch dahinter werden gerade neue Wohngebäude hochgezogen, Lofts. Die Ostend-Garage ist weg. Seit diesem Tag bei dem CarSharing-Auto neige ich dazu, diese Zeitreise in meiner Meditation des Jahres 1996 für real zu halten.

Aber wirklich sicher bin ich mir nicht.

Buddha in Indien suchen

Im Jahr 1992 war es so weit, ich war reif für den Dharma, die Lehre des Buddha. Dass es der Dharma war, wonach ich suchte, wusste ich nicht, aber dass es ein vernünftiges und ethisches Fundament sein musste, und dass ein solches am ehesten in einer der bestehenden Religionen zu finden sei, war mir klar. So hatte ich in den letzten Wochen wieder angefangen, die Bibel zu lesen, ganz von vorn: bei Adam und Eva. Aber schon bald wusste ich, dass dies nicht meine religiöse Basis sein konnte.

Der alttestamentarische Gott hatte den beiden ersten Menschen verboten, vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ (Mose 2,9) zu essen. Warum um alles in der Welt, sollte man nicht erkennen wollen, was gut ist und was böse, wieso sollte so etwas bestraft werden? Im biblischen Buch Genesis (Mose 3,4f) steht eine Erklärung: „Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“

Was um alles in der Welt kann denn schlimm daran sein, zu versuchen, vollkommen wie Gott zu werden und zu wissen, was gut und was böse ist? Genau auf der Suche nach einer vernunftfundierten Ethik, nach einer allgemein verbindlichen Ethik war ich doch! Das Christentum schien also nichts für mich zu sein. Als nächstes las ich ein Buch über den Propheten Mohammed und wusste daraufhin: Der ist mir eindeutig ferner als Jesus von Nazareth.

Ein altes Zen-Sprichwort sagt: „Ist der Schüler reif, dann erscheint der Lehrer.“ Mein Lehrer erschien in Form eines Buches, und das kam so:

Ich hatte damals an den Beruflichen Schulen in Gelnhausen, an denen ich unterrichtete, Vertretungsunterricht im Religionsraum. Ich kannte die SchülerInnen nicht und sollte sie einfach nur beschäftigen.

„Was habt ihr heute für Bücher dabei?“, fragte ich sie. - „Mathe, Chemie und die Deutschlektüre.“

„Gut, nehmt einmal das Mathebuch heraus, was habt ihr zuletzt gemacht?“ - „Die ersten drei Aufgaben auf Seite 108.“

„Prima, da sind ja noch jede Menge weiterer Aufgaben. Bearbeitet einfach die Aufgaben ab Nr. 4. Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an euren Nachbarn. Wenn das nicht hilft, könnt ihr mich fragen. Ob ich euch helfen kann, weiß ich nicht so genau, aber probieren könnt ihr´s ja.“