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Dieser Band enthält buddhistischen Geschichten aus dem Mahayana, der größten buddhistischen Richtung, zu der auch das Vajrayana und das Zen gehören. Wir erleben hier häufig unkonventionell agierende Mönche, Heilige oder Bodhisattvas, deren Handlungen uns zu denken geben. Die Geschichten sind allerdings nicht in einer altertümlichen, sondern in einer modernen und erfrischenden, teilweise auch humorvollen Sprache wiedergegeben.
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Seitenzahl: 164
Dieser Band enthält buddhistischen Geschichten aus dem Mahayana, der größten buddhistischen Richtung, zu der auch das Vajrayana und das Zen gehören. Wir erleben hier häufig unkonventionell agierende Mönche, Heilige oder Bodhisattvas, deren Handlungen uns zu denken geben. Die Geschichten sind allerdings nicht in einer altertümlichen, sondern in einer modernen und erfrischenden, teilweise auch humorvollen Sprache wiedergegeben.
Das Titelbild ist die Darstellung der Grünen Tara aus dem Meditationsraum der Buddhistischen Gemeinschaft Gelnhausen.
Kursiv und fett gedruckte Begriffe sind in einem Glossar am Ende des Buches erklärt.
Horst Gunkel, Jahrgang 1951, arbeitete 40 Jahre als Lehrer an einem beruflichen Schulzentrum. Er engagierte sich in zahlreichen Vereinen und Bürgerinitiativen zum Schutz des Lebens in all seinen Formen. Von 1981 bis 1995 war er in zahlreichen Gremien und zwei Regionalparlamenten aktiv. Von 1987 bis 2000 leitete er außerdem das ÖkoBüro Hanau. Anfang der 90er Jahre begegnete er dem Buddhismus und erkannte schnell, dass ein Engagement hierin (noch) wichtiger sei als sein bisheriges politisches Wirken. Er legte alle politischen Ämter nieder und setzte sich im Netzwerk Engagierter Buddhisten für ökologische, pazifistische und soziale Projekte ein. 1996 kam er zur Buddhistische Gemeinschaft Triratna (damals: Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens), für die er zunächst in Frankfurt/M. eine Meditationsgruppe aufbaute, dann die Buddhistische Gemeinschaft Gelnhausen. Hier begann er buddhistische Geschichten nachzuerzählen und zu interpretieren. Einige davon fanden Eingang in dieses Buch.
Weitere Geschichten von Horst Gunkel finden sich unter
http://www.gelnhausen-meditation.de
und im Band I: Buddhas Sohn Rahula (ISBN: 978-3-7504-0010-8)
Die Heimreise
Das große Fahrzeug
Nagarjuna und der Gehörnte
Die Tochter des Samurai
Der Mönch und die Schöne
Der die Hündin leckt
Milarepa I – Schwarze Magie
Milarepa II – Sühnejahre
Milarepa III – der nackte Heilige
Von Königen und von Fischdärmen
Sklave der Tempelhure
Meditation für Lügner
Meditation für Fettwänste
Meditation für Könige
Das Mädchen und der Tyrann
Padmasambhava
Der Dieb und das Pferd
Schach
Wein, Weib und Gesang
Eine Leiche zum Frühstück
Der Samurai und der Zen Mönch
Begriffserklärungen
wo finden sich weitere Geschichten?
eine Geschichte aus dem Mahayana-Buddhismus
Vorbemerkung
Ich habe diese Geschichte erstmals Ende der 90er Jahre von einer Ordensfrau namens Jayacitta gehört. Sie erzählte sie uns, den Teilnehmern eines Meditationsretreats im Sauerland. Ich war von dieser Art, die Lehre des Buddha zu kommunizieren, so angetan, dass ich mich entschied, in meinen Meditationsveranstaltungen auch buddhistische Geschichten in moderner Sprache zu erzählen. Dies tat ich dann, seit ich ab 2001 buddhistische Veranstaltungen in Frankfurt/M. und Gelnhausen leitete. Ein Ergebnis davon ist auch die Buchreihe „Gelnhäuser buddhistische Geschichten“, dessen zweiter Band dieses Buch ist.
***
Vor langer, langer Zeit lebte in einem fernen Land ein Vater mit seinem Sohn. Der Sohn, nennen wir ihn Klaus, verließ jedoch schon in jungen Jahren sein Elternhaus, um in die Welt hinauszuziehen und sein Glück zu machen. Er zog in ein anderes Land und lebte dort für sehr lange Zeit, Jahrzehnte lang. Doch Klaus hatte leider nicht viel Glück: er war entsetzlich arm, die ganze lange Zeit lang. Er zog umher und verdingte sich als Tagelöhner, arbeitete einmal hier und einmal dort und lebte von der Hand in den Mund. Er besaß nichts als die Kleider, die er auf dem Leib trug.
Sein Vater, nennen wir ihn Herrn Ludwig, hingegen hatte in der Zwischenzeit ein völlig anderes Leben geführt. Herrn Ludwig war das Glück hold, er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, betätigte sich im Groß- und Außenhandel und bei Geldgeschäften, und so war Herr Ludwig einer der reichsten Männer seiner Zeit geworden. Während dieser internationalen Tätigkeit hatte er sich in einem anderen Land niedergelassen, wo ihm inzwischen mehrere Handelshäuser gehörten.
Herr Ludwig hatte große Reichtümer angehäuft: Gold, Silber, Juwelen, Grundbesitz und auch jede Menge Getreide in großen Silos. Viele Menschen arbeiteten für Herrn Ludwig; Arbeiter, Angestellte und Handwerker, er hatte auch zahlreiche Pferde und prunkvolle Kutschen. Auf seinen Landgütern hielten seine Untergebenen in seinem Auftrag Kühe, Schweine und Schafe, ja er hatte sogar Elefanten, woran man erkennen kann, das Herr Ludwig wirklich zur Oberschicht gehörte. Und natürlich hatte er viele Geschäftspartner und zahlreiche Subunternehmer. Viele Menschen hielten sich in seiner Nähe auf, um von Herrn Ludwig Aufträge zu bekommen. Sein geschäftlicher Einfluss - sei es im Handel, in Bankgeschäften oder in der Landwirtschaft - ging über die Staatsgrenzen hinaus, er lebte das Leben eines internationalen Finanzmagnaten.
Doch obwohl Herr Ludwig derart wohlhabend war, war er nicht restlos zufrieden, denn all die Jahre vermisste er seinen geliebten Sohn Klaus sehnlichst. Herr Ludwig hatte dabei nie die Hoffnung aufgegeben, dass die lange Trennung irgendwann zu Ende sei, denn er wünschte sich, seinem einzigen Sohn seine Geschäfte zu übergeben. Er merkte, dass er alterte, und am Ende würde keiner da sein, der ihn beerben könnte.
Während dieser Zeit zog Klaus umher, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, bis er eines Tages zufällig in den Ort kam, in dem sein Vater lebte, aber das wusste er natürlich nicht. Er strich durch die Straßen und suchte nach Gelegenheitsarbeiten, denn er hatte Hunger. So kam er an der Villa von Herrn Ludwig vorbei, einem riesigen Haus mit sehr vielen äußerst geschäftigen Menschen. Am Eingang saß der Patron höchstselbst, dem eine hübsche junge Frau mit einem Fächer Frischluft zufächelte, eine andere hielt einen Sonnenschirm über seinen Kopf. Herr Ludwig saß auf einem prächtigen Thron und selbst die Fußbank war geschnitzt und mit Gold und Edelsteinen verziert.
Einige Menschen kamen, um Schuldscheine einzulösen, andere hatten Bündel von Geldscheinen dabei, um Rechnungen zu begleichen, manche trugen Geschenke, um in die Gunst des reichen Mannes zu kommen - man könnte es vielleicht auch Bestechungsgelder nennen. Man konnte förmlich die Macht spüren, die von Herrn Ludwig ausging.
Der arme Tagelöhner Klaus war dadurch sehr verängstigt, hatte er doch in der Vergangenheit nicht gerade die besten Erfahrungen mit den Reichen gemacht: "Ich sollte hier verschwinden," sagte er sich, "ich werde sicher eher in den Armenvierteln eine Arbeit finden, hier besteht die Gefahr, dass man mich festnimmt und zum Sklaven macht." Und so eilte er von hinnen, nicht wissend, dass jener reiche Herr Ludwig kein anderer war als sein eigener leiblicher Vater.
Dieser aber hatte den elenden armen Mann bereits erspäht und wusste sofort, dass dieser sein Sohn Klaus war. Zum ersten Mal nach all den Jahren sah er Klaus wieder. Jetzt würde es ihm möglich sein, dass der sein Erbe antreten könne, und er würde in Ruhe sterben können. Er wies einige seiner Diener an, dem armen Kerl nachzulaufen und ihn unter allen Umständen zurückzubringen, allerdings ohne Gewalt anzuwenden.
Sie brachten die elende Gestalt auch wirklich zurück, doch der arme Klaus war jetzt noch verängstigter als vorher. "Sie haben mich eingefangen, sicher soll ich eingesperrt werden, wenn nicht noch Ärgeres," so dachte Klaus, denn er fürchtete um seinen Kopf. Und vor lauter Angst wurde er ohnmächtig.
Sein Vater war darüber höchst überrascht und betrachtete den zu seinen Füßen liegenden Elenden. Er begann zu verstehen, was die Jahre in seinem Sohn angerichtet hatten, und er erkannte, die psychische Situation des Armen. Der liebende Vater dachte bei sich: "Wie elend er auch immer erscheint, dies ist mein Fleisch und Blut, es ist Klaus, mein geliebter Sohn, er ist tief gesunken, ich aber werde ihn wieder aufbauen!" Und er sann darüber nach, wie er seinem Sohn helfen könne. Nach Lage der Dinge war es nicht angeraten, seine Identität zu lüften. Also beauftragte er einen seiner Diener, dem jungen Mann zu sagen, er könne gehen, wohin er wolle, sobald er wieder erwacht sei. Als der arme Mann das hörte, konnte er sein Glück kaum fassen und frohen Herzens rannte er weg, um in den Slums nach Arbeit zu suchen.
Zwei Detektive von Herrn Ludwig, zur Tarnung in schäbige Gewänder gekleidet, verfolgten den armen Mann jedoch unauffällig. Sie sprachen Klaus an und boten ihm eine Arbeit an, wie der reiche Mann es angeordnet hatte. Unweit der Villa hatten sich nämlich auf einer Hochdeponie im Laufe der Zeit allerlei Abfälle angesammelt, ein riesiger Haufen Dreck. Und der Lohn, der ihm geboten wurde, war doppelt so hoch wie üblich. Natürlich akzeptierte der arme Mann dieses ausgezeichnete Angebot, er ging unter Führung der Detektive an seinen neuen Arbeitsplatz und begann sofort mit der Arbeit.
Tag um Tag war Klaus jetzt damit beschäftigt in Körben den Dreck zu einem entfernten Platz zu bringen. Man hatte ihm erlaubt, eine bescheidene Strohhütte direkt neben seinem Arbeitsplatz zu bauen, und so konnte Herr Ludwig aus dem Fenster seinen Sohn bei der Arbeit sehen. Es schnürte ihm das Herz ein, wenn er seinen geliebten Klaus diese Knochenarbeit machen und in seine erbärmliche Hütte kriechen sah, während er selbst in einer Luxusvilla lebte.
Als Klaus schon geraume Zeit mit der Arbeit zugange war, zog sich Herr Ludwig die alte Arbeitskleidung eines seiner Arbeiter an, nahm einen Korb in die Hand und begab sich zu seinem Sohn, um so unerkannt mit ihm ins Gespräch zu kommen. "Geh auf keinen Fall hier fort, um woanders Arbeit zu suchen," sagte er ihm, "ich habe hier gute Beziehungen, ich kann dafür sorgen, dass du anständig bezahlt wirst und wenn du etwas brauchst, eine Matratze, ein Gefäß, Getreide oder was auch immer, sag mir Bescheid, ich kann das organisieren. Ich habe auch einen alten Mantel übrig, den kannst du gerne haben. Du bist ein guter Arbeiter, solche Leute brauchen wir hier und es soll dein Schaden nicht sein. Wir hatten schon manchen Gauner hier, der uns ausgenutzt hat, deshalb sind wir froh, wenn ein ehrlicher, rechtschaffener Mann hier arbeitet, und der soll auch guten Lohn für gute Arbeit bekommen. Weißt du, ich bin schon alt und habe keine Kinder mehr, sieh mich einfach wie einen Vater an und ich werde dich wie meinen eigenen Sohn behandeln."
Für einige Jahre war Klaus nun damit beschäftigt, den Unrat abzutragen. Er wohnte weiter in seiner Strohhütte, aber er gewöhnte sich daran, in der Villa ein- und auszugehen. Natürlich wusste der arme Klaus inzwischen, dass sein Gönner kein anderer war als der Patron selber, aber es störte ihn jetzt nicht mehr. Herr Ludwig wurde allerdings krank, und so rief er Klaus zu sich und sagte: "Es gibt hier viele, denen ich nicht trauen kann. Zu dir aber habe ich Vertrauen, deshalb bitte ich dich, meine laufenden Geschäfte zu erledigen, so lange ich krank bin. Du wirst alles so erledigen, dass ich damit zufrieden sein kann."
Von diesem Tag an war der arme Klaus der Verwalter des reichen Herrn Ludwig, er kümmerte sich um alle Angelegenheiten und erledigte alle Geldgeschäfte treuhänderisch. Klaus arbeitete jetzt in der Villa, doch er schlief weiter in seiner ärmlichen Hütte. Klaus war faktisch ein erfolgreicher Geschäftsmann, hielt sich jedoch für arm, denn ihn war immer bewusst, dass das Geld, das er da verwaltete, nicht seines war, sondern das seines Herrn.
Mit der Zeit änderte sich Klaus. Während dieser ganzen Zeit beobachtet sein Vater den Wandel mit Wohlgefallen. Er bemerkte, dass sich sein Sohn daran gewöhnte, mit den Reichtümern umzugehen, und dass er sich schämte in der Vergangenheit so schäbig gelebt zu haben. Der Vater konnte förmlich spüren, wie in Klaus der Wunsch Gestalt annahm, selbst reich zu sein. Inzwischen war Herr Ludwig auch wirklich schon sehr alt und auch ziemlich krank geworden, und er bemerkte, dass der Tod nicht mehr weit war.
Da ließ der alte Vater noch einmal alle wichtigen Leute der Stadt zu sich kommen, die Gesandten des Königs, die Kaufleute, alle seine Freunde und Bekannten, seine entfernten Verwandten, aber auch einfache Leute aus der Stadt und dem Umland. Nachdem alle versammelt waren, stellte er ihnen seinen Sohn vor und erzählte ihnen die ganze Geschichte. Am Ende seines Vortrags, der nicht wenige der Anwesenden zu Tränen gerührt hatte, übertrug er alle seine Reichtümer an seinen Sohn. Dieser konnte sein Glück kaum fassen.
Nachwort
Diese Geschichte ist auch eine der Lieblingsgeschichten des Ordensgründers von Triratna, von Sangharakshita.
Die Geschichte beschreibt die Heimreise eines jungen Mannes, der entwurzelt ist, der die Verbindung seiner Wurzeln mit der Erde, die ihn trägt - hier personifiziert durch seinen Vater - verloren hat. Dies ist ein altes Thema und ist in spirituellen Zusammenhängen immer wieder thematisiert worden. Die im Abendland bekannteste Geschichte einer solchen „Heimreise“ ist sicher die „Geschichte vom verlorenen Sohn“ im Alten Testament.
Wir treffen in diesen Geschichten immer auf einen Sohn, der seinem Vater, seiner Heimat, seinen Wurzeln, seinem Ursprung den Rücken zugewandt hat, um sein Glück zu machen. Dabei scheitert er.
Dennoch ist da der Vater, das Numinose, das Transzendente, vielleicht auch „das Höhere Ich“, das den verlorenen Sohn nicht aufgibt. Und wenn dieser Sohn dann ganz unten angekommen ist, reicht das Transzendente (in Form der Vaterfigur) ihm die Hand, hilft ihm auf geeignete Weise die Kurve zu bekommen.
Wir können sagen, dass Klaus, der Sohn, wie alle Menschen, Buddhanatur hat, das Potential den Durchbruch zu schaffen. Mitunter brauchen wir jedoch einen Anstoß von außen, durch etwas was man als other-power, als Kraft von außen sehen kann, um auf den rechten Weg zu kommen. Im Mahayana-Buddhismus sind diese äußeren Kräfte Bodhisattvas. Doch gleich ob wir diese äußeren Kräfte als Bodhisattvas, Götter oder Engel personifizieren, sie sind wichtig, um auf den rechten Weg zu kommen.
Im Mahayana-Buddhismus geht man davon aus, dass solche Hilfe von außen kommen kann. Das Zen lehrt: Ist der Schüler bereit, so erscheint der Lehrer. Eines ist jedoch gemäß der Lehre des Buddha absolut nötig: eigene Bemühung. Es gibt keinen Erlöser, der uns die Arbeit der Selbsttransformation abnimmt. Dies müssen wir letztendlich selbst tun – ggfs. mit etwas Hilfe von außen. Und so ist es auch in dieser Geschichte: die Knochenarbeit den ganzen Unrat zu beseitigen, den wir letztendlich durch unser unweises Handeln geschaffen haben, müssen wir schon selber tun. Und so ist Klaus jahrelang damit beschäftigt all diesen Unrat aufzuarbeiten.
Diese Arbeit verändert Klaus allmählich, genauso wie die spirituelle Praxis den Praktizierenden verändert. Letztlich kommt es zum entscheidenden Durchbruch: Klaus beerbt Herrn Ludwig. Herr Ludwig symbolisiert hierbei das Höhere Selbst, das was wir sein können, Buddhaschaft. Klaus ist, als er die Aufarbeitung dieses großen Berges Unrat beginnt, der spirituelle Schüler. Sein Streben hat letztendlich Erfolg. Die Kluft zwischen dem kleinen Selbst und dem Höheren Selbst wird überwunden. Schließlich wird aus Klaus der Herr. Er hat Vollkommenheit erreicht – durch eigene Bemühung und durch ein klein wenig Hilfe von außen.
Vorbemerkung:
Dieser Band der „Gelnhäuser buddhistischen Geschichten“ enthält Erzählungen aus dem Mahayana. Mahayana heißt „großes Fahrzeug“. Das Mahayana existiert als eigenständige buddhistische Schulrichtung etwa seit der Zeitwende, also seit 500 Jahren nach Buddhas Tod.
Die beiden wichtigsten Eigenschaften des Buddha sind Weisheit und Mitgefühl. Es scheint jedoch so, dass in den ersten Jahrhunderten nach Buddhas Tod in der Mönchssangha die formale Weisheit (Philosophie, Scholastik) stärker betont wurde als das Mitgefühl. Hatte der Buddha vier Gruppen von Anhängern: Mönche, Nonnen, Haushälter (Personen, die in ihrer Familie lebten und einem Beruf nachgingen) und Haushälterinnen (in der Regel Hausfrauen), so galten später allmählich nur noch die Mönche als richtige Buddhisten. Der Nonnenorden war am absterben, und um die Belehrung der Haushälter/innen kümmerten sich die Mönche nicht mehr. Es schien ihnen genug, wenn die Laienanhänger/innen die Mönche versorgten. Man sagte den Haushälter/innen, damit würden sie sich gutes Karma schaffen und sie könnten dann in einem späteren Leben Mönche werden und so an ihrer Erleuchtung arbeiten.
Dagegen gab es eine Gegenbewegung: das Mahayana, das große Fahrzeug, das für alle Menschen da sein sollte.
Dementsprechend war nicht mehr der weltabgewandte meditierende Mönch das Idealbild des Mahayana sondern der oder die Bodhisattvas (Wesen, die zum Wohle aller praktizieren und deswegen darauf verzichten, schon jetzt ins Nirwana einzugehen, sondern wiedergeboren werden). Ein solcher Bodhisattva ist beispielsweise der Dalai Lama. Die Anhänger des bisherigen Buddhismus werden von da an Theravada (Alte Schule) genannt, die Anhänger des Mahayana (des großen Fahrzeugs) nannten diese Alte Schule Hinayana („kleines“ oder auch „minderwertiges“ Fahrzeug).
Aber Vorsicht: das, was ich eben gesagt habe, ist eine ziemlich grobe Vereinfachung. Selbstverständlich gab es zu jeder Zeit in beiden Hauptrichtungen des Buddhismus ganz hervorragende Praktizierende, die Mitgefühl und Weisheit in vollendeter Form praktizierten, ebenso wie es auch in beiden Schulrichtungen Entartungen gab.
In der folgenden Geschichte wird der Unterschied der beiden Richtungen (aus Mahayana-Sicht) verdeutlich:
Das große Fahrzeug (Mahayana)
Dies ist eine Geschichte, die sich in keiner bestimmten Zeit abspielt und in keinem bestimmten Land. Sie spielt in einer Stadt, in der eine große Hungersnot herrscht, wie wir sie aus vergangenen Jahrhunderten bei uns und aus manchen afrikanischen Ländern noch heute kennen.
Da diese Geschichte ein Lehrstück, eine Parabel jenseits von Raum und Zeit, ist, kann es auch keine Hilfe für die Hungernden von außen geben. Obwohl eine Hungersnot herrscht, gibt es in der Stadt zwei Menschen, die über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Nahrungsmitteln verfügen, den sie auch zu teilen bereit sind. Woher sie den haben, ist unwichtig. Wir sollten uns auch keine Gedanken darum machen, wie man es organisieren könnte, die Nahrung besser zu verteilen, indem man beispielsweise die offensichtlich Arbeitslosen als Verteilungsgehilfen einsetzt oder sonstwie, und es gibt auch keine Stadtverwaltung oder dergleichen. Um all das geht es nicht. Es geht einzig und allein um das Verhalten der beiden reichen Männer. Ich habe sie für diese Geschichte Thero und Mayo genannt. Thero ist alt und Mayo ist jung. So unterschiedlich sie sind, haben doch beide die Absicht, ihren Reichtum zu teilen und den Hungernden zu helfen, jedoch verfolgen sie dabei völlig unterschiedliche Strategien.
Thero, der alte Mann, hat ein kleines Schild an seinem Haus befestigt, auf dem steht: „Jeder Hungernde erhält hier Nahrung“. So weit, so gut, allerdings liegen daneben Handbücher mit den Durchführungsvorschriften für die Bittsteller aus. Wer Essen haben will, muss sich mittags zwischen 12.00 h und 12.30 h einfinden, wer vor 12.00 h erscheint verliert seinen Anspruch, nach 12.30 h gibt es nichts mehr. Die Essensausgabe erfolgt nur in genormte Gefäße nach DIN 1836/A07, die vom Bittsteller mitzubringen sind. Außerdem gibt es genaue Vorschriften, wie diese Gefäße bei der Ausgabe und während des Anstehens zur Essensausgabe zu halten sind. Bei der Ausgabe muss der Bittsteller den genauen Wortlaut der Bitte entsprechend den Angaben in den Durchführungsvorschriften auswendig aufsagen, leider ist der Text in Pali und in den Durchführungsschriften ist dieser auch nur in Pali-Schriftzeichen abgedruckt, die heute bedauerlicherweise nur noch Pali-Gelehrte lesen können.
Und selbst diejenigen, die bereit wären, alle Bemühungen zur Erfüllung dieser Vorschriften zu erfüllen, werden von dieser Maßnahme kaum erfahren, den Thero wohnt in einer kleinen, abgelegenen Straße ganz am Rande der Stadt, wo fast niemand vorbei kommt. Warum das so ist, erläutert Thero auf sehr konservative Art: „So war es bei Hungersnöten in der Zeit meines Vaters und zu Zeiten des Vaters meines Vaters und eigentlich schon seit vielen Generationen. Das ist ein altes bewährtes Verfahren. Was damals gut genug war, ist auch jetzt gut genug. Und wenn die Leute wirklich Hunger haben, können sie ja wohl diese kleinen Unbilden in Kauf nehmen. Wer nicht einmal bereit ist, sich an diese klaren Vorschriften zu halten, der hat in Wirklichkeit vermutlich gar keinen Hunger, der ist einfach nur ein arbeitsscheuer Faulpelz.“