Believe Me - Tahereh Mafi - E-Book

Believe Me E-Book

Tahereh Mafi

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Beschreibung

Für alle, die nach der letzten Seite noch immer nicht genug haben: das abschließende E-Short der TikTok-Sensation

Nach Imagine Me folgt ein letzter Einblick in die Shatter Me-Welt!

Juliette und Warner haben hart dafür gekämpft, das Reestablishment ein für alle Mal zu zerstören. Doch das Leben nach dem Sieg ist alles andere als einfach.

Dabei hat Warner andere Dinge als Politik im Kopf: Nach allem, was er und Juliette durchgemacht haben, um zusammen zu sein, kann er es kaum erwarten, sie zu heiraten. Endlich scheint ihre gemeinsame Zukunft in Reichweite, doch das Chaos dieser neuen Welt versucht immer wieder, ihr Glück zu verhindern. Können sie dem standhalten und endlich zusammen glücklich sein?

Für alle, die von Juliette und Warner nicht genug bekommen können: Die Novellen zu der TikTok Sensation

Alle Bände der »Shatter Me«-Reihe:
Shatter Me (Band 1)
Destroy Me (Band 1.5, E-Short)
Unravel Me (Band 2)
Fracture Me (Band 2.5, E-Short)
Ignite Me (Band 3)
Restore Me (Band 4)
Shadow Me (Band 4.5, E-Short)
Defy Me (Band 5)
Reveal Me (Band 5.5, E-Short)
Imagine Me (Band 6)
Believe Me (Band 6.5, E-Short)
Join Me (alle Shorts in einem Sammelband)

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Tahereh Mafi

Believe Me

Aus dem amerikanischen Englischvon Mara Henke

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Erstmals als cbt E-Book März 2024

© 2021 by Tahereh Mafi

Published by Arrangement with Tahereh Mafi

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

»Believe Me« bei Harper, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30161 Hannover.

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Mara Henke

Lektorat: Ulla Mothes

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Cover art © 2013 by Colin Anderson

Cover art inspired by a photograph by Sharee Davenport

skn · Herstellung: bo

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31767-6V001

www.cbj-verlag.de

1

Die Wand ist außergewöhnlich weiß.

Weißer als andere Wände. Viele glauben, eine weiße Wand sei eine weiße Wand. Das stimmt aber nicht, sie wirkt nur so. Der Farbe der meisten weißen Wände wird ein Anteil Gelb hinzugefügt, damit sie nicht grellweiß sind, sondern eher eierschalen- oder elfenbeinfarben. Oder irgendwie cremeweiß. Zumindest gedämpft, wie Eiweiß. Reines Weiß ist als Farbe kaum erträglich.

Diese weiße Wand hier ist kein Angriff auf die Sehnerven, aber doch immerhin so weiß, dass ich darüber nachdenke. Was mir darüber hinweghilft, dass ich schon über eine halbe Stunde daraufstarre. Siebenunddreißig Minuten, um es genau zu sagen.

Ich werde mal wieder als Geisel gehalten. Man gewöhnt sich dran.

»Nur noch fünf Minuten«, sagt sie. »Versprochen.«

Ich höre das Rascheln von Stoff. Einen Reißverschluss. Ein zartes Rauschen –

»Ist das etwa Tüll?«

»Du sollst doch nicht hinhören!«

»Weißt du, Liebste, mir fällt gerade auf, dass ich schon weniger qualvolle Haftsituationen erlebt habe.«

»Okay, okay, ich hab’s ausgezogen. Und weggepackt. Ich muss mich jetzt nur schnell wieder anzie–«

»Nicht nötig.« Ich drehe mich um. »Dabei darf ich doch wohl zuschauen.«

Ich lehne mich an die außergewöhnlich weiße Wand und betrachte meine Liebste, die mich stirnrunzelnd und mit halb offenem Mund anschaut. Sie scheint vergessen zu haben, was sie sagen wollte.

»Mach ruhig weiter«, sage ich und nicke ihr zu. »Mit dem, was du gerade tun wolltest.«

Sie veranstaltet jetzt eine Show aus missbilligendem Stirnrunzeln und gespielter Empörung. Komplettiert das Theater, indem sie mit gespielter Schamhaftigkeit ein Kleidungsstück vor sich hält.

Was mich nicht davon abhält, meinen Blick über ihren hinreißenden Körper schweifen zu lassen. Ihr Haar ist in jeder Länge wunderschön, aber in letzter Zeit trägt sie es sehr lang. Seidig gleitet es über ihre Haut und – wenn ich Glück habe – bald auch über meine.

Langsam lässt sie das T-Shirt sinken.

Ich richte mich auf.

»Das hier soll ich unter dem Kleid tragen«, murmelt sie und müht sich mit den Bändern einer Korsage ab, nachdem sie die Spitzenstrümpfe und den Strumpfbandgürtel zurechtgezupft hat. Sie weicht meinem Blick aus, ist plötzlich verlegen, und diesmal nicht gespielt.

Gefällt es dir?

Die unausgesprochene Frage steht im Raum.

Als Ella mich in diese Garderobe gebeten hat, hatte ich vermutet, dass ich nicht gefühlt stundenlang über die Weißschattierungen einer Wand nachdenken sollte. Sondern mir etwas anschauen.

Und zwar Ella.

Diese Vermutung erweist sich jetzt als zutreffend.

»Du bist so wunderschön«, sage ich, ohne das Staunen in meiner Stimme verbergen zu können. Ich bemerke die kindische Bewunderung selbst, und sie ist mir peinlicher, als sie sein müsste. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich meiner intensiven Gefühle nicht schämen sollte. Dass es mir gestattet ist, ergriffen zu sein.

Dennoch ist mir das irgendwie unangenehm.

Weil ich mir so jung dabei vorkomme.

Sie sagt leise: »Jetzt habe ich das Gefühl, die Überraschung verdorben zu haben. Du solltest das alles doch erst in der Hochzeitsnacht sehen.«

Mein Herz setzt einen Moment aus.

Die Hochzeitsnacht.

Ella tritt zu mir, schlingt die Arme um mich, erlöst mich aus meiner Starre. Mein Herz schlägt schneller, und obwohl ich nicht weiß, wie sie spüren konnte, dass ich diese Berührung jetzt gebraucht habe, bin ich dankbar dafür. Ich ziehe sie dicht an mich, und wir entspannen uns beide, als unsere Körper sich aneinander erinnern.

Ich drücke mein Gesicht in ihr Haar, atme den süßen Duft ihres Shampoos ein. Erst zwei Wochen sind vergangen seit dem Ende der alten Welt und dem Anfang der neuen.

Es kommt mir noch immer vor wie ein Traum.

»Ist das alles wirklich wahr?«, flüstere ich.

Ich zucke zusammen, weil jemand laut an die Tür klopft.

»Ja?«, ruft Ella stirnrunzelnd.

»Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber hier ist ein Herr, der Mr Warner sprechen möchte.«

Ella und ich sehen uns an.

»Okay«, sagt sie rasch. »Reg dich jetzt bitte nicht auf.«

»Wieso sollte ich mich aufregen?«

Sie lehnt sich ein bisschen weiter zurück und schaut mich eindringlich an. Ihre schönen Augen schimmern, und ich sehe die Fürsorge in ihrem Blick. »Weil es Kenji ist.«

Ich muss mich so brutal zwingen, nicht auszurasten vor Wut, dass ich wahrscheinlich gleich einen Schlaganfall kriege. »Was macht der denn hier?«, knurre ich. »Woher weiß der, dass wir hier sind?«

Sie beißt sich auf die Lippe. »Wir haben ja Amir und Olivier dabei.«

»Verstehe.« Wir haben zwei Wachleute hierher mitgenommen. Das heißt, unser Ausflug wurde im Sicherheitsprotokoll vermerkt.

»Kenji war bei mir, kurz bevor wir beide aufgebrochen sind«, fügt Ella hinzu. »Er war beunruhigt, wollte wissen, warum wir in der ehemaligen Sperrzone unterwegs sind.«

Ich will mich gerade darüber ereifern, weshalb Kenji nicht intelligent genug ist, um sich das selbst zu erklären, nachdem es jede Menge Hinweise auf diese Antwort gibt – aber Ella hebt den Zeigefinger.

»Ich habe ihm gesagt«, erklärt sie, »dass wir jetzt Ersatzkleidung kaufen müssen und dass das vorerst nur in den alten Versorgungszentren möglich ist. Und er meinte, er wolle uns dort treffen, um uns behilflich zu sein.«

Der nächste Tobsuchtsanfall nähert sich. Ich starre Ella an. »Er hat gesagt, er wolle behilflich sein.«

Sie nickt.

»Unfassbar.« An meiner Wange zuckt ein Muskel. »Und wirklich bemerkenswert, weil Kenji ja schon so ungeheuer behilflich war – indem er zum Beispiel gestern Abend meinen Anzug und dein Kleid ruiniert hat, weshalb wir jetzt«, ich wedle aufgebracht mit den Händen, »neue Kleidung in einem gewöhnlichen Laden kaufen müssen – und das wirklich und wahrhaftig an unserem Hochzeitstag.«

»Aaron«, flüstert Ella und legt mir die Hand auf die Brust. »Kenji ist völlig fertig deshalb.«

»Und du?«, erwidere ich und betrachte sie forschend. »Bist du deshalb nicht auch völlig fertig? Alia und Winston haben so hart dafür gearbeitet, ein ganz besonders schönes Kleid anzufertigen, eigens für dich entworfen –«

»Nicht so wichtig«, sagt sie und zuckt mit den Schultern. »Ist nur ein Kleid.«

»Aber es sollte dein Hochzeitskleid sein«, sage ich, und meine Stimme bricht.

Ella seufzt, und ich spüre, dass sie mich viel mehr bemitleidet als sich selbst. Sie dreht sich um und öffnet den Reißverschluss an dem großen Kleidersack, der an einem Haken hängt.

»Eigentlich solltest du das Kleid ja nicht vor der Trauung sehen«, sagt sie noch mal, während sie meterweise Tüll aus der Hülle zieht, »aber ich glaube, dir bedeutet es mehr als mir, deshalb«, sie dreht sich lächelnd um, »darfst du mitentscheiden, was ich heute Abend anziehe.«

Ich stöhne beinahe, als sie mich an den Zeitpunkt erinnert.

Eine Trauung am Abend. Wer heiratet denn schon abends? Nur Pechvögel. Zu denen wir jetzt wohl zählen.

Statt den gesamten Termin zu verschieben, haben wir die Zeremonie ein paar Stunden nach hinten verlegt, damit wir neue Kleidung anschaffen können. Ich habe natürlich Anzüge. Und so übertrieben wichtig ist mir meine Kleidung bei diesem Anlass auch nicht.

Aber ihr Kleid. Kenji, dieses Monster, hat am Abend vor unserer Hochzeit Ellas Hochzeitskleid ruiniert.

Ich habe die feste Absicht, ihn umzubringen.

»Du wirst ihn nicht umbringen«, bemerkt Ella.

»Ich bin mir ganz sicher, dass ich das gerade nicht gesagt habe.«

»Nein, aber gedacht, oder?«

»In der Tat.«

»Du wirst ihn nicht umbringen«, wiederholt Ella fest. »Jetzt nicht und überhaupt nie.«

Ich seufze.

Sie ringt immer noch mit den Stoffmassen.

»Verzeih mir bitte, Liebste, aber wenn all das hier«, ich weise mit dem Kopf auf die Tüllexplosion, »zu einem einzigen Kleid gehört, weiß ich leider schon, wie ich es finden werde.«

Ella hört auf zu zupfen, fährt herum und starrt mich mit großen Augen an. »Du meinst, es gefällt dir nicht? Aber du hast es doch noch gar nicht –«

»Ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass das da kein Kleid ist.« Ich beuge mich vor, betaste den Stoff. »Sondern eine würdelose Polyesterhülle. Haben die keinen Seidentüll? Vielleicht können wir mal mit der Schneiderin reden.«

»Hier gibt es keine Schneiderin.«

»Aber es ist doch ein Bekleidungsgeschäft.« Ich beäuge die Nähte am Oberteil des Kleides. »Da muss es doch eine Person geben, die schneidert. Sicher keine besonders gute, aber –«

»Diese Kleider werden in einer Fabrik hergestellt«, sagt Ella. »Von Maschinen.«

Ich sehe sie schockiert an.

»Weißt du, die meisten Menschen sind nicht mit Privatschneidern aufgewachsen«, sagt Ella mit einem kleinen Lächeln, »sondern müssen sich ihre Kleider von der Stange kaufen. Auch schlecht sitzende.«

»Ja«, sage ich betreten, fühle mich miserabel. »Natürlich. Verzeih mir. Das Kleid ist sehr hübsch. Ich sollte warten, bis du es angezogen hast. Habe mir ein vorschnelles Urteil gebildet.«

Aus unerfindlichen Gründen verschlimmert meine Bemerkung die Lage.

Ella stöhnt und wirft mir einen frustrierten Blick zu. Dann sinkt sie auf den Stuhl in der Garderobe.

Mir tut das Herz weh.

Ella stützt den Kopf in die Hände. »Es ist alles ein einziges Desaster, oder?«

Es klopft erneut an der Tür. »Sir Warner? Der Gentleman wünscht ausdrücklich –«

»Das ist kein Gentleman«, erwidere ich scharf. »Richten Sie dem Typen aus, er soll warten.«

Kurzes Schweigen. Dann, leise: »Ja, Sir.«

»Aaron.«

Ich brauche Ella nicht anzuschauen, um zu wissen, dass meine Grobheit sie unglücklich macht. Die Besitzer dieses Ladens haben ihn eigens für uns heute geschlossen und sind ausgesprochen liebenswürdig zu uns. Ich weiß, dass ich mich unmöglich benehme. Aber im Moment kann ich offenbar nicht anders.

»Aaron.«

»Heute ist unsere Trauung.« Ich sehe sie nicht an. »Der Typ hat unseren großen Tag versaut. Unseren Hochzeitstag.«

Ella steht auf. Ich spüre, dass ihre Frustration nachlässt. Sie wandelt sich zu einer Mischung aus Traurigkeit, Glück, Hoffnung, Angst und schließlich –

Kompletter Resignation.

Eines der absolut furchtbarsten Gefühle an einem Tag, der ein Freudentag sein sollte. Resignation ist schlimmer als Frustration. Viel schlimmer.

Meine weiß glühende Wut erkaltet langsam.

»Kenji hat ihn nicht verdorben«, sagt sie schließlich. »Es kann immer noch alles gut werden.«

»Du hast recht.« Ich nehme sie in die Arme. »Du hast völlig recht. Das ist wirklich alles zweitrangig. Nicht wichtig.«

»Aber es ist mein Hochzeitstag«, wendet Ella jetzt kläglich ein. »Und ich habe nichts anzuziehen.«

»Auch damit hast du recht.« Ich küsse sie auf den Kopf. »Ich bringe Kenji also doch um.«

Jetzt hämmert jemand an die Tür.

Ich erstarre. Fahre herum.

»Hey, Leute?« Wieder Gehämmer. »Ich weiß, dass ihr supersauer auf mich seid. Aber ich hab prima Nachrichten. Ich mach das wieder gut.«

Ich will gerade etwas schreien, als Ella mir die Hand auf den Arm legt. Dann sieht sie mich mit einem Blick an, der eindeutig besagt –

Gib ihm noch eine Chance.

Ich seufze, während meine Wut abebbt und meine Schultern sich entspannen. Dann trete ich widerstrebend beiseite, damit Ella diesen unsäglichen Idioten so behandeln kann, wie sie es wünscht.

Ist immerhin ihr Hochzeitstag.

Sie geht zur Tür, bleibt dicht davor stehen. Dann deutet sie mit dem Zeigefinger auf die außergewöhnlich weiße Tür und sagt: »Das sollte jetzt wirklich sensationell gut sein, Kenji. Ansonsten bringt Warner dich um, und ich werde ihm dabei behilflich sein.«

Und in der nächsten Sekunde –

Lächle ich wieder.

2

Wir werden so zum Refugium zurückgebracht, wie wir zurzeit überall unterwegs sind – in einem kugelsicheren schwarzen Geländewagen mit Chauffeur. Ich finde beunruhigend, dass wir durch diesen Wagen mit den dunkel getönten Scheiben letztlich noch auffälliger sind. Aber, wie Castle zutreffend sagte: Es gibt keine andere Lösung, wir müssen das also vorerst so hinnehmen.

Als wir durch das bewaldete Gebiet in der Nähe des Refugiums fahren, versuche ich, mir meinen Zustand nicht anmerken zu lassen. Aber mein Körper ist angespannt, bereit zum Kampf. Nach dem Sturz des Reestablishment wagten sich die meisten Rebellengruppen aus dem Untergrund hervor.

Wir jedoch nicht.

Letzte Woche wurde dieser unbefestigte Waldweg verbreitert für den Geländewagen, damit man uns möglichst nahe zum Eingang bringen kann. Aber allzu viel nützt das auch nicht. Wir sind schon wieder so dicht von Menschenmengen umringt, dass der Wagen nur schrittweise vorwärtskommt. Die Leute wollen ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen, wirken aber kämpferisch, wenn sie schreien oder an die Fenster hämmern, und ich muss mich dann enorm beherrschen, ruhig zu bleiben. Still zu sitzen, nicht nach der Pistole in meinem Schulterholster unter dem Sakko zu greifen.

Es fällt mir schwer.

Ich weiß natürlich, dass Ella sich selbst verteidigen kann, das hat sie schließlich schon unzählige Male bewiesen. Dennoch kann ich meine Sorgen nicht abstellen. Sie ist so berühmt geworden, dass es geradezu beängstigend ist. Bis zu einem gewissen Grad gilt das für uns alle. Aber Juliette Ferrars – unter diesem Namen kennt man sie in der Welt – ist so berühmt, dass sie nirgendwo mehr hingehen kann, ohne dass ein Menschenauflauf entsteht.

Die Leute verkünden, sie lieben sie.

Dennoch bleiben wir vorsichtig. Es gibt noch immer viele Personen weltweit, die nur allzu gern das zerschlagene Reestablishment wieder aufleben lassen wollen. Und eine vom Volk geliebte Heldin zu ermorden, wäre dafür ein geeigneter Anfang. Obwohl wir im Refugium durch Nourias exzellenten Schutzschild Freiheiten genießen können wie nirgendwo sonst, ist es nicht gelungen, unseren Aufenthaltsort geheim zu halten. Man weiß, wo man uns finden kann, weshalb inzwischen Menschenmassen hierherpilgern. Abertausende von Zivilisten halten sich tagtäglich hier auf.

Nur um einen einzigen Blick zu ergattern.

Wir mussten Barrikaden aufstellen lassen. Bewaffnete Soldaten zum Schutz postieren. Dieser Ort ist kaum noch wiederzuerkennen, ist jetzt bereits eine andere Welt. Und ich merke, wie ich innerlich erstarre, als wir uns dem Eingang nähern. Gleich geschafft.

Ich schaue auf, um etwas zu sagen –

»Keine Sorge.« Kenji sieht mich an. »Nouria hat die Security noch mal verstärkt. Wir werden von einer eigenen Truppe erwartet.«

»Ich verstehe nicht, warum das alles nötig ist«, sagt Ella, die aus dem Seitenfenster schaut. »Warum kann ich nicht zumindest mal kurz mit diesen Menschen sprechen?«

»Weil du bei dem letzten Versuch, das zu tun, fast niedergetrampelt wurdest«, antwortet Kenji mit einem Seufzer.

»Aber das war doch nur ein Mal.«

Kenji runzelt aufgebracht die Stirn, und ausnahmsweise sind wir uns mal vollkommen einig. Ich lehne mich zurück, während er an den Fingern aufzählt: »Am selben Tag, an dem du fast niedergetrampelt wurdest, hat jemand versucht, dir die Haare abzuschneiden. An einem anderen haben mehrere Leute probiert, dich zu küssen. Einige wollten dir ihre neugeborenen Babys in den Arm drücken. Ich habe mindestens sechs Leute erlebt, die sich vor Aufregung in die Hose gepinkelt haben, was nicht nur schockierend, sondern auch enorm unhygienisch ist, vor allem, wenn die dich danach umarmen wollen.« Er schüttelt entnervt den Kopf. »Diese Menschenmengen sind zu gigantisch, Prinzessin. Zu wild, zu leidenschaftlich. Alle schreien dir ins Gesicht, prügeln sich, um dich berühren zu können. Und die meiste Zeit sind wir nicht mehr imstande, dich zu beschützen.«

»Aber –«

»Mir ist auch klar, dass die meisten dieser Leute nichts Böses im Sinn haben«, sage ich. Ella wendet sich mir zu, als ich ihre Hand ergreife. »Die sind einfach neugierig. Und zutiefst dankbar für ihre Freiheit. Sie wollen die Person erleben, der sie ihre Freiheit verdanken. Was ich deshalb so genau weiß«, füge ich hinzu, »weil ich die Energie in diesen Menschenmengen überprüfe und darauf achte, ob ich irgendwo Wut oder Gewaltbereitschaft spüre.« Ich seufze, schüttle den Kopf. »Denn es ist garantiert so, dass du auch Feinde hast. Du bist innerhalb einer solchen Menschenmenge nicht in Sicherheit. Noch nicht – und vielleicht nie.«

Ella holt tief Luft, atmet dann langsam aus. »Ich weiß, dass du recht hast«, sagt sie leise. »Aber es fühlt sich irgendwie falsch für mich an, nicht mit den Menschen zu sprechen, für die wir gekämpft haben. Ich möchte mich ihnen mitteilen. Ich möchte, dass sie wissen, wie sehr uns ihr Wohl am Herzen liegt – und wie viel wir noch dafür tun wollen, um alles wieder aufzubauen und ihr Leben zu verbessern.«

»Das wirst du auch tun können«, erwidere ich. »Ich werde dafür sorgen, dass du Gelegenheit bekommst, das alles dem Volk mitzuteilen. Aber wir regieren erst seit zwei Wochen, Liebste. Für solche Aktionen fehlt uns noch die nötige Infrastruktur.«

»Wir arbeiten aber darauf hin, ja?«

»Das tun wir«, antwortet Kenji. »Und wenn du übrigens – also, ich will mich nicht rausreden oder so, damit das klar ist –, aber hättest du mir nicht die Leitung des Aufbaukomitees übertragen, hätte ich wohl kaum Anweisung gegeben, baufällige Gebäude abzureißen, von denen eines die Werkstatt von Winston und Alia war«, Kenji hebt entschuldigend die Hände, »was ich selbstverständlich nicht wusste. Wie gesagt, ich will mich nicht rausreden – aber woher zum Teufel hätte ich das wissen sollen? Es war offiziell aufgelistet als Sicherheitsrisiko und deshalb zum Abriss markiert –«

»Was wiederum die beiden nicht wussten«, unterbricht ihn Ella mit ungeduldigem Unterton. »Sie haben genau deshalb ihre Werkstatt dort eingerichtet, weil das Gebäude leer stand.«

»Ja. Ganz genau.« Kenji deutet auf sie. »Aber das wusste ich eben nicht.«

»Du bist mit Winston und Alia befreundet«, sage ich schroff. »Müsstest du so was da nicht wissen?«

»Hör mal, Mann, seit die Welt sich drastisch verändert hat, sind gerade mal zwei Wochen vergangen, okay? Ich war beschäftigt.«

»Das waren wir alle.«

»Schluss jetzt«, sagt Ella entschieden und schaut stirnrunzelnd aus dem Fenster. »Schaut mal, da ist Adam. Was macht er denn hier draußen?«

Falls Kenji antwortet, bekomme ich es nicht mit, weil ich durch die getönten Fenster beobachte, wie Adam sich durch die Menge drängt, auf unseren Wagen zusteuert. Er scheint unbewaffnet zu sein und schreit irgendetwas, aber die Leute beruhigen sich nicht. Nach ein paar weiteren Versuchen kann er sich Gehör verschaffen, und zahllose Augenpaare sind auf ihn gerichtet.

Ich kann nicht hören, was er schreit.

Dann tritt er langsam beiseite, als zehn schwer bewaffnete Männer und Frauen sich einen Weg durch die Menge bahnen. Sie bilden eine Gasse zwischen Auto und Eingang. Kenji steigt als Erstes aus, macht sich und Ella unsichtbar, und ich übernehme seine Kraft zu meinem eigenen Schutz. Unsichtbar eilen wir zum Eingang.

Erst als wir sicher auf dem Gelände des Refugiums angekommen sind, entspanne ich mich.

Ein bisschen zumindest.

Wie ich es immer tue, werfe ich noch einen Blick zurück auf die Menge, die sich außerhalb der unsichtbaren Schutzhülle des Refugiums versammelt hat. Manchmal stehe ich auch hier und studiere die Gesichter. Halte nach irgendetwas Bedrohlichem Ausschau, einer noch namenlosen Gefahr.

»Hey – fantastisch.« Winstons Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich drehe mich zu ihm um. Winston sieht ziemlich schmutzig und verschwitzt aus.

»Super, dass ihr wieder hier seid«, sagt er atemlos. »Kann jemand von euch zufällig Rohre reparieren? In einem der Zelte gibt es ein verstopftes Klo, und niemand kann sich darum kümmern.«

Unsere Rückkehr in den Alltag kommt abrupt.

Und ist enorm ernüchternd.

Aber Ella tritt vor und greift doch wahrhaftig nach dem Schraubenschlüssel – großer Gott, ist das Ding etwa auch noch feucht? Ich lege den Arm um meine Braut, versuche, sie zurückzuziehen. »Bitte, Liebste. Doch nicht heute. Nicht ausgerechnet heute.«

»Was?« Sie sieht mich fragend an. »Warum denn nicht? Ich bin gut in so was. Hey, übrigens«, sagt sie den anderen, »wusstet ihr, dass Ian ein super Tischler ist?«

Winston lacht.

»Das wusstest nur du nicht, Prinzessin«, antwortet Kenji.

Ella runzelt die Stirn. »Wir haben vor ein paar Tagen zusammen an einem der erhaltenswerten Häuser gearbeitet. Und da hat Ian mir den Umgang mit all seinen Werkzeugen beigebracht.« Sie strahlt. »Ich habe ihm dabei geholfen, eine Mauer zu bauen.«

»Trotzdem seltsame Erklärung dafür, dass du dich kurz vor deiner Hochzeit mit Fäkalien abgeben möchtest«, höre ich plötzlich Adam, der unbemerkt zu uns getreten ist.

Mein Bruder.

Was für ein seltsames Gefühl.

Adam sieht glücklicher und gesünder aus als je zuvor. Er brauchte eine volle Woche zum Genesen, nachdem wir ihn hierhergebracht hatten. Aber als er wieder zu sich kam und wir ihm erzählten, was sich inzwischen ereignet hatte – und dass James in Sicherheit war –, fiel Adam in Ohnmacht.

Und schlief zwei weitere Tage.

Seither ist er wie ausgetauscht. Vergnügt und fröhlich. Uns anderen haftet immer noch etwas Düsteres an – vielleicht für immer –

Aber Adam wirkt von Grund auf verändert.

»Wollte euch nur mal vorwarnen«, sagt er, »dass wir was Neues ausprobieren. Nouria möchte, dass ich mich draußen aufhalte und erst mal jeden deaktiviere, der das Refugium betritt. Bist du damit einverstanden, Juliette?«

Juliette.

So vieles hat sich verändert, seit wir zurückgekommen sind, und dazu gehört auch ihr Name. Sie hat ihren alten Namen wieder angenommen. Sagte, wenn sie ihn nicht mehr benutzen würde, gäbe sie damit dem Geist meines Vaters zu viel Macht. Ihr ist klar geworden, dass sie ihre Jahre als Juliette nicht vergessen möchte – dass sie der jungen Frau von damals Achtung erweisen möchte, die leidenschaftlich um ihr Leben gekämpft hat. Juliette Ferrars war sie, als sie in der Welt bekannt wurde – und will es bleiben.

Ich bin der Einzige, der sie Ella nennen darf.

Das ist etwas nur zwischen uns. Eine Verbindung zu unserer gemeinsamen Geschichte. Eine Würdigung unserer Vergangenheit und meiner Liebe für Ella, die ich immer empfunden habe, welchen Namen sie auch trug.

Ich beobachte sie, während sie mit ihren Freunden lacht, einen Hammer aus Winstons Werkzeuggürtel zieht und so tut, als wolle sie Kenji damit hauen – was er zweifellos voll und ganz verdient hat.

Plötzlich tauchen Lily und Nasira auf. Lily trägt einen kleinen Hund auf dem Arm, den Ian und sie aus einem verlassenen Haus gerettet haben. Mit einem Aufschrei lässt Ella den Hammer fallen, Adam springt erschrocken zurück. Sie nimmt Lily das schmutzige Tier aus den Armen und küsst es ab, obwohl es erbost bellt. Dann sieht Ella mich an, während der Köter ihr weiter ins Ohr kläfft, und ich sehe Tränen in ihren Augen. Sie weint wegen eines Hundes.

Juliette Ferrars, einer der am meisten gefürchteten und verehrten Menschen unserer Welt, vergießt Tränen wegen eines Hundes. Das würde vielleicht niemand verstehen, aber ich weiß, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben so ein Tier in den Armen hält. Ohne Zögern, ohne Angst, ohne Gefahr zu laufen, der unschuldigen Kreatur etwas zuleide zu tun. Für Ella ist das pures Glück.

Aus Sicht der Welt ist Ella überlebensgroß.

Aus meiner Sicht?

Ist sie die ganze Welt.

Deshalb protestiere ich nicht, als sie das Wesen in meine Arme legt, sondern halte still, während das Vieh mit derselben Zunge mein Gesicht ableckt, mit der es sich zweifellos auch das Gesäß säubert. Ich halte auch still, als seine schmutzigen Krallen sich in meinen Mantel bohren und in der Wolle verfangen. Ich bin tatsächlich so reglos, dass sich das Tier nach und nach beruhigt und an meine Brust schmiegt. Es winselt und starrt mich so lange auffordernd an, bis ich schließlich die Hand hebe und ihm über den Kopf streiche.

Und als ich Ella lachen höre, bin ich glücklich.

3

»Warner?«

»Mr Warner?«

Ich zucke beinahe zusammen bei dieser Stereoansage meines Namens, lasse mir aber nichts anmerken und setze ruhig und behutsam den Hund auf den Boden. Dann wende ich mich in Richtung der bekannten Stimmen, aber das räudige Tier legt offenbar keinerlei Wert auf seine Freiheit. Stattdessen stemmt es eine Pfote an mein Bein, winselt und blickt ebenso jämmerlich wie erwartungsvoll zu mir hoch.

Will es gefüttert werden? Oder gekrault?