12,99 €
Eine große Liebe. Ein machtgieriger Herrscher. Eine Königin vor ihrer schwersten Eintscheidung.
Alizeh, die zukünftige Königin des Dschinn-Volkes, und Kamran, Kronprinz des Reiches, das sie seit Jahrtausenden unterdrückt, sind ihren Gefühlen füreinander erlegen. Und nun muss sich erweisen, ob diese unmögliche Liebe eine Zukunft haben kann und was sie bereit sind, dafür zu opfern ...
Die atemberaubende Fortsetzung der süchtig machenden Bestsellerreihe: voller Magie, großer Gefühle, dramatischer Verwicklungen und mit einer epischen Liebesgeschichte, von der Autorin des TikTok-Sensationserfolg »Shatter Me«.
Die Bände der »This Woven Kingdom«-Reihe:
This Woven Kingdom (Band 1)
These Infinite Threads (Band 2)
All This Twisted Glory (Band 3)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 472
Tahereh Mafi
Aus dem Englischen von Barbara Imgrund
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2023 Tahereh Mafi
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel: »These Infinite Threads« bei HarperCollins Children’s Books einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins Publishers
Übersetzung: Barbara Imgrund
Lektorat: Julia Przeplaska
Umschlaggestaltung und Einband: Geviert, Grafik & Typografie unter Verwendung des Originalcovers © Alexis Franklin, Gestaltung: Jenna Stempel-Lobell, und der Innenillustrationen und Motive von © Shutterstock (Anna Poguliaeva)
MP · Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30241-2V001
www.cbj-verlag.de
Warum ließ das Schicksal den Prinzen in Luxus und Bequemlichkeit schwelgen, nur um ihn dann den Händen seiner grausamen Schächer auszuliefern?
Die Weisen wissen, dass es keine Gerechtigkeit gibt in diesem Tal der Tränen.
Aus dem Schahnameh von Firdausi
Erzähle mir von meinem Ende.
Wann steht es geschrieben, dass ich diese Welt verlasse?
Wer wird meinen Thron erben?
Aus dem Schahnameh von Firdausi
»NICHT!«, BRÜLLTEKAMRAN. »DASFEUER …«
Die Worte erstarben in seiner Kehle.
Fassungslos sah er zu, wie Alizeh durch die hüfthoch lodernden Flammen stürmte; er kauerte auf dem Boden, dessen Kälte allmählich durch die ramponierte Seide seiner Hose kroch. Kamran kamen immerhin die schweren Lagen aus Stoff und die juwelenbesetzten Gurte zugute, die er trug – das Feuer hatte ihm bisher nicht allzu sehr zusetzen können. Aber Alizeh – sie trug einen Hauch von nichts, so fein war das Gewebe ihres Kleides.
Die Flammen werden ihr das Fleisch von den Knochen schmelzen.
Das dachte er noch, während sie schon achtlos die Feuersbrunst durchpflügte und ihr hauchdünnes Kleid binnen eines Wimpernschlags von dem Ring aus Flammen versengt wurde, einer magischen Abscheulichkeit, die das Werk des jungen tulanischen Königs war. Cyrus. Und ebendieser Herrscher stand nun direkt vor Kamran. Er hielt sein Schwert noch immer hoch erhoben, in Vorfreude auf den Todesstreich, den er gegen Kamran führen würde. Doch bei Alizehs Anblick, die nun auf ihn zuhielt, erstarrte seine Hand. Wie von außerhalb seines Körpers beobachtete Kamran, dass sie die Flammen auf ihrem Kleid mit bloßen Händen ausschlug, wie jemand anders eine Kerze erstickt hätte. Er sah auf die Überreste seiner eigenen Kleidung, dann auf das Blut, das von seinen Fingerknöcheln tropfte. Langsam wanderte sein Blick wieder zu Alizeh empor; sein Kopf war immerhin klar genug, um zu erkennen, dass sie dem Inferno unversehrt entkommen war, auch wenn ihr Kleid sehr gelitten hatte. Er blinzelte. Das war doch nicht möglich – entweder träumte er oder es war ein Trugbild. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Nein, er konnte sich auf gar nichts einen Reim machen.
Alizeh, die in der Eile fast über die heruntergefallene Krone des Königs gestolpert wäre, hatte Kamran das schwere Erbstück im Laufen zugeworfen. Auf diese Krone starrte er nun hinunter, starrte darauf, während ihn ein plötzliches Zittern befiel, da Schock und Kälte ihn mit vereinten Kräften an etwas erinnerten …
Sein Großvater war tot.
König Zaal lag vor aller Welt auf dem Rücken, und unter seinem leblosen Körper sammelte sich das Blut in einer Pfütze, einem ungleichmäßigen Oval, das wie ein Schrei aus einem geöffneten Mund anmutete. Sein Großvater hatte sich auf einen Handel mit dem Teufel eingelassen, um sein Leben zu verlängern – am Ende hatte der Tod den König rasch und würdelos geholt, und der Monarch war gemeinsam mit seinen Freveln vergangen. Die weißen Schlangenzwillinge, erschlafften Muskelsträngen gleich, die noch immer mit den blassen Schultern eines so geliebten Herrschers verwachsen waren, wirkten dermaßen grotesk, dass Kamran einen plötzlichen Brechreiz verspürte; er stützte seine zitternden Hände auf dem eiskalten Boden ab, während er sich mit wachsendem Grauen fragte, wie viele Straßenkinder den Schlangen seines Großvaters geopfert worden waren.
Diese Vorstellung war zu monströs.
Kamran war ganz krank vor Ernüchterung, vor Verleugnung. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, seine Gedanken zu ordnen; doch eine Pein, die er nicht benennen konnte, streckte die Klauen nach seinem Bewusstsein aus. Der Schmerz schien von seinem linken Arm herzurühren. Er wünschte sich, jemand anders zu sein. Er wünschte sich, die Zeit zurückzudrehen. Vor allem anderen wünschte er sich, ohne auch nur im Geringsten zu dramatisieren, dass es Cyrus gelungen wäre, ihn zu töten.
Das Raunen ihres bisher stummen Publikums war in der Zwischenzeit stetig zu einer solchen Lautstärke angeschwollen, dass Kamrans jahrelange Geschultheit im Kampf und seine Achtsamkeit erwachten. Sein Geist schärfte sich angesichts des Getöses, sein Pflichtbewusstsein durchdrang den Nebel des Kummers und ersetzte ihn durch Wut, Konzentration …
Ein plötzliches Klirren.
Kamran blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Alizeh Cyrus’ Schwert zu Boden schleuderte; der junge Mann zuckte zusammen, als der glitzernde Stahl geräuschvoll auf dem Marmor auftraf. Der fremde König starrte Alizeh mit einer Verblüffung an, die der von Kamran Konkurrenz machte; seinen Gesichtszügen nach schien ihn Furcht zu betäuben, während Alizeh sich zum Angriff bereit machte.
»Wie kannst du es wagen?«, schrie sie. »Du Idiot. Du nichtsnutziges Monstrum.«
»Wie … wie hast du …« Cyrus wich unsicher einige Zentimeter zurück. »Wie konntest du einfach so durchs Feuer gehen? Warum – warum brennst du nicht?«
»Du abscheuliche, elende Kreatur«, stieß sie zornig hervor. »Du weißt, wer ich bin, aber du weißt nicht, was ich bin?«
»Nein.«
Sie schlug ihm hart ins Gesicht, mit solcher Kraft, dass er ins Taumeln geriet. Der König aus dem Süden wankte rückwärts gegen eine Säule, an der er sich hörbar den Kopf stieß.
Kamran war bis ins Mark erschüttert.
Er wusste, dass er in diesem Augenblick hätte jubeln sollen – wusste, dass er Alizehs Vorgehen gegen den Despoten hätte feiern müssen –, doch sein Verstand wollte sich der Erleichterung nicht hingeben, denn die Szene, die sich vor ihm abspielte, war mit dem Verstand nicht zu fassen.
Cyrus wirkte unerklärlich entmutigt.
Die Verzagtheit in seinen Augen, seine Verwunderung darüber, dass Alizeh ihn angriff, die unsicheren Schritte rückwärts, als sie gegen ihn vorrückte – all das ergab keinen Sinn. Alizeh hatte Kamran gegenüber eben noch darauf beharrt, dass sie den König aus dem Süden nicht kannte; und doch schien Cyrus, der seine Gnadenlosigkeit über Gebühr bewiesen hatte, von ihrer Anwesenheit aufs Höchste alarmiert zu sein. Warum sollte er, wenn sie einander wirklich fremd waren, vor einem unbewaffneten Mädchen zurückweichen, das er nicht kannte? Sie hatte sein Schwert zu Boden geworfen, ihn wiederholt beschimpft und geohrfeigt – und der junge König, der erst vor wenigen Minuten Zaal eine Klinge ins Herz gestoßen hatte, hatte nicht einmal die Hand zur Gegenwehr erhoben. Er hatte einfach nur dagestanden und sie angestarrt und sie fast schon dazu eingeladen, ihn zu schlagen.
So als hätte er Angst vor ihr.
Kamran wagte nicht zu atmen, während ihm ein schrecklicher Verdacht dämmerte; allein der Gedanke daran schüttelte ihn so sehr, dass er dachte, er würde ihm alle Luft aus der Brust pressen.
Von Anfang an war Kamran von Alizehs Verwandlung auf dem Ball gebannt gewesen. Binnen Stunden waren ihre Wunden auf wundersame Weise geheilt, sie hatte die symbolträchtige Snoda, die sie zur Arbeit trug, abgenommen und ihre glanzlose Kutte durch eine extravagante Robe ersetzt, die sich keine Hausangestellte je hätte leisten können – und noch immer leugnete er die Wahrheit, so verzweifelt versuchte er, Alizeh vom Vorwurf der Arglist freizusprechen. Endlich verstand er aber doch.
Er war betrogen worden.
Sein Blick huschte erneut zu der am Boden hingestreckten Gestalt seines Großvaters.
König Zaal hatte versucht, ihn zu warnen; er hatte Kamran angefleht zu begreifen, dass Alizeh mit der Prophezeiung und mit dem Ende von Zaals Leben eng verwoben war – und erst jetzt, da sein Großvater tot war, verstand Kamran das Ausmaß seiner eigenen Torheit. Jedes närrische Wort, das er zu ihrer Verteidigung vorgebracht hatte – jede dumme, kindische Maßnahme, die er zu ihrem Schutz ergriffen hatte …
Ohne Vorwarnung begann Cyrus zu lachen.
Kamran sah auf; der König aus dem Süden wirkte blass und verwirrt. Von dort aus, wo Kamran kniete, konnte er Alizehs Gesicht nicht erkennen; er erkannte nur das Entsetzen in Cyrus’ Augen, während dieser sie betrachtete. Der junge Mann hatte seinen eigenen Vater um des tulanischen Throns willen umgebracht; nun hatte er König Zaal ermordet, den Herrscher über das größte Imperium auf Erden, und er hätte auch Kamran getötet, wäre ihm nur noch etwas mehr Zeit vergönnt gewesen, um es zu Ende zu bringen. Nun kam der rothaarige Tyrann langsam wieder zu sich, während ihm Blut von den Lippen rann und sein Kinn verschmierte. Von allen Widersachern, auf die sie beide hätten treffen können, hatten sie sich – so schien es – ausgerechnet von der armen, freundlichen Magd aus Bazhaus einschüchtern lassen.
»Verdammt sei der Teufel in seiner Hölle«, sagte der tulanische König leise. »Er hat mir nicht erzählt, dass du eine Dschinn bist.«
»Wer?«, wollte Alizeh wissen.
»Unser gemeinsamer Freund.«
»Hazan?«
Kamran zuckte zusammen. Auf noch einen Verrat war er nicht gefasst gewesen; die Wucht dieses Namens durchfuhr seinen Körper mit einer Unbarmherzigkeit, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Dass Alizeh irgendwie mit Cyrus im Bunde war, war Qual genug – aber dass Hazan ihn hintergangen hatte?
Das war mehr, als er ertragen konnte.
Sie hatte Angst und Unschuld geheuchelt, hatte ihn bei jeder Gelegenheit ausgetrickst, und was am schlimmsten – am allerschlimmsten – war: Er war auf ihre Manöver hereingefallen. In der ganzen Zeit, die er sie nun kannte, hatte Alizeh an ihrer Snoda festgehalten und sogar mitten in einem Gewitter alles dafür getan, ihre Identität zu verschleiern; und jetzt stand sie ohne Maske vor einer Unzahl Adeliger, starrte den schrecklichen König eines Nachbarreichs finster an und offenbarte sich der Welt.
Die ganze Zeit über hatte Alizeh ihre eigenen Pläne verfolgt.
Kamran war bereits schwer gebeutelt von Kummer und Wut; schon jetzt hatte er zu kämpfen, um das Ausmaß der letzten Augenblicke zu verdauen, konnte kaum seine widersprüchlichen Gedanken über seinen Großvater zusammenbringen – aber wie … Wie sollte er aus alldem hier schlau werden? Er, der sich doch immer seiner verlässlichen Instinkte rühmte – er, der sich für einen tüchtigen, mit Intuition begabten Soldaten hielt …
»Hazan?« Cyrus lachte wieder, und seine Hand zitterte fast unmerklich, als er sich Blut vom Mund wischte. »Hazan? Natürlich nicht Hazan.« Er suchte Kamrans Blick und sagte: »Gebt gut acht, König, denn es sieht so aus, als hätten selbst Eure Freunde Euch betrogen.«
Alizeh drehte sich plötzlich zu Kamran – die Augen schreckgeweitet –, und ihr ganz offensichtlich schuldbewusstes Erröten war der einzige Beweis, den Kamran noch brauchte. Vor wenigen Stunden hätte er noch jeden Eid geschworen, dass ihr Verlangen nach ihm so spürbar wie das Gefühl von Satin auf seiner Haut gewesen war; er hatte ihr Salz gekostet, hatte die wunderbaren Formen ihres Körpers unter seinen Händen ertastet. Jetzt wusste er, dass alles eine Lüge gewesen war.
Hölle.
Dies war die Hölle.
Aber zu sagen, dass diese Enthüllung ihm das Herz brach, hätte die Wahrheit nicht getroffen. Kamran war nicht untröstlich, nein – er schäumte vor Zorn.
Er würde sie töten.
Jede naive Sanftmut, die noch in Kamrans Herz übrig war, verflüchtigte sich. Er hatte sich von einer Sirene verführen lassen, während er von seinem Freund hintergangen worden war – und hatte der einzigen Person, die sich wirklich um sein Wohlergehen sorgte, förmlich ins Gesicht gespuckt. König Zaal hatte sich um Kamrans Glück willen dem Bösen verschrieben – und der Mann hatte nichts als Treulosigkeit und Verrat dafür geerntet. Diese dunkle Nacht war allein aus Kamrans Taten erwachsen, das begriff er jetzt. Das gesamte ardunische Imperium war verwundbar geworden, weil sein Körper und sein Geist schwach gewesen waren.
Nie wieder.
Nie wieder würde er einer Frau erlauben, seine Gefühle zu beherrschen; nie wieder würde er sich von solchen Versuchungen schwächen lassen. Er schwor sich: Dieses Ungeheuer aus der Prophezeiung würde von seiner Hand sterben – er würde ihr eine Klinge ins Herz stoßen oder bei dem Versuch sterben.
Aber zuerst war Hazan an der Reihe.
Kamran fing den Blick einer Wache auf, die auf Befehle wartete, und wortlos, allein mit den Augen, erließ er seine erste Verfügung als König von Ardunia: Hazan würde hängen.
Kamran verspürte keinen Siegestaumel, als er zusah, wie sein einstiger Minister ergriffen und weggeschleift wurde; es stellte sich kein Triumphgefühl bei Hazans schwachem Protest ein, der in dem entgeisterten Schweigen des Saals gut zu hören war. Nein, Kamran erlebte nur das Anwachsen eines erschreckenden Wahnsinns, als er sich hochstemmte. Dabei wagte er es, sein Gewicht auf seinen verletzten Arm zu verlagern, und bemerkte erst daran, dass es ihn entsetzliche Mühe kostete, dass auch seine Beine böse verbrannt waren. Seine Haut und seine Kleider waren blutverklebt; sein Kopf fühlte sich bleiern an. Es war eine Wahrheit, die er sich nur sehr widerwillig eingestand: dass er nicht wusste, wie lange er hier noch standhalten konnte ohne die Hilfe eines Wundarztes. Oder eines Wahrsagers.
Nein. Die königlichen Wahrsager waren tot. Von Cyrus ermordet.
Kamran schloss die Augen, als es ihm wieder einfiel.
»Iblees.«
Beim Klang ihrer leisen, treulosen Stimme riss er die Augen wieder auf. Kamrans Herz begann erneut zu hämmern; die Intensität dieses Pulsschlags erschreckte ihn. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr verstörte: die Erkenntnis, dass Alizeh und Cyrus im Leibhaftigen einen gemeinsamen Freund hatten, oder die Entdeckung, dass sein Körper sie immer noch wollte, noch immer beim bloßen Klang ihrer Stimme in Wallung geriet …
Sie war verschwunden.
Panisch suchte Kamran nach ihr, doch erfolglos; stattdessen sah er Cyrus auf jemanden starren, der nur Alizeh sein konnte, weil sie eben noch dort gestanden und gesprochen hatte …
Ohne Vorwarnung wurde sie wieder sichtbar.
Alizeh stand am selben Fleck, nur dass sie jetzt verschwommen wirkte und mit schwindelerregender Beharrlichkeit scharf und wieder unscharf wurde.
War sie es, die ihm das antat? Besaß sie einen Zugang zu schwarzer Magie?
An Alizehs Platz war jetzt nur noch ein milchiger, verwaschener Klecks zu sehen; ihre Stimme klang verzerrt und wässrig und hallte, als würde das Mädchen in einem Glasbehälter sitzen.
»Zzzzeit hasssst dddu vvvvom Teueueufel …«
Kamran fuhr sich mit den blutbesudelten Händen übers Gesicht. Als wäre jede weitere Enthüllung nicht ohnehin schon vernichtender als die vorige – wurde er jetzt auch noch blind und taub?
»Gessssandt hol Iiiinteresseeee mein Llleben?«
Seine verletzten Beine versagten ihm den Dienst, während sein Kopf zerspringen wollte; er zitterte, seine Hände griffen Halt suchend in die Luft, aber dann fiel er hart auf sein übel verbranntes Bein. Er hätte vor Schmerzen fast aufgeschrien.
Doch dann ein Gnadenerweis …
Der tulanische König antwortete, und seine Worte waren deutlich zu verstehen: »Ist das nicht offensichtlich? Er will, dass du herrschst.«
Ein schreckliches Donnern erfüllte Kamrans Kopf. Keine Zeit, sich über die Wiederherstellung seines Gehörs zu freuen. Die monströse Dämonin mit Eis in den Adern besaß der Prophezeiung zufolge Furcht einflößende Verbündete – und dies war ein weiterer Beleg für die Weisheit der Wahrsager, für die Warnungen seines Großvaters …
Der Teufel selbst stand ihr zur Seite.
Die Menge wurde nun lauter, und er konnte auch sie hören, denn aus dem Raunen waren Rufe und hysterische Schreie geworden. Kamran sah sich einmal mehr daran erinnert, dass der gesamte Adel von Ardunia in diesem Raum versammelt war; die höchsten Würdenträger aus dem ganzen Reich hatten sich zu einem Abend dekadenter Festlichkeit zusammengefunden. Stattdessen würden sie nun den Sturz des größten Imperiums der Welt bezeugen.
Kamran wusste nicht, wie er das überleben sollte.
Er hörte Cyrus wieder lachen, hörte ihn sagen: »Eine Dschinnkönigin, die die Welt regiert. Oh, es ist so schrecklich rebellisch. Die perfekte Rache.«
Erneut versuchte Kamran, auf die Beine zu kommen. Sein Kopf pochte vor Rachedurst, er sah noch immer nicht klar. Der Raum, der Boden, selbst Cyrus – alles erschien gestochen scharf, nur Alizeh blieb mehr diffuser Schein denn Gestalt, eine Reihe von hintereinandergereihten Lichthöfen im vagen Umriss eines Körpers. Andererseits reichte es durchaus aus, nur grob zu wissen, wohin er zielen musste.
Die Offenbarungen dieses Abends hatten mehr als bewiesen, dass sein Großvater zu Recht vor dem Mädchen gewarnt hatte – und Kamran würde eher sterben, als den Mann ein zweites Mal zu enttäuschen. Sein Schwert lag nur wenige Schritte entfernt, und obwohl Kamran die Distanz unüberwindbar erschien, wollte er sich dazu zwingen, es zu tun. Vielleicht konnte er Alizeh die Waffe ins Herz stoßen, sie jetzt töten, dieser Tragödie noch heute Abend ein Ende bereiten.
Er hatte eben erst einen qualvollen Schritt auf sein Schwert zu geschafft, als sich Alizehs verschwommener Umriss von Cyrus wegbewegte; dann, in einem schicksalhaften Aufblitzen, konnte Kamran ihr Gesicht sehen.
Sie wirkte entsetzt.
Dieser Anblick bohrte sich in seine Brust, während sich die Trübung seiner Linsen im selben Augenblick zu klären schien; die Gestalt des Mädchens wurde plötzlich scharf gestellt – oh, dies war in der Tat ein grausames Los. Alizeh war eine Feindin und im Besitz einer Macht, die er sich vorzustellen nie imstande gewesen wäre. Noch jetzt glitzerte in ihren Augen ein Gefühl, das ihn niederschmetterte. Ihre Arglist war so anmutig, so natürlich; sie suchte mit den Augen so hektisch den Raum ab, als wäre sie wirklich außer sich.
Kamran verfluchte das elende Organ in seiner Brust und boxte mit der geballten Faust gegen seine Rippen, als wollte er es zum Stillstand bringen. Ein furchtbarer Schmerz sägte sich durch seinen Körper, von solch brutaler Wucht, dass es ihm den Atem raubte. Es war, als hätte ein Baum unter seinen Füßen ausgeschlagen, hätte sich mit Kamrans Wirbelsäule zu einem Stamm verbunden und gigantische Äste gewaltsam durch seine Adern getrieben.
Er fiel keuchend vornüber und hätte beinahe den Moment verpasst, in dem Alizeh zu ihm herübersah und unvermittelt einen Satz machte, sich dem Inferno entzog, einmal mehr unversehrt.
Hatte sie ihn nach dem Schwert greifen sehen? Hatte sie seine Absichten erahnt?
Alizeh war ein aufreizender Anblick, sogar auf der Flucht, nun, da ihr Kleid zweifach versengt war. Sie flog an ihm vorbei in wenig mehr als Fetzen aus durchsichtiger Seide; er konnte jede Kurve ihres Körpers sehen, die geschmeidige Form ihrer Beine, die Wölbung ihrer Brüste, und er hasste sich dafür, dass er sie wollte, selbst jetzt noch. Hasste sich für die Gier, die er verspürte, während er ihr nachsah, hasste die Instinkte, die ihm trotz aller augenfälligen Gegenbeweise zuschrien, dass sie in Gefahr war – dass er sich aufraffen und sie beschützen sollte …
»Warte – wohin willst du?«, rief Cyrus. »Wir hatten eine Vereinbarung … Es ist dir unter keinen Umständen erlaubt, wegzulaufen …«
Wir hatten eine Vereinbarung.
Die Worte hallten in Kamrans Kopf nach, immer und immer wieder. Jede Silbe traf ihn wie eine Klinge und verursachte eine blutende Wunde. Bei den Engeln, wie viele Schläge musste er heute Nacht noch einstecken?
»Ich muss«, antwortete sie, während ihr die erregte Menge Platz machte. »Es tut mir leid«, rief sie. »Es tut mir leid, aber ich muss gehen – ich muss einen Ort finden, an dem ich mich verstecken kann, irgendwo, wo er nicht …«
Plötzlich kippte Alizeh vornüber, wie von einer unsichtbaren Kraft getroffen, und wurde in die Luft hochgerissen.
Sie schrie auf.
Kamran reagierte, ohne nachzudenken. Ein Adrenalinstoß trieb ihn hoch, eine Anwandlung von Dummheit zwang ihn, Alizehs Namen zu rufen. Er lief so nah an sein feuriges Gefängnis, wie er es wagte. Durch die Angst in seiner Stimme verriet er sich zweifellos der Welt, wenn nicht gar sich selbst – aber er konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Alizeh wurde höher und höher geschleudert, während sie sich wand und krümmte und weiterschrie, und Kamran verurteilte sich dafür, dass er so gepeinigt auf ihre Qualen reagierte; noch immer konnte er den Kampf nicht begreifen, der in ihm tobte.
»Mach, dass es aufhört!«, rief sie. »Lass mich herunter!«
Kamran begriff plötzlich, und er sah zu Cyrus. »Ihr«, sagte er und erkannte in dem heiseren Krächzen kaum seine eigene Stimme. »Ihr macht das mit ihr.«
Cyrus’ Miene verfinsterte sich. »Sie ist selbst schuld.«
Ein weiterer gefolterter Schrei kam Kamrans Erwiderung zuvor. Er fuhr gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Alizeh auf die Dachsparren zuwirbelte – eine sehr schwarze Magie hielt sie zweifellos in den Klauen –, und er verlor prompt den Kampf gegen die Vernunft. Er konnte dieses Chaos nicht ordnen, konnte die Unzahl an Fragen, die ihn bestürmten, nicht beantworten.
Kamran fühlte sich wie entwurzelt, während er sie nicht aus den Augen ließ.
Alizeh war eine so machtvolle Kraft, dass sie den Teufel einen Freund nannte, den Herrscher einer feindlichen Nation als Verbündeten betrachtete. Sie hatte schwarze Magie angewandt, um Illusionen zu erschaffen, die so überzeugend waren, dass er wirklich geglaubt hatte, sie habe echte Verletzungen an Händen, Hals und Gesicht erlitten. Sogar König Zaal hatte ihr das hilflose, unwissende Dienstmädchen abgenommen. Und doch war ihr Schluchzen von einer so glaubwürdigen Hysterie, dass selbst er …
»Ihr könnt sie sehen.«
Der Satz rüttelte ihn auf. Kamran drehte sich zu Cyrus um und ließ den Blick über das kupferrote Haar seines Feindes gleiten, seine kalten blauen Augen. Von allem, was Cyrus hätte sagen können, war das besonders seltsam und Kamran zu scharfsinnig, um es als bedeutungslos abzutun. Cyrus’ augenscheinliche Überraschung darüber, dass Kamran Alizeh sehen konnte, ließ eine simple Schlussfolgerung zu:
Vielleicht konnten andere sie nicht sehen.
Es war eine These, die nichts erklärte, aber doch äußerst wichtig schien. Kamran grübelte, was die Ursache seiner zeitweiligen Blindheit gewesen war, und Angst kroch erneut seine Wirbelsäule hinauf.
»Was habt Ihr mit ihr gemacht?«, fragte er vorsichtig.
Cyrus antwortete nicht.
Gemächlich stieß sich der König aus dem Süden von der Säule ab und hob sein Schwert auf. Er ging mit gekünstelter Unbekümmertheit auf Kamran zu, wobei er das Schwert wie einen Hund an der Leine hinter sich herzog; kurz übertönte das gespenstische Schleifen von Stahl über Stein Alizehs Schreie.
»Ich dachte, sie wäre um meinetwillen durchs Feuer gegangen«, sagte Cyrus. »Jetzt erst verstehe ich, dass sie es getan hat, um Euch zu schützen.«
Seine blauen Augen flackerten auf, eine Sekunde lang verriet Cyrus sich. Hinter seiner seelenruhigen Fassade war etwas Verzweifeltes und Unbeherrschtes, wenn nicht gar Gebrochenes. Kamran betrachtete den Moment als eine Art Gnadenerweis, denn er ließ ihn begreifen, dass der junge Mann ein schwächerer König war, als es den Anschein hatte.
»Ihr kennt ihren Namen«, fuhr Cyrus leise fort.
Kamran spürte sein Herz beklommen pochen, doch er erwiderte nichts.
»Wie kommt es, dass Ihr ihren Namen kennt?«, wollte Cyrus wissen.
Als Kamran endlich sprach, klang seine Stimme bleiern und kalt. »Dasselbe könnte ich auch Euch fragen.«
»Das könntet Ihr in der Tat«, gab Cyrus zurück und hob sein Schwert ein paar Zentimeter an. »Andererseits ist es mein Vorrecht, den Namen meiner Braut zu erfahren.«
Ein scharfer Schmerz explodierte in Kamrans Brust genau in dem Augenblick, als ein markerschütterndes Krachen den Saal bersten ließ. Er verbiss sich einen Schrei und griff sich an die Rippen, während er einmal mehr auf die Knie fiel. Er musste würgen, so brutal war der Schlag. Kamran hatte keine Ahnung, wie ihm geschah, und es blieb keine Zeit, Vermutungen anzustellen. Er konnte noch gerade rechtzeitig seine Lider aufstemmen, um nicht nur der Zerstörung seines Heims beizuwohnen, sondern auch der Ankunft eines gewaltigen, schillernden Drachen, bei dessen Anblick ihm das Blut in den Adern stockte.
Die Wahrsager hätten niemals zugelassen, dass eine solch fremdartige Bestie über den Himmel von Ardunia flog.
Aber die Wahrsager waren tot.
Kamran sah zu, wie der Drache Alizeh auffing, als sie plötzlich aus schwindelnden Höhen herabstürzte. Die monströse Kreatur sorgte dafür, dass die junge Frau sicheren Halt auf ihrem Rücken fand, bevor sie wieder nach oben schoss. Sie gab ein ungeheuerliches Brüllen von sich, bewegte die ledrigen Schwingen, und binnen eines Wimpernschlags waren Drache und Reiterin fort, durch das eben erst gewaltsam in die Palastmauer gebrochene Loch in die Nacht entschwunden.
Im fortschreitenden Chaos konnte Kamran nicht länger leugnen, dass er am Boden zerstört war.
Der Kummer über den Verlust seines Großvaters hatte eben erst begonnen, zu ihm durchzudringen, und jeder weitere Verrat hatte ihn weiter gebrochen, nicht unähnlich einer Folge kleiner Tode, von denen jeder eine gewaltsame Ungerechtigkeit war und jeder nach einer eigenen Trauerzeit verlangte.
Zaal war falsch gewesen. Hazan war falsch gewesen. Alizeh …
Alizeh hatte ihn vernichtet.
Dennoch konnte er immer noch das Brüllen der Menge hören, die Hitze seines Feuerkäfigs spüren, die hartnäckige Kälte des Marmorbodens unter seinen Knien. Ihm fehlte die Kraft, aufzustehen; Schmerzstöße durchzuckten seinen Körper erbarmungslos, in einem gleichmäßigen Rhythmus, der nicht nachzulassen schien. Langsam hob Kamran den Kopf und sah Cyrus in die Augen. Er fühlte sich so wund, dass es ihm vorkam, als würde seine Kehle bluten, als er zu sprechen begann.
»Ist das wahr?«, fragte er. »Wird sie Euch wirklich heiraten?«
Cyrus trat mit gezücktem Schwert näher. »Ja.«
Ein weiterer Schlag, von dem sich Kamran nicht erholte.
Er verzog das Gesicht, als ein frischer Schmerz seinen Nacken hinauf, quer über die Schultern explodierte. Seine Reaktion war so echt, dass selbst Cyrus die Stirn runzelte.
»Faszinierend«, sagte der tulanische König und hob Kamrans Kinn mit der Spitze seines Schwerts an. Kamran, der kaum atmen konnte vor Pein, schaffte es dennoch, zurückzuzucken; die Bewegung bescherte ihm eine weitere Welle der Qual. »Ihr seht aus, als würdet Ihr im Sterben liegen.«
»Nein«, keuchte Kamran, der sich mit den Händen auf dem Boden abstützte.
Cyrus musste fast lachen. »Wenn Ihr Eurem Großvater nicht auf dem Fuß folgen wollt, dann glaube ich, dass Ihr keine Wahl in dieser Sache habt.«
Woher er die Kraft dazu nahm, wusste Kamran nicht, doch er rappelte sich mühsam auf, mit der Art von Tapferkeit, die nur ein gebrochener Mann aufbringt, einer, der alles wagt.
Kamran war wie ausgehöhlt.
Binnen einer einzigen Stunde hatten sich die Fäden seines ganzen Lebens aufgelöst. Er war wie wahnsinnig und fiebrig, so, als würde er sich durch einen Albtraum bewegen. Irgendwie hatten ihn die Schrecken gestärkt. Er hatte das Gefühl, dass er nichts mehr hatte.
Nichts zu verlieren.
Er griff nach seinem Schwert, als würde sein Arm nicht heftig bluten, als wäre das Fleisch an seinen Beinen nicht frisch verbrannt. Es erschien wie ein Wunder, dass es ihm überhaupt gelang, seine Waffe zu erheben und sich seinem Widersacher zu stellen.
Da hörte er zahlreiche Schritte heranstürmen, einen Chor aus besorgten Stimmen, während sich eine Wachbrigade dem feurigen Ring näherte – doch Kamran gebot ihnen mit einer Geste Einhalt.
Dies war sein Kampf, den er zu Ende bringen musste.
Cyrus warf einen Blick auf die bewaffneten Zuschauer, dann musterte er den Prinzen eine gefühlt sehr lange Zeit.
»Na schön«, meinte er endlich. »Sagt nicht, ich wäre nicht barmherzig. Ich werde schnell machen. Ihr werdet nicht leiden.«
»Und ich«, sagte Kamran, und seine Stimme klang schleifend wie Kies, »werde dafür sorgen, dass Eure Qual ewig währt.«
Ein Aufblitzen von Zorn, und Cyrus’ Schwert fuhr durch die Luft in einem einzigen blendenden Streich, den Kamran mit überraschender Wucht parierte, obwohl sein geschundener Körper vor Anstrengung bebte. Seine Beine zitterten, seine Arme schrien gepeinigt auf, doch Kamran wollte sich nicht geschlagen geben. Er wollte lieber im Kampf sterben, als sich ergeben – und es war dieser Gedanke, der die Hitze in seiner Brust anfachte, der ihm ein zweites Leben schenkte, einen erschreckenden Energieschub.
Mit Freuden würde er krepieren, während er sich verteidigte.
Mit einem kehligen Schrei schaffte er einen Ausfall gegen seinen Gegner, sodass er Cyrus zurücktrieb und sein Schwert wieder freibekam. Kamran drängte unverzüglich weiter vor, und er bewegte sich mit schockierender Wendigkeit, als er einen Satz nach vorn machte, als er Cyrus abwehrte. Eine Zeit lang war alles, was Kamran hörte, Stahl; er sah nichts als das Glänzen von Metall, Klingen, die in Bögen klirrend aufeinandertrafen und einander wieder entrannen.
Cyrus machte eine Finte, dann sprang er mit verblüffender Schnelligkeit vor – zu spät erst spürte Kamran das Brennen der Verletzung, die er ihm beibrachte. Er hörte die panischen Schreie der Menge, doch er konnte die Wunde nicht sehen; tatsächlich war er kaum in der Lage, zu sagen, welcher Teil seines Körpers Schaden genommen hatte.
Er hatte keine Zeit.
Kamran schickte sich an, einen zweiten Angriff abzuwehren, und erlebte einen flüchtigen Moment des Triumphs, als Cyrus mit einem gemurmelten Fluch zurückwich. Der König aus dem Süden fing sich unverzüglich wieder und begegnete Kamrans Vorstoß mit einer Reihe von so präzise choreografierten Streichen, dass selbst Kamran nicht ohne Bewunderung für die Schönheit dieser Attacke war. Es war ein seltenes Vergnügen, gegen einen ebenbürtigen Feind zu kämpfen, das Potenzial der eigenen Kraft ohne Hemmungen zu erproben. Doch dieser Beweis für Cyrus’ Fähigkeiten – und seine blitzschnellen Reflexe – festigte nur Kamrans Gewissheit, dass es der südliche König Alizeh vorhin erlaubt hatte, ihn zu überwältigen. Für den Prinzen ließ dieses Verhalten nur zwei Erklärungen zu: Entweder war sie die Überlegene in ihrer beider Arrangement oder er hatte sie nicht verletzen wollen. Vielleicht auch beides.
Vielleicht waren sie einander wirklich versprochen.
Dieser niederschmetternde Gedanke hauchte ihm neues Leben ein, mit einer alarmierenden Kraft, deren Ausmaß ihm unvertraut blieb. Er wusste nur, dass seine Instinkte schärfer waren, als er sie je gespürt hatte, und bald sah er eine leichte Anspannung in Cyrus’ Gesicht, das Glänzen von Schweiß auf der Stirn, das sich zweifellos auch bei ihm zeigte. Beide atmeten schwer, aber selbst als Blut Kamrans Hände hinuntertropfte und bei jeder Bewegung den Marmorboden unter seinen Füßen befleckte, ermüdete er nicht.
Wieder rückte er vor …
Die jungen Männer kreuzten die Klingen in einer Bewegung, die so heftig war, dass Kamrans gesamter Körper erbebte. Sie waren gefangen in einem übermenschlichen Patt; Widersacher, die einander im Glanz ihrer Klingen ins Auge fassten.
Dann zögerte Cyrus aus einem unerfindlichen Grund.
Es war nur ein Sekundenbruchteil, in dem der tulanische König die Stirn runzelte, in dem sein Blick abgelenkt war, doch Kamran wusste die Gelegenheit zu nutzen – mit roher Gewalt drang er auf den anderen ein und zwang Cyrus, sich zu ducken. Kamran war jetzt im Vorteil – alles, was er noch tun musste, war, seinen Gegner zu brechen. Es würde ihm große Genugtuung bereiten, Cyrus’ Herz zu durchbohren; Kamran wusste bereits, dass er ihn ausweiden lassen würde. Er würde die blutigen Organe unter einer gläsernen Glocke auf dem Marktplatz ausstellen, damit die Maden sie fänden und ein Festmahl feierten.
»Ich finde, Ihr solltet wissen, dass gerade etwas mit Euch geschieht«, sagte Cyrus schwer. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Mit Eurer Haut.«
Kamran achtete nicht darauf.
Cyrus versuchte, ihn zu verunsichern, und er würde es nicht zulassen, nicht, wenn er dem Sieg so nah war. Mit einem plötzlichen Schrei trieb Kamran seinen Feind ein letztes Mal zurück – und Cyrus fiel schwer atmend zu Boden. Es klirrte, als sein Schwert auf dem Marmor auftraf.
Kamran verlor keine Zeit und näherte sich seinem gestürzten Rivalen mit wilder Entschlossenheit. Ein letztes Mal erhob er sein Schwert …
Und erstarrte.
Eine haarsträubende Lähmung befiel seinen Körper an Ort und Stelle; die Empfindung war so heftig, dass Kamran kaum Luft bekam. Als wäre er zwischen zwei Glasscheiben gepresst, sah er zu, wie sich Cyrus aufrappelte, sein Schwert in die Scheide stieß und nach seinem Hut suchte. Sobald er die seltsame Kopfbedeckung aufgesetzt hatte, ging er lächelnd zu Kamran, der wie eine Statue dastand.
»Ich habe kaum noch Ehre im Leib, melancholischer König. Jedenfalls nicht genug, um zu sterben, obwohl ich es verdient hätte.«
Kamran wehrte sich gegen das Gefängnis seines eigenen Körpers, doch er fühlte, wie seine Lungen mit jeder Sekunde an Kraft verloren, während seine übrigen Organe von außen zusammengedrückt wurden.
Cyrus hörte nicht auf zu lächeln.
»So unglücklich es auch ist«, fuhr er fort, »ein Anflug von Menschlichkeit überlebt hartnäckig in meinem Fleisch. Deshalb werde ich dein Herz heute weiterschlagen lassen. Es ist sowieso besser, wenn du am Leben bleibst, oder? Besser, wenn du bei vollem Bewusstsein leidest, deinen widerwärtigen Großvater betrauerst, jeden Tag in dem Wissen zubringst, dass du nicht nur von jenen verraten wurdest, die du verabscheust, sondern auch von jenen, die du liebst – und fürchterlich bei dem Versuch scheiterst, ein armseliges Imperium anzuführen.«
Kamran spürte, wie sich sein Herz in seiner Brust zusammenkrampfte, seine Augen brannten und überzulaufen drohten.
Nein, wollte er schreien. Nein, nein …
»Ich freue mich darauf, wieder gegen dich zu kämpfen«, sagte Cyrus leise und tippte sich an den Hut. »Aber zuerst wirst du mich finden müssen.«
Dann löste er sich in Luft auf.
ALIZEHRÜHRTESICHLANGENICHT.
Sie war von Angst und Ungläubigkeit wie gelähmt, ihr Denken bestürmt von Ungewissheit. Langsam kehrte Gefühl in ihre Gliedmaßen zurück, in ihre Fingerspitzen. Bald spürte sie den Wind in ihrem Gesicht, sah, dass sich der Nachthimmel um sie her ausbreitete wie ein mitternächtliches, mit Sternen besticktes Laken.
Allmählich begann sie, sich zu entspannen.
Das Untier war schwer und massig und schien zu wissen, wohin es wollte. Alizeh atmete die Luft tief in ihre Lungen ein, versuchte, die Panik ganz loszuwerden, sich zu sagen, dass sie sicher wäre, zumindest solange sie sich an dieser wilden Kreatur festhielt. Sie veränderte ihre Position, als sie plötzlich durch die Überreste ihres dünnen Kleides hindurch weiche Fasern über ihre Haut streichen fühlte. Sie sah prüfend an sich herunter. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie auf einem kleinen Teppich saß, der …
Alizeh hätte beinahe wieder geschrien.
Der Drache war verschwunden. Er war noch immer da – sie konnte das Geschöpf unter sich fühlen, die ledrige Beschaffenheit seiner Haut –, aber es war unsichtbar geworden, sodass es aussah, als würde sie auf einem gemusterten Teppich fliegen.
Es war zutiefst verstörend.
Doch da verstand sie, warum der Drache verschwunden war – ohne seinen gewaltigen Leib konnte sie die Welt unter sich sehen, die Welt jenseits.
Alizeh wusste nicht, wohin die Reise ging, aber für den Augenblick zwang sie sich, nicht panisch zu werden. Schließlich war hier ein seltsamer Frieden in der Stille, die sie umgab.
Während sie sich entspannte, schärfte sich ihr Denken. Rasch riss sie sich die Stiefel von den Füßen und schleuderte sie in die Nacht hinaus. Es erfüllte sie mit großer Zufriedenheit zu sehen, wie sie in die Dunkelheit entschwanden.
Erleichterung.
Ein unvermittelter Aufprall auf dem Teppich veränderte dessen Schwerpunkt und ließ sie aufschrecken, sodass sie kerzengerade dasaß. Alizeh fuhr herum, während ihr Herz wieder in der Brust zu hämmern begann. Als sie das Gesicht ihres ungebetenen Reisegefährten sah, dachte sie daran, den Stiefeln in die Nacht nachzuspringen.
»Nein«, flüsterte sie.
»Das ist mein Drache«, sagte der tulanische König. »Es ist dir nicht erlaubt, meinen Drachen zu stehlen.«
»Ich habe ihn nicht gestohlen, das Vieh hat … Warte, wie bist du hierhergekommen? Kannst du fliegen?«
Da lachte er. »Ist das mächtige Reich Ardunia wirklich so arm an Magie, dass dich diese kleinen Zaubertricks beeindrucken?«
»Ja«, erwiderte sie blinzelnd. »Wie heißt du?«
»Was für eine unlogische Frage! Warum willst du meinen Namen wissen?«
»Damit ich dich zwangloser hassen kann.«
»Aha. Nun, in diesem Fall kannst du mich Cyrus nennen.«
»Cyrus«, wiederholte sie. »Du widerwärtiges Ungeheuer. Wohin um Himmels willen fliegen wir?«
Ihre Beleidigungen schienen ihm nichts auszumachen, denn er lächelte immer noch. »Hast du das wirklich noch nicht begriffen?«
»Ich bin zu durcheinander für solche Spielchen. Bitte sag mir einfach, was für ein schreckliches Schicksal mich erwartet.«
»Oh, das allerschlimmste aller Schicksale – tut mir leid, das sagen zu müssen. Wir sind gerade unterwegs nach Tulan.«
Die Nosta brannte heiß auf ihrer Haut, und Alizeh merkte, wie sie starr vor Angst wurde. Sie war verblüfft, ja, und auch erschrocken, aber zu hören, dass ein König so abfällig über sein eigenes Reich sprach …
»Ist Tulan wirklich so ein furchtbarer Ort?«
»Tulan?« Seine Augen wurden groß vor Überraschung. »Keineswegs. Ein einziger Quadratzentimeter von Tulan ist atemberaubender als ganz Ardunia, und das ist eine nachprüfbare Tatsache, keine subjektive Meinung.«
»Aber warum« – sie runzelte die Stirn – »hast du gesagt, dass es das allerschlimmste Schicksal wäre?«
»Ach, das.« Cyrus sah weg, in den Nachthimmel. »Nun. Weißt du noch, dass ich gesagt habe, ich stünde tief in der Schuld unseres gemeinsamen Freundes?«
»Ja.«
»Und wenn ich dir helfen würde, wäre das die einzige Vergeltung, die er akzeptieren würde?«
Sie schluckte. »Ja.«
»Und weißt du noch, dass ich gesagt habe, er will dich herrschen sehen? Als Dschinnkönigin?«
Alizeh nickte.
»Nun. Du hast kein Königreich«, erklärte er. »Kein Land, um es zu regieren. Kein Imperium, um darüber zu herrschen.«
»Nein«, entgegnete sie leise. »Das stimmt.«
»Nun denn«, fuhr Cyrus fort und holte rasch Luft. »Du kommst mit mir nach Tulan, um mich zu heiraten.«
Alizeh schrie auf und fiel vom Drachen.
Sie hörte im Fallen, während der Wind ihre Beine hinaufstrich, wie Cyrus eine Lawine an Kraftausdrücken entfesselte, und entdeckte zu ihrer Überraschung, dass sie, obwohl sie dem höchstwahrscheinlich sicheren Tod entgegenraste, nicht entsprechend reagierte.
Alizeh schrie nicht und sie spürte auch keine Angst.
Diese ungewöhnliche Reaktion auf einen plötzlichen Sturz vom Himmel wurde teilweise ausgelöst von einer Zwiespältigkeit der neuen Richtung gegenüber, die ihr Leben jüngst genommen hatte – denn Alizeh hatte geglaubt, dass sie durch die Flucht auf dem Drachen zumindest Iblees’ Intrigen entkommen würde. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie sich durch ihre Handlungen – unabsichtlich oder nicht – seinen diabolischen Plänen direkt ausgeliefert hatte. Alizeh war noch nie eine besonders rührselige Person gewesen, doch nun konnte sie sich nicht einmal dazu durchringen, sich etwas daraus zu machen, ob sie überlebte.
Andererseits war ihre ungewöhnliche Ruhe vielleicht auch das Ergebnis einer viel einfacheren Überlegung:
Alizeh wusste, dass sie gerettet werden würde.
Sie hatte diesen Gedanken kaum gedacht, da hörte sie das gedämpfte Brüllen eines ungebärdigen Drachen und das Schlagen seiner schweren Schwingen, die heftige Windstöße in ihre Richtung fächelten. Zum zweiten Mal binnen einer Stunde fiel Alizeh aus großer Höhe herab, und während die eisige Luft an ihrem Körper zerrte und ihre Haut aufriss, bemerkte sie mit so etwas wie Erheiterung, dass sich sämtliche Haarnadeln aus ihren ellenlangen schwarzen Locken gelöst hatten. Die dunklen Strähnen leckten durch die Luft wie sonderbare Zungen; einige davon schlängelten sich über ihre Augen, ihren Mund, ihren Hals, ihre Schultern. Alizeh wurde von ihrem eigenen Körper mit Blindheit geschlagen, durchgerüttelt vom Wind, gebeutelt und hart gefroren.
Sicher, Alizeh war immer kalt; das Eis in ihren Adern, das sie als Erbin eines alten Königreichs auswies, sorgte dafür, dass ihr selten, wenn überhaupt jemals, warm wurde. Dazu die Brutalität der Winternacht, der erbarmungslose Wind, der sie jetzt durchprügelte, und die Tatsache, dass sie nur noch Fetzen anstelle eines Kleides am Leib trug …
Es überraschte Alizeh, dass sie nicht jetzt schon eine Leiche war.
Dennoch reagierte sie nicht, als der Drache unter ihr auftauchte; ihr entschlüpfte nur ein erstickter Schrei, da Cyrus’ warme Hände sich um ihre Hüften legten und sie aus der Luft pflückten, als wäre sie eine Blume, vom Wind verweht. Er zog sie mit festem Griff auf den Teppich neben sich, wo sie mit einem dumpfen Aufschlag landete, bei dem ihre Zähne klapperten; danach wich der tulanische König mit wenig schmeichelhafter Hast vor ihr zurück. Sie vermerkte all das, als würde sie durch Nebel hindurch zusehen, denn mit einem Mal war Alizeh keines Gefühls mehr fähig. Sie kam sich wie eine Stoffpuppe vor, ohne Leben, ohne Seele.
Alles erschien ihr unwiederbringlich verloren.
Hazan würde hängen. König Zaal war tot. Kamran …
Kamran war in Gefahr.
Die königlichen Wahrsager Ardunias waren ermordet, der Palast war angegriffen worden. Kamran hatte Verletzungen davongetragen – wie sollte er sich einer raschen Behandlung unterziehen, wenn die Wahrsager tot waren? Wie lange würde er so angreifbar bleiben, wann würde man wieder die Mindestanzahl an Priestern und Priesterinnen versammelt haben? Sogar Alizeh, die erst vor wenigen Stunden der Zerstörung ihres eigenen Lebens beigewohnt hatte, konnte deutlich sehen, dass Kamran eine Reihe ähnlicher Nackenschläge erlebt hatte.
Als wären der Tod und die Entlarvung seines Großvaters nicht schon genug für ihn gewesen, konnte sich Alizeh noch immer lebhaft an Kamrans Gesichtsausdruck erinnern, als er begriff, dass Hazan ihn betrogen hatte, so wie er auch sie für eine treulose Verräterin zu halten schien …
Nein – nein, sie konnte es nicht ertragen.
Jede Hoffnung, die sie seit Kurzem insgeheim in ihrem Herzen genährt hatte – jede Anstrengung, die sie in den vergangenen Jahren unternommen hatte, um sich ein stilles, geschütztes Leben aufzubauen –, jede Schinderei, der sie sich in der Hoffnung auf eine ruhige Zukunft unterzogen hatte …
Sie verschloss ihren Geist gegen diese Gedanken.
Ein unbewusster Teil von Alizeh schien zu verstehen, dass sie – wenn sie dem Schmerz in ihrer Brust freien Lauf ließ – es vielleicht nicht überleben würde. Es war viel besser, so dachte sie, wenn sie ihn an der Leine hielt.
In jedem Fall musste es der Teufel sein, der ihr all das angetan hatte – der große Pläne geschmiedet hatte, sie zu foltern –, und hier, hier war der Beweis.
Sein Anhänger saß neben ihr.
»Willst du nicht etwas sagen?«, fragte Cyrus. Seine Stimme klang ungewöhnlich kleinlaut.
Alizeh hatte das Gefühl, dass ihre Lippen taub waren. »Ich will nicht.«
»Du willst nicht sprechen?«
»Ich will dich nicht heiraten.«
Cyrus seufzte.
Beide saßen in schrecklichem Schweigen da, während die Dunkelheit sie verschluckte. Der herrliche Himmel war Alizehs einziger Trost; denn obwohl sie die Zähne gegen die eisige Umgebung nur noch mehr zusammenbiss, wollte sie sich doch weder dem mitternächtlichen Ozean verschließen, über den sie zu segeln schienen, noch der Unverwüstlichkeit der Sterne, die Löcher in den Himmel brannten.
Dies war eine Angewohnheit, die sich Alizeh vor langer Zeit angeeignet hatte.
Momente der Schönheit mitten in der Katastrophe zu würdigen, half ihr oft, wieder klar und ruhig zu denken; tatsächlich hatte es schon Tage in ihrem Leben gegeben, die so trostlos gewesen waren, dass Alizeh darin Zuflucht genommen hatte, ihre Zähne zu zählen, nur um sich zu vergewissern, dass sie noch etwas von Wert besaß.
Sie zwang sich, den Einflüsterungen des Windes zu lauschen, wusste zu schätzen, dass sie den Mond noch nie aus solcher Nähe gesehen hatte, in all seiner unverstellten Pracht. Bei diesem Gedanken atmete sie tief ein, schmeckte die reine Kälte auf ihrer Zunge und hob suchend eine Hand in die Nacht empor. Der Himmel flog unter ihren Fingerspitzen vorüber, ganz wie eine Katze, die gestreichelt werden wollte.
»Denk nicht einmal daran«, durchbrach Cyrus scharf das Schweigen. »Es wäre vergebene Liebesmüh.«
Alizeh sah nicht einmal auf. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Lass dich fallen, sooft du willst. Es gibt keinen Ausweg. Ich werde dir nicht erlauben zu sterben.«
»Sprichst du zu allen jungen Frauen mit solch brennender Leidenschaft?«, fragte Alizeh ruhig, obwohl sie bis ins Mark fror. »Wenn ich ohnmächtig werde und noch einmal vom Drachen falle, wirst du allein dir die Schuld daran geben müssen.«
Cyrus gab einen Laut von sich, der einem Lachen ähnelte und rasch verklang. »Dein erster Versuch hat uns schon wertvolle Minuten gekostet. Solltest du darauf beharren, dich immer und immer wieder fallen zu lassen, werden wir uns nur verspäten und mein Drache wird ärgerlich werden. Das hat sie nicht verdient. Es ist schon weit über ihre Schlafenszeit, du musst sie nicht auch noch schikanieren.«
»Vorsicht jetzt«, erwiderte Alizeh. »Du läufst ernstlich Gefahr, zu behaupten, dass du dir etwas aus Drachen machst.«
Cyrus seufzte und sah weg. »Und du scheinst ernstlich Gefahr zu laufen, zu erfrieren.«
»Nein«, log sie.
Ohne ein weiteres Wort zog er seinen schweren, schmucklosen schwarzen Mantel aus – doch als er sich vorlehnte, um ihn ihr um die Schultern zu legen, gebot Alizeh ihm mit der Hand Einhalt.
»Wenn du meinst, dass ich jemals wieder ein Kleidungsstück von dir annehme«, sagte sie bedächtig, »dann, mein feiner Herr, hast du dich getäuscht.«
Sie sah die unsichere Regung seiner Brust, die plötzliche Anspannung in seinem Kiefer. »Von diesem Kleidungsstück geht keine Gefahr aus. Es war nur die Geste eines Kavaliers.«
Sie spürte einen Funken Hitze unter ihrem Brustbein, im selben Augenblick, da die Überraschung ihre Augen weitete. »Eines Kavaliers? Verwechselst du dich oft mit so jemandem?«
»Mit welcher Leichtigkeit du mich beleidigst«, sagte er mit spöttischem Blick. »Wärest du jemand anders, dann würde ich dich dafür hinrichten lassen.«
»Du meine Güte, noch mehr Poesie. Willst du dich mit diesen zärtlichen Erklärungen bei mir einschmeicheln?«
Da musste er sich ein Lächeln verkneifen; er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah zu den Sternen auf. »Sag – ist es zu viel verlangt, für unsere Zukunft zu hoffen, dass du dir nicht angewöhnen wirst, mir ständig Ohrfeigen zu verpassen?«
»Ja.«
»Verstehe. Dann wird das Eheleben genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Lass mich ganz offen sein: Ich verabscheue dich. Eher würde ich Gift nehmen, als dich zu heiraten, und mich erstaunt es, dass du glaubst, ich würde auch nur in Betracht ziehen, so etwas Grässliches über mich ergehen zu lassen, wenn doch klar ist, dass dein Handeln auf den Forderungen des Teufels selbst gründet. Du bist ein unverbesserlicher Schurke – wie du je hoffen konntest, ein Kavalier zu sein, begreife ich nicht.«
Cyrus war ein wenig zu lange still.
Er mied ihren Blick, als er wieder sprach, obwohl er sich zu einem Lächeln zwang. »Dann lassen wir also alle Anstandsregeln beiseite. Ich verspreche, dass ich mich in deiner Gegenwart nie wieder bemühe, ein Kavalier zu sein.«
»Hat es einen Sinn, sich ein Ziel zu setzen, das man schon erreicht hat?«
Cyrus spannte sich an und wandte sich ihr dann plötzlich zu. Etwas wie Zorn glitzerte im Mondlicht in seinen Augen. Er sagte nichts, während er seinem Blick zu wandern erlaubte, viel zu langsam, von ihren Augen zu ihren Lippen, die Säule ihres Halses hinab, dann über die Wölbung ihrer Brüste, die sich verjüngende Linie ihres kaum vorhandenen Mieders, schließlich tiefer …
»Du bist wirklich ein schrecklicher Schuft«, flüsterte sie. Es war ihr selbst zuwider, dass sie unter seiner Aufmerksamkeit errötete.
Trotz all der Dunkelheit, die sie beide einhüllte, gab es auch viel Helligkeit. Sie konnte Cyrus ziemlich gut im Sternenlicht sehen, im Schein des Mondes. Es ließ sich nicht leugnen: Er hatte tatsächlich ein bemerkenswertes Gesicht, so sehr, dass Alizeh nicht zu sagen vermochte, ob das verruchte Kupferrot seines Haars oder das stechende Blau seiner Augen sein größter Vorzug war. Andererseits war es ihr egal, denn nicht nur, dass seine Schönheit sie nicht berührte – sie hegte auch die Hoffnung, dass sie ihn bei passender Gelegenheit würde töten können.
»Dieses Kleid sollte dich eigentlich schützen«, sagte Cyrus bitter. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du es in Brand steckst. Gleich zweimal.«
Die Nosta wurde warm auf Alizehs Haut, und sie holte tief Atem. Nie war sie dankbarer für die Nosta gewesen, diese magische Kugel von der Größe einer Murmel, die Wahrheit von Lüge schied. Sie hatte sie tiefer in ihr Korsett gesteckt, bevor Cyrus plötzlich in Fräulein Hudas Schlafzimmer aufgetaucht war, doch über ihrem Sturz vom Himmel hatte sie fast vergessen, dass die Nosta noch da war. Als sie sich jetzt wieder daran erinnerte, stärkte es ihren Mut. Immerhin hatte sie inzwischen genug Informationen zusammengetragen, um zweifelsfrei zu wissen, dass Hazan und Cyrus nicht gemeinsame Sache gemacht hatten, um ihr beizustehen. Und deshalb brauchte Cyrus nie zu erfahren, dass sie diesen mächtigen Gegenstand besaß. Gleichgültig, welche Schrecken auch vor ihr lagen, sie würde immer wissen, ob er log.
Bei dieser Erkenntnis spürte Alizeh einen Stich, denn es war Hazan gewesen, der ihr die Nosta geschenkt hatte, und es schien ihr eine Tatsache zu sein, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Er würde todsicher im Morgengrauen hängen.
Es war Hazan, der die Hoffnung in ihr Leben zurückgebracht hatte, dessen Existenz den Gedanken in ihr befeuert hatte, dass das Elend ihrer Tage ein Ende haben könnte. Hazan war der Beweis, dass es noch Dschinns gab, die nach ihr suchten und an sie glaubten. Alizeh hatte seine wahre Identität nicht gekannt – dass er tatsächlich ein Würdenträger der Krone war, dass er jeden Tag mit dem Prinzen zusammenarbeitete. Er hatte sein Leben bei dem Versuch riskiert, Alizeh in Sicherheit zu bringen, und jetzt würde er den Preis dafür bezahlen. Es war ein Opfer, das sie nie vergessen würde.
»Hätte ich gewusst, dass du das Kleid einäschern würdest, hätte ich nicht so viel Magie darauf verschwendet«, sagte Cyrus gerade kopfschüttelnd. »Schließlich hat es dir viel Gutes getan. Dieses Kleid sollte dich vor jedem verbergen, der dir übelwill; stattdessen hast du es zerstört und dabei dem gesamten ardunischen Adel sowohl deine Identität als auch deine Unterwäsche offenbart. Du musst sehr zufrieden mit dir sein.«
»Wie bitte?« Alizeh sah ihn erschrocken an. »Meine Unterwäsche?«
»Du hast doch selbst Augen im Kopf«, sagte er und starrte ihr unverhohlen ins Gesicht. »Du bist praktisch nackt.«
»Wie kannst du es wagen?«
In einer fließenden Bewegung drapierte Cyrus seinen Umhang um ihre Schultern; es kam so überraschend, dass sie keine Chance zu protestieren hatte und vor Erleichterung ganz schwach wurde. Die nachklingende Wärme des wollenen Kleidungsstücks wurde begleitet vom berauschenden maskulinen Duft seines Besitzers, aber das konnte Alizeh ignorieren; der schwere Umhang umhüllte jeden Zentimeter ihres zusammengekauerten Körpers und sein seidenes Futter streichelte und beruhigte ihre vom Wind aufgesprungene Haut. Alizeh versuchte, diesem Luxus zu widerstehen, doch einmal abgesehen von ihrer stillen Selbstgeißelung, konnte sie ihre Arme nicht dazu bewegen, den Umhang abzuschütteln. Ihre Zufriedenheit war im Gegenteil so schmerzlich, dass ihr verräterische Tränen in die Augen traten, und sie musste sich auf die Lippen beißen, um einen Laut des Wohlgefallens zu unterdrücken.
Als sie endlich wieder aufblickte, sah sie, dass Cyrus sie bestürzt musterte. »Du hast wirklich gelitten«, stellte er fest. »Warum hast du nichts gesagt?«
Sie mied seinen Blick, als sie leise gestand: »Ich leide immer. Die Kälte gehört fast so zu mir wie eine zusätzliche Gliedmaße; sie schwindet nie. Ich denke selten darüber nach.«
»Dann handelt es sich bei der Kälteempfindung um eine echte Sinneswahrnehmung?« Cyrus schien die Stirn zu runzeln. »Ich habe davon gehört, natürlich, aber ich nahm an, dass es eher als Metapher gemeint war.«
Das hatte sie vergessen: Cyrus wusste nur wenig über das, was sie von ihren Vorfahren geerbt hatte.
Alizeh kniff die Augen zusammen und atmete aus, dankbar, dass ihr Körper nicht mehr so schlimm zu zittern schien.
»Das Eis markiert mich als die Erbin des verlorenen Dschinnreichs. Das furchtbare Kälteempfinden soll der Beweis für meine veranlagte Eignung sein«, erklärte sie. »Von jemandem, der die Verheerungen des Frosts im Körper nicht überlebt, kann man nicht erwarten, dass er die Verheerungen um den Thron überlebt.«
Leise erwiderte Cyrus: »Dann existierst du also wirklich. Du bist nicht nur ein Märchen.«
Alizeh riss die Augen auf. »Was meinst du damit?«
»Ich kenne die Überlieferung der Dschinns«, gab er zurück und wandte sich ab. »Diese Welt kennt viele verkappte Blaublütige. Ich hielt dich für die verhätschelte, ungekrönte Königin eines niedergegangenen Reichs, das zu klein ist, als dass sich jemand daran erinnern würde. Aber du bist diejenige, auf die sie gewartet haben, nicht wahr? Diejenige, auf die anscheinend sogar der Teufel gewartet hat. Es würde die Löcher in den vielen Rätseln stopfen, die er mir aufgetischt hat. Und es würde erklären, warum er so fürchterlich versessen auf dich ist.«
»Ja«, flüsterte Alizeh, die sich mit jedem Augenblick mehr wie eine Betrügerin vorkam. Sie sollte die Retterin ihres Volks sein? Sie, die die letzten Jahre ihres Lebens damit verbracht hatte, Böden und Toiletten zu schrubben? »Ich nehme an, ich bin diejenige.«
Cyrus seufzte nur.
Als Alizeh endlich einen Blick auf ihn wagte, ertappte sie ihn dabei, wie er in seinen schwarzen Hut starrte, während seine Finger die Krempe nachfuhren.
Bei diesem Anblick begann sie nachzudenken.
»Vorhin hast du uns mithilfe von Magie auf den Ball gebracht«, begann sie. »Warum tust du nicht dasselbe, um uns nach Tulan zu bringen? Der Drache wirkt ein bisschen dick aufgetragen.«
Cyrus’ Hände hielten inne. Er hob langsam den Blick; in seinen Augen spiegelte sich der strahlende Glanz des Horizonts wider. Es schwang keine Kritik mit, nur Überraschung, als er sagte: »Du hast wirklich keine Ahnung von Magie, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Kaum.«
»Und doch« – er runzelte die Stirn – »hat man mir gesagt, dass du sie brauchst. Dass du irgendwie alle wesentlichen Elemente der Magie in dir trägst. Kennst du dein Schicksal tatsächlich nicht?«
Da spürte Alizeh einen Stachel der Angst, ein vertrautes Summen, während ihr Herz in der Brust zu rasen begann. Erst jetzt dämmerte ihr, wie viel der Teufel diesem vollkommen Fremden über ihr Leben offenbart haben mochte. Es setzte sie in ein schreckliches Hintertreffen.
»Was hat er dir sonst noch über mich verraten?«, fragte sie.
»Wer – Iblees?«
Alizeh atmete nun schneller, während ihre Angst wuchs. Diese Nachfrage war hirnverbrannt, und sie würde sie nicht beantworten – und Cyrus, der nicht dumm war, seufzte bald.
»Wie ich sagte, er ließ nur durchblicken, dass du die Königin eines anderen Reichs seist. Eine, die ihren Thron verloren habe und sich anderswo ein Reich suche. Er hat mir nicht erzählt, dass du eine Dschinn bist.« Ein Wimpernschlag, dann fügte er hinzu: »Oder wenn er es getan hat, dann war es mir nicht klar.«
Die Nosta pulste warm.
»Seine dämlichen Rätsel machen es manchmal quasi unmöglich, ihn zu verstehen«, murmelte Cyrus, wobei sein Gesicht verdrießlich wurde. »Andererseits scheint sich alles zu seinem Vorteil zu fügen. So komplizierte Botschaften scheinen ziemlich effektiv zu sein, um leicht beeinflussbare Menschen zu übervorteilen.«
»Ja«, erwiderte Alizeh, überrascht, mit dem König aus dem Süden eine Übereinstimmung in einer Sache zu entdecken. »Dieses Gefühl kenne ich gut. Er sucht mich heim, seit ich geboren wurde.«
Cyrus fing ihren Blick auf. Er musterte sie mit so etwas wie Vorsicht. »Ich kann mich oder andere nicht mittels Magie über große Distanzen fortbewegen. Die Halbwertszeit des Minerals ist zu kurz.«
Alizeh verstand diese Erklärung nicht, doch als sie gerade eine Entscheidung treffen wollte, ob sie ihr Unwissen offenbaren sollte, trachtete eine gewaltige Windbö danach, sie vom Teppich zu fegen. Sie klammerte sich verzweifelt an ihren geliehenen Umhang und zog die Aufschläge enger um ihren Körper – und dabei fassten ihre Finger in etwas Feuchtes.
Alizeh zog ihre Hand sofort weg, um die Nässe im Mondschein zu inspizieren. Ihr Blick durchbohrte Cyrus voll erbärmlicher Angst. »Da ist Blut auf deinem Umhang«, flüsterte sie.
Cyrus’ kühler Blick ließ kein Gefühl erkennen. »Ich bin mir sicher, du besitzt genug Verstand, um dir vorzustellen, wie schwierig es wäre, einen Mann zu töten, ohne die eigenen Kleider zu beschmutzen.«
Alizeh sah weg und schluckte.
Erst jetzt ging ihr auf, dass Cyrus und Kamran nach ihrem unvermittelten Abgang eine Weile allein gewesen sein mussten – und davor war Cyrus im Begriff gewesen, Kamran den Todesstreich zu versetzen. Sie hütete sich, ihre Gefühle preiszugeben, aber wie sollte sie sich jemals wieder gut fühlen, wenn sie nicht fragte? Sie musste es erfahren – sie musste herausfinden, ob er sein Werk vollendet hatte –
»Woher wusste der Kronprinz deinen Namen?«
Alizeh fuhr zusammen, so heftig, dass ihr dabei fast der Umhang von den Schultern geglitten wäre. »Was?«, entgegnete sie, während sie Cyrus langsam ihr Gesicht zuwandte.
Wut flackerte in seinen Augen auf. »Komm schon, wir kommen doch so gut vorwärts. Wir sollten jetzt keine Rückschritte machen, indem wir uns gegenseitig damit beleidigen, Unwissenheit vorzuschützen. Du hast schon bewiesen, dass du viel schlauer bist.«
Alizeh spürte, wie ihr Herzschlag aussetzte. »Cyrus …«
»Woher kennt er deinen Namen?«, wiederholte er. »Ich hatte es so verstanden, dass du als Dienstmädchen im Verborgenen gelebt hast. Welchen Grund sollte ein Thronerbe haben, sich persönlich mit einer Magd anzufreunden?«
Alizeh legte die zitternden Finger an ihre Lippen. »Du hast ihn wirklich getötet, oder?«
»Ich sehe, dass wir beide begierig auf Erklärungen sind, die den künftigen König von Ardunia betreffen.«
»Du erstaunst mich«, flüsterte sie. »Zuerst stellst du mir diese vergiftete Falle, dann verlangst du Einblick in meine privatesten Gedanken, als hättest du irgendein Recht auf Ehrlichkeit …«
»Als dein Verlobter habe ich ein Recht darauf, deine Geschichte zu erfahren.«
»Wir sind nicht verlobt …«