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Wer weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Ein ignoranter Technik- und Modernitätsverweigerer auch nicht. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht. Der dritte Band versammelt Sprachglossen sowie Arbeiten zu Literatur, Kunst, Städten und Landschaften in Bayern. Man lernt einen grandiosen Philologen aus der Holledau kennen, subversive Revolutionäre aus Schwabing, einen anarchistischen Bierkämpfer, einen halbböhmischen Stifter-Fan, einen Römer aus Hof und einen Marmorkuchen über der Donau. Dazu Männer im Kanu, eine gezähmte Wildsau, eine herzergreifende Madonna, einen wüsten Totentanz, Poesien in Acryl und einiges mehr.
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Seitenzahl: 331
Klaus Hübner
Kein Twitter, kein Facebook
Von Menschen, Büchern und Bildern
Band 3
Außer der Reihe 43
Klaus Hübner
Bierkämpfe, Barockengel und andere Bavaresken
Kein Twitter, kein Facebook
Von Menschen, Büchern und Bildern
Band 3
Außer der Reihe 43
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Oktober 2020
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Capri23auto (Pixabay, Engel), Albrecht Fietz (Pixabay, Donaudurchbruch), Tom Reckmann (Pixelio, Maßkrug), Felix Mittermeier (Pixabay, Befreiungshalle)
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 211 9
ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 212 6
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 881 4
In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchnerpreis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft«. Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Ein ignoranter Technik- und Modernitätsverweigerer wohl auch nicht. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.
»Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und, nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …
Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny! Voilà, es folgt der dritte Streich …
München, im Juli 2020
Klaus Hübner
Die Bayerische Literaturgeschichte von Klaus Wolf verkauft sich gut. Das scheint von Publikumsseite her zu bestätigen, was der Verfasser in seinem Vorwort, hier wohl eher mit Blick auf die Wissenschaft, so formuliert: »Eine bayerische Literaturgeschichte auf wissenschaftlichem Niveau, die sich gleichwohl auch an ein gebildetes Laienpublikum wendet, stellt ein Desiderat dar.« Von vornherein ist Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg, vollkommen bewusst, dass jegliches Unterfangen, die Literaturgeschichte einer Region »stilistisch und methodisch einheitlich« darzustellen, ein per se nicht unproblematisches ist. Genau dies wird im Vorwort erörtert. Mit dem »Argument der Übersichtlichkeit«, wie immer man das verstehen darf, wird auf den »Einführungscharakter« des Buches hingewiesen – folglich kann es nicht enzyklopädisch sein, sondern muss exemplarisch vorgehen. Mit dem bis heute maßgeblichen, 1987 von Albrecht Weber herausgegebenen Handbuch der Literatur in Bayern kann und will sich diese ihre Kapitel nach Jahrhunderten ordnende Einführung nicht messen.
Nicht ohne Absicht wurde die genaue Bezeichnung des Lehrstuhls von Klaus Wolf genannt. Denn in den damit angesprochenen Jahrhunderten kennt sich der Verfasser bestens aus; dass er zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gründlich geforscht und vielfach publiziert hat, merkt man seiner Literaturgeschichte gleich an. Wobei Literaturgeschichte richtiger- und unvermeidlicherweise immer als Geistes- und Kulturgeschichte präsentiert wird, meist auch als Sozialgeschichte. Einundzwanzig Seiten zur Literaturpolitik der Agilolfinger, nebst Würdigungen des Hildebrandslieds und des Kudrun-Epos! Danach elf Seiten zur althochdeutschen Literatur des 9. Jahrhunderts, wobei der Hinweis wertvoll ist, dass die auf karolingische Initiative entstandenen althochdeutschen Texte »primär dem besseren Verständnis der dogmatisch unanfechtbaren lateinischen Theologie dienen«. Im für Oberdeutschland katastrophalen Säkulum der Ungarneinfälle kommt die volkssprachliche Literatur kaum noch vor, auch das 11. Jahrhundert gibt nicht allzu viel her. Dann aber! Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, geistliche Dichtung aus Windberg, Tegernsee und Freising, die wegen ihres Leben Jesu »wohl als erste deutsche Dichterin« hervorzuhebende Frau Ava, und vor allem: der Minnesang! Hier muss eine auf Bayern konzentrierte Literaturgeschichte festhalten, »dass die frühesten Vertreter mittelhochdeutscher Minnelyrik ganz eindeutig als (sprachlich) bairische Dichter zu betrachten sind«. Weil hier, was bei Einführungen nicht unbedingt üblich ist, zahlreiche interessante Details erörtert werden, zum Beispiel die Bezüge zwischen donauländischem Minnesang und dem in und um Passau herum entstandenen Nibelungenlied, braucht das 12. Jahrhundert wiederum einundzwanzig Seiten. Dem großartigen Wolfram von Eschenbach mit Recht zur Seite gestellt wird der im Umkreis der frühen Wittelsbacher dichtende Neidhart von Reuental. Ausführlich gewürdigt wird natürlich das Nibelungenlied, und da das 13. Jahrhundert noch andere bedeutende Sprachkunstwerke hervorbrachte, zum Beispiel den mehr als zehntausend Verse umfassenden Artusroman Wigalois des Wirnt von Grafenberg oder die im Innviertel zu situierende Verserzählung Meier Helmbrecht, da fränkische Dichter wie Konrad von Würzburg oder Süßkind von Trimberg, auch schwäbische wie Ulrich von Thürheim nicht unerwähnt bleiben dürfen und die Gesänge der Carmina Burana erklärungsbedürftig sind, wird auch dieses Kapitel lang und immer länger. Natürlich ist es für das hochkulturell unterfütterte Selbstbewusstsein der Region nicht unerheblich, dass die Kanzlei Ludwigs des Bayern im 14. Jahrhundert »keinen kleineren Beitrag zur Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache« geleistet haben soll als die Prager Kanzlei Karls IV., und natürlich sollen die wenig bekannten mystischen Prosawerke von Christina Ebner oder Adelheid Langmann nicht unter den Tisch fallen. Hans von Schiltberg mit seinen ethnologischen Studien und seinen Aussagen über den Islam gehört wie Johannes von Indersdorf oder Johannes Hartlieb ins 15. Jahrhundert, der Historiker, Maler und Hofdichter Ulrich Füetrer ebenfalls und die frühen Nürnberger Fastnachtspiele auch, und so sind wir zu Beginn des Reformationszeitalters bereits in der Mitte des Buches.
Wie zögerlich sich der Humanismus im Bayernland und an der Universität Ingolstadt durchsetzte, wie sich der Kampf der Konfessionen seit 1517 auch in Oberdeutschland literarisch niederschlug, was die Bayerische Chronik des Aventinus und der 1509 in Augsburg gedruckte Prosaroman Fortunatus auch für spätere Zeiten bedeutet haben, was es mit Nürnberg und Hans Sachs auf sich hat – Klaus Wolf ist zu Hause in der Frühen Neuzeit, und deshalb muss er auch steile Thesen nicht scheuen. Zum Beispiel bezeichnet er die immer noch sehr verbreitete Vorstellung, die Lutherbibel habe die Weiterentwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache bewirkt, ganz schlicht als »Mär« – den »literaturgeschichtlichen Ertrag von Reformation und Gegenreformation« solle man auch für Bayern »weitaus nüchterner als bislang betrachten«. Die leider kaum noch gelesenen Nürnberger Barockpoeten – Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, Sigmund von Birken und andere – kommen zu ihrem Recht, wobei immer zu bedenken sei: »Die Schäferidylle an der Pegnitz ist nur vor dem Hintergrund der Kriegsgräuel wirklich verständlich.« Ihnen gegenübergestellt wird die prunkvolle kulturelle Begleitung der Gegenreformation: das Werk von Jacob Balde, das Wirken des Abraham a Sancta Clara oder die Passionsspiele des 17. Jahrhunderts. Die literarische Aufklärung sei, vor allem in Altbayern, »nicht unwesentlich als geistlich-klerikale Initiative zu verstehen«, heißt es im Kapitel über das 18. Jahrhundert – in der jüngeren Forschung zum Werk von Lorenz Westenrieder oder dem des »schwäbischen Cicero« Sebastian Sailer ist genau das im Detail herausgearbeitet worden. In Franken gab es aber auch eine durchgehend protestantisch geprägte Aufklärung, es gab den Ansbacher Rokokolyriker Johann Peter Uz und den Roman Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, den der Coburger Moritz August von Thümmel geschrieben hat und von dessen Verkaufszahlen Goethe und Schiller nur träumen konnten.
Zum literarisch ertragreichen 18. Jahrhundert hätte man sich noch mehr und noch Genaueres gewünscht – hier jedoch, und auch in den noch folgenden Kapiteln, macht es sich Klaus Wolf ein bisschen zu leicht. Kann man die Vielfalt bayerischer Literatur im 19. Jahrhundert wirklich von den Regenten des Landes her sortieren? Hier Ludwig I. und Ludwig II. und ihre sehr unterschiedlich akzentuierte »romantische Kunstauffassung«, dort Maximilian II. mit seiner Sympathie für die »fortschrittsoffenen Künstler«? Immerhin werden der zu Unrecht vergessene Reiseschriftsteller Ludwig Steub, Johann Andreas Schmeller und sein unverzichtbares Bayerisches Wörterbuch sowie die fränkischen Ausnahmepoeten Jean Paul und Friedrich Rückert gebührend gewürdigt, und dass das 19. Jahrhundert auch eine »Hochzeit der Mundartdichtung« war, kommt ebenfalls nicht zu kurz. Zu kurz jedoch kommen, um nur einige Beispiele zu nennen, der Lyriker August von Platen, Michael Georg Conrad und sein einer Neuentdeckung harrendes Opus Was die Isar rauscht, Deutschlands erster Literaturnobelpreisträger Paul Heyse und die der Krokodil-Gruppe angehörigen Poeten, der aus Bad Kissingen stammende Oskar Panizza oder der so gesellschaftskritisch wie elegant schreibende Ur-Münchner Josef Ruederer.
Das 20. Jahrhundert wird zwar ausführlich dargestellt, mehr als klug arrangiertes Namedropping findet man aber selten. Wer wissen will, worin eigentlich die Bedeutung des Werks von Frank Wedekind oder Thomas Mann besteht, was Rainer Maria Rilke und Stefan George – abgesehen von zeitweiligen Aufenthalten dort – überhaupt mit Bayern zu tun haben, warum Revolution und Räterepublik so intensiv von Literaten geprägt waren oder weshalb der Schwabing-Mythos munter weiterlebt, der muss zu anderen Büchern greifen. Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Oskar Maria Graf, Ödön von Horváth und viele andere – sie alle kommen vor, aber oft zu kurz und zu oberflächlich. Dafür erfährt man literarhistorisch weitaus weniger Wichtiges, wohl aus früheren Arbeiten des Verfassers Hervorgegangenes – etwa zum »Renouveau Catholique als europäische Bewegung in Schwaben« oder zu den »Münchner Turmschreibern«. Die sozial und politisch kritische neue Mundartliteratur der 1970er-Jahre wird knapp gewürdigt, dem im Untertitel genannten Gerhard Polt sind nur ein paar nichtssagende Zeilen gewidmet.
Jenseits des Diskutablen ist die knappe Seite über die sogenannte interkulturelle Literatur in Bayern, auf der der aus Teheran stammende, seit 1965 in München lebende großartige SAID ebenso wenig vorkommt wie der Ausnahmepoet Cyrus Atabay oder der Eichstätter Schriftsteller und Übersetzer Akos Doma. Die moderne Lyrik aus Bayern wird eher namenreich abgearbeitet – dass es zwischen den bedeutenden Werken von Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger oder Reiner Kunze einerseits und den Versen von Godehard Schramm oder Anton G. Leitner andererseits gravierende Qualitätsunterschiede gibt, geht aus Klaus Wolfs Überblick nicht unbedingt hervor. Nichts gegen Anna Wimschneider, Manfred Böckl oder Tanja Kinkel, nichts gegen den Schwäbischen Jedermann von Hermann Pfeifer oder den Bayerischen Jedermann von Oskar Weber, und auch nichts gegen Weiterungen des genuin Literarischen in Richtung Musik oder Film! Aber angesichts von Literaten wie Wolfgang Koeppen, Tankred Dorst oder Carl Amery wird man festhalten müssen: Im 20. Jahrhundert stimmen die Proportionen und Gewichtungen nicht mehr so ganz, und damit verliert das im Großen und Ganzen durchaus imposante Buch dann doch einiges an Relevanz.
Aus den zweieinhalb das Opus abschließenden Seiten – ihnen folgen noch etwas spärliche Literaturhinweise und ein Register – spricht der Stolz des Autors. Klaus Wolf meint nachgewiesen zu haben, »dass sich Bayern literaturgeschichtlich auf Augenhöhe mindestens mit Österreich oder der Schweiz befindet«. So what? Was das wohl bedeutet? Kann und soll man mit Literaturgeschichten Länderspiele bestreiten? Klaus Wolf ist sich auch ganz sicher, dass man seinem Werk Berechtigung und Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit nicht wirklich absprechen könne. Sein resümierender Schlusssatz lautet: »Bayern kann und konnte es auch allein, wobei das andere Bayern als gesellschaftskritische literarische Potenz immer schon präsent war.« Nichts gegen ein gesundes Selbstbewusstsein – aber ein bisschen klingt's am Ende dann doch wie das zur Genüge bekannte, immer auch etwas protzige »mia san mia«.
Klaus Wolf: Bayerische Literaturgeschichte. Von Tassilo bis Gerhard Polt. München 2018: Verlag C. H. Beck. 368 S.
Dass er ein, wenn nicht der Experte schlechthin für Frankens Literatur und deren Geschichte ist, hat Hermann Glaser, der langjährige Kulturdezernent der Stadt Nürnberg, in unzähligen Vorträgen, Aufsätzen, Radiosendungen und Büchern bewiesen. Im ehrwürdigen Alter von siebenundachtzig Jahren legt der vielfach ausgezeichnete Autor und Kulturpolitiker ein schwergewichtiges Werk vor, das man mit einigem Recht als Summe seiner lebenslangen Bemühungen um die Literatur Frankens bezeichnen darf. Auf dem Erlanger Poetenfest stellte Hermann Glaser das Opus erstmals vor: Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft. Er versteht seine Arbeit als Fortführung und Erweiterung der Fränkischen Klassiker aus dem Jahr 1971, einem aus einer Sendereihe des BR-Studios Nürnberg entstandenen, von Wolfgang Buhl herausgegebenen Werk, das das weitverzweigte Thema in Einzeldarstellungen erschlossen hatte. Dem Publizisten und Rundfunkmann Wolfgang Buhl und dem Mediävistikprofessor Horst Brunner wird für ihre Vor- und Mitarbeit gebührend gedankt, andere »Zulieferer« werden erwähnt. Der Verfasser, betont Glaser, sei in der komfortablen Lage gewesen, »sich als umfangreicher Kompilator zu entlasten«, und bei diesem keineswegs unschöpferischen Zusammenstellen spiele das Zitat eine wichtige Rolle. So weit, so gut. Und da die »Geografie der Literatur«, für deren Anerkennung als wichtige Hilfswissenschaft jeglicher Beschäftigung mit Literatur vor allem die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti seit Jahren eine Lanze bricht, ein Forschungsfeld ist, mit dem schon jeder Literaturinteressierte einmal irgendwie in Berührung gekommen ist, freut man sich auf eine kompetente und erhellende Darstellung der Literaturlandschaft Franken.
Aber ach! Hermann Glaser hat in seinem ehrenwerten Bemühen, die literarischen Beziehungen und vielfachen Wechselwirkungen zwischen Franken und dem übrigen Deutschland herauszuarbeiten, eine Entscheidung getroffen, über die man vehement streiten kann, ja streiten muss: Er hat dem Fränkischen, das erst ab Seite 355 drankommt, einen umfangreichen ersten Teil vorangestellt, der die Epochen der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zu Franz Xaver Kroetz, Herbert Achternbusch und Martin Sperr behandelt – eine ganz konventionelle Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Man liest also zunächst einmal einen vollkommen überraschungsfreien germanistischen Grundkurstext, der Glaser als grundfleißigen Kompilator zeigt, aber kaum das bewirken wird, was er eigentlich soll: die Literatur Frankens erkenntnisfördernd zu beleuchten und sie in größeren Zusammenhängen zu verorten. Der Entschluss, sein Opus so beginnen zu lassen, macht den Einstieg unnötig mühsam. Erschwerend kommt hinzu, dass Hermann Glaser völlig zu Recht für sehr vieles berühmt, als wirklich herausragender Stilist jedoch noch nicht groß aufgefallen ist. Wer nicht möchte, dass das spannende Thema in weithin bekannten Fakten zu Oswald von Wolkenstein, Adelbert von Chamisso, Max Frisch oder Christa Wolf untergeht, wer dieses Buch nicht erschlagen und erschöpft zuklappen möchte, bevor es zur eigentlichen Sache geht – dem muss man dringend raten, den gesamten ersten Teil zu überspringen und sich mit den gut zweihundert Seiten zu begnügen, die dem Kernthema der Studie gelten: Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft.
»Im 11. Jahrhundert beginnt die Geschichte Frankens als Literaturlandschaft«, und zwar mit dem christusfrommen Ezzo-Lied und dem Historienepos vom Herzog Ernst, schreibt Hermann Glaser. Wie zwei der bedeutendsten deutschen Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach mit dem Parzival und Walther von der Vogelweide mit seinen Sangsprüchen, mit Franken verbunden sind, erläutert er eindringlich, und dass das 13. Jahrhundert »als die glänzendste Zeit der Region in der Literaturgeschichte« gelten kann, führt Glaser nicht nur an den Werken des Konrad von Würzburg oder des Wirnt von Grâvenberc einleuchtend vor.
Seinem beeindruckenden Mittelalter-Kapitel folgt eines zu Humanismus und Renaissance, und hier ist der Nürnberger auf seinem ureigensten Gebiet. In dieser »löblichen Stat« wirkten unter anderem Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer, vor allem aber die Handwerker-Poeten, die weithin bekannt, aber zu wenig gelesen sind und dennoch bis ins 20. Jahrhundert hinein nachwirkten, unter ihnen Hans Rosenplüt und Hans Folz, vor allem jedoch der große Hans Sachs. Hermann Glaser versteht es, ihre Dichtungen dem Leser auf wenigen Seiten derart nahezubringen, dass man sich seiner Unkenntnis zu schämen beginnt und sich fest vornimmt, seine Lektürelücken ganz schnell zu schließen. Nürnberg bleibt auch in der Barockzeit eine der wichtigsten Literaturstädte Deutschlands – hier entstand 1644 ein »Pegnesischer Blumenorden«, der es sich zur Aufgabe machte, die deutsche Sprache als Sprache der Literatur und der Wissenschaft zu pflegen. Glaser weiß manch Einleuchtendes zu sagen über Georg Philipp Harsdörffer, Philipp von Zesen, Johann Klaj oder Sigmund von Birken, und seine üppig präsentierten Zitate aus ihren Werken sind überlegt ausgewählt.
Die Bedeutung Frankens als Literaturlandschaft geht dann im 18. Jahrhundert ein wenig zurück, auch wenn der Ansbacher Dichter Johann Peter Uz überregional gelesen wird und Hermann Glaser den 1738 bei Leipzig geborenen Moritz August von Thümmel, der zwanzig Jahre lang Minister im coburgischen Staatsdienst war, als oft übergangenen Meister des ebenso heiter-empfindsamen wie sarkastisch-spöttischen Reiseromans zu seinem Recht kommen lässt. Interessant ist Glasers liebevolle Würdigung des Nürnberger Dialektdichters Johann Konrad Grübel – fränkische Mundartliteratur gibt es, wie er betont, keineswegs erst seit Fitzgerald Kusz. »Stürmer und Dränger hat Franken viele hervorgebracht, aber – mit einer Ausnahme – keinen bemerkenswerten Autor in der Epoche des Sturm und Drang«, heißt es am Anfang des vierten Kapitels. Dass diese Ausnahme, der berühmte Württemberger Literat und Zeitungsmann Christian Friedrich Daniel Schubart, nur mit Ach und Krach dem Frankenland zuzurechnen ist, nimmt der Leser gerne hin. Mit seinen luziden Ausführungen zu Goethe und dessen Dürer-Begeisterung ist Glaser dann ganz in seinem Element, und gerade hier wird deutlich, dass »Literaturlandschaft« weit mehr bedeutet als nur »Geburtsregion«. Das beweisen auch die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), mit denen Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck zur Popularität der Ferienregion »Fränkische Schweiz« und zum Ansehen des Nürnberger Kunstgeists Entscheidendes beigetragen haben – wie später auch Joseph Victor von Scheffel, dem man in Gößweinstein ein sehenswertes Denkmal errichtet hat. Dass Hermann Glaser im Abschnitt über seinen Lieblingspoeten Jean Paul alle Register seines Könnens zieht, verwundert nicht. Dort, und auch in den Ausführungen zum Werk des zeitweiligen Bambergers E. T. A. Hoffmann und des Schweinfurter Dichtergelehrten Friedrich Rückert, findet auch der Kenner viel Neues. Das 19. Jahrhundert wird weitgehend mit den Philosophen Stirner, Hegel und Feuerbach bestritten, doch kommen auch später in München wirkende Franken wie Oskar Panizza, Michael Georg Conrad und Ludwig Derleth nicht zu kurz. Oder, später dann, wichtige Autoren des 20. Jahrhunderts wie Jakob Wassermann, Leonhard Frank, Bernhard Kellermann, Ernst Penzoldt oder Hermann Kesten.
Dass sich Glaser ausführlich der in den letzten fünfzig Jahren boomenden fränkischen Mundartdichtung zuwendet, versteht sich von selbst. Mit differenzierten Darstellungen von Schriftstellern, deren Wirken erst von einigen Jahrzehnten begann – Max von der Grün, Gisela Elsner, Hans Wollschläger, Peter Horst Neumann, Natascha Wodin, Ludwig Fels, Gerhard Falkner oder Kerstin Specht –, geht Hermann Glasers Parcours durch die Jahrhunderte dann seinem Ende entgegen.
Der zweite Teil von Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft bietet erheblich mehr, als hier aufzuzählen der Ort ist, und er bietet beileibe nicht nur Information über die Dichter, sondern auch Interpretation und begründete Verortung im Fränkischen – selbst Hans Magnus Enzensberger entkommt ihr nicht ganz. Kurzum, die Seiten 355 bis 562 offerieren genau das, was man sich von diesem Glaserschen Lebenswerk von Anfang an erwartet hatte.
Hatte ich schon erwähnt, dass Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft durchgängig illustriert ist? Ob Farbe oder Schwarz-Weiß – Kosten und Mühen wurden nicht gescheut, um Glasers Darstellung auch zu einem optischen Genuss zu machen. Das ist gelungen – und nicht hoch genug zu rühmen. Aber es kommt noch besser: Der zweite Teil des Buchs ist mit einer »LiteraTour« verlinkt – auf Seite 11 findet sich ein QR-Code, über den man die Verlagswebsite »www.buchhausschrenk.de« erreicht und damit auch das neue, noch im Aufbau befindliche »Franken-Literatur-Portal«. Hier stößt man auf oft erstaunliche Erinnerungsspuren, die Schriftsteller im Frankenland hinterlassen haben – Geburts- und Wohnhäuser natürlich, Denkmale und andere Memorabilien. Gut! Und sicher noch ausbaufähig, das Ganze! Immerhin – die »Bildpartitur«, wie Hermann Glaser das nennt, kann zu Reisen und Wanderungen zwischen Wolframs-Eschenbach und Joditz oder zwischen Aschaffenburg und Hilpoltstein animieren, die die per se schon sehenswerte Region um anregende Perspektiven bereichert. Wenn schon »Tour«, warum nicht »LiteraTour«?
Man kann meinen Haupteinwand gegen die Struktur des Werks auch ins Positive wenden und sich sagen: Mit dem Erwerb dieses Buches bekommt man eine faktenreiche Geschichte der deutschsprachigen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, und dazu erhält man noch eine äußerst kenntnisreiche und farbige Darstellung der Literaturlandschaft Franken, die es bisher in dieser Form nicht gab und in absehbarer Zeit wohl auch nicht geben wird. Dass es sich als zuverlässiges Nachschlagewerk behaupten wird – wozu der Anhang Wichtiges beiträgt –, steht außer Zweifel. Die Zahl derer jedoch, die Hermann Glasers Werk von vorne bis hinten durchlesen werden, wird sich vermutlich in engen Grenzen halten. Ist das schlimm? Nein. Man freut sich auch so über dieses opulente Kompendium – aufschlussreich, gelehrt, anregend und unterhaltsam ist es allemal.
Hermann Glaser: Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft. Epochen – Dichter – Werke. Gunzenhausen 2015: Schrenk-Verlag. 581 S.
Vor fünfzig Jahren begann es zu erscheinen, das Handbuch der bayerischen Geschichte, der legendäre »Spindler«. Nun liegt der erste Band in einer auf dem aktuellen Stand der Forschung vollständig neu geschriebenen Fassung vor. Ein stattlicher Buchziegelstein! Es geht um Bayerisches von der älteren Steinzeit bis zum hohen Mittelalter. Bayerisches? Na ja, was man halt so nennen kann. Dass die Generation von Max Spindler und Karl Bosl da manches zu simpel und vor allem zu eindeutig dargestellt hat, wird bald klar. Die Agilolfinger? Schon recht, aber … Es wäre mehr als vermessen, hier ins Detail zu gehen – es darf höchstens festgestellt werden, dass die »Migratio« in der Tat die »Mater Bavariae« war und ist. Eine kritische Würdigung des studierenswerten neuen Handbuchs überlassen wir natürlich den Historikern und anderen Fachwissenschaftlern.
Kapitel VII führt das kulturelle Leben jener Zeit vor Augen: Wissenschaft und Bildung, Literatur, Kunst, Musik. Man wird gewiss nicht ernsthaft behaupten können, dass dieses fragile frühe Bayern hier an der Spitze des europäischen Fortschritts marschierte. Dennoch schreibt Ludwig Holzfurtner ganz zu Recht, und das ist doch schon mal was: »Bayern stand zwar nie am Anfang, oft aber eben doch schon früh aufseiten der zukunftsweisenden Ideen und trieb diese in maßgeblicher Weise weiter voran, sie um eigene Aspekte erweiternd und mehr als einmal auch auf ein realistisches Maß korrigierend.« Einen lehrreichen Überblick über die lateinische, alt- und frühmittelhochdeutsche Literatur in Bayern bis ins 13. Jahrhundert hinein geben Mechthild und Hans Pörnbacher. Da geht es ums Wessobrunner Gebet, um Heiligenviten, Geistliche Lieder, Chroniken und frühe weltliche Epen, um Geistliche Schauspiele oder den frühen Minnesang. Zuerst aber um ein Wörterbuch aus der Freisinger Schreibschule, das eher seltene lateinische Wörter nicht nur durch geläufigere lateinische Wörter erklärt, sondern auch volkssprachliche Erläuterungen anfügt. Das erste Wort, von dem das Buch seinen Namen hat, nämlich »abrogans«, wird mit dem lateinischen »humilis« und den althochdeutschen »dheomodi« (demütig) erklärt. Öha! Allen Autoren in Bayern und weit darüber hinaus sei gesagt, mit den Worten der Pörnbachers: »Das erste Wort im ersten Buch, das in Bayern entstanden ist, heißt also ›demütig‹!« Bitte unbedingt merken, aufschreiben, über den Schreibtisch hängen! Demut und Klugheit gehören zusammen – ganz besonders in Bayern, wo es viele kluge Leute gibt und auch damals schon gab. In einem Gesprächsbüchlein aus dem frühen neunten Jahrhundert steht beim Eintrag »sapiens homo – spaher (= kluger) man« die ganz klare Aussage: »Stulti sunt Romani, sapienti sunt Paioari« – was man, mit Verlaub, so übersetzen kann: »Olle andern san bleed, mir Bayern san gscheid«. Frühes neuntes Jahrhundert? Ganz aktuell! Auch wenn es vielleicht doch »sapientes« heißen sollte.
Handbuch der bayerischen Geschichte. Band I, 1: Das Alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter. Begründet von Max Spindler. Neu herausgegeben von Alois Schmid. München 2017: Verlag C. H. Beck 726 S.
Im Jahr 1987 erschien Albrecht Webers Handbuch der Literatur in Bayern. Dass deren literaturwissenschaftliche Erforschung auch danach nicht zum Erliegen gekommen ist, belegt ein Ende 2015 erschienener umfangreicher Sammelband. Sein Herausgeber Waldemar Fromm, der die »Arbeitsstelle für Literatur in München / Bayern« an der Universität München leitet, hat darin fünfzehn einschlägige Arbeiten zusammengestellt, die zwischen 1984 und 2005 zum ersten Mal publiziert wurden, also, wie er in seiner Einleitung schreibt, »nach dem Boom der Regionalforschung in den 1980er-Jahren«. Damit soll ein Forschungsüberblick gegeben werden, weshalb wohl auch der Untertitel des Bandes auf die berühmte Buchreihe Wege der Forschung Bezug nimmt, mit der die in Darmstadt ansässige Wissenschaftliche Buchgesellschaft Generationen von Studenten beglückt hat. Dass und wie sich die Literaturwissenschaft – und mit ihr natürlich auch die Herangehensweise an Regionalliteratur – in den drei zurückliegenden Jahrzehnten verändert hat, das versucht der Herausgeber in seinen sehr knapp geratenen einleitenden Bemerkungen zumindest ansatzweise zu skizzieren.
An einer wissenschaftlich fundierten, umfangreichen und aktuellen Geschichte der Literatur in Bayern wird intensiv gearbeitet. Dieses Buch ist kaum mehr als eine Vorarbeit dazu – der Titel ist hier Programm, und die für eine Darstellung der Literatur in Bayern unangemessene Dominanz der Landeshauptstadt ist auch nicht zu übersehen. Die Zeit vor dem 18. Jahrhundert wird durch einen instruktiven und anregenden Aufsatz von Ernst Hellgardt über den Beitrag Niederbayerns zur deutschen Literatur im frühen Mittelalter, durch einen Essay von Freimut Löser über die geistliche Literatur des Mittelalters am Beispiel von Würzburg und Melk und durch zwei eher akribisch ins Detail als in die Breite gehende Arbeiten von Dieter Breuer über das literarische Leben in München vor 1648 sowie über die oberdeutsche Erzählliteratur des 17. Jahrhunderts abgedeckt. Guillaume van Gemert analysiert die Dichtungslehre des Parnassus Boicus (1725/26), Manfred Knedlik untersucht die Schuldramen des Prüfeninger Abtes Rupert Kornmann (1757–1817), und Michael Schaich beschäftigt sich mit dem Thema »Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung«. In einem der besten Beiträge des Bandes skizziert Wilhelm Haefs, auf dessen ungemein aufschlussreiches und überdies extrem spannendes Buch über Leben, Werk und Wirkung von Lorenz Westenrieder nicht oft genug hingewiesen werden kann (Aufklärung in Altbayern, 1998), mit aufmerksamem Blick auf Georg Alois Dietl (1752–1809) die überraschend heterogene Literatur der Spätaufklärung in Bayern. Der älteste Beitrag in diesem Sammelband war schon 1984 nicht ganz unumstritten und hält jedenfalls nicht, was sein Titel verspricht: In »Die Münchner Romantik« umkreist Hans Graßl allerlei Philosophenkram, ohne dass diese wichtige Literaturbewegung insgesamt scharfe Konturen oder gar ein Gesicht erhält. Auch heute noch bestens lesbar hingegen ist die Darstellung von Literatur und literarischem Leben in München um 1855, die Walter Hettche und Johannes John beisteuern. Die Überlegungen von Gabriele Whetten-Indra zum literarischen Leben in der Isarmetropole zwischen 1918 und 1933 wird man ebenso mit Gewinn und Genuss zur Kenntnis nehmen wie die – wie immer ungeheuer materialreichen – Aufsätze von Altmeister Wolfgang Frühwald über die Literatur in der Prinzregentenzeit sowie über die kaum auf einen Nenner zu bringende Literatur in Bayern zwischen 1919 und 1960. Ein fast mustergültiges Beispiel dafür, wie ein literaturwissenschaftlicher Essay aussehen kann, liefert Reinhard Wittmann mit seinen brillanten Beobachtungen zur Münchner Literaturszene unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass man es für nötig erachtet hat, die komplett veralteten Bemerkungen von Helmut Kaffenberger und Waldemar Fromm über die Literatur in Bayern nach 1960 auch noch aufzunehmen, ist allerdings in keiner Weise nachzuvollziehen. Sie bilden einen im Jahr 2016 fast schon peinlichen Schlussakkord zu dieser oft anregenden, insgesamt eher durchwachsenen Sammlung von zuvor verstreut publizierten Bausteinen zu einer zeitgemäßen Geschichte der Literatur in Bayern. Hoffen wir, dass wir nicht zu lange auf eine solche Gesamtdarstellung warten müssen – man vermisst sie nach wie vor schmerzlich.
Waldemar Fromm (Hrsg.): Statt einer Literaturgeschichte. Wege der Forschung. Literatur in Bayern (= Bavaria. Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte. Kleine Reihe 1). München 2015: Allitera Verlag, 432 S.
Nein, keinesfalls will ich mich in die Geschichtswissenschaft einmischen, selbst dann nicht, wenn sie bayerische Themen verhandelt. Aber deren Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und manches davon auch weitergeben – das schon! Zum Beispiel gibt es, neben unzähligen anderen einschlägigen Publikationen und oft sehr spannenden Büchern, eine gar nicht genug zu rühmende Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, und es gibt deren sogenannte Beihefte, grundsolide und immer stupend gelehrte Schriften. Sehr spezielle Bücher naturgemäß, zu ganz unterschiedlichen Themen. Niemanden wird da alles interessieren – wie denn auch! Das neueste Beiheft allerdings verdient vielleicht doch größere Beachtung, weil es über seinen engeren Gegenstand hinaus den Blick weitet für historische Prozesse, die auch im heutigen Bayern noch nachwirken.
Das Reichsstift St. Emmeram zu Regensburg erlebte im 18. Jahrhundert unter seinen letzten Fürstäbten eine wissenschaftliche Blütezeit und galt als eines der herausragenden Bildungszentren im gesamten oberdeutschen Raum. Mit seiner Aufhebung ein paar Jahre nach der Inbesitznahme der Stadt durch das Königreich Bayern fand diese benediktinische Glanzzeit ein ziemlich abruptes Ende. Danach dämmerte das bedeutende und höchst sehenswerte Ensemble von St. Emmeram viele Jahrzehnte hindurch vor sich hin, und so ganz aufgewacht ist es bis heute nicht. Aber das ist eine andere Geschichte. Das aus einer Tagung (2012) hervorgegangene Beiheft widmet sich dem Zeitalter der Aufklärung und enthält ein gutes Dutzend Abhandlungen, die die erstaunlich weitreichenden Netzwerke der gelehrten Mönche von St. Emmeram sowie die für deren Unterhalt wichtigsten Persönlichkeiten detailliert vorstellen. Unbedingt empfehlenswert ist die Lektüre der Beiträge von Alois Schmid und Ulrich L. Lehner. Dass sich, wie die meisten »nordlastigen« Epochendarstellungen bis heute nicht wahrhaben wollen, Katholizismus und Aufklärung eben nicht gegenseitig ausschließen und es eine in erster Linie von oberdeutschen Klöstern getragene »Katholische Aufklärung« durchaus gegeben hat, macht Alois Schmid an konkreten Beispielen sehr differenziert deutlich. Bestens dargelegt und begründet sind seine Urteile. Zum Beispiel: »Als Forschungsstätten übertrafen zumindest die großen Klöster ohne Zweifel die Universitäten an Bedeutung; sie entwickelten sich zu wahren Klosterakademien.« Oder: »In den Klöstern fühlte man sich einer zurückhaltenden und moderaten Form der Aufklärung verpflichtet … Von radikalen Brüchen wollten die Patres im Allgemeinen nichts wissen.« In Oberdeutschland habe man, anders als anderswo, vor allem versucht, »die Forderungen der Aufklärung mit denen des Katholizismus zusammenzubringen und für möglichst viele nutzbar zu machen«. Dabei sei die Wissenschaft meistens als »Beitrag zur Stärkung der Religion« angesehen worden: »Die Aufklärung wurde als entscheidendes Mittel zur Beförderung der Gotteserkenntnis verstanden.« Das hatte der Berliner Schriftsteller und »Erzaufklärer« Friedrich Nicolai in seiner einflussreichen Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 nicht kapiert. Oder nicht begreifen wollen. Was Ulrich L. Lehner über das Verhältnis der Benediktiner zur Aufklärung schreibt, entspricht in vielem der neuesten Forschung, wie sie etwa Steffen Martus in seinem 2015 erschienenen Epochenbild Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert zusammenfasst – dass es in Deutschland nämlich überhaupt keine einheitlich rationalistische Aufklärung gegeben hat, eher »Familien von Aufklärungen«, und dass zu denen eben auch die gelehrten Mönche Süddeutschlands zu rechnen sind. Und dass es für diese Wissenschaftler und Denker vor allem darauf ankam, »ihre Kirche in kritischer und positiver Auseinandersetzung mit dem akademischen Diskurs ihrer Zeit zu erneuern«. Lehner verschweigt nicht, dass das innerhalb des Benediktinerordens durchaus umstritten war. Der Freiheitsdrang der Klosterbrüder jedoch ließ sich nicht mehr effektiv einbremsen: »Mönche wollten ihre Lebensweise derjenigen der Welt anpassen. Gelehrte wollten nicht mehr die langen nächtlichen Gebete im Chor verrichten und Arbeiten im Kloster, sondern sich ganz ihrer Wissenschaft widmen können und so fort.« Am Prozess der Ausbreitung von Akademien, Leihbibliotheken, Kaffeehäusern und Salons als »Orte des gegenseitigen geistigen Austauschs« nahmen auch die Benediktiner teil, und letztlich haben sie zur »Etablierung Bayerns als Wissenschaftsstandort« maßgeblich beigetragen. Bemerkenswerte Ordenspersönlichkeiten hat es damals gegeben, im Bayernland und weit darüber hinaus, und auch zahlreiche Episoden und Anekdoten, denen man gerne näher nachgehen möchte. Und so ist, um das Mindeste zu sagen, dieser schöne Sammelband nicht nur außerordentlich lehrreich, sondern in vielfacher Hinsicht auch sehr anregend.
Bernhard Löffler / Maria Rottler (Hrsg.): Netzwerke gelehrter Mönche. St. Emmeram im Zeitalter der Aufklärung (= Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 44). München 2015: C. H. Beck Verlag. VIII/399 S.
Literatur in Regensburg? Und: Regensburg in der Literatur? Für die Gegenwart fallen einem da schon einige Autoren ein, zum Beispiel Eva Demski, Ernst-Wilhelm Händler, Benno Hurt, Barbara Krohn, Sandra Paretti und Albert von Schirnding. Diese sechs Schriftsteller stellt Gertrud Maria Rösch im letzten Beitrag zu einem Gemeinschaftswerk vor, das in nicht weniger als siebenunddreißig Mini-Essays das literarische Leben der Donaustadt zu beleuchten sucht. Für den, dem ein Kurzessay zu wenig ist, sind die nützlichen Lektürehinweise gedacht. »Es gibt bisher kein Kompendium zur Regensburger Literatur«, schreiben die Herausgeber im Vorwort zu ihrer demnach mehr als überfälligen Regensburger Literaturgeschichte, die ausdrückliche eine »kleine« sein möchte – und doch viel »Großes« bietet.
Worum es genau geht? »Unter Regensburger Literatur verstehen wir Werke, die entweder in Regensburg entstanden sind und/oder sich an zentralen Stellen inhaltlich mit der Stadt auseinandersetzen.« Weil dies, fasst man wie hier die Literatur als ein sehr weites Feld, auf wirklich viele Texte zutrifft, musste ausgewählt werden. Die Auswahl ist originell: Persönlichkeiten aus dem Mittelalter, von Otloh von Sankt Emmeram bis zu Andreas Mülner, dominieren die Szene, und keineswegs alle haben literarische Werke im engeren Sinne hinterlassen – der von Claudia Märtl porträtierte Mülner etwa, »Regensburgs Titus Livius«, gilt gemeinhin als »Stammvater der bayerischen Historiografie des 15. Jahrhunderts« und nicht als Dichter. Sein Werk wirkte bis weit in die Frühe Neuzeit hinein, die hier – ebenfalls ungewöhnlich – mehr Raum bekommt als das 18. und 19. Jahrhundert. Im Kapitel über das 16. und 17. Jahrhundert steht ein Geschichtsschreiber wie der berühmte Aventinus ganz selbstverständlich neben Catharina Regina von Greiffenberg, der tiefgläubigen Barocklyrikerin aus Niederösterreich, von deren »Regensburger Andachtsreisen« Rainer Barbey berichtet – ein weiter Literaturbegriff eben. Für die »Goethezeit« wartet die Essaysammlung mit großen Namen auf: Goethe selbst, Hölderlin, Arnim, Brentano, Eichendorff, Mörike – alles schön und gut, und doch muss man kritisch anmerken, dass die Stadt gerade hier mit Dichtern geschmückt wird, für die das ehrwürdige Regensburg kaum mehr als eine winzige Episode in Leben und Werk darstellte. Das gilt auch für Thomas Mann, dessen 1909 erschienene Erzählung Das Eisenbahnunglück, wie Sebastian Karnatz berichtet, auf ein unerfreuliches Erlebnis bei Regenstauf zurückgeht. Damit sind wir im 20. Jahrhundert und gleich bei Georg Britting, dessen heute fast in Vergessenheit geratenes Werk Thomas Zirnbauer auf bewundernswerte Art und Weise lebendig werden lässt – sechs Seiten nur, allerdings absolut herausragend! Florian Sendtner schreibt über »Regensburger NS-Literatur« – und über ihr Gegenteil, The Blue Danube von Ludwig Bemelmans. Thomas Bernhard, der alte Griesgram, der drei Tage in der »schrecklichen Stadt« am Donauknie verbracht hat und nie wieder dorthin zurückgekommen ist, durfte auch nicht fehlen. Nicht nur der Bernhard-Essay verdeutlicht, dass die Kleine Regensburger Literaturgeschichte bisweilen schon sehr weit ausholen musste, um Regensburg als Metropole bedeutender Literatur zu präsentieren. Sei's drum! Interessant ist dieses Buch allemal, anregend – und manchmal auch sehr spannend.
Rainer Barbey / Erwin Petzi (Hrsg.): Kleine Regensburger Literaturgeschichte. Regensburg 2014: Verlag Friedrich Pustet. 288 S.
Mit viel Liebe und enormem Detailwissen hat Bernhard Lübbers, der Leiter der Staatlichen Bibliothek Regensburg, zusammen mit dem Kunsthistoriker und Verleger Peter Morsbach einen ansehnlichen Gedenkband herausgegeben, der das Leben und Wirken des in Würzburg geborenen, in Regensburg zur Schule gegangenen und beruflich lange in München tätigen Literaturhistorikers und Bibliothekars Eberhard Dünniger umfassend würdigt. Elf kompetente Aufsätze, zahlreiche ansprechende Fotos sowie ein zwanzigseitiges, von Konrad Zrenner besorgtes Verzeichnis aller Veröffentlichungen des großen bayerischen Gelehrten runden sich zu einem anregenden Erinnerungsband. Hervorgegangen ist er aus einem Gedenksymposium, das noch in Eberhard Dünningers Todesjahr im Leeren Beutel zu Regensburg stattfand.
Dünningers Sohn Leonhard, der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier, der Münchner Bibliothekar Klaus Kempf und der Regensburger Emeritus Bernhard Gajek beleuchten die Biografie des Verstorbenen. Hier wird der Leser über seine Arbeit im Bayerischen Kultusministerium (1965–1986), seine Leistungen als Generaldirektor der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (1986–1999) und sein lebenslanges Wirken in Forschung und Hochschule präzise informiert. In der zweiten, den Bibliotheken gewidmeten Abteilung gibt Manfred Knedlik einen erhellenden Überblick über die Klosterbibliotheken in der Oberen Pfalz. Bernhard Lübbers beschäftigt sich mit einem Thema, das auch Eberhard Dünninger mehrfach berührt hat: Johann Andreas Schmeller und die Bibliotheken. Die Abteilung Literatur widmet sich zwei ganz unterschiedlichen Autoren und Werken, zu deren Erhellung die Forschungen des Verstorbenen Wesentliches beigetragen haben: Christine Riedl-Valder befasst sich mit den Schriften des Aventinus, und Marita A. Panzer geht den Spuren eines kauzigen und originellen bayerisch-böhmischen Grenzgängers aus dem 19. Jahrhundert nach: Maximilian Schmidt genannt Waldschmidt (1832–1919). Im vierten Teil des Gedenkbands skizziert Peter Morsbach das Bild Regensburgs und der Oberpfalz vor der Napoleonzeit, Peter Styra würdigt Pater Emmeram und Schloss Prüfening, und Jörg Skriebeleit erzählt die Geschichte des Historikers, Archivars, Heimatforschers und Intellektuellen Fridolín Macháček (1884–1954), auf dessen ergreifendes Buch Plzeň – Terezín – Flossenbürg (1946) ihn Eberhard Dünninger hingewiesen hatte. Was einmal mehr zeigt, dass der vielseitige und außergewöhnlich kenntnisreiche Gelehrte, der unter anderem am Trinity College in Dublin studiert hatte, stets über die Grenzen des Freistaats hinausblickte. Ohne Zweifel war Regensburg Eberhard Dünningers Herzensheimat, und mit Sicherheit hat er seine Oberpfalz und sein Bayern geliebt. Zu Hause aber war er im ganzen Abendland.
Bernhard Lübbers / Peter Morsbach (Hrsg.): Bibliotheken, Literatur, Regensburg und die Oberpfalz. In memoriam Eberhard Dünninger (1934–2015). Regensburg 2016: Dr. Peter Morsbach Verlag. 178 S.
Als Jugendlicher hörte ich oft Radio.