HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER - Klaus Hübner - E-Book

HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER E-Book

Klaus Hübner

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Beschreibung

Wer weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss sich ihn nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht. Der erste Band versammelt Arbeiten zur deutschsprachigen Literatur seit den 1960er-Jahren. Man lernt einen seriösen Hippie kennen, einen äthiopischen Prinzen, einen masurischen Berserker, einen tuwinischen Schamanen, eine bulgarische Berlinerin, einen Münchner aus Teheran und einen wunderbaren Lyriker aus Luxemburg. Dazu preußische Heimatkunde, Robinson und Freitag auf Hiddensee, Fallobst aus Schwabing, mehrere Windhunde und einiges mehr.

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Seitenzahl: 373

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Klaus Hübner

Hippies, Prinzen und andere Künstler

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 1

Außer der Reihe 41

Klaus Hübner

Hippies, Prinzen und andere Künstler

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 1

Außer der Reihe 41

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: April 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelabbildungen: Couleur (Froschkönig), Peter Kaul (Afghane), Tookapic (Hippie), alle Pixabay

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 189 1

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 190 7

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 897 5

Vorwort

In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchner-Preis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft.« Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

»Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny!

Voilà, es kann losgehen …

Klaus Hübner

München, im Februar 2020

Literatur aus Deutschland, mit einem Hippie und einem Windhund

Sind die Deutschen noch deutsch? Nicht nur Hans-Dieter Gelfert wundert sich über die heutigen Deutschen

Die Frage, was »deutsch« sei, bleibe immer aktuell. Meinte, so glaube ich mich zu erinnern, der große Nietzsche. Sinngemäß jedenfalls. In den Jahrzehnten nach der 1990 festgeklopften staatlichen Einheit schien sie mal wieder höchst aktuell. Man musste nur deutsche Zeitungen lesen. Besinnungsaufsätze allerorten – oft Befreiungsversuche von »Deutschland peinlich Vaterland« hin zu einer »Normalität«, vor der niemand mehr Angst haben müsse. In den Buchhandlungen lag viel Neues zum Thema: Das Deutschlandgefühl. Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet.Bei Hempels auf dem Sofa. Auf der Suche nach dem deutschen Alltag und noch hundert Bücher mehr. Sollte ich alles mal lesen, überlege ich beim Öffnen meiner Mailbox. Da – schon wieder: Er konzipiere gerade einen Hochschulkurs über »German Mentalities« und suche Material dazu, schreibt mir ein Germanistikdozent aus den USA. Besonders über »the tendency to analyze all experiences, new ideas, the unexpected, in a way often misunderstood by our students as pessimism or negativity«. Alles Neue, das wisse man ja, werde von den Deutschen zuerst kritisch untersucht, zergliedert und mit Hergebrachtem verglichen, und erst dann sei es sozusagen diskussionswürdig. Das war mir zuvor noch gar nicht so aufgefallen, höchstens bei manchen Altakademikern mit politisch korrektem Bewusstsein und grundsätzlich hyperkritischem Blick ins 21. Jahrhundert hinein. Stimmt das eigentlich?

Woher soll ausgerechnet ich das wissen? Ich lebe und arbeite in einer deutschen Großstadt, schicke meine Kinder in deutsche Schulen und Kindergärten, kaufe in deutschen Geschäften ein und habe eigentlich so viel zu tun, dass ich mich nicht auch noch groß von außen betrachten kann. Natürlich, die Dialektik von Fremdem und Eigenem hat mich mal beschäftigt, die heute in fast jeder Stellenanzeige geforderte »interkulturelle Kompetenz« ist mir nichts Neues, gereist bin ich viel und meistens auch aufmerksam, und die Fremdsprachen – na ja, in Manchester oder Bilbao oder Lille ginge es noch, in Krakau oder Malmö wäre es schon schwieriger, in Riad, Shanghai oder Kyoto wäre es unmöglich.

»Mentalities«? Was soll ich dem Mann antworten? Was für Material soll ich ihm schicken? Deutsche Literatur von Adelung bis Zaimoglu? Erst mal abwarten, beschließe ich – und das war recht getan. Denn ein paar Tage später flattert unerwarteterweise ein Taschenbuch auf meinen Schreibtisch, und ehe ich es auf den Stapel noch zu lesender Bücher lege, werfe ich natürlich einen Blick auf den Titel. Was ist deutsch? heißt es, und schon fällt mir der amerikanische Dozent wieder ein. Das schicke ich ihm – da wird doch wohl alles drin stehen über die »German Mentalities«? Andererseits: Man weiß ja nie. Wenn das neue Buch nichts taugt, blamiere ich mich. Es hilft nichts: Ich muss es zuerst selber lesen, kritisch natürlich, gründlich-analytisch, mit Hergebrachtem vergleichend. Ob es überhaupt diskussionswürdig ist. Das ist doch normal? Oder ist genau das typisch deutsch?

Zur Beruhigung sei gleich gesagt: Das Buch ist gut und jeder Diskussion wert, es ist anregend geschrieben und informiert, wie sein Untertitel »Wie die Deutschen wurden, was sie sind« zutreffend ankündigt, auf knappem Raum über historische Zusammenhänge, zu denen man ganze Bibliotheken schreiben könnte. Im Anhang auch darüber, dass zum Thema »Was ist deutsch?« bereits ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden sind – und dass der Tübinger Volkskundler Hermann Bausinger mit Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? ein exzellentes Buch zum Thema vorgelegt hat. Wie Bausinger bezieht sich auch unser Autor, der Berliner Anglist, Übersetzer und Sachbuchschreiber Hans-Dieter Gelfert, unter anderem Verfasser der Bücher Typisch amerikanisch und Typisch englisch, auf zahlreiche Vorgänger, vor allem auf Schriftsteller und Gelehrte aus aller Herren Länder. Aber er traut deren Urteilen nicht unbesehen. Die deutsche Gegenwart ist ja oft wenig deutsch. Sind auch die heutigen Deutschen ein Volk von Pflichtbewussten, Pünktlichen und Fleißigen? Oder die Faulsten der Welt, mit zahlreichen Feiertagen, wochenlangen Urlauben, kräftigen Gehaltszulagen für nichts und wieder nichts und üppigen Beamtenpensionen? Oder stimmt am Ende beides? Sympathisch ist, dass Gelfert gleich auf der ersten Seite verdeutlicht, dass alle Aussagen über die Mentalität eines Volkes »auf schwankendem Boden« stehen und allen Versuchen einer historischen Erklärung typischer Merkmale einer Nation »etwas Spekulatives« anhaftet. Trotz dieser grundlegenden Vorbehalte aber könne man durchaus zu zeigen versuchen, »dass Reste einer jahrhundertelangen Prägung auch heute noch das deutsche Denken und Fühlen beeinflussen«. Und genau das macht Gelfert dann auch – und er macht es gut.

Erst einmal räumt er mit altmodischem Unsinn auf, den speziell Briten bis heute gerne von sich geben, der aber auch anderen europäischen Nachbarvölkern nicht fremd ist. Autoritätshörigkeit sei den heutigen Deutschen kaum noch nachzusagen, mit der Arbeitswut stehe es nicht zum Besten, Militarismus und Nationalismus spielten im Großen und Ganzen kaum eine Rolle, und Humorlosigkeit kennzeichne dieses Volk bestimmt nicht. Vielmehr hielten sich die Deutschen, denen das dem Gedächtnis der Welt unauslöschlich eingeprägte Bild vom bösen Hitler-Deutschland sehr wohl bewusst sei, heute für ganz normale Europäer, die in Frieden ihr Geld verdienen und es ausgeben wollen. Der deutsche Michel mit seiner Zipfelmütze habe zur Charakterisierung deutscher Mentalität ebenso ausgedient wie Doktor Faustus. »Das gesamte deutsche Alltagsleben ist geprägt von der nüchternen Beschränkung auf das Zweckmäßige und Lebensnotwendige sowie durch das weitgehende Fehlen von Konventionen und Ritualen.« Und allen gesellschaftlichen Missständen und politischen Fragwürdigkeiten zum Trotz müsse auch der letzte Skeptiker anerkennen: »Deutschland ist heute eine der freiesten, gerechtesten und modernsten Demokratien der Welt.« Das musste wohl einmal deutlich gesagt werden, und ich hoffe, der Autor irrt sich darin nicht. Dem müsste man genauer nachgehen, denke ich schon wieder. Aber dafür gibt’s ja Politikwissenschaftler.

Jetzt aber kommt der interessanteste Teil des Buches, »Urworte, deutsch« überschrieben, und vor allem wegen dieser sechzig Seiten empfehle ich es dem amerikanischen Dozenten. Hier werden nämlich »Wertbegriffe, die für eine Nation typisch sind, ohne dass sich deren Angehörige dessen bewusst sind«, mit ständigen Seitenblicken auf Franzosen, Briten und Nordamerikaner aufgespießt, hinreichend erklärt und aus der spezifisch deutschen Geschichte hergeleitet. Wer nur das Pizza- und Döner-Deutschland mit viel unfreundlichem und – besonders im Vergleich zur Schweiz – oft unerhört unhöflichem Volk vor Augen hat, mag sich ein wenig wundern über die Auswahl dieser Begriffe. Doch Gelferts hervorragende, mit guten Beispielen plausibel gemachte Skizzen über Heimat, Gemütlichkeit, Geborgenheit, Feierabend, Verein, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Fleiß, Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit, Pflicht, Treu und Redlichkeit, Schutz und Trutz, Innigkeit, Einfalt, Weltschmerz, Sehnsucht, Tiefe, Ursprung, Wesen, Ehrfurcht, Tragik, Totalität, das Absolute, Staat, Wald und Weihnacht führen ins Zentrum dessen, was zum Thema zu sagen ist. Man erfährt, warum der deutsche Arbeitnehmer nicht so mobil ist wie der amerikanische, woher »das irrationale Verlangen der Deutschen« kommt, »sich in ein bergendes Ganzes wie in den Schoß einer Großen Urmutter zu flüchten«, dass Friedrich Schillers »Heilge Ordnung, segenreiche« etwas ganz anderes meint als das den Deutschen oft nachgesagte strikte und pedantische, unflexible und Kompromissen kaum zugängliche Einhalten einmal festgelegter Regeln. Allerdings erlebe ich in meinem Alltag und meinem Arbeitsleben nicht allzu viele ordentliche Menschen. Meinem Ordnungsbegriff nach jedenfalls.

Doch bei Gelfert steht ja auch: »Da heute die Ordnung auch für die Deutschen nichts Ersehntes mehr ist, sondern ein lästiger Zwang, breitet sich nun auch bei ihnen immer mehr Unordnung aus.« Viele heutige Deutsche hielten sich für ordentlicher, als sie eigentlich sind. Mit der deutschen Pünktlichkeit stehe es auch nicht zum Besten, wenngleich das effiziente Arbeiten immer noch einen Standortvorteil im globalen Wettbewerb darstelle. Ich sage nur: deutsche Autos! Aber nicht alle haben Arbeit. Welcher Deutsche kann Untätigkeit wirklich als Muße genießen? Unser Autor beobachtet eine bedenkliche »Aufspaltung in Leistungserbringer und Jammerer«, wozu zu sagen ist, dass die deutschen Leistungserbringer auch ständig jammern, über andere Dinge allerdings als die Nur-Jammerer. Schon mal einen nicht jammernden Deutschen gesehen? Na, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Abwegig ist es nicht.

Das Büchlein jedenfalls regt an zu solchen Spekulationen, was erst einmal nichts schadet. Aber Hans-Dieter Gelfert kann ziemlich präzise erklären, aus der deutschen Geistesgeschichte heraus und mithilfe der Soziologie, warum viele jüngere Deutsche heute eher »cool« sein wollen und angeblich deutsche Werte wie »Innigkeit« oder »Einfalt« fast verschwunden sind, trotz wunderschöner einschlägiger Gedichte von Angelus Silesius, Matthias Claudius oder Clemens Brentano.

Überhaupt scheint nicht viel übrig geblieben zu sein von den angeblich so typisch deutschen Werten, die vor allem das romantisch-biedermeierliche 19. Jahrhundert propagiert hat. Was davon aber immer noch nachwirkt, führt uns der Autor sehr einleuchtend vor Augen. Beispiel Staat: »Heute stehen die Deutschen der staatlichen Autorität mit gleichem Misstrauen gegenüber wie ihre westlichen Nachbarn, erwarten aber«, und jetzt kommt’s, »erwarten aber immer noch mehr von ihr als diese und sind tiefer enttäuscht, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden.« So ist es wohl – und welcher Engländer, Italiener, Spanier oder gar US-Bürger wunderte sich nicht über die immer noch latente deutsche Sehnsucht nach dem allseits gerechten »Vater Staat«? Aber keine Bange – es gilt als ausgemacht, ja geradezu unvermeidlich, dass die nationaltypischen Traditionen mehr oder weniger schnell verblassen und in einer globalisierten Weltkultur aufgehen. Und dass Gelferts »Urworte, deutsch« rasch zu Begriffen mit nur noch antiquarischem Beigeschmack werden. Ohne Geborgenheit oder Innigkeit in die Zukunft? »Das könnte aber auch eine gegenläufige Entwicklung auslösen«, schreibt unser Autor. »Die Frage ist nur, ob man sich das wünschen sollte.«

Der Rest des Buchs umkreist und variiert das Thema, recht knapp oft und doch nicht ganz ohne Überschneidungen. Von den deutschen Mythen und Helden über die deutschen Frauen, die sich heute »nüchterner und tatkräftiger« präsentierten als die Männer, streifen wir bis zum deutschen Kitsch, Humor oder Ungeist. Die Frauen übrigens kommen im ganzen Buch zu kurz. Aber, wie gesagt, überall Gescheites und Gelehrtes, einleuchtend verbunden mit dem, was wir heute hören und sehen, wenn wir in den Supermarkt um die Ecke gehen, fidelen deutschen Frührentnern mit ihren nicht selten asiatischen Zweit- oder Drittfrauen begegnen, deutsche Autowaschanlagen aufsuchen oder deutsche Fernsehsendungen verfolgen. Genau das hoffentlich, was mein amerikanischer Dozent braucht: Skizzen zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen, mit tiefem Blick in die nationale Geschichte und weitem Blick in die heutige Welt. Hans-Dieter Gelfert schließt mit einem Ausblick – die Deutschen, vereinigt, nationalstolz und dennoch verzagt, in der Mitte Europas. Vernünftig sei es, die alte deutsche Sehnsucht nach dem großen Ganzen auf das sich einigende Europa zu lenken, meint er. Da hat er wahrscheinlich recht, denke ich, und so wird es auch kommen. Aber 2006 war Fußball-WM in Deutschland, und diese Italiener … Aber das sagen die Franzosen auch. Typisch deutsch ist das nicht.

Der amerikanische Dozent ist dankbar für den Hinweis. »Mentalities« zu studieren ist an den entsprechenden Departments gerade schwer in Mode. Ich aber bin unzufrieden. Ist Gelferts Buch denn mehr als eine brillante Zusammenschau dessen, was man irgendwie doch schon wusste oder mindestens geahnt hat? Wird man der Frage »Was ist deutsch?« allein mit Soziologie und Kulturgeschichte gerecht? Gottseidank ist heute Donnerstag, mein Sporttag. Fände der Turnvater Jahn mein »Fitnesscenter« in Ordnung? Heißt deutsch sein auch, seine Runden um ihrer selbst willen zu drehen – um den Richard Wagner zugeschriebenen, immer noch recht bekannten Spruch abzuwandeln? Nach drei Stunden – ich sitze mit meinen Sportfreunden da, wo wir immer sitzen und den lebensbedrohlichen Flüssigkeitsverlust auszugleichen suchen – frage ich schüchtern: »Was ist deutsch? Eine Sache um ihrer selbst willen tun?« »Unsinn«, ruft mein Gegenüber, ein Historiker und Archivar übrigens. »Unsinn! Deutsch sein heißt, in einem sicherlich immer löchriger werdenden sozialen Netz herumzuschaukeln, beim TV-Zapping Big Macs oder Wurststullen zu verdrücken, dazu ein Getränk in sich reinzuschütten, das mit deutschem Bier nur noch den Namen gemein hat, und über die Politik, die Ausländer, die Ärzte, das Finanzamt, den allgemeinen Verfall von Moral und Anstand und natürlich über die Fußballnationalmannschaft zu schimpfen und zu jammern. Prost!« Das sei nichts Typisches, entgegnet der Dritte am Tisch, der technischer Redakteur ist und als klug und besonnen gilt. Das sei die Unterschicht, die zwar immer größer werde, ebenso wie die kulturelle und auch moralische Verwahrlosung der Mittelschichten – Deutschland jedoch sei das noch lange nicht. Die sozialen Unterschiede seien so gewaltig, dass man nur wenig Verbindendes finden werde, zu schweigen von den geografischen. Was habe ein Reeder aus alter Bremer Kaufmannsfamilie mit einem Allgäuer Bergbauern zu tun? Was der Saarländer mit dem Vorpommern? Jeder ist eine Insel. Na ja, fast jeder. Und überhaupt: DDR- und BRD-Mentalität! Also, das Land sei zerfranst und ausdifferenziert, außerdem voll in den Stürmen der Globalisierung.

»Mentalities« möge es ja geben, die Frage nach dem Typischen allerdings sei altmodisch. Aber amerikanischen Germanisten, auf die Nazizeit fixiert und immer auf der Suche nach dem Dämonischen und Irrationalen im Deutschen, denen könne man ja alles erzählen. Alt-Heidelberg! Rothenburg! Rüdesheim! Was habe das denn mit »typisch deutsch« zu tun? »Nix. Zum Wohl!« Ich werde immer stiller. Schließlich ist noch ein Vierter am Tisch, ein höherer Beamter und ein durchaus politischer Kopf. Und was der sagt, umständlich und mit treffenden Beispielen aus dem praktischen Leben, das ja, wie jeder weiß, unweigerlich irgendwann in Verwaltungsakte mündet, das klingt in der Summe dann wieder sehr nach Gelfert. Na ja, wir bestellen uns dann noch eine Runde und wenden uns anderen Themen zu. Was jetzt eigentlich typisch deutsch sein könnte, das interessiert meine deutschen Sportler offenbar nicht so sehr. Als ich mal einige Zeit in Spanien arbeitete, erinnere ich mich auf dem Heimweg, da war das anders. Ständig wurde ich mit meinem Deutschsein konfrontiert. Mit meiner damaligen Ernsthaftigkeit – zu meinen, man fragt nach dem Weg und bekommt eine zutreffende Auskunft oder wenigstens ein »Das weiß ich leider nicht«. Mit meiner Pünktlichkeit – ich war um 21 Uhr eingeladen, kam drei Minuten danach und hatte wirklich Hunger. Das war typisch deutsch! Na ja, naiv vielleicht auch. Mit meiner viel zu geringen Flexibilität – Sturkopf, »cabeza cuadrada« nannte man mich mehr als einmal. Oder gleich, wahrscheinlich meiner manchmal etwas forcierten Zielstrebigkeit wegen, »Panzer«! Lange her. Ob das alles einem nicht-deutschen Europäer heute überhaupt noch auffallen würde? Ist das nicht auch typisch europäisch? Bin ich eigentlich heute noch der Deutsche, der ich damals schon nicht so recht sein wollte? Oder ist genau diese Frage jetzt wieder typisch deutsch? Man sollte der Sache endlich auf den Grund gehen! Nietzsche lesen vielleicht?

Hans-Dieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind. München 2005: C. H. Beck Verlag. 211 S.

Aus der Zeit gefallen? Deutsche Schriftsteller jenseits der siebzig

Viele Autoren, die ihre Glanzzeit vor 1990 hatten und inzwischen in die Jahre gekommen sind, schreiben und publizieren immer noch. Manche mischen sich auch weiterhin in aktuelle Debatten ein. Lob und Anerkennung ernten sie dafür selten. Gelangweiltes Achselzucken, schroffe Ablehnung und ätzender Spott sind nicht unüblich. Wer hört auf Schriftsteller jenseits der siebzig? Sind sie nicht nur noch wunderliche Zeitzeugen oder gar leise bröckelnde Monumente ihrer selbst? Sind sie nicht »von gestern«? Passen sie noch ins 21. Jahrhundert?

Nobelpreis hin, Weltruhm her: Als Günter Grass (*1927) in seinem Band Eintagsfliegen (2012) eine ganze Reihe von hochartifiziellen, wunderbar melancholisch-lakonischen Gedichten über das Alter und das Altern veröffentlicht hatte, wurde er nur selten als großer, vielleicht sogar altersweiser Lyriker gewürdigt. Nein, die Sensation bestand darin, dass man aus einem seiner Poeme harsche Kritik an der israelischen Regierung herauslesen kann. Darf das sein? Der Tenor der aufgeregten Debatte, in der sein beachtlicher Gedichtband fast keine Rolle spielte, war deutlich: Grass nervt!

Martin Walser (*1927) legte 2011/2012 gleich zwei sprachlich brillante Altersromane vor, Muttersohn und Das dreizehnte Kapitel. Er wurde dafür durchaus gelobt. Aber meistens ging es dann doch nicht um Walsers ungeheure Wortkunst, sondern um die Frage, ob der Alte vom Bodensee nun endgültig in katholisch-mystische Verstiegenheiten abgedriftet ist. Wenn ja – wer mag »so was« dann überhaupt noch lesen? Ist dieser Walser nicht schon seit Jahrzehnten politisch verdächtig? Und überhaupt: Geistig anspruchsvolle und sprachlich komplexe Bücher lesen? Muss das sein? Große Dichter? Ach was!

Nun gut, Grass und Walser mögen die Öffentlichkeit polarisierende Ausnahmen sein. Die meisten Nachrufe auf die 2011 gestorbene Christa Wolf (*1929) waren durchaus respektvoll, und man wird kaum Abfälliges über Siegfried Lenz (*1926), Ernst Augustin (*1927), Günter de Bruyn (*1928), Günter Herburger (*1932) oder Gabriele Wohmann (*1932) hören. Eher nimmt man einen bald bedauernd, bald mitleidlos gesetzten Unterton wahr: Eure Zeit ist um! Euch muss man nicht mehr lesen! Das gilt oft sogar für Schriftsteller, die erheblich jünger sind als die Genannten. Die neuesten Bücher von Volker Braun, Friedrich Christian Delius oder Gerhard Köpf zum Beispiel sind allerbeste Literatur – aber auch leicht verderbliche Ware. Meist verschwinden sie in einem von Jahr zu Jahr rasanter werdenden Literaturbetrieb, der manchmal schon zur Leipziger Buchmessezeit nicht mehr weiß, was im Oktober in Frankfurt los war. Lebenskluge Kunstprosa? Erfahrungsgesättigte Sprachverdichtung? Brauchen wir das? Haben wir nicht ganz andere Sorgen? Na gut, womöglich schreiben die Alten sogar besser als vor drei Jahrzehnten. Aber muss man deshalb ihre Bücher lesen?

Schon James Joyce kämpfte im frühen 20. Jahrhundert gegen profitsüchtige Verleger, überhebliche Kritiker und ein snobistisches Literaturestablishment, die seine Kunst nicht zu würdigen wussten. Er wurde zu einer Marke. Grass und Walser sind das inzwischen auch – nationale Symbole, die es wie Philip Roth machen könnten und nichts Neues mehr schreiben müssten. Aber selbst wenn es bei Symbolfiguren nicht mehr zuallererst um die Qualität ihrer jeweils jüngsten Werke geht – eingerostet, erstarrt oder erschlafft sind sie noch lange nicht. Doch die meisten Literaturkritiker, Kultursnobs und Glamourpseudos in Deutschland erwecken den Eindruck, als spielten diese immer einsamer werdenden Alten nur noch mit ihren reichlich abgegriffenen Karten von gestern. Was nachweislich nicht stimmt. Unerbittliche politische Kritik am Zustand der Welt, wie Günter Grass sie übt, hat diese nach wie vor nötig, ganz unabhängig davon, ob man ihr zustimmt oder nicht. Die oft ironisch vorgetragene, immer aber fundierte Gesellschafts- und Kulturkritik Martin Walsers ist dringend erwünscht, selbst wenn man vielleicht manchen Akzent anders setzen würde. Und dann ist da ja noch das, was man Lebenswerk nennen kann. Sicher: Es zu begreifen und für heute produktiv zu machen, kostet Zeit und oft auch Mühe. Sei’s drum! Ein bisschen mehr Hochachtung vor künstlerischen Höchstleistungen, anderswo eine Selbstverständlichkeit, würde unserer Gesellschaft wahrscheinlich gut tun. Gibt es denn so viele lebenserfahrene, hochreflektierte und gegenwartskritische Sprachkünstler im Lande? Es ist in Deutschland Mode geworden, pausenlos Respekt für die eigene Person oder die eigene Gruppe einzufordern. Nicht unbedingt Mode ist es, Respekt vor anderen zu haben: vor weltweit anerkannten Schriftstellern zum Beispiel. Und seien sie noch so alt.

Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte. Göttingen 2012: Steidl Verlag. 107 S.

Martin Walser: Muttersohn. Roman. Reinbek 2011: Rowohlt Verlag. 505 S.

Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Reinbek 2012: Rowohlt Verlag. 271 S.

Schneit es bald in meinem Kopf? Vom Altern in der Literatur

Auffällig viele literarische Neuerscheinungen des Herbstes 2006 beschäftigen sich mit dem Altern. »Vorherrschend« sei dieses Thema sogar, meint Volker Hage, der das Phänomen in einem Spiegel-Artikel mit der Überschrift »Club Methusalem« aufgreift. Mit Recht lobt er Silvia Bovenschens über manches Alterszipperlein angenehm hinwegtröstendes Buch Älter werden, ein schönes »Erzählmosaik aus kleinen Erinnerungen, Beobachtungen und Geschichten«, das nichts beweisen will und eben deswegen überzeugt. Nicht nur ästhetisch, sondern auch wegen seiner Ehrlichkeit gegenüber dem Prozess des Alterns, präziser: wegen seiner genauester Beobachtung und Empfindung entsprungenen, immer klug und angemessen formulierten, bisweilen auch ins Selbstironische spielenden Lakonie. Weitgehend überzeugend ist auch der neue Roman von Martin Walser, einer seiner besseren aus den letzten zwanzig Jahren: Angstblüte – was die letzte sich aufbäumende Blüte einer Pflanze meint, bevor sie endgültig zugrunde geht. Der vitale Veteran vom Bodensee, sprachlich brillant wie meistens, erfindet einen einprägsamen Romanhelden, den einundsiebzigjährigen Anlageberater Karl von Kahn, der auch im Alter seinem Wahlspruch »Bergauf beschleunigen!« treu bleiben will. Walser erzählt, reif und kunstvoll und süffig und gelegentlich auch etwas umständlich, von Kahns eifrig-verzweifelten und naturgemäß vergeblichen Bemühungen, das Altern aufzuhalten. In erster Linie geht es dabei um eine recht gnadenlose Abrechnung mit den Torheiten der Liebe, auch und gerade der körperlichen. Joni Jetter ist nicht einmal halb so alt wie Kahn, der dieser »Traumfrucht« wegen zu jedem Ehebruch bereit ist. Joni bringt den hoffnungslos Verliebten zur Raserei, einer komischen und peinlichen Altersraserei natürlich – und will doch nur sein Geld. Am Ende ist der arme Kahn sogar seine fürsorglich treue Ehefrau los, die witzigerweise (oder auch nicht) als Paartherapeutin tätig ist. Eine geradezu klassische Walser-Geschichte, nur dass eben in diesem achtzehnten Roman des Schriftstellers das Alter und seine Lächerlichkeit eindeutig die Hauptrolle spielen.

Nichts gegen Bovenschen oder Walser – beide Bücher sind oder waren zu Recht in den deutschen Bestsellerlisten. Doch ein ebenso gutes literarisches Herbstbuch über das Altern, das bisher noch nicht allzu vielen Kritikern aufgefallen ist, stammt von Hermann Kinder. Der 1944 geborene Konstanzer Germanist, als sprachgewaltiger und keineswegs nur humoristischer Schriftsteller seit jeher unterschätzt, erzählt in den sieben Kapiteln seines im »Jahrhundertsommer« 2003 spielenden »Methusalem-Romans« mit dem etwas merkwürdigen Titel Mein Melaten von einem am Bodensee vor sich hin alternden Herren. Von einem wohl immer schon durch »Lebensunzuversicht« geprägten, im nicht einmal sehr hohen Alter zusätzlich mit zahlreichen echten oder auch nur eingebildeten Kränklichkeiten geplagten »Miesepeter« – wie ihn seine Tochter Juliane einmal nannte, als sie noch mit ihm redete. Wo der Ich-Erzähler auch hinsieht – es geht »bergab«. Bei den Nachbarn fängt es an: »Vater Forell behauptete, was nicht stimmte, suchte Läden, die es seit dem Krieg nicht mehr gab, verwechselte den Arzt mit dem Postamt … Nicht ihn, sondern Frau Forell ließ ein Schlaganfall unter den Frühstückstisch rutschen.« Und Herr Forell verdämmert auch, fröhlich zumeist und zunehmend altersabwesend. Der zu Beginn des Romangeschehens noch auf einem »Amt« arbeitende, dort jedoch immer mehr Demütigungen ausgesetzte und von manchen bereits als »Kadaver« betrachtete Ich-Erzähler verfällt allmählich der »Forellschen Krankheit«. Seine geliebte Frau hat eine »Lebensstelle« in Köln gefunden, an sie klammert er sich, und so kommt es zu vielen höchst amüsant beschriebenen Reisen mit der unsäglichen, ihre lieben Kunden in immer neuen Variationen bis aufs Blut quälenden »Deutsche Bahn AG«. Man möchte ständig zitieren, so verschmitzt und hintergründig kommt Hermann Kinders beißende Kulturkritik daher. Zum Beispiel: Sein zunehmend »polymoribunder« Protagonist steigt in die Kölner Straßenbahn, vielleicht auf dem Weg nach dem früheren Leprosengelände Melaten, auf dem der imposante, große Friedhof liegt, der im Laufe des Geschehens eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Und berichtet: »Mich bedrohte niemand, und die Zeiten waren vorbei, in denen Grauköpfe, Krummbuckel dadurch diskriminiert worden waren, dass jemand aufsprang und ihnen seinen Sitzplatz anbot. Man blieb ruhig sitzen, hatte den Nebensitz mit seinem Rucksack belegt und auf den gegenüberliegenden Sitz seine Schuhe gelegt. Ich stand schwankend.« Derart köstlich und zugleich ätzend formuliert Hermann Kinder, bei dem übrigens die Schweiz, der Kanton Thurgau zumeist, ganz gut wegkommt: »Wäre ich in Köln gestürzt, wäre ich in Hundekacke gefallen, die auf Schweizer Bürgersteigen in braune Plastiksäcke gesammelt wurde, bevor jemand in sie fallen könnte.« Manchmal scheint es, als habe Martin Walser aus Nussdorf über den See gerufen, denn »Seelenschnittwunden«, »Atemnotvertuschungsversuche«, »Wäschewaschversäumnisse« oder »Hoffnungsangewiesenheit« sind Neologismen, die man auf Anhieb eher ihm zuschreiben würde als ihrem Erfinder Hermann Kinder. Mit trauriger Komik beschreibt er, wie und weshalb ein einst als »Möglichkeitstrampolin« erlebter menschlicher Körper »vom Lust- zum Sterbequell« werden kann. Woraus sein unbeholfener und doch unruhiger, von immer mehr Lebensangst heimgesuchter Ich-Erzähler folgert: »Wenn also das Risiko des Todes bei einem versuchten Geschlechtsverkehr eingehen, dann nur mit betriebsbereitem Handy in Handweite auf dem Bettbeistelltisch, auf dem auch mein Atemspray liegen müsste.« Meisterlich geschildert werden die hoffnungslosen Zustände in manchen Kliniken, meisterlich geschildert werden absurde Erlebnisse auf Last-Minute-Städtereisen durch Europa. Und meisterlich heißt bei diesem mit Proben seiner Belesenheit und Gelehrsamkeit nicht geizenden Autor immer auch: süffisant, amüsant und zum Brüllen komisch. Leider hat Kinders wunderbarer, durchaus ernster und doch allenthalben skurriler »Methusalem-Roman« auch einige Längen, vor allem im zweiten Teil. Deshalb ist dieses empfehlenswerte Prosastück auch nur das zweitbeste neue literarische Werk über das Altern.

Das Beste hat Gerhard Köpf geschrieben, ein 1948 im Allgäu geborener, in München lebender und vor allem in den 1980er-Jahren weithin bekannter Schriftsteller, den heute nur noch einige Experten kennen – wie manch andere einst namhafte Autoren auch, wenn man einem Spiegel-Essay von Hans Christoph Buch folgen möchte. Köpfs Buch Ein alter Herr, das ein imposantes Netz literarischer Anspielungen und Zitate aufspannt, nennt sich »Novelle« und spielt in München. »Gibt es eine Stadt, in der noch mehr Angeber, Aufschneider, Poseure und Hochstapler herumlaufen als in München?« Alte Herren haben bekanntlich ihre Marotten, und wenn sie Professoren sind oder waren, wird es nicht besser. Köpfs alter Herr igelt sich quasi in seinem Wintergarten ein, hört versunken seine Musik, trinkt seinen guten Wein gern für sich allein und versucht mit wenig Erfolg, sein Leben und seine Geschichte zu ordnen. Seine Ausflüge in die Stadt und überhaupt in die Gegenwart enden alle in kleineren oder gar größeren Katastrophen. Weshalb der anfangs nur ein wenig verschrobene alte Herr noch mehr in seine Erinnerungen und Träume eintaucht – bis ihn sein Gedächtnis fast ganz im Stich lässt.

Die Zusammenfassung der Handlung – eigentlich sind es viele kleine Prosa-Kabinettstückchen – sagt wenig über die ungewöhnliche ästhetisch-kompositorische Form und die stilistische Eleganz des mehr als zweihundert Seiten umfassenden Textes, aus dessen Stoff andere Autoren zwei Romane verfertigen würden. Und wenig über Köpfs subtil-ironische Gesellschaftskritik. Denn sein alter Herr ist ein »Liebhaber versunkener Manieren«, der vom »Fortschritt« gar nichts hält. »Mit jedem Tag war ihm ein wenig unbehaglicher, und er sprach nicht selten vom allgemeinen Verfall. Mehr als auf die eigenen berief er sich dabei mit Vorliebe auf jene Erfahrungen aus Büchern, die gänzlich aus der Mode waren.« Was ihn vor allem verunsichert und letztlich resignieren lässt, sind Kleinigkeiten, an denen er feststellt, wie wenig seine mühsam errungenen Weisheiten wert sind. Daraus folgen Zweifel, Verzweiflungen letztlich, etwa über den fast abgerissenen Knopf an seinem Lieblingsjackett – eine hinreißend komisch erzählte Episode, wie so einige in diesem Buch. Das Böse, so scheint es dem Professor, ist »immer und überall«, und die allgegenwärtige Barbarei kann die Gestalt eines Hundes, eines Kinderwagens oder eines Radfahrers annehmen, auch die der »Satansbrut« eines Mannes in mittleren Jahren, dessen »vor Kraft und Gesundheit prangendes Babyface … anstelle von Spuren des Lebens nichts weiter als Arroganz und Selbstgefälligkeit« verrät. Als Vater und Kind ihren Besuch beim Professor beendet haben, sinkt der in sich zusammen: »Was den alten Herrn intensiv beschäftigte, war die Frage, wie ein dreijähriges Wesen, angeblich und dem ersten Augenschein nach ein Kind, imstande war, binnen kürzester Zeit eine wohlgeordnete und gründlich durchdachte Welt derart zerstörerisch aus den Angeln zu heben … Nein, das war kein Kind im Sinne der abendländisch gültigen Definition des Wortes. Das war einer der apokalyptischen Reiter, jederzeit imstande, selbst den Lauf der Gestirne zu beeinflussen und die Sonne aus ihrer ewigen Bahn zu werfen.« Sein Leibarzt Locollo, der als Erzähler fungiert und das Endstadium seines Patienten andeutet, empfiehlt Schreiben als Therapie und spricht von »posttraumatischer Verbitterungsstörung«, einer psychischen Eigenart, die sich nach einem einmaligen, schwerwiegenden Negativerlebnis entwickeln kann. »Einmalig? Bei mir war es eine ganze Serie, warf der alte Herr entrüstet ein.« Dem mit Wonne und Hingabe Pfeifen und Zigaretten rauchenden Professor, dem Bügelfalten »als die kleinstmögliche Voraussetzung von Gepflegtheit« gelten, missfallen nicht nur die überall georteten Rucksäcke, »von denen insbesondere in Bahn, Bus, Straßen- und U-Bahn eine notorische Rücksichtslosigkeit ausging«. Ihm missfällt fast alles an der Gegenwart, am wenigsten vielleicht die Gespräche mit einem gewissen Lello: »Beide alte Herren schätzten Tomasi di Lampedusa und warfen sich scherzhaft Zitate aus dem Gattopardo zu.« Gefallen findet er auch an den Pianoklängen in der Bar eines Grandhotels, wo er bisweilen seine »Auswilderung« voranzutreiben sucht, und auch am Geschäft des Modeschöpfers Ernesto Oberadel-Edelmoser, eines reichlich bizarren »Grosswoiwoden der Ausstattungsartisten«. Unerträglich und geradezu bedrohlich aber ist der Münchner Frühling, bei dessen Ausbruch es ihn drängt, wieder einmal Thomas Bernhard zu lesen oder in Richtung Nordkap auszuwandern.

Und gerade da bittet ihn eine gewisse Benigna von Abel, ihr bei einem Ausflug an den Tegernsee Gesellschaft zu leisten, und gerade dort erzählt er ihr vom Ende des schwermütigen Königs Ludwig II., der in diesem See … »Ja, sind wir denn hier nicht in Starnberg? Der Professor war irritiert und schlug die Augen nieder. Er errötete wie ein Schüler. Vor allem aber schämte er sich. Seine Verwechslung beunruhigte ihn zutiefst, zumal er sicher war, dass ihm eine derartige Peinlichkeit früher nicht passiert wäre … Er durchlitt die Situation als Verlust seiner Autonomie.« Und seit dieser Stunde verändert sich alles: »Tatsächlich ging er kaum noch aus dem Haus, weil er glaubte, eine allgemeine Verfinsterung um sich und seiner selbst festzustellen.« Auch Arzt und Haushälterin bemerken es rasch: Die »Wüste der Gedächtnislosigkeit« greift immer weiter um sich, und bald wird der Professor nicht mehr wissen, wer er war und wer er ist.

Was Kinder und Köpf literarisch andeuten, was Michael Jürgs in seinem medizin- und psychologiehistorisch weit ausgreifenden und also lehrreichen, dabei durchaus spannenden und unterhaltsamen Sachbuch Alzheimer. Spurensuche im Niemandsland näher ausführt, macht Klara Obermüllers Anthologie Es schneit in meinem Kopf explizit zum Thema. Die Zürcher Publizistin hat Schriftsteller darum gebeten, das unsagbare und unsägliche Verdämmern literarisch fassbar zu machen. Sie hat zehn »Erzählungen über Alzheimer und Demenz« gesammelt und legt in ihrer knappen, pointierten Einleitung dar, weshalb die Literatur bei diesem Thema jeder Sachbuchprosa zumindest ebenbürtig ist – und dass sie auch eine Tradition besitzt: »Von Plutarch und Juvenal über Bacon und Erasmus bis hin zu Shakespeare, Montaigne, Swift und Tschechow gibt es Texte, die sehr genau beschreiben, was mit Menschen geschieht, wenn die Erinnerung schwindet und das Denkvermögen versagt … Ian McEwan, Jonathan Franzen, Irene Dische, Martin Suter, Jürg Acklin und in jüngster Zeit Arno Geiger und Charles Lewinsky haben das allmähliche Verdämmern alter Menschen in ihren Werken beschrieben.« Aus der Außenperspektive natürlich.

Das fast Unmögliche, nämlich die Innenwelt eines Menschen zu schildern, der sich und seiner Umgebung allmählich fremd wird, versuchte der holländische Autor J. Bernlef in seinem 1984 erschienenen Buch Hirngespinste. Ulrike Draesner zitiert dieses Wort in ihrer naturgemäß schwer zu lesenden Erzählung Ichs Heimweg macht alles alleine – naturgemäß, weil sie als einzige Schriftstellerin dieser Anthologie konsequent versucht, das Phänomen von innen zu charakterisieren. Was ein interessantes (Sprach-) Experiment ist, wiewohl man es kaum als geglückt betrachten kann – wenn das überhaupt möglich sein sollte: »Keine Erfahrung haben, mit dem Auseinanderfallen« (Draesner). Peter Stamm versucht es auch, ganz anders. Auf Martin Beglingers Beitrag hätte die Herausgeberin getrost verzichten können. Die Erzählungen von Arno Geiger, Urs Faes, Erwin Koch, Silvio Huonder, Judith Kuckart, Inka Parei und Ruth Schweikert umkreisen Erscheinungen der Altersdemenz meistens in genau beschriebenen Beobachtungen des Zerfalls: »In jeder Woche etwas, das nicht mehr geht« (Faes). Mit gebührender Pietät und Demut vermessen die bevorzugt realistisch gestalteten Texte das dramatische Spannungsfeld zwischen elementarer Tragik und Situationskomik, das dieser unberechenbaren, heimtückischen Krankheit eigen ist. Was weiß man schon, als Betroffener? »›Was habe ich eigentlich?‹ Frau Schulze schaut mich an. ›Alzheimer.‹ ›Was ist das?‹« (Kuckart). Was weiß der Beobachter? »Das hat ihm drei Ehrendoktoren eingebracht, sagt der Mann, und nun sitzt er da und weiß nichts mehr von alledem. Da bin ich nicht sicher, sagt Ivana« (Koch). Und immer steht die Frage im Raum: Wie fängt es an? »Altersvergesslichkeit. Wer kennt das nicht, wenn er die fünfzig überschritten hat: Ein Name ist weg, der Titel eines Films; oder man steht im Keller und weiß nicht mehr, warum. Geht allen so« (Faes).

Vor Kurzem übrigens fand in Darmstadt die traditionelle Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung statt, und man hat die Akademie mehrfach »mutig« genannt, weil sie sich traute, die »Radikalität des Alters« zum Tagungsthema zu machen. Einig geworden sind sich die meist älteren Herren und die meist ebenfalls angejahrten wenigen Damen allerdings nicht einmal darüber, ob Radikalität überhaupt mit dem Alter zu tun hat. Und schon gar nicht darüber, ob man das Alter im Sinne von Odo Marquardt als Herausforderung und Chance betrachten kann oder im Sinne von Hans Wollschläger als unwiederbringlichen Verlust fast all dessen, was das Leben einst ausmachte und lebenswert erscheinen ließ. Akademiepräsident Klaus Reichert hat eine kleine Anthologie herausgegeben, die Essays, Prosa und Gedichte zu diesem Thema versammelt, unter anderem von Erica Pedretti, Elisabeth Borchers, Friederike Mayröcker und dem 1909 geborenen Arzt, Analytiker und Schriftsteller Hans Keilson – sehr lesenswerte Überlegungen zum Thema, mit einer Ausnahme. Nur der Schnee im Kopf und die Angst davor, die kommen hier nicht vor.

Silvia Bovenschen: Älter werden (S. Fischer)

Michael Jürgs: Alzheimer. Spurensuche im Niemandsland (C. Bertelsmann)

Hermann Kinder: Mein Melaten. Der Methusalem-Roman (Haffmans bei Zweitausendeins)

Gerhard Köpf: Ein alter Herr. Novelle (Klöpfer & Meyer)

Klara Obermüller (Hrsg.): Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz (Nagel & Kimche)

Klaus Reichert (Hrsg.): Radikalität des Alters. Prosa – Lyrik – Essay (Wallstein)

Martin Walser: Angstblüte. Roman (Rowohlt)

Böttigers brillante Bilanz. Persönlich und doch repräsentativ – Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Nicht der kluge Adolf Muschg und nicht der listige Peter Bichsel – nein, Markus Werner aus dem Schaffhauser Land, der gerade mit seinem Roman Am Hang Furore macht, gilt einem der originellsten deutschen Literaturjournalisten als würdig, die Schweiz in seiner Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu vertreten. Der Berliner Kritiker Helmut Böttiger macht in der Einleitung zu seinem Band über die deutschsprachige Literatur seit 1989 zuerst einmal klar, dass Literatur für ihn traditionsbewusste und eigensinnige Sprachkunst ist und nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, rasch konsumierbare und medienkompatible Zeitmitschrift. Die Dichter, die seiner Überzeugung nach für modernes Schreiben maßgeblich sind, heißen Robert Walser, Franz Kafka oder Paul Celan. Große Namen, hoher Anspruch – wer nun aber meint, hier äußere sich ein unkritischer Anhänger der frühen Moderne des 20. Jahrhunderts oder gar ein das heutige Event- und Medienzeitalter ignorierender, womöglich auch noch konservativer Literaturliebhaber, der täuscht sich gründlich. Böttiger kennt alles und jeden im vielfältigen Getümmel der Gegenwartsliteratur. In seinem Buch jedoch haben nur Autoren Platz, deren Werk seiner Beobachtung nach »bereits erkennbar ist und deren Namen man auch in zwanzig Jahren noch kennt«. Oder anders: »Welche Schreibweisen sind zu erkennen, die etwas über die Zeit aussagen, ohne dass sie in dieser Zeit befangen bleiben? Es sind äußerst unterschiedliche Schriftsteller versammelt, deren Gemeinsamkeit einzig darin besteht, dass sie dieser Frage standhalten.« Das ist ein legitimer Anspruch – wie sonst sollte man Gegenwartsliteratur fundiert dar- und nicht nur Buchtitel und Autorennamen locker nebeneinanderstellen? An diesem Anspruch ist das Buch zu messen, und es ist müßig, auf all die Schriftsteller hinzuweisen, die bei Böttiger nicht vorkommen, oder auf wichtige Trends wie die Literatur nicht-deutscher Muttersprachler, die Böttiger wenigstens kurz erwähnt. Sicher, im Untertitel könnte auch »meine« stehen – am Ende ist es aber dennoch »eine Geschichte«, persönlich, aber auf originelle Weise eben auch repräsentativ.

Sechs Kapitel enthält das Buch. Zur Einstimmung »Die Platzhirsche«: Günter Grass, Christa Wolf, Martin Walser und Peter Handke. »Humor und Melancholie« enthält ein liebevolles Porträt des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino, zu dem sich der erwähnte Markus Werner und der einzige hier vorkommende tote Dichter, Thomas Strittmatter aus dem Schwarzwald, gesellen. Böttigers besondere Zuneigung gilt der »späten Moderne des Ostens« – hier wird auf Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl, Durs Grünbein, Kathrin Schmidt, Herta Müller und, sieh an, Fritz Rudolf Fries aufmerksam gemacht. Dann geht es unter der Überschrift »Das Wissen, die Leere, das Ich« um Botho Strauß, Ulrich Peltzer, Marcel Beyer, Ernst-Wilhelm Händler, Robert Menasse und Ingo Schulze. Das Kapitel »Rhythmusgefühl« rubriziert Elfriede Jelinek und Brigitte Kronauer sowie drei Autoren mit Vornamen Thomas: Kling, Meinecke und Lehr. Auch im Schlussteil liest man eine Menge Anregendes, unter anderem über Hans Magnus Enzensberger und Judith Hermann. Den meisten Porträts und Reflexionen wird man das Epitheton »brillant« kaum absprechen wollen, und oft ist es schon der erste Satz, der den Leser gefangen nimmt. Böttiger hat einen feinen, dabei immer pointierten Stil entwickelt, der sich mit seinen hohen Ansprüchen an wahre Literatur bestens verträgt. Ob man alle seine Urteile teilt oder nur manche – Nach den Utopien ist auch für stil- und sprachbewusste Leser ein beglückendes Erlebnis.

Helmut Böttiger: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien 2004: Zsolnay Verlag. 310 S.

Splitter eines Lebens. Bezwingende Prosa von Jürgen Becker

Im Jahr 2014 erhielt der 1932 in Köln geborene Jürgen Becker den renommierten Büchner-Preis, und das ganze Land war sich einig: Er habe den Preis mehr als verdient, und die Auszeichnung komme Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu spät. Beides ist richtig. Ein grandioser Autor von Gedichten und Prosa, die Hörspiele nicht zu vergessen, das ist dieser Künstler seit mehr als fünfzig Jahren. Bände wie Felder (1964) oder Ränder (1968) fanden bei Insidern oft bewundernde Beachtung, doch erst Erzählungen wie Der fehlende Rest (1997) und Romane wie Aus der Geschichte der Trennungen (1999) machten den mit der Künstlerin Rango Bohne im Bergischen Land lebenden Rundfunkmann einem größeren Publikum bekannt. Viele Leser sind inzwischen süchtig nach seiner präzisen, gelassenen und im mehrfachen Wortsinn coolen Prosa. Auch Beckers neuer »Journalroman« bietet eine glänzende Gelegenheit zum Süchtigwerden.

Natürlich hat der Autor von Schnee in den Ardennen (2003) den »Journalroman« nicht erfunden – aber er hat ihn perfektioniert, hat »Journalsätze« zu souveräner, unverwechselbar rhythmisierter Prosa geordnet. In einigen seiner Bücher taucht ein gewisser Jörn Winter auf, und in Jetzt die Gegend damals ist er wieder da: eine Figur, die für ihren Autor eine eigenständige Identität besitzt, hinter der man aber unschwer den Schriftsteller Jürgen Becker erkennt. »Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt« – so geht es los. Jörn erinnert sich, beobachtet, überlegt, und weil er von längst Vergangenem ebenso erzählt wie von Heutigem wie etwa der Griechenland-Krise, passt der Buchtitel ganz wunderbar. Auch weil klar ist: »Was ich heute erlebe, ist nicht mehr das, was mir im nächsten Jahr die Erinnerung an den heutigen Tag dazu sagt.« Seit je ist Becker fixiert auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen, auf die prägenden Jugendjahre, die er im nach und nach zerbombten Köln, in Thüringen oder an der Ostsee verbracht hat. Auch bekannte Becker-Motive wie der Schnee, die Vögel, die Felder und Gehöfte, das Autofahren, der Bahnhof von Erfurt oder der Hafen von Ostende fehlen nicht. »Um was geht es dir denn?«, wird Jörn gefragt. »Es gibt kein Konzept, sagt er, aber ich möchte herausfinden, was ich noch sagen kann, was ich noch weiß.« Er weiß noch viel, sehr viel, und er kann es sagen, auch im Alter.

Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Journalroman. Berlin 2015: Suhrkamp Verlag. 162 S.

Literatur als Lebenshilfe. Über Christa Wolf (1929 – 2011)

Für Besucher der deutschen Hauptstadt ist der Dorotheenstädtische Friedhof im Bezirk Mitte, gleich hinter dem Brecht-Haus in der Chausseestraße, ein Muss. Brecht selbst ist dort beerdigt, Hegel, Fichte, Heinrich Mann und viele andere große Autoren und Intellektuelle. Unweit der Gräber von Hans Mayer, Günter Gaus und Stephan Hermlin findet man dort auch die Grabstätte von Christa Wolf. Die weltweit anerkannte Schriftstellerin ist am 1. Dezember 2011 nach langer Krankheit gestorben. Was macht ihren Ruhm und ihre Bedeutung aus?

Die 1929 in Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski) geborene Christa Ihlenfeld macht 1949 Abitur. Im gleichen Jahr wird die »Deutsche Demokratische Republik« (DDR) gegründet. Die deutsche Literatur soll das Leitmedium sein beim Aufbau eines demokratischen Sozialismus, und die junge Frau, seit 1951 mit dem ein Jahr älteren Gerhard Wolf verheiratet, will dabei mithelfen. Christa Wolf wird Lektorin, Literaturkritikerin und Redakteurin der Zeitschrift neue deutsche literatur. Wie eine zeitgemäße sozialistisch-realistische Literatur aussehen könnte, zeigt ihr literarisches Debüt Moskauer Novelle (1961). Richtig bekannt macht Wolf der Roman Der geteilte Himmel (1963). In Rückblenden und inneren Monologen wird vom Leben der Rita Seidel erzählt, die in »den letzten Augusttagen des Jahres 1961« im Krankenhaus erwacht (am 13. August 1961 wurde die »Berliner Mauer« errichtet). Ihr durch die Arbeiter ihrer Brigade befeuertes Engagement für den Aufbau des Sozialismus entfremdet sie vom geliebten, prinzipiell DDR-skeptischen Chemiker Manfred Herrfurth, der am Ende die Republik verlässt, während Rita in der DDR bleibt. Vor allem weil die Autorin das Tabuthema Republikflucht ins Zentrum stellt, wird Der geteilte Himmel ein großer Erfolg in Ost- wie in Westdeutschland. Doch das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED Ende 1965 bereitet Christa Wolfs früher Karriere ein jähes Ende. Die Folge ist ein psychischer Zusammenbruch.

Der Roman Nachdenken über Christa T. (1968), der in engem Zusammenhang mit dem poetologischen Essay Lesen und Schreiben (1968) steht, entfaltet erstmals ein wichtiges Lebensthema der Autorin: Psychosomatisches, Krankheit und Tod. In Rückblenden, Träumen und Reflexionen wird über eine kürzlich an Leukämie gestorbene Freundin nachgedacht. Die fragmentarische Erinnerung an diese zweifelnde Antiheldin geht einher mit einer in der DDR-Literatur zuvor so nicht vernommenen kritischen Befragung des gesellschaftlichen Alltags. Dem Erzählungsband Unter den Linden (1974) folgt 1976 der dritte Roman: In achtzehn Kapiteln schildert Kindheitsmuster die Kindheit der Nelly Jordan und den Alltag einer deutschen Provinzstadt in der NS-Zeit. Die 1947 endenden Erinnerungen werden immer wieder mit Bildern, Gedanken und Gesprächen aus der DDR-Gegenwart konfrontiert, die mit lutherischer Gewissenhaftigkeit daraufhin überprüft wird, ob und wie weit faschistische Verhaltensweisen weiterbestehen. Der Bezugspunkt von Christa Wolfs auf Wahrhaftigkeit gerichtetem Schreiben ist die eigene persönliche Betroffenheit, ohne die die literarisch angestrebte »subjektive Authentizität« nicht möglich wäre.

Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976), gegen die sie öffentlich protestiert, wendet sich die Autorin dem »Gesprächsraum Romantik« zu. In der Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) wird ein fiktives Zusammentreffen zwischen den Dichtern Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 zum Anlass, über Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstverwirklichung und den gesellschaftlichen Spielraum der Poesie zu sprechen. Es geht auch um die für Wolfs Gesamtwerk zentrale Frage, warum die bürgerliche Forderung nach dem »Subjektwerden des Menschen« und speziell der Frau auch im DDR-Sozialismus nicht eingelöst wurde. Die Romantik als Echo- und Spiegelraum ihrer Protagonistinnen wird bald ergänzt durch die Antike, insbesondere in der Erzählung Kassandra (1983), über deren Kontext und Entstehung die Autorin in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1982) Auskunft gibt. Mit diesen Werken, auch mit der nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verfassten Erzählung Störfall (1987) und dem Kurzroman Sommerstück (1989), wird Christa Wolf in den Achtzigerjahren zu einer Identifikationsfigur, Seelentrösterin und Moralikone der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung in beiden Teilen Deutschlands. Lesereisen führen sie unter anderem nach Skandinavien, Frankreich und in die USA, ihre Werke werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, die bedeutendsten Literaturpreise der DDR wie der BRD werden ihr zugesprochen, und als unermüdliche Unterstützerin junger Autoren der DDR erwirbt sie sich bleibende Verdienste.

An der »Wende« ist Christa Wolf mit ihrer Rede vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, ihrer Unterschrift unter den Aufruf Für unser Land und ihrer Mitarbeit an einem Verfassungsentwurf für eine reformierte DDR maßgeblich beteiligt. Die Veröffentlichung ihrer bereits 1979 entstandenen Erzählung Was bleibt (1990) führt zum später sogenannten ersten deutsch-deutschen Literaturstreit, in dessen Verlauf der Autorin ein verträumt-romantischer Politikbegriff sowie zu große Nähe zur Staatsführung der DDR vorgeworfen wird. Als sich 1993 herausstellt, dass bei der Staatssicherheit der DDR (Stasi) nicht nur eine zweiundvierzig Bände umfassende »Opferakte« über sie vorliegt, sondern auch eine Akte, die Wolf als Informelle Stasi-Mitarbeiterin (IM) in den Jahren 1959 bis 1962 ausweist, verstört dies die Autorin nachhaltig. Ihre existenzielle Krise und die lebensgefährliche Bedrohung ihres Körpers, der zum Seismografen des Zusammenbruchs ihres Landes wird, schildert Christa Wolf in der Erzählung Leibhaftig (2002). Ihr letztes Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) bringt die Ereignisse um diese Enthüllung zur Sprache. Der autobiografische Reise- und Lebensbericht, komponiert aus Tagebuchskizzen, Traumprotokollen und fiktiven Passagen, kann als schmerzliche Selbstbefragung, Lebensbeichte und Vermächtnis der Autorin gelten. In Erinnerung bleibt Christa Wolf als literarische Hüterin und Weiterentwicklerin humanistischer Traditionen und glaubwürdige Verfechterin ihrer Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft, die sich an der engen DDR-Welt des real existierenden Sozialismus aufrieb und im Kapitalismus der Nachwendezeit innerlich nie ganz angekommen ist.

Als Poesie gut. Preußische Heimatkunde vom Feineren

2005 hatte der 1926 in Berlin geborene Günter de Bruyn eine ungemein lesenswerte »Liebeserklärung an eine Landschaft« vorgelegt: Abseits. Darin erkundet er, emphatisch-poetisch und nüchtern zugleich, die zunächst unspektakuläre Wald- und Wassereinsamkeit im Landkreis Oder-Spree. Um Spuren des Lebens zwischen Storkow, Beeskow und Lübben geht es auch in Kossenblatt