STERNSTUNDEN, SPRACHGEWITTER UND ANDERE SPÄTLESEN - Klaus Hübner - E-Book

STERNSTUNDEN, SPRACHGEWITTER UND ANDERE SPÄTLESEN E-Book

Klaus Hübner

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Beschreibung

Wer weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss sich ihn nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht. Der fünfte Band versammelt zunächst Studien zur deutschen Literaturgeschichte, von Wieland und Goethe bis zu Marieluise Fleißer und Carl Amery. Weitere faszinierende Entdeckungen versprechen die Arbeiten zur Gegenwartsliteratur: ein Münchner Dichter aus Teheran, eine über 80jährige Bachmann-Preisträgerin oder ein Italo-Albaner aus Bern. Man lernt eine Roadnovel um den 77jährigen Franz Kafka kennen, liest über Mafiöses aus dem Allgäu oder gruselt sich im Sturm auf dem Kochelsee. Man staunt über ein geheimnisvolles Internat in der Schweiz, wird angerührt von Nachtfrauen aus Kärnten, wird konfrontiert mit Feuer in Bukarest und erlebt Belgrad im Krieg. Andere Texte widmen sich bayerischen Themen: dem von Außerirdischen gejagten Fußballkaiser Franz, dem Münchner Bier- und Oktoberfestmuseum, einem Norweger vom Tegernsee, zwei aus Bayern stammenden Brasilienforschern oder einem mutigen schwäbischen Torfstecher, der in Wisconsin landete. Und noch viel mehr.

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Klaus Hübner

Sternstunden, Sprachgewitter und andere Spätlesen

Kein Twitter, kein Facebook – Von Menschen, Büchern und Bildern – Band 5

Außer der Reihe 92

Klaus Hübner

Sternstunden, Sprachgewitter und andere Spätlesen

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 5

Außer der Reihe 92

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

https:/dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: August 2024

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Christoph Martin Wieland, gemalt von Ferdinand Jagemann (1805); Ferizaj, Kosovo von Angela Hennig (2008); Steinerne Brücke Regensburg, Wikipedia; SAID, Fotograf unbekannt (dpa)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN der Softcoverausgabe: 978 3 95765 408 3

ISBN der Hardcoverausgabe: 978 3 95765 409 0

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 719 0

Vorwort

Der erste Band dieser Buchreihe erschien 2020. Vier Jahre sind eine lange Zeit, auch für Reihentitel. Twitter heißt inzwischen X, Facebook heißt seit Neuestem Meta. Instagram gehört zu Meta, heißt aber weiterhin Instagram. Youtube heißt Youtube, und das chinesische Tiktok heißt Tiktok. So what? Ich weiß, dass sich viele Menschen kaum noch vorstellen können, ohne diese Plattformen zu leben. Trotzdem behaupte ich: So wirklich braucht man sie alle nicht. Es geht auch anders.

Wer weder sie noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn allein deshalb auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich seit geraumer Zeit ziemlich gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und, darüber hinaus: Wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Auch wenn meine vier Bände ihr Publikum gefunden haben – allzu viele Leute sind es mit Sicherheit nicht. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art – und vor allem auch vielen Buchrezensionen – ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen, lesend natürlich, in einen schönen Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch recht junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und, nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Und ich bin nach wie vor auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook war auf vier Bände angelegt, nun kommt ein fünfter hinzu. Er enthält ungefähr drei Viertel meiner in den letzten fünf Jahren entstandenen Texte. Die meisten wurden für die Buchpublikation leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende des Bandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Und ohne jemanden auf den nicht vorhandenen Schlips treten zu wollen: Das Thema »Gendern« bleibt außen vor – liegt doch die Kraft der Sprache ganz wesentlich darin, dass sie sich dem Zeitgeist nicht beugt.

Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny! Voilà, hier ist der fünfte Band …

München, im Juni 2024

Klaus Hübner

Literaturgeschichte

Noch einmal das Abendland retten

Klaus Garber widmet sich den Schäfern, dem Landleben und der Idylle

Mit dem »alten Europa« war es 1789, spätestens aber 1815 vorbei, auch wenn es das 19. Jahrhundert immer noch merkbar prägte und sein Echo bis heute nicht ganz verhallt ist. Ähnlich erging es dem Gegenstand, dem sich der 1937 geborene Osnabrücker Emeritus Klaus Garber in seinem jüngsten Buch widmet: »Die Schäfer-, Landleben- und schließlich die schäferlich-ländliche Idyllendichtung gelangt zusammen mit dem alten Europa eben zu jenem Zeitpunkt an ihr Ende«, stellt der Verfasser fest, und im Grunde habe ihr Niedergang schon vorher, in der Epoche der Empfindsamkeit begonnen, in der sich »das Bewusstsein für die konstitutive Rolle der Allegorie in der Hirtendichtung« allmählich verloren habe. Begonnen habe die Schäferdichtung, »die vitalste Form« der eingangs näher explizierten Dreiergruppe von Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung, gut zwei Jahrtausende früher: »Auf den Zeitraum der Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert vor Christus ist die Geburt der Gattung zu datieren, sie verbindet sich also mit dem Wirken Alexanders des Großen und seinem Nachleben.«

Eine zentrale Gattung der europäischen Literaturgeschichte auf 288 Textseiten so vorzustellen, dass daraus eine anregende Einladung zum Lesen ihrer Manifestationen wird, darf man ein wahrhaft gewaltiges Vorhaben nennen, und ein wenig zeitgemäßes dazu. Klaus Garbers Thema mag alles Mögliche sein, aktuell scheint es jedenfalls nicht. Oder doch? Schließlich kann man die hier vor Augen geführte Dichtung auch und vor allem als Utopien-Schatzkammer verstehen, in der Formen eines harmonischen Umgangs der Menschen miteinander wie mit der Natur gestaltet werden – als unabgegoltenes Versprechen des alten Europa, nämlich als Verheißung menschheitlichen Zu-Sich-Kommens im Einklang mit einer bewahrten und gehegten göttlichen Schöpfung. Das wäre in Zeiten der Konjunktur des »nature writing« dann doch aktuell. Jedenfalls muss man dieses vielleicht nur scheinbar abwegige Thema attraktiv und reizvoll präsentieren, und das weiß der unglaublich belesene Initiator des Osnabrücker Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, der seit Langem an einer dreibändigen Geschichte der europäischen Arkadien-Utopie arbeitet, natürlich genau. Einer der zum Aspekt der Utopien-Schatzkammer gehörigen und zugleich darüber hinausweisenden Attraktivitätsfaktoren seines Gegenstands ist der europäische, der im allerbesten Sinne abendländische Horizont, der sich hier auftut und entfaltet. Die Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung führt von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende jegliche nationalsprachliche Begrenztheit ad absurdum, und damit naturgemäß auch jede nationale. Auch das mag sie unerwartet aktuell machen.

Was ebenfalls zu den Reizen von Garbers Studie zählt: Der Tatsache Rechnung tragend, dass dieser Dichtung grundsätzlich nur interdisziplinär beizukommen ist, führt der Verfasser vor, wie komparatistisch arbeitende, die engen Grenzen der akademischen Disziplinen souverän überschreitende Literaturgeschichte heute aussehen könnte. Wie er das macht, in was für einer Art von Wissenschaftssprache er das tut, ist freilich höchst bemerkenswert. Klaus Garber konfrontiert seine Leserschaft anno 2021 mit einer Wissenschaftsprosa, die ältere Semester vielleicht noch aus den Werken von Benno von Wiese, Fritz Martini oder Friedrich Sengle kennen, einem Sprachduktus also, der seit den späten 1960er-Jahren immer seltener geworden ist. Auf jeden Fall hat man sich an den hier durchgängig herrschenden, keineswegs ohne selbstgefällige Eitelkeit vorgetragenen Großordinarien-Wir-Gestus erst wieder zu gewöhnen. Auch an die zahllosen mit einem selbstbewusst-kräftigen »Und« beginnenden Sätze, die enge Zusammenhänge selbst dort nahelegen, wo sie nur schwerlich ersichtlich sind.

Nicht nur in der abendländischen Literatur treiben Hirten und Schäfer, Bauern und Landleute ihr Wesen, auch in der Malerei, in der Musik und auf dem Theater findet man sie häufig. »Was Alteuropa war, umspielt von Bildern und Verheißungen des Glücks, erfährt man am schönsten und genauesten über diese niederen Wesen«, behauptet Garber. »Mit ihrem Eingang in die schönen Künste erfahren sie eine Verwandlung, kraft derer sie mehr und anderes sind als jene schlichten Figuren in der Wirklichkeit.« Profitiert habe die Schäfer- bzw. Hirtendichtung davon, dass ihre Protagonisten bereits im Alten und Neuen Testament eine wichtige Rolle spielen und sich »zentrale theologische Bilder und Vorstellungen« an sie knüpfen – man denke an Abraham, Abel, Lot, Moses oder David, an das Gleichnis vom guten Hirten oder an die Weihnachtsgeschichte. »Ohne Wissen um die biblisch-geistliche Fundierung des Hirtentums kein angemessenes Verständnis weder der geistlichen noch der weltlichen Schäferdichtung.« Zum biblischen Traditionsarsenal tritt das mythische der Antike: »Ob Pan oder Hermes, Apoll oder Orpheus, Artemis oder Demeter – sie alle verbindet der Archeget der Bukolik, der schöne Hirte und Sänger Daphnis.« Die textuell gesicherte Geschichte der Hirtendichtung beginnt mit Theokrit, und so gilt ihm und seiner Zeit auch ein längeres Kapitel. Zum »eigentlichen Ahnherrn der europäischen Bukolik« allerdings sei nicht er, sondern der aus Mantua stammende Vergil geworden, in dessen erster Ekloge jener Kontakt zwischen Hirten und Herrscher hergestellt werde, der über Jahrhunderte für diese Art von Poesie konstitutiv und fruchtbar gewesen sei. Die Dichtungen von Vergil und Horaz, dem dritten Ahnherrn der Gattung, erhalten den ihnen zukommenden Raum. »In Gestalt der Schäfer- und Landlebendichtung, der ›Eidyllia‹ und ›Eclogae‹ sowie des ›laus ruris‹ und der ›Georgica‹ haben die drei antiken Archegeten der europäischen Literatur ein Terrain erobert, das sich selbstständig neben Lyrik und Drama, Epik und Roman behaupten wird.«

Unterfüttert von jenem ungeheuren Detailwissen, das auch zahlreiche andere Studien Klaus Garbers auszeichnet – zum Beispiel seine voluminöse Arbeit über Das alte Breslau –, schreitet die Gattungsgeschichte voran. Zunächst wird die Überführung der antiken Hirten- und Landlebendichtung ins jüdisch-christliche Europa skizziert, für die Carmina des Endelechius entscheidend sind, aber auch die karolingischen Eklogen aus dem Umfeld Karls des Großen. Dann geht es zur Ecloga des Theodulus, der »vielleicht berühmtesten Ekloge des Mittelalters«, weiter zu Dante, Boccacio und Petrarca und schließlich hinein in die Frühe Neuzeit, in der nicht nur die Gattung zu ihrer vollen Entfaltung gelangt, sondern in der auch Klaus Garber zu Hause ist wie kein Zweiter. Er erörtert die Geburt des Schäferspiels aus dem Geist der Musik, analysiert sehr ausführlich Tassos Aminta, das erste und schönste, auf immer mit dem Hof von Ferrara verbunden bleibende Schäferspiel, dann Guarinis Pastor fido und Sannazaros mit einer großen Totenklage endende Arcadia, die den Hof von Neapel in der europäischen Bukolik sichtbar machte. Auch der beträchtliche Anteil Spaniens an der Entwicklung der Gattung kommt zur Sprache – Montemayor, Lope de Vega und natürlich Cervantes, der in seinen Don Quijote bekanntlich die hinreißende Episode um die Schäferin Marcela eingerückt hat. »Ein Brentano, ein Tieck, die Schlegels und wie sie heißen, wussten, was sie an diesem Autor hatten, seine ›Galatea‹ eingeschlossen.« Der Beitrag Englands wird durch die Ausführungen zu Edmund Spensers Eklogenwerk und Philip Sidneys Arcadia veranschaulicht, und der Frankreichs durch das ausführliche Kapitel über Honoré d'Urfés ab 1607 in fünf Teilen erscheinende Astrée, den womöglich bedeutendsten europäischen Schäferroman, dem einst auch Norbert Elias ein Kapitel seiner Höfischen Gesellschaft gewidmet hatte, vollzog sich doch im Zeichen der Astrée »ein Gutteil höfischer Selbstinszenierung«. Die für Klaus Garber charakteristische Verschränkung von strukturaler Textanalyse und sozialgeschichtlicher Kontextualisierung der Werke zeigt besonders in diesen Abschnitten ihre erkenntnisstiftende Kraft.

Schließlich geht es auf rund hundert Seiten hinein in den deutschsprachigen Raum, und mit Blick auf den Zwang zur Konzentration leuchtet das auch ein, selbst wenn Europa natürlich noch weit mehr Sprachen und Literaturen kennt, als die hier behandelten. In den Gelehrtenkreisen der großen und vornehmlich oberdeutschen Städte geht der Verfasser dem Fortleben der deutschen und neulateinischen Schäfer- und Landlebendichtung nach, zunächst im Erfurter Humanisten- und Bukolikerkreis um Eobanus Hessus. Bemerkenswert: »Die Hirtendichtung versteht sich bei diesen Erfurtern durchaus als Organ des kleinen, niederen Volkes, dessen Sorgen und Nöte zum Ausdruck gebracht werden möchten. Immer wieder geraten geschundene Wesen als Opfer adliger Herrschaft ins Visier.« Auch der Südwesten mit Heidelberg, Straßburg, Basel und Stuttgart, der Osten mit Prag, Breslau und Danzig sowie der mitteldeutsche Raum, der Hof zu Köthen etwa, trugen zur Entwicklung der Gattung bei – prägnant herausgearbeitet werden die Verbindungen der dort entstandenen Dichtungen zur europäischen Renaissance und zur reformatorischen Bewegung. Heute so gut wie nicht mehr gelesene Poeten werden meist derart eindringlich dargestellt, dass man sich selbstkritisch fragen muss, weshalb man sie bisher nur am Rande wahrgenommen hat: »Das pastorale Werk Weckherlins steht singulär da im Zeitalter … Worte und Sentenzen von Rabelaisscher Wucht im lyrisch-aphoristischen Kurztakt.« Es gebe keine Form im reichen Strauß schäferlicher und ländlicher Literatur, der Martin Opitz nicht seine Aufmerksamkeit zugewandt habe, und sogar als Neuerer sei er hervorgetreten, nicht nur mit seiner Schäfferey von den Nimfen Hercinie (1630) – ja, Opitz wird als »entscheidender Schrittmacher« charakterisiert, der mit seinem Werk »die Literatur und Kultur der Deutschen nach Europa zurückgeführt« habe. Die Schäferdichtung sei im Katholizismus »tief verwurzelt«, wofür unter anderem die Werke von Friedrich von Spee, Daniel von Czepko und Angelus Silesius stünden, doch überwinde die Gattung spätestens im 17. Jahrhundert ständische und konfessionelle Grenzen. Aus dem gesprochenen Schäferspiel heraus entwickelte sich die Schäferoper, auch der Roman nahm das Figuren- und Motivrepertoire des Schäferlichen in sich auf, und die in Nürnberg aktiven pegnesischen Dichter, allen voran Sigmund von Birken, variierten und erweiterten das Genre. »Fortschreiben und Umschreiben lautet das Gesetz, unter dem die Schäfer- und Landlebendichtung des 18. Jahrhunderts gewürdigt sein will.« Die Gestaltung dieser Dichtung änderte sich permanent, insbesondere aber gegen Mitte des neuen Jahrhunderts. »Der geräumige Schäferroman und das fünfaktige Schäferdrama werden umgebaut zur schäferlichen Erzählung und zum vielfach einaktigen Schäferspiel. Umgekehrt erfährt die Ekloge eine Erweiterung in Form einer Um- und Ausgestaltung«, wobei sie ihre Wurzeln »immer noch in der ehrwürdigen antiken Ausprägung« finde.

Im literarischen Rokoko tauchten die Schäfer und Landleute meist im höfischen Gewand des Ancien Régime auf, bei Friedrich von Hagedorn etwa oder in den scherzhaften Liedern von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, und mit Goethes in den 1760er-Jahren entstandenem und erst knapp vierzig Jahre später gedrucktem Stück Die Laune des Verliebten, ursprünglich als Amine geplant, liege ein »Kleinod schäferlicher Dichtung« vor. In jener Zeit habe sich eine exklusive Lese- und Kunstgemeinschaft im Zeichen sittlichen und seelischen Adels herausgebildet, in der auch »die Vision einer alle Menschen umfassenden großen Familie« aufscheine. »Wer aber ist über Tradition und also über Literatur seit eh und je dazu auserkoren, diesem Glück sein Bildnis zu leihen? Niemand anders als der Hirte.« Die im Jahrhundert der Aufklärung immer deutlicher zu vernehmende »Botschaft geläuterter Humanität« sei häufig im Gewand der Schäfer-, Hirten- und Landlebendichtung aufgetreten. Salomon Gessner wird herausgehoben mit seiner Schäfererzählung Daphnis (1754) und seinen Idyllen, auch Ewald von Kleist mit seinem Frühling (1749). Bis dann, in den 1770er-Jahren, das Schäferwesen als nutzlose und rückwärtsgewandte Tändelei kritisiert wurde und ins Zentrum der Polemik geriet – die hehre Gattung wurde abgetan und diskreditiert, von Herder bis Hegel, auch wenn sich die Idylle noch einmal quasi neu erfunden habe, wie Klaus Garber vor allem am Werk des »Maler Müller« und dem des Johann Heinrich Voß zu zeigen vermag. Nach 1789 habe sich das Gattungsreservoir zunehmend erschöpft, und die kurz zuvor entstandenen, erst 1795 unter dem Titel Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen vereinigten Gesänge galten bald, gegen die Intention ihres Verfassers, als Inbegriff einer Gattung, die der allgemeinen Politisierung nur das idyllische Glück im Winkel entgegenzusetzen hätten. Im berühmtesten Werk der bürgerlichen Idylle, Goethes Hermann und Dorothea, mit dessen Erörterung Garbers Parforceritt durch die Jahrhunderte sein Ende findet, sei die Revolution definitiv gescheitert, und Goethes bis weit ins 20. Jahrhundert viel gelesenes Opus sei vollkommen »darauf geeicht, einen politikfreien oder besser: einen revolutionsfreien Raum zu statuieren«. Dieses bis heute berühmteste Zeugnis der Gattung in Deutschland war, so Garber, ganz klar ein »gegen die Revolution gerichtetes«. Dass das der europäischen Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung entstammende Motiv des Goldenen Zeitalters das gesamte Werk des Novalis durchdringt – wie vor allem Hans-Joachim Mähl dargelegt hat – und dass es eine Nachgeschichte arkadischer Bildlichkeit bis hin zu Walter Benjamin und Ernst Bloch gibt, wird am Ende leider nur sehr kurz erwähnt.

Über Klaus Garbers Begrifflichkeit und Wissenschaftssprache, auch über die innerhalb seiner gewaltigen Stoffmassen vorgenommenen Gewichtungen und natürlich über manche Details seiner Textanalysen wird man gewiss noch trefflich streiten. Dass es aber einem exquisiten Kenner der Materie mehr als hundert Jahre nach Oswald Spengler bravourös gelingt, durch seine souveräne Darstellung der europäischen Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung das Abendland noch einmal zu retten, wenigstens ein Stück weit, das darf man angesichts der grassierenden Geschichtsvergessenheit im Lande, mit Verlaub, ein großes Glück nennen.

Klaus Garber: Europäische Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung. Eine Einladung zum Lesen. Göttingen 2021: Wallstein Verlag. 326 S.

Ein kaum gelesener Großer

Jan Philipp Reemtsma porträtiert Christoph Martin Wieland

Christoph Martin Wieland, der mit Goethe, Schiller und Herder zu den Großen der sogenannten Weimarer Klassik zählt, ist heute nahezu unbekannt. »Wieland wird nicht mehr gelesen«, schrieb Walter Benjamin schon 1933, zum 200. Geburtstag des Dichters. Daran hat sich nichts geändert. Wer mit Mythologie und Geschichte des antiken Griechenland, mit Historie und Literatur des Römischen Reichs oder mit der Bibel nur wenig vertraut ist, hätte auch nicht allzu viel von einer Wieland-Lektüre. Dennoch bleibt der 1733 in Oberholzheim bei Biberach geborene und 1813 in Weimar gestorbene Literat ein Großer, und sein jüngster Biograf Jan Philipp Reemtsma behauptet sogar, Lessing und Wieland hätten die moderne deutsche Literatur erfunden – sie hätten der deutschen Sprache eine zuvor nicht sichtbare Feinheit und Gelenkigkeit verliehen, die dieses schöne Idiom erst zum variantenreichen Vehikel für dichtende Sprachvirtuosen gemacht hätten. Trotzdem ist der »in die Reihe Montaigne, Hume, Diderot« gehörende Romanschreiber, Verskünstler und politische Schriftsteller, der unter anderem Shakespeare, Horaz und Cicero ins Deutsche übersetzt hat, die seinerzeit enorm einflussreiche politisch-literarische Zeitschrift Der Teutsche Merkur herausgab und mit seinen Werken zu Lebzeiten höchste Anerkennung erfuhr, nur noch wenigen Germanisten ein Begriff. Auch die neue Biografie ist im Grunde ein Buch für Germanisten, was unter anderem daran liegt, dass ihr Verfasser nicht unbedingt zu den ganz großen Stilisten gerechnet werden kann und sich zu oft bei akribischen philologischen Detailanalysen aufhält. In erster Linie aber liegt es am Gegenstand.

Selbstverständlich entfaltet Jan Philipp Reemtsma ein angemessen umfängliches Panorama der deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in dessen Kontext nicht nur Wielands umfangreiches Gesamtwerk beleuchtet wird, sondern auch Künstlerinnen und Künstler porträtiert werden, die für seinen Lebensweg wichtig waren. Die Jugendfreundin Sophie von La Roche zum Beispiel, die mit dem Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) berühmt wurde und bei Reemtsma, vor allem was ihre späteren Jahre betrifft, ungewöhnlich schlecht wegkommt. Oder der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Bodmer, die Berner Schriftstellerin Julie Bondeli, die berühmten Weimarer Kollegen, dazu Jean Paul, Heinrich von Kleist, Johann Gottfried Seume, Friedrich Schlegel – und viele andere mehr. Auch über die Herzogin Anna Amalia, die Wieland 1772 als Erzieher ihres Sohnes Carl August nach Weimar holte, erfährt man Interessantes, ebenso über Wielands Jahre im nahe gelegenen Landgut Oßmannstedt, für dessen Erhalt und Ausbau zur Gedenkstätte sich Jan Philipp Reemtsma mit Nachdruck eingesetzt hat und das auf jeden Fall einen Besuch lohnt. Auch die historisch unerhebliche, zu Wielands kurzem Nachruhm aber erheblich beitragende Begegnung mit Napoleon wird nicht übersehen. Wie der Biograf überhaupt nichts Wichtiges übersieht, das zu diesem reichen und langen Dichterleben dazugehört hat.

Aber ihn deshalb gleich lesen? Und wenn ja, was? Eine Versnovelle? Musarion und Oberon sind vor allem dadurch bekannt, dass sie in Dichtung und Wahrheit erwähnt werden, wo Goethe berichtet, was sie ihm als junger Mann bedeutet haben – wer aber mag das noch lesen? Die großen Romane? Die Geschichte des Agathon, Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, Der goldene Spiegel, Geschichte der Abderiten, gar die Spätwerke Agathodämon oder Aristipp und einige seiner Zeitgenossen? Alles recht mühsam und weit weg von heute – auch wenn Arno Schmidt das Werk des verehrten Vorgängers als einen der »ganz raren Fälle« bezeichnet hat, »wo intellektuelle Poesie verwirklicht wurde«. Der Biograf versucht erst gar nicht, so etwas wie einen »Wieland fürs 21. Jahrhundert« zu konstruieren – den gibt es nämlich nicht. Auch wenn Jan Philipp Reemtsma sich mehr als einmal als Bewunderer und Verehrer des Dichters outet, bewahrt er sich seine realistische Einschätzung der Lektürevorlieben seiner Zeitgenossen. Dennoch, wie sollte es anders sein, wird man auch bei Christoph Martin Wieland manches finden, was bedenkenswert bleibt: »Der Himmel verhüte, daß ich von irgendeinem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meynungen nicht überzeugt ist; oder daß ich jemahls fähig werde, jemandem meinen Beyfall deßwegen zu versagen, weil er nicht immer meiner Meinung ist.« Aktuell, nicht wahr? Und auch zahlreiche weitere Anregungen, die sich aus Jan Philipp Reemtsmas monumentalem Werk gewinnen lassen, sind nicht zu verachten. Man darf sich also auf diese anspruchsvolle Biografie getrost einlassen, ist sie doch, um mit Wieland zu sprechen, allemal dazu geeignet, manchem »abnehmenden Lebens-Lämpchen Oel zuzugießen«.

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Verlag C. H. Beck: München 2023. 704 S.

Könnte auch anders sein …

Sophie von La Roche und der See Oneida

Oneida? Ein See? Nie gehört? Macht nichts – nur weg von hier! In einer Zeit, in der eine nicht enden wollende Pandemie und ein grausamer Krieg in nächster Nähe uns allen den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheinen, ist es nicht nur erlaubt, sondern für die wenigstens relative Balance unseres seelischen Haushalts geradezu geboten, sich immer mal wieder von der bedrückenden Gegenwart abzuwenden und in andere Welten und Zeiten zu flüchten. Das kann auf vielerlei Arten geschehen – auch dadurch, dass man sich lesend in alternative Gefilde des Menschlichen begibt. Das Eintauchen in einen Literatur-See lenkt ab, wenigstens für ein paar Stunden. Und das ist auch gut so.

1798 kam in Leipzig der dreiteilige Roman Erscheinungen am See Oneida heraus. Seine Autorin, Sophie von La Roche, war damals 68 Jahre alt, im besten Rentenalter sozusagen. In Kaufbeuren geboren, in Oberschwaben und in Augsburg aufgewachsen, war die lebenslange Freundin Christoph Martin Wielands seit 1771 weithin bekannt – ihr empfindsamer Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim war ein Bestseller ihrer Zeit und blieb einer der wichtigsten Texte der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Ohne die Sternheim kein Werther, jedenfalls nicht so. Die bis zu ihrem Tod anno 1807 tief im christlichen Glauben verwurzelte Schriftstellerin, deren bewegtes Leben Armin Strohmeyr in seiner 2006 erschienenen Biografie geschildert hat, hatte das neue Menschenbild und die damit einhergehenden Erziehungsideale der Aufklärungszeit von Anfang an bejaht und bald verinnerlicht. Vor allem Rousseaus Schriften hatten es ihr angetan, und noch in Erscheinungen am See Oneida spielen sie eine wichtige Rolle, ebenso wie Werke von Hesiod und Vergil, Buffon und Linné oder Montaigne und Montesquieu, wie Schillers Schriften zur Ästhetik, Herders Briefe zur Beförderung der Humanität und manches mehr. Was die ältere Dame trotz hoher Bildung und reicher Lebenserfahrung nicht mehr so recht verstand, waren Verlauf und Folgen der Französischen Revolution. Sie blieb eine vehemente Befürworterin der Fürstenherrschaft, des selbstverständlich »aufgeklärten« Absolutismus ihres Jahrhunderts. Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit 1789 erschienen ihr als Gott keineswegs gefällige, ihr eigenes vertrautes Leben elementar bedrohende Unordnung. All das und noch viel mehr wird literarisch verhandelt in Sophie von La Roches manchmal dem Genre der »Robinsonade« zugeschlagenem Roman, den der für seine Entdeckerfreude in der europäischen Literatur vor 1830 nicht genug zu rühmende Wehrhahn Verlag in einer wunderschön aufgemachten Leseausgabe gerade neu herausgebracht hat. An den Texterläuterungen und dem luziden Nachwort ist wenig auszusetzen, und sogar elf Abbildungen der dem Erstdruck beigefügten Kupferstiche finden sich im Buch. Gediegener geht's kaum.

An den Sprachduktus der Empfindsamkeit des späten 18. Jahrhunderts gewöhnt man sich rasch. Aber der Inhalt, die Thematik, die Figurenkonstellationen? »Nordamerika war mir nahe; eine Art Sympathie zog mich an, die Wesen dieses Welttheils kennenzulernen«, sagt eine der Erzählstimmen ganz am Anfang. So segelt man von Bremen durch die Nordsee und den Atlantik mit seinen »Meerschlangen von 25 Schuh« erst einmal nach Baltimore, wo »viele Teutsche« das Schiff begrüßen. Bald geht es weiter nach Philadelphia und schließlich an den See Oneida, unweit von Syracuse im Bundesstaat New York. Dort versuchen einige vor der »unseligen Revolution« geflohene Kolonisten aus Frankreich, Flandern und Deutschland, insbesondere das junge, aristokratische Ehepaar Wattines, eine möglichst vorbildhafte Utopie der Tüchtigkeit, Tugend und Gottesfürchtigkeit zu verwirklichen und sich damit eine neue Heimat zu schaffen. Idealerweise im Einklang mit der immer wieder bestaunten wilden Natur und im prekären Einvernehmen mit den am anderen Ufer des Sees lebenden Indigenen, die hier nicht »Indianer«, sondern »Indier« genannt werden. Jeder Neuankömmling bedeutet den zutiefst menschenfreundlichen, ungemein praktisch veranlagten und handwerklich geschickten Kolonisten »sehr viel«, jedenfalls mehr als den Bewohnern einer Großstadt der Alten Welt, »wo man ganz den Wiederschein europäischer Pracht und Wohlleben findet«. Am See Oneida wird die Grundüberzeugung zu leben gesucht, dass die Menschen »die Erde durch ihre Gegenwart verschönern, und durch ihre Arbeit bereichern sollen«. Immer mehr wird Europa zur bloßen Erinnerung – hochgeschätzt für seinen in den geliebten Erzeugnissen der »Buchdruckerkunst« kondensierten humanen Geist, nicht aber für seine oft egoistischen, rücksichtslosen, eitlen und hartherzigen Menschen. »Oh meine Freunde!«, heißt es einmal, »auf wie vielen Seiten lerne ich hier größern Reichthum, größere Mannichfaltigkeit der Natur, und in beyden Wattines, mehr unschätzbare Eigenschaften der moralischen Menschenwelt kennen, als ich in Büchern und der wirklichen cultivierten Welt nicht traf«. Der immer wieder überraschende Verlauf der Handlung ist vielleicht weniger wichtig als die Tatsache, dass sich der gesamte Roman als ein erstaunlich umfassendes Kompendium zeitgenössischen Wissens präsentiert. Es sind die oft direkt an heutige Debatten anschließbaren, eigentlich immer anregenden Reflexionen über Kolonialismus, Ureinwohner, Sklavenhaltung, Genderrollen und Ökologie, die Gedanken über ein den Menschen zugewandtes, an der alltäglichen Lebenspraxis orientiertes, auch die Würde des Sterbens einschließendes Christentum sowie die ausführlichen Exkurse in die Naturgeschichte und die zeitgenössischen Naturwissenschaften, die Erscheinungen am See Oneida lesenswert machen.

Ja, es gibt neben dem Respekt für die Lebensweise der Indigenen auch Distanz zur scheinbaren Rückständigkeit ihrer Kultur, es gibt heute nur schwer erträgliche Betrachtungen zur Sklaverei, und es gibt gelegentlich nervige Verniedlichungen und Personifikationen der Natur. Geweint wird auch nicht zu knapp. Von der Lektüre abschrecken sollte das aber niemanden. An diesem quasi unbekannten Werk einer bemerkenswerten Frau oberschwäbischer Herkunft, das man mit einigem Recht als eine Art interkulturellen Öko-Roman betrachten darf, wird man auch 226 Jahre nach seinem Erscheinen Freude haben. Unterhaltsam ist er allemal, und nebenbei deutet er an, dass das Zusammenleben der Menschen auch ganz anders aussehen könnte als hier und heute. Um der Autorin das letzte Wort zu lassen: »O, wie viel lernte auch ich an den Ufern des Oneidas.«

Sophie von La Roche: Erscheinungen am See Oneida. Roman (1798). Hg. von Claudia Nitschke und Yvonne Pietsch. Mit einem Nachwort von Claudia Nitschke. Wehrhahn Verlag: Hannover 2022 (Reihe: Die Anderen Klassiker). 528 S.

Von wegen uncool

Thomas Steinfeld wagt sich an Goethe

Wäre ein Kinofilm mit dem Titel Fuck you Dante in Italien ein Erfolg? Kann man sich Fuck you Shakespeare in England oder Fuck you Camões in Portugal vorstellen? Nein, nein und noch mal nein. Aber Fack ju Göhte in Deutschland, das geht. Denn dem Land, in dem jeder gestörte Vollpfosten erst einmal Respekt für sein pures Existieren einfordert und meistens auch bekommt, ist der Respekt für die eigene kulturelle Tradition weitgehend abhandengekommen. Kann also leicht sein, dass ein dicker Wälzer über Goethe auf aufstöhnende Ablehnung, befremdetes Desinteresse oder, wenn's gut geht, wohlwollende Gleichgültigkeit stößt. Nicht einmal die Goethe-Institute, deren Zahl und Ausstattung die Bundesregierung aus fadenscheinigen Gründen immer weiter reduziert, wollen noch von Goethe wissen. Goethe? Mein Gott!

Thomas Steinfeld, langjähriger Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung und dann deren Kulturkorrespondent in Italien, stört das offenbar nicht. Zu seinem 70. Geburtstag legt er sein opus magnum vor, einen geistreichen und anspruchsvollen Wälzer, gedacht für ein großes Lesepublikum und keineswegs nur für die überschaubare Community der Germanisten. Er kann elegant und süffig schreiben, und er will niemanden überzeugen oder sich gar in der unüberschaubaren Goethe-Forschung als ultimativer Durchblicker positionieren. Obwohl er eine Menge Neues zu sagen hat. Goethe nämlich wird hier nicht nur als Dichter porträtiert, sondern als besonderer Mensch, in dessen Leben und Werk sich die enormen Umbrüche seiner Zeit auf einzigartige Weise spiegeln. Ja, Goethe war ein außergewöhnlicher Schriftsteller, seit Götz von Berlichingen (1771/73) und den Leiden des jungen Werthers (1774). Er war ein Mann des Theaters, ein Reisender und ein Liebender, ein leidenschaftlicher Naturforscher und ein ziemlich pragmatischer Politiker. Ein konservativer Intellektueller auf der Höhe seiner Zeit, dessen Persönlichkeit nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Ein in sich widersprüchlicher Mensch, mehrfach schwer krank und vor allem im Alter oft einsam. Jedenfalls nicht der kompakte, glatt polierte Olympier und Dichterfürst, als der er oft genug gezeichnet worden ist. Aber eine historische Persönlichkeit, die ein respektloses »fuck you« nie und nimmer verdient hat.

Wenn Goethe überhaupt an etwas lag, dann sei es weder die Dichtung noch die Politik noch irgendeine Ideologie gewesen, sondern der einzelne Mensch, dem die Wunder der Natur und der Kunst aufgehen sollten, schreibt Steinfeld. »Diesen Goethe darzustellen, wider seine Erhebung zum ewigen Helden der deutschen Kultur, wider seine Verklärung zum Botschafter des Guten und Schönen, wider seine Verkleinerung zu einer nur aus historischen Gründen interessanten Gestalt, ihn als den aufgeschlossenen (vor allem im kleinen Kreis), freien, universal gebildeten, gelegentlich widersprüchlichen, manchmal abgründigen, oft isolierten, stets aber hellen Geist zu erkennen, der er gewesen sein muss: Darum soll es in dieser Biografie gehen.« Genau das macht das Buch lebendig und spannend. Der Untertitel verheißt nicht nur das »Porträt eines Lebens«, sondern auch das »Bild einer Zeit« – und das bedeutet, sehr zum Vorteil der Leserschaft, dass nicht nur literarische Zeitgenossen wie Wieland, Herder, Moritz oder Schiller und nicht nur historische Persönlichkeiten wie Napoleon ausführlich dargestellt werden, sondern auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Europas vom Spätabsolutismus bis zum Beginn der industriellen Zeitalters Kontur gewinnen. Was nicht heißt, dass das literarische Lebenswerk dieses außergewöhnlichen Mannes zu kurz kommt. Ganz im Gegenteil, war doch Goethes Dasein geprägt durch eine extrem intensive Verbindung zwischen Leben und Werk, »desto mehr, je älter er wurde, bis zu dem Punkt, an dem die Persönlichkeit als Werk aufgefasst wurde«. Der Biograf läuft gerade hier zu großer Form auf – zu den meisten mehr oder weniger bekannten Gedichten fällt ihm erstaunlich viel Originelles ein, und für die großen Dramen und Prosawerke gilt das genauso.

Aufgewertet werden Goethes Studien zu unterschiedlichsten Naturphänomenen, vor allem seine oft vernachlässigte Farbenlehre. »Schon die Zeitgenossen, viel mehr aber noch die Nachwelt machten aus Goethe ein Dichterdenkmal. Der Naturforscher konnte sich dagegen nicht behaupten.« Weil der Autor immer wieder auf eben nicht wörtlich zu verstehende rhetorische Wendungen hinweist oder die damalige, von der heutigen oft stark abweichende Verwendung wichtiger Begriffe erläutert, räumt er mit vielen Missverständnissen auf. Rätselhaftes, zum Beispiel der Schluss von Faust II, wird diskutiert, aber nicht unbedingt aufgelöst. Manches wird auf immer im Unklaren bleiben, betont Steinfeld – man wisse ja, allen Porträts zum Trotz, nicht einmal genau, wie dieser Goethe ausgesehen habe …

Wer sich diesen gewichtigen Schmöker antun möchte, wird reich belohnt. Ein ärgerliches Geheimnis bleibt, warum der renommierte Verlag das großartige Werk mit einem derart unattraktiven Buchcover ausgestattet hat. Aber das sollte niemanden von der Lektüre abhalten. Sich ein paar Wochen von Thomas Steinfelds Goethe begleiten zu lassen, ist alles andere als uncool. Nein, weit mehr, echt jetzt: Es macht fucking Spaß.

Thomas Steinfeld: Goethe. Porträt eines Lebens. Bild einer Zeit. Verlag Rowohlt Berlin: Berlin 2024. 784 S.

Nie gehört

Eine Erinnerung an Joseph Marius von Babo

Man kann auch in Bayern ein ganzes Literaturstudium absolvieren, ohne jemals mit Joseph Marius (von) Babo (1756–1822) in Berührung zu geraten. Dabei kommt dem in Ehrenbreitstein bei Koblenz geborenen Verfasser von zwei Dutzend recht anspruchsvollen Lust- und Trauerspielen für die Aufführungs- und Theaterpraxis der Goethezeit »eine ähnliche Bedeutung zu wie Schröder in Hamburg, Iffland in Berlin oder dem an unterschiedlichen Orten wirkenden Kotzebue«, schreiben die Herausgeber eines interessanten Kompendiums, das aus einer anlässlich des 200. Todestags des Dramatikers in Mannheim abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist. In Mannheim war Babo seit 1774 an der Gründung des Nationaltheaters beteiligt, auf dem Friedrich Schiller mit seinen Räubern bald seinen Durchbruch als Dramatiker erleben sollte. Da war Babo bereits dem Kurfürsten nach München gefolgt – das dortige Theater wurde seine neue Wirkungsstätte, und von 1799 bis 1810 hatte er sogar dessen Leitung inne. »Vielleicht um die Aufmerksamkeit des Kurfürsten auf die Schaubühne zu lenken, gibt er 1782/83 mit Johann Baptist Strobl und Lorenz Hübner die Theaterzeitschrift Der dramatische Censor heraus, den einzigen Versuch einer Münchner Dramaturgie im 18. Jahrhundert. Darin wird nicht nur immer wieder grundsätzlich die sittenverbessernde und aufklärerische Funktion des Theaters betont, sondern auch seine konsolidierende Rolle im Staat definiert.« Schon vor Schiller also wird hier die Schaubühne als moralische Anstalt propagiert, und zudem wird das alle gesellschaftlichen Stände vereinigende Theaterpublikum aufgewertet.

Der Stückeschreiber Babo bediente vor allem seinerzeit beliebte Genres wie Ritterspiel, Soldatenstück, Kolonialdrama, Hausvaterdrama und Lustspiel, experimentierte aber auch mit neuen Theaterformen – mehrfach probierte er die Möglichkeiten des damals noch jungen Mischgenres des Melodramas aus. Im Sinne von Ludwig Tieck, der Babos Schaffen schätzte, werden im ersten Teil des Bands einige seiner Stücke genauer interpretiert, etwa Arno (1776), Das Lustlager (1778), Das Winterquartier in Amerika (1778), Das Fräulein Wohlerzogen (1783), Die Maler (1783), Die Strelizen (1790), Armida und Rinaldo (1793) oder das erfolgreiche Ärztedrama Der Puls (1804). Allesamt gewiss nicht von allerhöchster Qualität und wahrscheinlich deshalb auch seit Langem vergessen. Aber doch ganz brauchbare Ware für die Bühnen ihrer Zeit. Der zweite Teil bietet eine Art Lexikon, das Babos dramatisches Œuvre in seiner Gesamtheit vorstellt. Verdienstvolle Philologenarbeit also.

Sein wohl erfolgreichstes Stück war das fünfaktige vaterländische Trauerspiel Otto von Wittelsbach, Pfalzgraf in Bayern (1782). Otto VIII. (vor 1180–1209) wird dort als ungebärdiger, aber durchaus vielschichtiger Charakter gezeichnet, der an Recht und Gerechtigkeit glaubt und Kaiser Philipp von Schwaben bedingungslosen Gehorsam leistet – bis er gerade von ihm mehrfach gedemütigt wird, was Otto höchst zornig macht und letztlich zur Ungeheuerlichkeit des Kaisermords führt. Am Schluss bereut er seine abscheuliche Tat und stirbt, fast zu einer Art Christus mutiert, als gebrochener Mann und aufrechter Patriot – »Bayern!« lautet sein letztes Wort, nachdem ihn Heinrich von Kallheim hinterrücks mit dem Schwert durchbohrt hat. Was für ein Stoff! »Babo interessiert – über unterschiedliche Genres hinweg –, wie sich die ›Stimme der Natur‹, die legitimen Ansprüche des Individuums, in Einklang mit der Komplexität des (modernen) Staates bringen lassen, dessen absolutistische Fundierung er freilich nicht in Frage stellt«, heißt es dazu im Vorwort. Vom Publikum wurde das Stück bejubelt, Kurfürst Karl Theodor jedoch verbot es schon nach der zweiten Aufführung – er fasste Otto von Wittelsbach als Kritik an seinem Plan auf, Bayern gegen die Österreichischen Niederlande einzutauschen, und wollte verhindern, »dass sich ein patriotisch-bayerisches Nationalgefühl mit dem Haus Wittelsbach verband«. Interessant, oder? Dennoch wird keine heutige Bühne dieses historische Trauerspiel ins Programm nehmen. Joseph Marius von Babos Werk ist veraltet und womöglich ganz zu Recht vergessen. Die Einzelanalysen und der Lexikonteil dieses Buchs sorgen dafür, dass man sich nun immerhin ein Bild davon machen kann.

Julia Bohnengel / Alexander Košenina (Hg.): Joseph Marius von Babo (1756–1822). Dramatiker in Mannheim und München. Mit einem Lexikon der Theaterstücke. Wehrhahn Verlag: Hannover 2023. 226 S.

Verwelkte Rosen

Friedrich Rückert – nur noch für Spezialisten?

Seine ergreifenden, unter anderem von Gustav Mahler vertonten Kindertotenlieder kommen immer wieder zum Vortrag, und es gibt eine ganze Menge Zeugnisse dafür, dass die Werke des fränkischen »Weltpoeten« Friedrich Rückert (1788–1866) noch im 20. Jahrhundert eifrig gelesen wurden. Die große Ausstellung aus Anlass seines 150. Todestages war gut besucht, und wer sich heute ins Oberfränkische aufmacht, darf Rückerts zauberhaften kleinen Gutshof in Neuses bei Coburg, mit viel Liebe als Gedenkstätte eingerichtet, keinesfalls versäumen. Samt verträumtem Park, und das möglichst dann, wenn unsere dort gehegten und gepflegten Mitgeschöpfe blühen – die Rosen. Doch wie lebendig ist der bedeutende Dichter, Orientalist und Zeitkritiker wirklich? Liest heute, von germanistischen Fachleuten und Metrik-Fans einmal abgesehen, noch irgendjemand intensiv in seinen Werken? Ein heutige Leserinnen und Leser animierendes Rückert-Lesebuch ist bisher nicht in Sicht. Bleibt die von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner begründete historisch-kritische Ausgabe seiner Werke, ein äußerst verdienstvolles philologisches Großprojekt – und doch, wie alle historisch-kritischen Dichtereditionen, auch eine Art Sargdeckel. Anzuzeigen ist ein gediegener neuer Band, der sich Rückerts Werken der Jahre 1819 bis 1821 widmet: Oestliche Rosen.

Seit Dezember 1818 weilte der aus Rom zurückkehrende Dichter in Wien, um bei Joseph von Hammer-Purgstall seine Persischkenntnisse zu vertiefen und sich ins Arabische und Osmanisch-Türkische einführen zu lassen. Bei Grammatiken oder Prosaübungen hielt er sich nicht lange auf, sondern versuchte gleich, die Verse des Hafis im Original zu lesen. Das Studium des Persischen sollte den weiteren Lebensweg des Orientalisten Rückert nachhaltig prägen, und es dominierte auch seine Dichtungen der 1820er-Jahre. »Mit Recht durfte er den Anspruch darauf erheben, als erster deutscher Dichter die Form des Ghasels beherrscht zu haben«, betonen die Herausgeber. Der ausführlich kommentierten Hafis-Übersetzung des Joseph von Hammer (1812/13) verdanken Goethes West-östlicher Divan und Rückerts Oestliche Rosen entscheidende Anregungen, und im »Editorischen Bericht« wird im Detail erläutert, worin diese genau bestehen. Philologie vom Allerfeinsten! Aber die Gedichte selbst? »Die Rose ist das höchste Liebeszeichen, / Dem Herzenfreund will ich die Rose reichen. / Gedanken sterben im Gefühl der Liebe, / Wie Gartenblumen vor der Ros' erbleichen. / Die Rose trägt den stillen Dorn am Herzen, / Weil nie die Schmerzen von der Liebe weichen. / Ein einzig Bild der Schönheit ist die Rose; / Was gleichet ihr in Erd' und Himmels Reichen? / Der vollen Rose gleicht an Pracht die Sonne, / Und alle Blättlein siehst du Monden gleichen. / Der Sonne Lichtrad ist in ihr gerundet, / Und hundert Monde rollen dran als Speichen. / Die Sonne, die aus Monden wuchs, die Rose, / Dem Herzensfreund will ich die Rose reichen.«

Das mögen gelungene und schöne Verse sein, und doch trennt uns von ihnen mehr als nur die 200 Jahre seit ihrer Entstehung. Selbstverständlich kann man Rückerts Rosen-Poesie auch heute genießen. In Maßen jedenfalls. Für ein breiteres Lesepublikum gilt wohl weiterhin, was der Schriftsteller Willibald Alexis (1798–1871) schon kurz nach Erscheinen der Oestlichen Rosen (1822) geschrieben hat: »Wer den Genuss an diesen Gedichten sich immer frisch erhalten will, dem möchten wir rathen, nicht allzu lange hintereinander bei ihnen zu verweilen, sondern sie immer bei der Hand zu haben, um in sorgenfreien Stunden sie aufzuschlagen.«

Friedrich Rückert: Oestliche Rosen. Werke der Jahre 1819–1821. Bearbeitet von Claudia Wiener und Rudolf Kreutner (Historisch-kritische Ausgabe – Schweinfurter Edition). Wallstein Verlag: Göttingen 2022. 477 S.

Vormärz – Nachmärz

Gab es um 1848 herum eine Literatur in Bayern?

Literaturgeschichten? Wer um alles in der Welt liest denn heute noch so was? Ein paar Liebhaber vielleicht. Und die Germanisten, wobei ich mir da nicht wirklich sicher bin … Jedenfalls ist es dem Verlag C. H. Beck hoch anzurechnen, dass er sich nicht beirren lässt und die von den lang verstorbenen Gelehrten Helmut de Boor und Richard Newald begründete Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart weiterführt. Gerade ist Band VIII erschienen, in dem es unter der Überschrift Vormärz – Nachmärz um die vier Jahrzehnte zwischen 1830 und 1870 geht. Die »deutsche Literatur« ist schon lange zur »deutschsprachigen Literatur« mutiert, was nicht nur deshalb überzeugt, weil bedeutende und ausführlich behandelte Autoren jener Zeit – Keller, Gotthelf, Stifter, Grillparzer und viele andere – mit diesem Epitheton genauer charakterisiert sind. Auch der 1838 gestorbene Adelbert von Chamisso. Nicht einmal alle Dichter des »Jungen Deutschland« waren nur deutsch.

Ob der Berliner Emeritus Peter Sprengel, der schon die Bände IX/1 (1870–1900) und IX/2 (1900–1918) dieser verdienstvollen Literaturgeschichte verantwortet hat, einer der ganz großen Germanisten im Lande ist, wie ich mit Gründen vermute, soll die Fachwelt beurteilen. Sein »Porträt einer Epoche« und seine Darstellung von »Politik, Öffentlichkeit und Literatur« in den fraglichen Jahren liest man jedenfalls mit beträchtlichem Gewinn, und damit ist man auch schon fast zur Hälfte durch mit diesem Buch. Was folgt: »Literaturgeschichte nach Gattungen«, also Epik, Dramatik, Lyrik und – sehr interessant – nichtfiktionale Prosa wie Biografie, Tagebuch oder Reisebild. Die wichtigsten Werke aus der Mitte des 19. Jahrhunderts werden kenntnisreich vorgestellt. Was auch sonst? So soll es sein in einer Literaturgeschichte, und so ist es auch hier. Peter Sprengel sei »die gültige Darstellung der Epoche gelungen«, schreibt Jens Malte Fischer in der Süddeutschen Zeitung, und dass man hinter »diese ebenso farbige wie lektüreanregende Darstellung … vernünftigerweise nicht mehr zurückfallen« könne. Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder doch?

Das Königreich Bayern taucht mal kurz im Abschnitt »Lola Montez und die bayrische ›Morgenröte‹ 1847« auf, scheint aber für die Literatur jener Zeit kaum eine Rolle gespielt zu haben. Natürlich gibt es bei Heine, Hebbel oder Keller, sogar beim damals gern gelesenen und von Sprengel hochgeschätzten preußischen Vielschreiber Gutzkow, biografische Verbindungen zu Bayern, die auch in manchen ihrer Werke ihren Niederschlag gefunden haben. Natürlich dürfen Heyse, Geibel und der vielseitige Münchner Krokodil-Kreis nicht fehlen, und natürlich sind zwei der großen Poeten der Zeit, August von Platen und Friedrich Rückert, eng mit Franken verbunden. Aber sonst? Neun Zeilen über Ludwig Steubs Deutsche Träume (1858), etwas mehr über Melchior Meyr und seine Erzählungen aus dem Ries (1856/60) oder Wilhelm Heinrich Riehls Culturgeschichtliche Novellen (1856), ganz am Schluss noch Aufschlussreiches über Der Einzige und sein Eigentum (1844) von Max Stirner. Kein Schmeller, kein Kobell, kein Pocci, kein Stieler und kein Noë, ganz abgesehen von … Waren und sind diese Autoren im deutschsprachigen Raum wirklich so unbedeutend oder randständig? Hmm. Es wäre etwas kleingeistig, würde man bei einem derart gehaltvollen Opus wie dem von Peter Sprengel damit anfangen, Nord und Süd oder gar Bayern und Preußen gegeneinander aufzurechnen. Oder Bayern und die Schweiz. Aber ein bisschen mehr Literatur in Bayern hätte es schon sein dürfen.

Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1830–1870. Vormärz – Nachmärz. München 2020: Verlag C. H. Beck. 781 S.

Dorfgeschichten aus dem Ries

Über Melchior Meyr

Wer in Nördlingen nach dem Meyr-Denkmal fragt, dem kann es passieren, dass die Antwort »Sie meinen bestimmt den Müller!« lautet. Der legendäre Mittelstürmer Gerd Müller, auch »Bomber der Nation« genannt, ist nun mal der bekannteste Sohn der Stadt, und sein erst wenige Jahre altes Denkmal wird eifrig besucht. Aber Meyr? Ein Dichter? Wer soll denn das sein? In seinen Erinnerungen an die Münchner Künstler- und Literatengesellschaft der »Krokodile« nennt ihn Felix Dahn, der Autor von Ein Kampf um Rom, einen »prächtigen Schwaben aus dem Ries, mit allen guten Eigenschaften und Vorzügen seines Stammes«. Und lobt dabei besonders Meyrs Erzählungen aus dem Ries, die »Gemüt, Humor und liebevolle Versenkung in Land und Leute« zu »wahren Perlen« hätten werden lassen. Felix Dahn schrieb das vor etwa 150 Jahren. Die Zeit danach reichte locker aus, um Melchior Meyr (1810–1871) und sein literarisches Werk gründlich im Orkus der Geschichte verschwinden zu lassen. Selbst seine Grabstätte auf dem Alten Südlichen Friedhof in München (Gräberfeld 38, Reihe 2, Platz 3) wird kaum mehr besucht.

Melchior Meyr, geboren im Riesdorf Ehringen, ging in der benachbarten Residenzstadt Wallerstein zur Schule, später auch in Nördlingen, Ansbach und Augsburg. Sein Hauptinteresse galt seit jeher der Dichtkunst, weshalb ihm auch sein Jurastudium in Heidelberg nicht wirklich Freude machte. Er trieb sich in München herum, auch in Erlangen, wo er unter anderem Friedrich Rückert kennenlernte, und versuchte sich in Berlin als Journalist – im Revolutionsjahr 1848 waren seine politischen Artikel durchaus gefragt. Doch Meyr verstand sich weniger als Zeitungsschreiberling denn als Prosaerzähler, Dramatiker und Essayist, und die rasch wachsende preußische Metropole mochte er auch nicht besonders. Im Jahr 1855 kehrte er nach München zurück, und da blieb er dann auch. Am Isarstrand entstanden seine zwischen 1856 und 1870 veröffentlichten, auf vier Bände anwachsenden Erzählungen aus dem Ries und weitere Werke, Romane, Novellen, dramatische Dichtungen und religionsphilosophische Betrachtungen, nicht zu vergessen sein landeskundliches Kompendium Ethnographie des Rieses. Er verkehrte im Kreis der »Krokodile«, und Mitglied der »Zwanglosen Gesellschaft« war er auch. Unumstritten war er nie, und so erfolgreich wie Emmanuel Geibel, Paul Heyse oder Friedrich von Bodenstedt wurde er zu keiner Zeit. Ebenso wenig wie das Ries, seine ja nicht nur aus dem bekannten Nördlingen bestehende Herkunftsregion, die aus vielerlei Gründen bis heute touristisch höchst attraktiv und speziell für Radtouren hervorragend geeignet ist.

Melchior Meyrs Nachlass befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München. Seine Werke sind, wenn überhaupt, nur noch antiquarisch erhältlich. Der unten angeführte Nachdruck enthält nur zwei längere Erzählungen, Der schwarze Hans und Georg.

Der in keiner Rauferei jemals besiegte, hauptsächlich vom Wildern lebende schwarze Hans, der es auf das »schönste Mädchen im Ries«, die stolze, leider schon dem braven Sohn des Nachbarbauern versprochene Schreinertochter Kathrine abgesehen hat, sei »eine Art Don Juan auf dem Lande«, schreibt der Autor im Vorwort. Der schwarze Hans macht bedrückend deutlich, wie eng und abgeschlossen die bäuerliche Welt damals war und wie wenige Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen und vor allem für die Einzelne es gab. »Gibt sie nicht nach, so geb' ich noch weniger nach – und ich bin ein Mannsbild! Weiter bin ich nichts und weiter kann ich nichts! Aber was ein Mannsbild kann, das kann ich; und das wird geschehen, dafür steh' ich, der schwarze Hans!« Klar, dass sich die Sache dramatisch zuspitzt, und typisch, dass sie, nicht ohne tragische Momente, dann doch einigermaßen versöhnlich ausgeht. Die zwar humorvolle, aber stets auch ein wenig mystisch angehauchte und leicht abgründige Dorfgeschichte spielt um 1790 und mag an die oft unterschätzten düsteren Erzählungen von Friedrich Hebbel erinnern. Nebenbei macht sie mit sprachlichen und sozialen Eigenheiten des Ries bekannt und kommt dabei immer wieder auf einen zentralen Ort des damaligen Landlebens zu sprechen, aufs Wirtshaus. Kaum haben die Dorfburschen ein wenig geplaudert, sagt einer von ihnen, dass er jetzt aber einen Durst spüre, »dass ich's nimmer länger aushalten kann«, und sein Vorschlag »Gehen wir in's Wirthshaus!« wird ohne Gegenstimmen angenommen. Sehr sympathisch!

Der Marktflecken Wallerstein, in dessen näherer Umgebung auch Georg spielt, »war am Ausgang des vorigen Jahrhunderts noch eine Residenz mit allem Glanz einer ständigen Hofhaltung« – und Melchior Meyr führt vor Augen, was für Auswirkungen das im Alltag der Menschen hatte. Unfreiheit? Abhängigkeit? Unterdrückung? Das sicher auch. Aber eben auch paternalistische Fürsorge für die Schwachen und allgemeine Förderung des Wohlstands. Das Ries ist nicht Preußen! »Was man nun auch dagegen sagen mag, die Zustände in der letzten Zeit des deutschen Reiches hatten ihre schönere Seite.« Auch in Georg geht es ums Heiraten. »In jenen Tagen wogen die Eltern noch ungleich schwerer als gegenwärtig«, und zudem liege »eine gewisse Süßigkeit in dem Gedanken der Ergebung in's Nothwendige.« Hmm. Die starren Konventionen des Dorfes und die hartherzige, sture und tyrannische Mutter – »Und ich, ich unglücklicher Sohn, bin mit der bösesten Mutter gestraft, die es geben kann!« – verhindern die Liebesheirat. Jegliche Auflehnung ist zwecklos, das Dorf verlassen und Soldat werden ist keine Lösung – »Soldat werden, hieß zu jener Zeit, mit dem Leben abschließen.« Die auserkorene, geliebte Rebeck' siecht dahin, ihr Tod ist aber auch »ein großer Bekehrer – ein großer Versöhner!«. Am Ende nimmt die Erzählung, wie immer bei Melchior Meyr, dann doch noch eine Wendung zum Positiven – ein Rebell war er bestimmt nicht. Aber ein guter Erzähler.

Die Literatur in Bayern war schon immer reichhaltiger als von vielen Leserinnen und Lesern angenommen, und sie spielt öfters als gedacht an interessanten und bunten Schauplätzen jenseits der größeren Städte. Die Erzählungen aus dem Ries beweisen es aufs Schönste. Sie sind in München entstanden, das schon. Aber Melchior Meyr macht ganz klar: Gute Literatur kann überall spielen. Es muss nicht eine Landeshauptstadt sein.

Melchior Meyr: Erzählungen aus dem Ries. Neue Folge. Hannover 1870. Reprint bei Hansebooks: Norderstedt 2019. IV/409 S.

Bayerndichter und Protofaschist

Ein Sammelband über Ludwig Thoma

In erster Linie ist dieser schön aufgemachte schmale Sammelband, dessen Titel sich ausdrücklich auf die veraltete Thoma-Darstellung von Peter Haage (1975 / 1982) bezieht, eine Festgabe für Bernhard Gajek zum 95. Geburtstag. Von Gertrud Maria Rösch stammen ein instruktiver Überblick über das Lebenswerk des Regensburger Emeritus sowie ein ausführliches Schriftenverzeichnis. Es ruft die enorme Bandbreite der wissenschaftlichen Arbeit Bernhard Gajeks in Erinnerung und macht deutlich, dass deren Hauptaugenmerk zumindest in den letzten Jahren einem Autor galt, dessen Relevanz für unsere Gegenwart weiterhin heftig umstritten ist: Ludwig Thoma.

Neben dem Herausgeber-Vorwort und der Würdigung Bernhard Gajeks enthält der Band sechs literaturwissenschaftliche Studien. Anna-Maria Dillers Hinweise auf Thomas »Jubiläumsgedichte« als weniger bekannter Teil seiner Lyrik liest man mit Interesse, ebenso wie Nicole Durots Ausführungen zur Rezeption Ludwig Thomas in Frankreich, wo die Lausbubengeschichten und die Lokalbahn bis heute bekannt seien. Klaus Wolf beschäftigt sich mit