DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT - Klaus Hübner - E-Book

DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT E-Book

Klaus Hübner

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Beschreibung

Wer weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Ein ignoranter Technik- und Modernitätsverweigerer auch nicht. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht. Der vierte Band geht drei Jahrhunderte zurück und zugleich hinaus in die Welt von heute. Man begegnet einem gelehrten Alpendichter, einem botanisierenden Forscherpoeten, einem etwas schrillen Fräulein und einem Nordlicht aus Gran Canaria. Man lernt böhmische Dörfer kennen, ein unheimliches Slowenien, Rumänien abseits der Klischees und die Donau als Textfluss. Dazu Überraschendes aus Taiwan und einen australischen Aborigine aus Frankreich. Auch Judasohren, Saftlinge und Krause Glucken. Und einiges mehr.

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Klaus Hübner

Dermaleinst, anderswo und überhaupt

Kein Twitter, kein Facebook – Von Menschen, Büchern und Bildern – Band 4

Außer der Reihe 44

Klaus Hübner

Dermaleinst, anderswo und überhaupt

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 4

Außer der Reihe 44

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: März 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Leonhard Schorer, Maler des Gemäldes (Johann Christoph Gottsched, 1744, Wikipedia); Alban1989 (Kirche Heiliger Uros und Mulla-Veseli-Moschee in Ferizaj, Kosovo, 2014, Wikipedia CC BY-SA 3.0); Iris Wolff (Privatfoto, iris-wolff.de); ID 942784 (Bild 1006903, Pixabay)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 235 5

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 236 2

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 860 9

Vorwort

In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchnerpreis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft.« Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Ein ignoranter Technik- und Modernitätsverweigerer wohl auch nicht. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

»Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und, nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wachheit und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny! Voilà, hier ist der vierte Band …

München, im Januar 2021

Klaus Hübner

Nicht nur Literaturgeschichten

Doch ist der Ruf erst ruiniert … Vor dreihundert Jahren wurde Johann Christoph Gottsched geboren

Es gibt wohl kaum einen bedeutenden deutschen Schriftsteller und Universalgelehrten, der im literarischen Gedächtnis der Nation eine derart katastrophale Wirkungsgeschichte hat wie der am 2. Februar 1700 in Juditten bei Königsberg als Sohn des dortigen Pfarrers geborene Johann Christoph Gottsched. Sein Name steht zwar nach wie vor in allen Literaturgeschichten – aber was da steht, ist in aller Regel wenig dazu angetan, sich mit dem Werk dieses zeitlebens unglaublich produktiven Mannes näher zu befassen. Auch der immer mal wieder, zuletzt mit einer schönen Ausgabe ihrer Briefe von 1730 bis 1762 versuchte Umweg über Gottscheds für die damalige Zeit durchaus ungewöhnliche Frau, die hoch gebildete, selber dichterisch tätige Louise Adelgunde, verschafft nicht den für viele Zeitgenossen unbedingt nötigen »human touch«. Gottscheds Ideal einer »geschickten Gehülffin« an seiner Seite und Louises Idee einer auf Gleichberechtigung basierenden Ehe seien letztlich »unvereinbar« gewesen, schreibt die Brief-Herausgeberin Inka Kording, und man kann sich schon vorstellen, wie die beiden tagaus tagein vor sich hinwerkelten am Rohbau der deutschen Gelehrtenrepublik und der Beförderung einer deutschen Nationalliteratur. Starr, spröde und trocken sei es zugegangen bei den langweiligen und pedantischen Gottscheds, sagt man. Und bald hat auch ihr Werk genau diesen, also einen schlechten Ruf weg. Und man muss, bei allem Respekt, auch heute sagen: weitgehend zu Recht.

Als der junge Gottsched zusammen mit seinem Bruder 1724 vor den Soldatenwerbern aus Ostpreußen nach Leipzig floh und sich dort, ausgestattet mit Empfehlungsschreiben und gefördert von Professoren wie Johann Burkhard Mencke, peu à peu als Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer, Bibliograf und Literaturtheoretiker etablierte, schien alles noch in Ordnung. Bald galt er als einflussreicher Repräsentant einer Kunst- und Dichtungslehre, die der rationalistischen Philosophie seiner Zeit verpflichtet war – die Schriften von Locke, Grotius, Pufendorf, Thomasius und Wolff hatte er intensiv studiert. Emsig beschäftigt mit allerlei literarisch-philosophischen Aktivitäten, mit Beiträgen und Übersetzungen für seine Wochenschriften und mit der Reform des deutschen Theaters (oder wenigstens der Neuberschen Truppe), wurde Gottsched 1730 Außerordentlicher Professor für Poesie und Beredsamkeit und 1734 dann Ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik. Doch in den schlechten Ruf eines Dogmatikers geriet er schon in den Vierzigerjahren, als er in seinen Streitereien mit den Zürcher Kritikern Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger über die poetologischen Kategorien des Wunderbaren und des Wahrscheinlichen immer mehr ins Hintertreffen geriet – wozu er selbst, rechthaberischer und verbitterter werdend, kräftig beitrug. Der große Lessing hat den Theaterreformer, wie man weiß, in seinem 17.Literaturbrief in Grund und Boden verdammt, und Goethe, dessen Verdikte über Zeitgenossen bekanntlich sehr lange nachwirkten, hat den alten Professor in Dichtung undWahrheit lächerlich gemacht – unvergesslich die Szene mit dem kahlköpfigen Gottsched, der sich die »große Allongeperücke« reichen lässt und seinen armen Bedienten ohrfeigt. Aber abgesehen davon: Fast zwei Jahrhunderte lang war die deutsche Frühaufklärung sowieso ziemlich verpönt, und als sie es dann seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr war, wies man dem alten Gottsched oft einen kulturhistorischen Ort zu, der den Barockdichtern des 17. Jahrhunderts näher war als den meisten seiner Zeitgenossen. Als Verfasser panegyrischer Auftragsdichtung wurde er überhaupt nicht mehr ernst genommen, als genuiner Lyriker auch nicht, und dem Verfasser von Dramen wie dem nach 1732 für lange Zeit äußerst erfolgreichen Sterbenden Cato wird sogar vom Herausgeber des Stückes jegliche Zukunftsfähigkeit abgesprochen. Man könne Gottscheds wohlgesetzte Alexandriner heute kaum anders denn leblos und klappernd empfinden, schreibt Horst Steinmetz, und die Regelmäßigkeit dieses Werks erscheine nur noch als »erstarrte Gleichförmigkeit«; über den dichterischen Wert oder vielmehr Unwert des Sterbenden Cato (und, so darf man ergänzen, aller anderen Bühnenwerke Gottscheds) gebe es seit Langem keine Diskussionen mehr. Vor allem sei eine Aufführung dieses Dramas heute »undenkbar« – und das von Bodmer als mit »Kleister und Schere« verfertigtes Machwerk verspottete Stück ist auch, so weit man sieht, seit ewigen Zeiten nicht mehr aufgeführt worden. Als eigenständiger Poet ist sein Verfasser wohl ganz zu Recht vergessen, und eigentlich ist er das schon seit MissSara Sampson.

Aber da war doch noch der Versuch einer Critischen Dichtkunstvor die Deutschen, 1730 erstmals erschienen und bis 1751 mehrfach umgebaut und erweitert – ein Werk, in dem der Literaturtheoretiker all die Gesetze und Regeln übersichtlich dargestellt hatte, ohne deren Beachtung angeblich keine Dichtung bestehen konnte? Das Prinzip der Naturnachahmung wird dort erläutert, die Forderung nach Wahrscheinlichkeit, das Gesetz von den drei Einheiten, vor allem aber das Gebot, dass Dichtung einen moralischen Lehrsatz veranschaulichen und dem Publikum nahe bringen müsse – womit sie in den Dienst des moralpädagogischen Erziehungs- und Bildungsprogramms der Aufklärung gestellt wird. Und der Autor gleich dazu: »Eine gar zu hitzige Einbildungskraft macht unsinnige Dichter, dafern das Feuer der Fantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßiget wird.« Als historisch bedeutende »Wirkungspoetik« hat Horst Steinmetz Gottscheds Versuch charakterisiert und ihm, über Goethes und Schillers klassische Phase hinaus, subtile Nachwirkungen bis ins 19. Jahrhundert hinein attestiert. Als Kritik der deutschen Literatur und Schaubühne ihrer Zeit hat die Critische Dichtkunst gewiss ihre Meriten – was ihre Lektüre allerdings nicht attraktiver macht. Das gilt auch für die Deutsche Schaubühne aus den Vierzigerjahren, eine zusammen mit Louise Adelgunde erstellte Sammlung sogenannter Musterdramen, unter ihnen fünf eigene. Was aber ist mit seiner Ausführlichen Redekunst von 1736, sieben Jahre vor Gottscheds Tod in einer fünften Auflage verbreitet? Und was mit den zahlreichen anderen Schriften, mit den Übersetzungen, Baylens Wörterbuch immerhin, Lucians Schriften oder die Théodicée von Leibniz – vergessen, auch noch zu Recht vergessen dies alles? Schließlich die Person: der Universitätsgelehrte, noch dazu einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten seiner Zeit, der explizit bürgerliche Professor in einer vom Adel dominierten Umwelt, nicht zuletzt der unermüdliche Pädagoge, der unbeirrte Trommler für die Bildung des Volkes und, damals fast avantgardistisch, gerade auch der Frauen? Schon recht, diese Nachfragen – aber es hilft alles nichts: Gottsched hat, sei je und quasi überall, schlechte Karten. Gewiss lobt man das historische Verdienst seiner Poetik, aber zugleich stellt man die auch in nationalem Konkurrenzdenken begründeten Aversionen gebührend heraus, gegen Ariost, Tasso, Milton, Shakespeare und viele andere Dichter, die man später höchlich schätzte. Was an Gottsched weist überhaupt in ein »Später«? Die unbedingte Unterordnung der praktischen Bühnenarbeit unter die erzieherischen Prämissen der Bühnendichtung, das war damals gut gemeint und gegen die in der Tat wenig niveauvollen Zustände um 1725 gerichtet – doch was könnte zweihundertvierunddreißig Jahre nach Gottscheds Tod unzeitgemäßer, unbeliebter, lächerlicher sein? Das Verdikt gegen die Oper, die das »ungereimteste Werk« sei, »das der menschliche Verstand jemals erfunden« habe? Sein Kampf gegen den »Schwulst« der sogenannten zweiten schlesischen Schule, namentlich des von Hubert Fichte in den 1970er-Jahren mit enthusiastischem Gestus wieder entdeckten Casper von Lohenstein? Gottscheds Bemühung um eine fundamentale Sprachreform mit dem Ziel einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache, orientiert am »Meissnischen Deutsch« seiner Wahlheimat, mag zu Zeiten lebhafter Auseinandersetzungen um die deutsche Rechtschreibung noch am ehesten auf Interesse hoffen können – immerhin hatte ihn Kaiserin Maria Theresia 1749 einen »Meister der deutschen Sprache« genannt und war, hingerissen vom Gespräch mit ihm und seiner Gattin, zu spät zur Messe gekommen. In der Grundlegung einer DeutschenSprachkunst (1748; 6. Aufl. 1762) findet sich allerlei Bedenkenswertes über Syntax, Etymologie, Prosodie und eben auch über die Rechtschreibung des Deutschen. Liegt es auch am heute so unattraktiv Paukerhaften dieses Mannes, dass Gottsched in der Reformdebatte der letzten Jahre keine Rolle spielte? An seiner patriarchalen Pädagogik, mit der er seine großen Ideen zu hausbackenen Lerngegenständen herabwürdigte? Man weiß es nicht sicher, sieht aber deutlich, dass hier nicht viel zu machen ist – auf irgendeine Art »sexy« ist dieser Mann einfach nicht, für Sensationen eignet er sich auch nicht, und zur »Ikone« gar wird er es niemals bringen.

Resümieren wir also ganz nüchtern: Johann Christoph Gottsched führt heute nur noch in germanistischen Seminaren ein eher kümmerliches Leben, und eigentlich tut er das schon, seit es solche Seminare gibt. Man liest ihn nicht freiwillig oder gar gerne, und das wird wohl so bleiben. Dieses Schicksal teilt er zwar mit den meisten Schriftstellern und Gelehrten seiner Zeit – die deutsche Dichtung nach Grimmelshausen und vor Lessing scheint uns Heutigen weitgehend unattraktiv. Gottsched aber trifft es noch härter als andere. Eine derart immense Gelehrsamkeit wie die seine nötigt noch immer einigen Respekt ab, seine Schaffenskraft sicherlich auch. Das war dann aber auch schon alles. Johann Christoph Gottscheds Ruf bleibt ruiniert, und sein dreihundertster Geburtstag wird daran kaum etwas ändern.

Die bisher umfangreichste Gottsched-Edition ist die zwölfbändige, von Joachim Birke, Brigitte Birke und Phillip Marshall Mitchell besorgte Auswahlausgabe (Berlin 1968–1987); ihr letzter Band enthält auch eine umfangreiche Bibliografie zu Gottscheds Leben und Werk. Die von Horst Steinmetz herausgegebenen Einzelausgaben der CritischenDichtkunst und des Sterbenden Cato sind in Reclams Universal-Bibliothek erhältlich; Steinmetz hat auch einen Neudruck der Deutschen Schaubühne kommentiert und herausgegeben (Stuttgart 1972). Louise Gottscheds Briefe aus den Jahren 1730 bis 1762 sind, herausgegeben von Inka Kording, unter dem Titel Mit der Feder in der Hand erschienen (Darmstadt 1999).

Im NetzwerkNeues über Bodmer und Breitinger

»Was ist dichten anders, als sich in der Fantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundene Gedicht ist darum nicht anderst anzusehen als eine Historie aus einer anderen möglichen Welt.« Das stammt von Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und steht in seiner 1740 veröffentlichten Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Dieses Werk wird zitiert, sobald es um den für das 18. Jahrhundert zentralen, bisweilen sehr hitzig ausgefochtenen »Literaturstreit« zwischen den »Leipzigern« und den »Zürchern« geht. Der Zwist mag heute nur noch Germanisten interessieren, Bodmer aber bleibt eine hochinteressante Persönlichkeit, ebenso wie sein Freund und Mitstreiter Johann Jakob Breitinger (1701–1776). Dass man sie, weit über ihre Schriften gegen Gottsched und Konsorten hinaus, als Überväter des geistigen Zürich im 18. Jahrhundert und damit als Begründer einer neuen intellektuellen Metropole Europas bezeichnen darf, legt ein ziegelsteingroßer, brandaktueller und streckenweise sehr spannender Sammelband nahe, den ironischerweise zwei an der Universität Bern lehrende Expertinnen herausgegeben haben. Eine von ihnen, Barbara Mahlmann-Bauer, hat Bodmer und Breitinger übrigens einen lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift Der Deutschunterricht (4/2009) gewidmet – deren Schwerpunktthema heißt, für eine deutsche Fachzeitschrift beinahe sensationell: »Zürich«.

Die beiden Johann Jakobs, die von der Geschichtsschreibung und der geisteswissenschaftlichen Forschung bis vor Kurzem arg vernachlässigt worden sind, haben es in sich. Das neue, aus einer Zürcher Tagung hervorgegangene Grundlagenwerk versucht, ihrem reichhaltigen Lebenswerk mit zweiunddreißig auf sieben Abteilungen verteilten Aufsätzen und einem nützlichen Anhang gerecht zu werden und mit alten Vorurteilen aufzuräumen. Die ersten fünf Studien, darunter ein grandioser Essay von Carsten Zelle, widmen sich der »Ästhetik und Poetik« der beiden Zürcher. Dann geht es um »Theologische Positionen«, wobei das Collegium Carolinum eine wichtige Rolle spielt – wie denn überhaupt herauszustellen ist, dass die Verwurzelung Bodmers und Breitingers in ihrer Vaterstadt in diesem Buch sehr zu Recht gebührend berücksichtigt wird. Das gilt besonders für die dritte Abteilung, die die Überschrift »Bodmers Schauspiele und vaterländische Geschichte« trägt, aber auch für die vierte, die »Zürcher Schüler und Zeitgenossen« vorstellt, unter ihnen Lavater, Hirzel, Klopstock und Wieland. Zwei äußerst aufschlussreiche Abhandlungen machen Teil V aus: Christoph Eggenberger beschäftigt sich mit Bodmers »Entdeckung« der Manessischen Liederhandschrift, und Gesine Lenore Schiewer nimmt seine Sprachtheorie unter die Lupe – zu beiden Themen hätte man, kritisch sei’s angemerkt, gerne noch mehr gelesen. Weitere fünf Studien drehen sich um die »Beziehungen zu den Künsten und zur Musik«, und die Abteilung VII bildet Urs B. Leus hilfreiche Arbeit über Bodmers Privatbibliothek. Natürlich ist das Ganze, wie schon die luzide Einleitung deutlich macht, auf dem neuesten Stand der Forschung. Um Lesbarkeit hat man sich ebenfalls bemüht – sprachliche Verstiegenheiten sind selten. Fazit: ein dicker kulturwissenschaftlicher Wälzer, das schon. Aber quicklebendig und hochinteressant für alle, die sich für die Vergangenheit des intellektuellen Zürich und die Geistesgeschichte der Schweiz begeistern lassen.

Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009: Wallstein Verlag. 880 S.

Was wären die Alpen ohne ihn?Albrecht von Haller ist nicht tot

Ein bekannter Unbekannter ist dieser Albrecht von Haller, selbst in der Schweiz. Als Schriftsteller war Haller – »ein europäischer Hauptname im 18. Jahrhundert« (Leif Ludwig Albertsen) – lange Zeit hindurch so gut wie vergessen. Selbst Germanisten verwiesen, meist ein wenig lustlos, lediglich auf sein Lehrgedicht Die Alpen (zuerst 1729), das viele von ihnen eher aus den einschlägigen Literaturgeschichten kannten denn aus eigener Lektüreerfahrung – von wenigen Spezialisten abgesehen, unter denen an erster Stelle Karl S. Guthke zu nennen ist. Das beginnt sich zu ändern, und so entpuppt sich das zunächst willkürliche Diktat der runden Zahl letztlich als ein Segen. Zum dreihundertsten Geburtstag war einiges geboten, und das keineswegs nur in Bern. Neue Publikationen gibt es auch. Zwar ist bedauerlicherweise kein Haller-Lesebuch erschienen, aber immerhin eine sein Andenken sicherlich belebende Haller-Ausgabe der Berner Universitätszeitschrift UniPress. Ein ganzes Themenheft widmet die »Schweizerische Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts« dem Dichter, Arzt, Naturforscher und Magistraten – man könnte Haller übrigens mit zahlreichen weiteren Bezeichnungen zu charakterisieren suchen und hätte doch immer nur einen Teil seines Wirkens erfasst. Dessen gewaltigen Umfang nimmt jetzt eine Publikation ins Visier, die man zweifelsohne als die mit Abstand gewichtigste Neuerscheinung im Haller-Jahr würdigen muss. Ihr Titel ist Programm: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Es handelt sich um einen repräsentativen Sammelband, an dem zweiundzwanzig Wissenschaftler mitgewirkt haben, unter ihnen erfreulicherweise viele jüngere. Und eines macht dieser Band bald ganz deutlich: Haller ist nicht tot!

Über das Zustandekommen des Kompendiums unterrichtet das Vorwort der Herausgeber. Aber es tut noch mehr: Es nennt ohne Scheu die mutmaßlichen Gründe dafür, dass Leben, Werke und Wirkungen Albrecht von Hallers heute »weitgehend aus dem Kanon der Allgemeinbildung verschwunden« sind. Sein Lebenslauf sei nicht so leicht fassbar und dramatisierbar wie zum Beispiel der Rousseaus; jegliche Poesie vor den 1770er-Jahren sei heutigen Lesern schwer zugänglich (was durchaus bezweifelt werden darf); als Romanautor und politischer Schriftsteller sei Haller zu didaktisch; als orthodoxer Theologe stehe er oft konträr zur modern-aufklärerischen Religionskritik; als Literaturkritiker sei er rasch von der nachfolgenden Generation um Lessing abgelöst worden; als Magistrat und Berner Patriot sei er im europäischen Kontext nicht so bedeutend. Und dass Haller »der wohl am besten und internationalsten vernetzte Wissenschaftler seiner Zeit« gewesen ist und »eine wichtige Schaltstelle in der europäischen Wissensproduktion« einnahm, dafür habe sich die Forschung erst in allerjüngster Zeit wirklich interessiert. Fazit: »Haller lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Die Schwierigkeit, ihn zu erfassen und zu erklären, wird erhöht durch ein vielschichtiges und äußerst umfangreiches Werk, das zudem in unterschiedlichen Sprachen (Latein, Französisch, Deutsch) abgefasst und nur teilweise in Übersetzungen greifbar ist.« Diese Probleme allerdings, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit Hallers, sprächen nicht gegen, sondern für die verstärkte Beschäftigung mit dieser bewunderungswürdigen Persönlichkeit. Der reich bebilderte neue Band ist der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung. Wer also ist dieser Haller?

Seinen Lebenslauf stellt Urs Boschung in allen Details dar, und dessen Hauptschauplätze Bern und Göttingen führen François de Capitani und Ulrich Hunger vor Augen. Man erfährt viele Details über Hallers Verwandtschaft und über die Berner Kindheit, die 1718 mit der Aufnahme in die Hohe Schule fast schon wieder zu Ende ist. »Im zwölften Jahre fieng er an deutsche Verse zu verfertigen, und von der Zeit an, bis in sein 15. und 16tes Jahr herrschte die Liebe zu der Dichtkunst auf eine unwiderstehbare Weise in seiner Seele«, wird Johann Georg Zimmermann zitiert, Hallers erster Biograf. 1722 bis 1723 lernt Haller in Biel, 1723 bis 1725 studiert er in Tübingen Medizin. Er wechselt nach Leiden in Holland, wo es ihm ganz vorzüglich gefällt, und schließt 1727 sein Studium ab – bestens ausgebildeter Arzt, und das mit neunzehn Jahren! Es folgen Reisen nach London und Paris, ein begieriges Aufnehmen alles Neuen, auch schon erste schwerere Krankheiten, und dann, von Basel aus und mit Gessner, seinem Freund: eine Reise durchs Vaterland. »Die Erfahrungen der Schweizerreise, die in starkem Kontrast zu Eindrücken von London und Paris standen, aber auch manches Gelesene verarbeitete er im Gedicht Die Alpen, Heldengedichte« (Urs Boschung). Diesen neunundvierzig Strophen mit jeweils zehn jambischen Alexandrinern, die die »Gemüthsruh« des alpinen »homo helveticus« besingen und letztlich »ein Lob des gesunden Landlebens im Sinne der alten römischen Optimates« darstellen (Leif Ludwig Albertsen), verdankt der Dichter Haller seine im 18. Jahrhundert vor allem von Herder und Schiller beförderte Unsterblichkeit. Im Mittelpunkt steht der Mensch: »Der Älpler ist selig, weil er bei sich ist und weder einem Noch-Nicht nachstrebt noch einem Nicht-Mehr nachtrauert, sondern in Gemeinschaft mit der Natur und somit in natürlicher Ordnung lebt« (Eric Achermann). Die Alpen, naturwissenschaftliche Beobachtung und lyrisch verpackte Moralphilosophie kunstvoll verknüpfend, wurden zum »Ursprung des modernen Alpenmythos« (Rémy Charbon) und blieben wirkungsmächtig bis ins 20. Jahrhundert hinein – obwohl ihr poetischer Duktus längst eigentümlich wirkte und ihre sprachlichen Feinheiten nicht im gesamten deutschen Sprachraum verstanden wurden. »Ich bin Schweizer, und Deutsch ist für mich eine Fremdsprache«, lässt Hugo Loetscher »seinen« Albrecht von Haller in einem fiktiven Interview sagen, und der Gesprächspartner entgegnet: »Trotz allem sind Sie der erste Schweizer, der mit seiner Dichtung über sein Land hinausgewirkt hat.« Das ist zweifellos richtig, und sogar ein Hugo Loetscher, der seine persönliche Schweizer Literaturgeschichte lieber mit den Lebenserinnerungen Thomas Platters denn mit den Alpen beginnen lässt, kommt nicht umhin, die enorme Wirkung von Hallers Lehrgedicht anzuerkennen.

1729 bis 1736 lebt Haller als Arzt und Bibliothekar in Bern, dichtet und studiert und gründet eine Familie. 1736 erfolgt der Ruf an die Göttinger Universität, wo der Berner als Anatom, Chirurg und Botaniker bis 1753 forscht und lehrt, an den Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen mitwirkt und die erst später so genannte Akademie der Wissenschaften gründet. Der immer ärger kränkelnde Gelehrte wird schließlich Rathausammann in Bern, ab 1758 dann Direktor der bernischen Salinen in Roche. Er korrespondiert mit den wichtigen Wissenschaftlern Europas, schreibt zahlreiche Artikel für die bald Epoche machenden, in Paris und Yverdon entstehenden Enzyklopädien, verfasst zudem drei politische Romane sowie philosophische und religiöse Schriften – und er überarbeitet mehrfach seine immer berühmter werdenden Gedichte.

Am 12. Dezember 1777 ist sein Leben und Wirken zu Ende. Worin es bestand, erläutern Eric Achermann (Dichtung), Florian Gelzer und Béla Kapossy (Roman, Staat und Gesellschaft), Claudia Profos (Literaturkritik), Cornelia Rémi (Religion und Theologie), Hubert Steinke (Anatomie und Physiologie), Maria Teresa Monti (Embryologie), Urs Boschung (Praktische Medizin), Jean-Marc Drouin und Luc Lienhard (Botanik). Den Forscher und Gelehrten stellen Otto Sonntag und Hubert Steinke in den Kontext seiner Zeit. Martin Stuber und Regula Wyss tun das für den Magistraten und ökonomischen Patrioten, während Hubert Steinke und Martin Stuber Hallers Stellung in der zeitgenössischen Gelehrtenrepublik erörtern. Eine zusammenfassende Studie von Wolfgang Proß, die inmitten lauter guter, oft herausragender Beiträge ganz besonders hervorzuheben ist, skizziert das widersprüchliche Verhältnis Hallers zur Aufklärung: »Wie andere Figuren seines Jahrhunderts litt auch Haller unter der Schwierigkeit, neues Wissen und eigene Forschung mit traditionellen Beständen der Offenbarungsreligion und metaphysischen Bedürfnissen oder mit gesellschaftlichen Konventionen in Einklang zu bringen.« Es folgen vier aufschlussreiche »Blicke auf Haller« (François Duchesneau, Karl S. Guthke, Renato G. Mazzolini, Richard Toellner) sowie der Abschnitt »Zeugnisse«, wo es um »Haller im Porträt« (Marie Therese Bätschmann) und »Hallers Bibliothek und Nachlass« (Barbara Braun-Bucher) geht. Ganz wichtig für ein intensives Studium des Sammelbands sind die Personen- und Werkregister, die diese voluminöse Gesamtschau beschließen.

Belehrt und beglückt mag man danach Hallers berühmtes Lehrgedicht aufschlagen und mit ihm hinauf in die Alpen reisen, natürlich mit aller heutigen Skepsis gegenüber seinem Lobpreis des einfachen und sündelosen Lebens unter Hirten und Sennen. Doch schon der Dichter selbst war sich im Klaren darüber, dass sein Lehrgedicht der Schweizer Wirklichkeit nur selten entsprach: »Es ging ihm aber nicht so sehr um die reale Lebensweise der Gebirgsbevölkerung als um ein kritisches Gegenbild zum luxuriösen Leben der gegenwärtigen Berner Patrizier« (Rémy Charbon). Dass dieses kritische Gegenbild aus der Feder eines Mannes, der das Dichten nur in seinen Nebenstunden betrieben hat, bis heute – nein, keine Utopie, aber zumindest einen Traum aufscheinen lässt, spricht für die erstaunliche Wirkungskraft guter Poesie. So gesehen darf sich die gesamte Tourismusindustrie der Alpenländer bis heute glücklich schätzen, einen Albrecht von Haller zum Ahnherrn zu haben. »Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet, / Umschließt kein harter Zwang der Liebe holdes Reich.« So ist es leider nicht, und so ist es wohl nie gewesen. Aber so könnte es sein. Zumindest träumen darf man es – beim Lesen der Alpen des mit Fug und Recht »groß« genannten Haller.

Albrecht von Haller: Die Alpen und andere Gedichte. Ausgewählt und herausgegeben von Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1965 / 2004: Reclam Verlag.

Hubert Steinke / Urs Boschung / Wolfgang Proß (Hrsg.): Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Göttingen 2008: Wallstein Verlag.

Hugo Loetscher: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz. Zürich 2003 / 2008: Diogenes Verlag.

Kunst und LebensklugheitDie Aphorismen von Johann Heinrich Füssli

Die deutsche Übersetzung der Aphorisms, Chiefly Relative to the Fine Arts erschien erstmals 1944. In dem achtundsechzig Jahre später vorgelegten unveränderten Nachdruck ist die damalige, immer noch sehr lesenswerte Einführung des Übersetzers und Herausgebers Eudo C. Mason (1901–1969) ebenso enthalten wie seine Anmerkungen, und auch die Tafeln wurden in für ein Taschenbuch akzeptabler Qualität übernommen. Neu ist das Nachwort von Matthias Vogel, der den vornehmlich als Dichter, Maler und Zeichner bekannten Johann Heinrich Füssli (1741–1825) als »eminente Mehrfachbegabung« vorstellt. Kunsttheoretiker war der seit 1779 in London lebende Schüler von Bodmer und Breitinger jedenfalls auch, und diese im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts begonnene Tätigkeit galt ihm gleich viel wie sein künstlerisches Schaffen. Seine Aphorismen sind in Ton und Stil keineswegs einheitlich. Seitenlange ernsthafte Essays sind darunter, aber auch prägnante Zweizeiler. Darunter bedenkenswerte Lebensweisheiten: »Die Wirklichkeit steckt voller Enttäuschungen für den, dessen Freudequellen im Elysium der Fantasie entspringen.« Oder: »Ein durch keine Auswahl beschränktes Trachten nach Vollkommenheit führt unfehlbar zur Mittelmäßigkeit.« Was darf man heute von »Das Genie kennt keinen Mitarbeiter« halten? Und manchem Zeitgenossen, vielleicht auch manchem Unternehmen, möchte man doch einmal deutlich sagen: »Keine Vortrefflichkeit der Ausführung kann Niedrigkeit der Konzeption aufwiegen.« Immer weiter möchte man zitieren – Füsslis Sprüche sind gewiss nicht allein für Kunsthistoriker interessant.

»Füssli ließ nie einen Zweifel daran, dass für ihn die griechische Kunst in ihrer großen Zeit einsame künstlerische Höhen erklommen hatte, die selbst die Renaissance nie ganz erreichte«, schreibt Matthias Vogel. Die klassizistische Grundprägung, für die unter anderem seines Vaters Freunde Johann Joachim Winckelmann und Anton Raphael Mengs gesorgt hatten, hat er bis an sein Lebensende beibehalten. In seiner eigenen, nicht nur auf dem Gebiet der Kunst ungewöhnlich turbulenten Zeit, so legt der 1801 zum Malereiprofessor an der Royal Academy berufene Zürcher Künstler nahe, verliere man das Klassische und Große zunehmend aus den Augen. Wenn Füssli allerdings darauf besteht, dass sich das Wesen der Kunst nicht in deren Gegenständen offenbart, sondern im unmittelbaren Ausdruck der Gefühle, die in ihnen zum Ausdruck gelangen, dann weist das nicht nur auf die Romantik hin, sondern fast schon auf den Expressionismus voraus. Dazu wäre manches zu sagen – Matthias Vogel fasst es so zusammen: »Aus einer starken Verankerung in den Diskursen seiner Zeit weisen gerade seine Aphorismen in vielen Punkten über diese hinaus und sind deshalb nicht nur als historische Quelle, sondern auch als Beitrag zur gegenwärtigen Debatte zu rezipieren.« Das sollte man unbedingt versuchen, und die naturgemäß zeitgebundene Sprache dieser Aphorismen sollte niemanden davon abhalten. Denn Füsslis Reflexionen haben meist mehr Substanz als manche Theorieluftblase von heute.

Johann Heinrich Füssli: Aphorismen über die Kunst. Basel 2012: Schwabe Verlag. 187 S.

Kulturtransfer im 18. JahrhundertDie Schweiz und Deutschland hatten einander schon früher viel zu sagen

»Kontrapunktisch zum ambivalenten, gegen Ende des Jahrhunderts schließlich durchweg negativen Frankreichbild verklärte sich im Rekurs auf Hallers ›Alpen‹ das Bild der Schweiz zum idealen Gegenentwurf einer als moralisch bedenklich angesehenen Zivilisation.« Die Schweiz – endlich einmal ideal und dazu moralisch unbedenklich? So steht es in der Einleitung zum Hauptteil einer Fachzeitschrift, die normalerweise kein riesiges Publikum erreicht. Das mag diesmal anders sein: Der Schwerpunkt ihres jüngsten Heftes gilt dem deutsch-schweizerischen Kulturtransfer im 18. Jahrhundert, und da sind auch für Nicht-Fachleute spannende Entdeckungen zu machen. Wichtig ist erst einmal, dass die positive Stilisierung der Schweiz durch viele im Alten Reich lebende, kulturell und politisch interessierte Deutsche keineswegs wechselseitig war. Johann Heinrich Füsslis 1775 Johann Caspar Lavater gestellte Frage »Aber wo ist das Vaterland eines Teutschen, eines Sklaven?« fasst die Schweizer Skepsis gegenüber den nördlich-teutonischen Fürstenknechten prägnant zusammen. Viele Schweizer waren mit einigem Recht stolz auf die eigene republikanische Freiheit, und oft waren sie vernarrt in ihre Heimat – gelegentlich einseitig und erstaunlich unkritisch. Jedenfalls interessierten sich Schweizer und Deutsche auch damals schon sehr füreinander, und wie das vor sich ging, untersuchen fünf per se interkulturell ausgerichtete kulturhistorische Beiträge, die sich auch als Beispiele verstehen lassen für moderne Probleme um Identität, Alterität und Nationalstereotyp. Simone Zurbuchen erläutert die damalige »Staatstheorie zwischen eidgenössischer Republik und preußischer Monarchie«, Markus Zenker analysiert Johann Georg Zimmermanns Werk Von der Einsamkeit (1773; 1784/85) im zeitgenössischen deutsch-schweizerischen Kontext, und York-Gothart Mix untersucht populäre Kalender wie den HinkendenBoten oder den Rheinländischen Hausfreund auf interkulturelle Spuren. Martin Stuber erörtert den wissenschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und der Schweiz im Korrespondenznetz Albrecht von Hallers, und Yvonne Boerlin-Brodbeck schließlich geht den Beziehungen zwischen den beiden Ländern in der Kunst des 18. Jahrhunderts nach. Herausgekommen ist ein instruktives kleines Bändchen zur deutsch-schweizerischen Kulturgeschichte, das auf dem allerneuesten Stand der Forschung ist, ohne sich irgendeines hermetischen Jargons zu befleißigen – was mit ein Grund ist, weshalb die Lektüre der Aufsätze nicht nur Gewinn bringt, sondern auch Spaß macht.

Deutsch-schweizerischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Zusammengestellt von York-Gothart Mix, Markus Zenker und Simone Zurbuchen (= Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts. Heft 26.2). Göttingen 2002: Wallstein Verlag. 126 S.

Auf DurchreiseWar das nicht der mit der Gewaltenteilung?

»Das Herzogtum Württemberg ist ein schönes Ding … Rundherum ein sehr schönes und gutes Land.« Das hört man gern! Am Ludwigsburger Schloss allerdings fällt auf, »dass man überall Kleines unter dem Anschein der Größe wahrnahm«. Angeber, dieser Herzog! Das »berühmte Fass« im Heidelberger Schloss – »tatsächlich ein schönes Stück«! Und dann erst Mannheim: »Die Stadt ist gegenwärtig eine der schönsten Deutschlands und sie wird noch eine der stärksten des Landes werden.« Na denn!

Charles-Louis de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu (1689–1755) war ein Jurist, Rechtsphilosoph, Diplomat und Literat, der südlich von Bordeaux zu Hause war und im absolutistischen Frankreich eine bemerkenswerte politisch-literarische Karriere machte. Wer gute Französischlehrer hatte, hat mal in seine Lettres Persanes (1721) hineingeschnuppert, ein für die damalige Zeit sensationelles Werk, in dem ein persischer Reisender seinem in Isfahan gebliebenen Freund schildert, wie merkwürdig es zuweilen in Europa zugeht. Und dass das Reisen den vertrauten Blickwinkel auf die Welt erweitern und neu beleuchten kann. Reisen als Quelle der Erkenntnis! Der Urheber dieser Lettres, der später mit De l’Esprit des Lois (1748) die Fundamente des modernen Rechtsstaats legen und damit endgültig weltberühmt werden wird, macht sich im April 1728 selbst auf die Socken. Italien, Österreich, Deutschland, Holland! Literatur macht er nicht. Aber er macht sich Notizen. Die liegen jetzt, fast dreihundert Jahre danach, zum allerersten Mal auf Deutsch vor, mit ausgewählten Illustrationen, kurzen Kommentaren, kompetenter Einleitung, anregendem Nachwort und hilfreichen Registern. Gut so! Ob Montesquieus Notate wirklich »höchst lesenswert« sind, wie der Herausgeber behauptet? Na ja. Auflistungen von Poststationen oder Maßeinheiten sowie allerlei Klatsch über Personen, die heute kaum noch jemand kennt, finden sich jedenfalls reichlich. Wiederholungen ebenfalls. Aber auch Perlen: »Die Deutschen, die in ihrer Jugend sehr wenig lebhaft sind, werden im fortgeschrittenen Alter unweigerlich dicker.«

Charles-Louis de Montesquieu: Meine Reisen in Deutschland 1728–1729. Ausgewählt, herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Jürgen Overhoff. Aus dem Französischen übersetzt von Hans W. Schumacher. Mit einem Nachwort von Vanessa de Senarclens. Stuttgart 2014: Cotta Verlag. 216 S.

Licht über EuropaVom heroischen Zeitalter der Aufklärung

»Aufklärung. Am Anfang war das Bild: Wie morgens der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertrieben wird, so soll auch der menschliche Verstand erhellt werden.« So beginnt der 1943 geborene, in Hamburg lebende Germanist und Philosoph Manfred Geier sein Buch über die europäische Ideen- und Geistesgeschichte von 1689 bis 1789, die das immer noch hochaktuelle Projekt eines vernünftigen und toleranten Zusammenlebens ganz unterschiedlicher Menschen begründet und entwickelt hat. Geier weiß, dass reine Philosophie ohne Charaktere aus Fleisch und Blut schnell ermüden kann, und so erzählt er uns »Lebens- und Werkgeschichten«, die exemplarisch für die großen Gedankenentwürfe der Aufklärung stehen sollen. Zuerst geht es um die innere und äußere Biografie von John Locke, dann folgen Kapitel über den Third Earl of Shaftesbury, die französischen Aufklärer Voltaire, Diderot und Rousseau, Moses Mendelssohn, Immanuel Kant, Olympe de Gouges und Wilhelm von Humboldt. Mag man auch über diese Auswahl trefflich streiten können – der Leser gewinnt einen guten Eindruck davon, wie wegweisend das Projekt der Aufklärung war, wie es Europa geprägt hat und wie sein Licht bis heute in die ganze Welt ausstrahlt. Und keineswegs nur nebenbei erfährt er auch, wie menschlich-allzumenschlich es zuging in der Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts.

Das anspruchsvolle Thema kann naturgemäß nicht auskommen ohne längere Zitate aus den einschlägigen Schriften, auch nicht ohne manchmal umständliche Paraphrasen des dort Dargelegten, und offenbar geht es auch nicht ohne sechsunddreißig Seiten Anmerkungen. Geier bemüht sich sehr, es immer wieder menscheln zu lassen, und zudem zieht er immer wieder erhellende Verbindungslinien zu vielen Debatten unserer Tage. Letztlich aber bleibt auch dieser höchst kompetente Fachmann ein akademischer Lehrer, und kaum jemals wurde einem deutschen Dozenten feuilletonistischer Charme oder stilistische Eleganz nachgesagt. Beides ist auch Manfred Geier nicht wirklich gegeben, und so wird die Lektüre seines verdienstvollen Bandes auf weite Strecken zu einer zähen und mühsamen Angelegenheit. Lohnend ist sie dennoch.

Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012: Rowohlt Verlag. 415 S.

Diesen Anblick, meine Kinder!Die Schweiz-Reisen der Sophie von La Roche

Sophie von La Roche, die Großmutter von Clemens Brentano und dessen Geschwistern, starb am 18. Februar 1807. Die 1730 in Kaufbeuren geborene Schriftstellerin, seit ihrer Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) eine Größe der deutschsprachigen Literatur, darf man getrost als eine zwar adelige, in ihrem Habitus aber doch recht bürgerliche Schwäbin des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Wer Armin Strohmeyrs Biografie der Jugendfreundin des im nahen Biberach geborenen Christoph Martin Wieland liest, der begegnet zuallererst einer grundsoliden, ehrenwerten und tüchtigen Frau – und bald auch einer herzensguten Mutter. Sophie von La Roche war aber zudem eine ehrgeizige, fleißige und mehr als nur talentierte Verfasserin von Prosaliteratur fast aller Art. Sie gab, durchaus außergewöhnlich für ihre Zeit, die Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter heraus, und sie war eine Briefstellerin von Format. Dennoch sind sie und ihre Schriften so gut wie vergessen in einer Gegenwart, die oft schon mit dem Namen Wieland nichts mehr zu verbinden weiß. Dass sich das mit dem zweihundertsten Todestag plötzlich ändert, ist trotz aller verlegerischen Bemühungen nicht sehr wahrscheinlich. Liest man aber in ihren anschaulichen, anekdotenreichen und elegant formulierten Reisetagebüchern, wird man zugeben müssen: Diese Schriftstellerin hat mehr verdient als einen Gnadenplatz in den Kellern der Literaturgeschichte.

Das Reisen war zu ihrer Zeit beschwerlicher und anstrengender als heute. Und kostete schon damals viel Geld. Man reiste nicht zur Erholung, sondern um seine Persönlichkeit zu bilden, um Land und Leute kennenzulernen, um in der Fremde lebende Freunde oder manche im europäischen Geistesleben bekannte Figur aufzusuchen. Die Autorin musste vierundfünfzig Jahre alt werden, ehe sie am 25. Juni 1784 mit ihrem sechzehnjährigen Sohn Franz aus Speyer abreisen und wenige Tage danach bei Schaffhausen Schweizer Boden betreten konnte. Gleich hinab zum Rheinfall! Überwältigt schreibt die empfindsame Rousseau- und Haller-Leserin in ihr an die daheimgebliebenen Sprösslinge gerichtetes Tagebuch: »Diesen Anblick, meine Kinder! kan man nicht beschreiben; aber ein vorher nie bekanntes Gefühl von der Macht und Schönheit der Natur durchdringt hier die Seele.« Zürich schätzt sie aus einem anderen Grund – dort leben »Männer, welche alle Sprachen und Wissenschaften besitzen, und Patrioten, welche für ihr Vaterland alles thun«. Sie hat freundschaftlichen Umgang mit den Familien der Gessner, Usteri, Hirzel oder Füssli. »Wir betrachteten auch das vom Hause Escher erbaute Wasserrad.« Luzern und sein See erwecken ihre Ehrfurcht, und in Sursée nimmt die Reisende sogar an einem »Patriotenfest« teil.

»Nun sind wir an dem Ort unserer Bestimung«, beginnt der Eintrag vom 17. Juli, in dem Lausanne ebenso prägnant beschrieben wird wie bald darauf Genf. Der Besuch in Fernay gibt Gelegenheit, ihren durchaus ambivalenten Eindruck von Voltaire näher darzulegen. Auf nach Savoyen! Schlafen wird sie in »Chaumoni« nur wenige Stunden – starke Männer tragen Sophie hinauf zum Gletscher des Montblanc: »Man lernt an Allmacht glauben, wenn man hier steht, und die Felsen sieht. Wie klein, wie niedrig scheint aller Stolz der Welt, alles, wovon wir eine grose Idee hatten.« Dramatisch verstärkt wird das beinahe zu einer Art mystischer Gotteserfahrung ausartende Naturerlebnis durch ein kräftiges Gewitter, bei dem der mutigen Reisenden dann doch »ein wenig schauerte«. Doch bald ist man wieder in der »herrlichen Landschaft« rund um den Genfer See, und über Bern gelangt Sophie nach Basel, wo Jacob Sarazin sie beherbergt. »Alle Vormittage besuchten wir Merkwürdigkeiten der Stadt, und des Nachmittags führten die freundlich edlen Sarazins uns in der schönen Nachbarschaft umher, nach Wendek zu Merians und zu Herrn Battier auf dem Schlosse Mönchenstern.« Danach aber wird Sohn Franz der »Lehre und Sorge« von Gottlieb Konrad Pfeffel und seiner Militärschule in Colmar überlassen.

Die Schriftstellerin hat die Schweiz noch zweimal besucht. Über ihre Reise im Jahr 1789 hat sie kein Tagebuch geführt, wohl aber über ihre dritte, vom Tod ihres Franz überschattete Reise, auf der die Einundsechzigjährige massiv mit den Folgen der Revolution in Frankreich konfrontiert wird und darüber intensiv nachdenkt. Längere Zeit ist sie Gast bei Carl von Bonstetten und Charlotte von Wattenwyl: »Wie viel ist Lausanne und Nyon für mich geworden, indem ich meine Menschenkenntnis und Geistesruhe vermehrte und befestigte!« Die Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise (1793) bieten mehr philosophische Betrachtungen als konkrete Schilderungen von Land und Leuten – und sie illustrieren das Ende ihrer Aufklärungs-Zuversicht. Wie Sophie von La Roche dann über Neuenburg, Aarau und Zürich eilig zurückreist und bald wieder am Rheinfall sitzt, nun aber einsam, nachdenklich und melancholisch, liest man nicht ohne Rührung. Alt war sie geworden – die Zeit nach 1789 wurde die ihre nicht mehr.

Sophie von La Roche: Reisetagebücher. Aufzeichnungen zur Schweiz, zu Frankreich, Holland, England und Deutschland. Ausgewählt und mit Einführungen versehen von Klaus Pott und Charlotte Nerl-Steckelberg (Bibliotheca Suevica 21). Eggingen 2006: Edition Isele. 443 S.

Sophie von La Roche: Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Helga Meise unter Mitarbeit von Claudia Bamberg und Andreas Jacob. Königstein im Taunus 2005: Ulrike Helmer Verlag. 311 S.

Armin Strohmeyr: Sophie von La Roche. Eine Biografie. Leipzig 2006: Reclam Leipzig. 303 S.

Goethes allzu braver Schweizer FreundEine solide Biografie bringt uns Johann Heinrich Meyer näher

Das erste umfassende biografische Porträt von Goethes fast lebenslangem Freund, dem Maler und Kunstkenner Johann Heinrich Meyer, ist eine erfreulich solide Sache, ganz im Gegensatz übrigens zu einer neuen Merck-Biografie aus dem gleichen Verlag. Sein Autor, der Germanist und Historiker Jochen Klauss, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Goethe-Nationalmuseum in Weimar und ein durch zahlreiche Goethe- und Weimar-Studien ausgewiesener Kenner der Materie, und er kann so lesbar, ja teilweise spannend schreiben, dass Übersetzungen aus dem Germanistischen ins Deutsche an keiner Stelle notwendig sind. Und flüssig, ja spannend zu schreiben ist kein geringes Kunststück bei einem so verdienten wie bedächtigen Mann wie dem »Kunschtmeyer«. Spannend ist auf jeden Fall die Epoche, die hier, manchmal ein wenig zu heimatkundlich auf Weimar fixiert, souverän vor Augen geführt wird. Klauss zitiert dabei ungewöhnlich viel, ohne dass dies den Fluss seiner biografischen Prosa groß störte, und was wirklich zu viel gewesen wäre, hat er in den umfangreichen, zur wissenschaftlichen Brauchbarkeit seines Buches ganz wesentlich beitragenden Anhang verbannt. Die Wissenschaftler dürften an dieser akkuraten Darstellung wenig auszusetzen haben und wohl hauptsächlich gerade das kritisieren, was das Buch für ein breiteres Publikum interessant macht – die beherzten Urteile des Biografen, die Farbe und Schwung in sein Werk bringen. Was dem »Kunschtmeyer« gewiss nicht schaden kann. Denn weshalb soll man sich ausgerechnet mit diesem am 16. März 1760 in Stäfa am Zürichsee geborenen und am 14. Oktober 1832 in Jena gestorbenen Künstler näher beschäftigen? Immerhin hat der Mann nicht den allerbesten Ruf, was Jochen Klauss gleich auf den ersten Seiten unter der Überschrift »Der Langweiler« aufgreift, ja aufgreifen muss, um uns dennoch für seinen Gegenstand einzunehmen. Er sieht in den teilweise gehässigen Vorurteilen gegen den »wichtigsten und verlässlichsten Freund und Berater« Goethes die Ursache dafür, dass es bislang keine umfassende Meyer-Biografie gibt, sondern nur ein paar Spezialstudien über den Maler und Kunsttheoretiker. Klauss hingegen verspricht, sich dem »Menschen« Meyer zuzuwenden, seine Rolle innerhalb der Weimarer Szene und vor allem seinen Anteil am Leben Goethes zu beleuchten und darüber hinaus den Wohltäter der Stadt Weimar sowie den Schweizer Kulturbotschafter gebührend zu würdigen. Dabei sollen, so verspricht der Autor weiter, Leben und Leistungen Meyers sachlich geschildert und individuell gewürdigt werden, damit dieser wackere Mann in Zukunft auch ohne den ständigen Seitenblick auf Goethe als bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit gelten möge. Ein hoher Anspruch, den Klauss da in seiner Einleitung aufbaut. Ein zu hoher?

Kenntnisreich schildert Klauss die Kindheit und Jugend Meyers in Stäfa und Zürich – und das bei dürftigster Quellenlage. 1776 jedenfalls gibt seine Mutter Dorothea Billeter den zeichenbegabten Knaben bei dem Formenschneider und Maler Johannes Koella aus Stäfa in die Lehre, 1778 wechselt er zu Johann Caspar Füssli in die Kunst- und Gelehrtenmetropole Zürich, wo der junge Mann seine entscheidende geistige Prägung erfährt. Die Abschnitte über Zürich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, über die Lehr- und Gesellenzeit Meyers und über sein bildungshungriges Hineinwachsen in die griechische Kunstwelt Johann Joachim Winckelmanns gehören zu den besten und instruktivsten Teilen dieser Biografie. Ihr Fazit lautet: »Meyer war ein Kind seiner Zeit; seine charakterliche Entwicklung war abgeschlossen, bevor Goethe ihm begegnete.« Bald geht es zum ersten Mal nach Italien: »Die deutsche Künstlerkolonie in Rom hatte, als Meyer und Koella 1784 zu ihr stießen, schon feste Regeln und Traditionen entwickelt, in die sich die Neuankömmlinge glücklich einfügten.« Meyer widmet sich mit unerschütterlichem Ernst seinen Kunststudien und gilt den leichtsinnig-lebenslustigen Kollegen bald als ungeselliger Eigenbrötler. Dass er jedoch als disziplinierter Autodidakt konsequent seinen künstlerischen Zielen zustrebt, »immer fest, immer sachlich« – genau das bringt ihm die Bewunderung des 1786 nach Rom gelangten Goethe ein. Klauss bezeichnet dieses Zusammentreffen, dessen in der Italienischen Reise geschilderte Umstände nebenher ein wenig korrigierend, ohne Umschweife als »Glücksfall« und »Lebenswende«, und er hat damit vollkommen recht. Denn: »Das 1787 hier beginnende innige Verhältnis – seltener Fall in Goethes Leben – sollte über vierzig Jahre lang harmonisch und ungetrübt bleiben«. Zunächst freilich hofft Meyer auf Goethes gute Beziehungen, und er hofft nicht vergebens. Der Dreißigjährige erhält ein zwar bescheidenes, aber sicheres herzoglich-weimarisches Stipendium, das ihm den weiteren Italienaufenthalt und seine Kunststudien ermöglicht und eine solide Zukunft in Thüringen eröffnet.

Im November 1791 trifft Johann Heinrich Meyer in Weimar ein. Er wird sogleich in die Goethesche Familie aufgenommen und damit in die bessere Gesellschaft des Städtchens. Er erwirbt sich beim Umgestalten des Hauses am Frauenplan große Verdienste und ist auch später als kompetenter Bauleiter tätig. »Keine der bedeutenden klassizistischen Baumaßnahmen in Weimar wurde ohne ihn, ohne seine aktive Mitarbeit durchgeführt.« Der Hausfreund fungiert als beständiger und verlässlicher Beschützer Christianes und des kleinen August, wenn das Familienoberhaupt auf Reisen ist – und er zeichnet und malt, unter anderem das bekannte Aquarell Christiane und August. Er malt Goethe derart objektiv und naturgetreu, dass der Freund zusammenzuckt – so dick ist er und so grämlich schaut er drein? Außerdem betätigt sich Meyer als Kunstschriftsteller und wird Lehrer an der »Freien Zeichen-Akademie«, später gar ihr Direktor. Goethe schreibt am 14. September 1795 an Schiller: »Es ist ein herrlicher Mensch.« Ende 1795 geht es ein weiteres Mal nach Italien – ohne Meyer hätte Goethe seine Lebensbeschreibung Benvenuto Cellinis nicht verfertigen können. Aber Meyer wird schwer krank in Florenz und rettet sich im Sommer 1797 nach Stäfa, wo bald auch Goethe eintrifft. Was die beiden im Zürcher Gasthof »Zum Schwert«, auf Johannes Eschers Landgut bei Herrliberg, in der »Krone« zu Stäfa, am Gotthard und anderswo treiben, ist gut belegt, und Klauss erzählt es sehr anschaulich. Ende 1797 sind die beiden wieder in Weimar, und bald machen sie sich an die Vorbereitung der Kunstzeitschrift Propyläen, in der sie das umfangreiche Material ihrer italienischen Kunststudien publizistisch ausschlachten wollen – und sich dabei bald in jahrelange Querelen mit den Romantikern verstricken, deren heftigste anti-klassizistische Zornesausbrüche sich gegen Meyer richten werden. Doch Meyer bleibt, auch in den späteren Essays und Polemiken in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung oder, nach 1816, in Ueber Kunst undAlterthum, fest bei seinen Grundüberzeugungen. Herzog Carl August betraut ihn mit der Aufsicht über die künstlerische Ausgestaltung des Residenzschlosses, und Meyer hat, wie Klauss hervorhebt, einen wesentlichen und meist unterschätzten Anteil am Zustandekommen dieser architektonischen Perle. 1803 heiratet er eine Adelige, Amalie Caroline Friederike von Koppenfels. Ihre zweiundzwanzig Ehejahre müssen sehr glücklich gewesen sein, auch ohne Kinder, und wenn es Meyer weniger gut geht, hilft stets die Heimatluft Stäfas. Er ist bis zu seinem Tod ein anerkanntes Mitglied der so ehrbaren wie klatsch- und intrigenreichen Weimarer Gesellschaft, die er mit lakonischen Äußerungen, trockenen Kommentaren und treffenden Aperçus zu unterhalten und bisweilen durch Kostproben seines Heimatdialekts zu entzücken weiß – Johanna Schopenhauer und andere Zeugen berichten oft Köstliches über den drolligen Humor des »Kunschtmeyer«, den Klauss auch als Vertrauten der jungen russischen Großfürstin Maria Pawlowna porträtiert, der Enkelin der Zarin Katharina II., die seit 1804 in Weimar residiert und sich mit Meyers Hilfe den humanistischen Geist des klassischen Weimar anzueignen sucht. Für ihre drei Mädchen entsteht unter Meyers Leitung der »Prinzessinnengarten« in Jena, und auch in Weimar tut Meyer viel Gutes, in künstlerischer wie auch in sozialer Hinsicht. Nach dem Tod der geliebten Frau gönnt er sich noch eine Reise in die Heimat und eine nach Karlsbad – nach dem Hinschied Goethes aber mag er nicht mehr so recht auf dieser Welt sein, und im Prinzessinnenschlösschen zu Jena tut er, dreiundsiebzigjährig, kurz danach seinen letzten Atemzug.

Ein erfülltes Leben, zweifellos. Und doch erinnert man sich, auch nach der Lektüre dieses verdienstvollen, eine grandiose Lebensleistung zu Recht ausführlich würdigenden Buches, an Johann Heinrich Meyer weiterhin nur in Bezug auf Goethe. »Er war die Inkarnation jener Goetheschen Idee vom Lehrer, Diener und Freund in einer Person«, meint sein Biograf, der seine in der Einleitung gemachten Versprechen fast alle einlösen kann – nur das mit dem Schweizer Kulturbotschafter wird, über das Reden im Dialekt hinaus, nicht recht deutlich. Dennoch scheint der Autor dem behaupteten Eigenwert seines Meyers nicht ganz zu trauen. Klauss endet sein detailreiches und auch sehr liebevolles Buch mit einem Satz, der seinen Protagonisten wiederum in den Schatten eines Größeren stellt, aus welchem er ihn doch eigentlich zu befreien gedachte: »Wahrscheinlich war Johann Heinrich Meyer in seiner Standhaftigkeit und Stetigkeit genau der Mensch, den der sich alle zehn Jahre wie eine Schlange häutende Dichter brauchte.«

Jochen Klauss: Der »Kunschtmeyer«. Johann Heinrich Meyer: Freund und Orakel Goethes. Weimar 2001: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger. 358 S.

Weltliteratur?Dieter Lamping rückt einiges zurecht

Der in Mainz lehrende Komparatist Dieter Lamping ist einer der nicht eben zahlreichen Literaturwissenschaftler, die den unübersehbaren Prozess der Internationalisierung der deutschsprachigen Literatur ernst nehmen und ihn in den Kontext der europäischen Literaturgeschichte zu stellen versuchen. Kein Wunder, dass er dabei bald auf Goethe und dessen bis heute so wirkungsmächtigen Begriff der »Weltliteratur« stieß. Denn diesem Konzept ist es im Grunde zu verdanken, dass wir die Literatur nicht für wesentlich monokulturell oder gar national halten. »Weltliteratur ist eine der großen Ideen des 19. Jahrhunderts – und eine der wenigen, die die Epoche ihrer Entstehung überlebt haben«, lautet der erste Satz des Buches. Was aber meint man heute damit, wenn man, wie es in der Literaturwissenschaft ebenso wie in der Literaturkritik allenthalben geschieht, von »Weltliteratur« spricht? Welchen Nutzen, welchen Erklärungswert hat der Rekurs auf Goethes Konzept? Und ist es überhaupt ein Rekurs, oder hat die gängige Verwendung des Begriffs nur noch wenig mit dem zu tun, was der Dichterfürst am 31. Januar 1827 im Gespräch mit Eckermann äußerte? Oft genug sind Goethes Worte zitiert worden: »National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.« Diesen Worten, diesem Begriff und mehr noch dessen Karriere im 19., 20. und auch 21. Jahrhundert widmet sich Lampings im besten Sinne philologische, weil weit über die Philologie hinausweisende Untersuchung: »Die Idee der Weltliteratur in ihren wichtigsten, literarhistorischen wie literaturtheoretischen, aber auch ideengeschichtlichen Aspekten mit der gebotenen Knappheit darzustellen ist das Ziel dieses Buches. Dabei versucht es, nicht nur zu fragen, wie sie verstanden wurde, von ihrem Urheber und von seinen Lesern, sondern auch, wie sie noch immer sinnvoll zu verstehen sei.«

Naturgemäß geht es zuerst um Goethe, dessen Plädoyer für »Weltliteratur« den alten Dichter als einen weltoffenen, scharfsinnigen und der Zukunft zugewandten Beobachter seiner Epoche ausweist. Doch schon bei ihm bleibt der Begriff unscharf, und an keiner Stelle hat er systematisch entwickelt, was er eigentlich unter »Weltliteratur« verstanden wissen wollte. Als »formelhafte Aperçus« implizieren Goethes diesbezügliche Bemerkungen mehr als sie explizieren. In den drei der Einleitung folgenden Abschnitten seiner Studie stellt Lamping den Weimarer Altmeister in den Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit und diskutiert die weitreichenden Implikationen der keineswegs nur angelesenen Internationalität des Divan