Blaue Nächte - Rebekka Knoll - E-Book
SONDERANGEBOT

Blaue Nächte E-Book

Rebekka Knoll

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es gibt sie, die ganz große Liebe – man muss nur um sie kämpfen

Deutschland in den Sechzigern: Lotte und Emil sind noch Kinder, als sie sich ineinander verlieben. Doch als Lottes Familie fortzieht, verlieren sie sich aus den Augen. Jahre später begegnen sie sich im Tanzlokal Blue Nights wieder. Zwischen eng umschlungenen Paaren in Bluejeans und Minikleidern versprechen sie sich, dass sie sich genau hier wiederfinden werden, sollten sich ihre Wege je erneut trennen …

Fünfzig Jahre später jobbt die junge Milena im Blue Nights. Eines Abends begehrt ein alter Mann verzweifelt Einlass: Er behauptet, dass auf der Tanzfläche jemand auf ihn warte. Milena weist ihn ab, doch seine Bitte lässt sie nicht los. Sie taucht ein in die Vergangenheit des Blue Nights – und stößt auf eine bewegende Liebesgeschichte …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rebekka Knoll, 1988 in Kassel geboren, studierte in Erlangen, Bern und Berlin. Sie hat bereits mehrere Romane und ein Jugendbuch veröffentlicht und wurde mit dem Kurd-Laßwitz-Stipendium der Stadt Gotha ausgezeichnet. Sie arbeitet in Kassel, lebt auf dem Land und fühlt sich von alten Tanzlokalen magisch angezogen. Blaue Nächte ist ihr erster Roman im Penguin Verlag.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Rebekka Knoll

Blaue Nächte

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2020 Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd

Umschlagmotiv: Gettyimages / H. Armstrong Roberts und www.buerosued.de

Redaktion: Annika Krummacher

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23070-8V003

www.penguin-verlag.de

PROLOG

Die Menschen würden sich viel öfter küssen, wenn sie häufiger tanzen würden. Wenn ich so an dich denke und an mich, an uns in unserem Tanzlokal, wenn ich mich daran erinnere, wie wir uns an den Händen gehalten, wie unsere Haare gewirbelt, wie deine Küsse geschmeckt haben, dann bin ich mir sicher. Die Menschen wären glücklicher.

Das waren wir doch, oder? Glücklich.

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch, vor mir liegt mein Brief an dich, ich trinke Kaffee. Und wenn ich in meine Tasse schaue, wenn ich genau hinsehe, dann kann ich in der spiegelnd schwankenden Oberfläche dein Gesicht erkennen. Deine Perlenohrringe, deinen schwarzen Lidstrich, deinen blonden Pony. Ich nehme mir einen Kaugummi aus der Packung und stecke ihn mir in den Mund. Da lachst du.

»Wie ich diesen bittersüßen Geschmack von Kaugummi und Kaffee liebe«, sagst du leise.

Hast du das jemals gesagt? Deine Stimme klingt warm und tief. Aber ich weiß gar nicht, ob sie das wirklich war. Wie hast du damals geklungen? Wie waren deine Augen geschwungen unter dem Lidstrich? Wie hoch war deine Stirn unter dem Pony? Vielleicht ist eine Erinnerung wie ein Foto. Wenn man es zu häufig hervorholt und in die Sonne hält, um auch jedes Detail zu erkennen, dann wird es erst gelb und dann blass. Irgendwann kann man nur noch die Umrisse erkennen. Dann verschwinden auch die, und am Ende hält man ein Papier in der Hand und vergisst, mit jedem Wimpernschlag etwas mehr, warum man es noch festhält. Warum man es nicht einfach loslässt. Schließlich fällt es und segelt durch die Luft, immer tiefer hinab.

Weißt du noch …? Ich muss lächeln. Unser Tanzlokal war voll von Tänzern und Musik. Ich wusste, du bist schon da, als ich noch oben vor dem Eingang stand. Die großen Buchstaben über der Tür sahen in dieser Nacht besonders blau aus, der Vollmond leuchtete auf sie herab. Das Mädchen am Einlass – wie hieß es noch gleich? Marianne? Marlene? – lächelte mir zu. »Ich wünsche eine azurblaue Nacht.« Sie zwinkerte. Das sagte sie gern. Dabei wusste hier wahrscheinlich niemand, wie genau Azurblau aussah.

Ich ging an ihr vorbei durch die geöffnete Tür, den Gang, die Treppe hinunter, es war eng und laut.

»Du warst zu spät.« Lächelst du? Ich kann dein Gesicht in meiner Tasse nicht richtig erkennen.

Ich war tatsächlich zu spät.

»Es tut mir leid«, sage ich, aber du zuckst nur mit den Schultern.

Es tut mir wirklich leid – all die Jahre schon. Es tut mir so leid, dass mein Mund noch heute ganz trocken wird, wenn ich daran denke. Dass sich mein Magen zusammenzieht und mein Kopf glüht. Es gibt so vieles, das mir leidtut. Doch wie solltest du mir das auch glauben? Ich bräuchte viel mehr Münder, viel mehr Mägen, viel mehr Köpfe, um wirklich zu spüren, wie leid es mir tun müsste.

Ich bin also die Treppe hinuntergestiegen. Und mit jeder Stufe bin ich ein Stück tiefer in diese andere Wirklichkeit vorgedrungen.

Die Leute lächelten sich an, ihre Füße wirbelten über das Parkett. Sie sahen so weich aus. I’ll tip my hat to the new constitution. Take a bow for the new revolution. Hier unten war alles weich. Und gleichzeitig laut, nah. Wie nah wir uns waren. Und trotzdem konnten wir die Sorgenfalten der anderen nicht sehen. Wie schön wir waren.

Ich entdeckte dich an der Bar. Wie jede Nacht saßest du auf einem der Hocker, nipptest an einem Martini, die Beine überschlagen. Ich wich zwei Tänzern aus, vielleicht drei, dann stand ich vor dir. Wenn ich dir in die Augen sah, war da mein Spiegelbild, aber es hatte, anders als ich, keine Sorgen. Glatte Stirn, runde Augen. Meine Stirnfalte, zwischen meinen Augenbrauen, habe ich verloren in deinem Blick.

Wir teilten uns eine Zigarette, wir tanzten, und dann küssten wir uns. Deine Arme lagen auf meinen Schultern, meine Hände an deinen Hüften. Deine Lippen schmeckten nach Kaffee und Kaugummi. Die Beatband spielte ein langsames Lied, ich weiß nicht mehr welches, ganz leicht schwangen wir mit, im Takt. Alle sind sie mitgeschwungen, alle haben sie sich geküsst. Es war so einfach. Hier unten hätte ich alles geschafft. Ich hätte meine Versprechen gehalten, jedes einzelne.

»Du willst also sagen«, flüsterst du jetzt, »du willst also sagen, dass wir uns an diesem einen Abend geküsst haben?«

Ich lege den Kopf schief. Haben wir das getan? Aber natürlich, ich sehe noch genau, wie ich an Marianne oder Marlene vorbeigegangen bin, die Treppe hinunter. I’ll tip my hat to the new constitution. Du saßest an der Bar. Du schmecktest nach Kaffee und Kaugummi. So war es doch.

»Du willst also sagen, dass du mich dort gesehen hast?« Jetzt verschränkst du die Arme.

Die Einlassdame hat mir eine azurblaue Nacht gewünscht und gezwinkert. Und dann? Dann wollte ich auf dem schnellsten Weg zu dir, und dein Kleid – war es nicht azurblau?

Ich sehe dich kaum noch, aber ich glaube, jetzt schüttelst du den Kopf. »Du kannst nicht wissen, welche Farbe mein Kleid hatte. Du kannst das Lied nicht kennen, das gerade gespielt wurde. The Who haben »Won’t Get Fooled Again« erst Jahre später veröffentlicht. Du bringst alles durcheinander, du bist gar nicht dort gewesen, Emil. Du bist nicht gekommen.«

Mein Kopf glüht, mein Magen zieht sich zusammen. Hast du recht?

»Ich wünsche eine azurblaue Nacht«, hat das Mädchen an der Kasse gesagt und dann hinzugefügt:

»Du siehst nicht gut aus, Emil.«

Von unten drangen die Stimmen der Coverband hinauf. Sangen sie tatsächlich: Take a bow for the new revolution?

»Es geht mir auch nicht gut«, sagte ich.

»Bist du dir sicher, dass du heute tanzen willst?«

»Nach Tanzen ist mir nicht zumute.«

»Das habe ich von dir noch nie gehört.«

Vielleicht habe ich mir die Augen gerieben oder die feuchten Hände an meiner Hose abgewischt, ich bin mir nicht sicher.

»Ich sollte gehen.«

»Was ist passiert?«

Ich habe den Kopf geschüttelt, zu den blauen Buchstaben über dem Eingang hinaufgesehen. Wie sie im Mondlicht leuchteten.

»Emil, was hast du?«

»Ich muss jemandem sehr wehtun.«

»Dann geh rein und entschuldige dich.«

»Dafür gibt es keine Entschuldigung.«

Und so war es. Es gab keine Entschuldigung für das, was ich tun würde.

»Wenn du Lotte siehst, sagst du ihr, dass es mir leidtut?«, bat ich das Mädchen am Einlass, und dann habe ich mich umgedreht und bin dorthin gegangen, wo die Nacht grau war, wo keine Nacht mehr azurblau werden würde.

Du bist verschwunden, ich bin wieder allein in meiner Kammer. Ich greife nach der Tasse. Inzwischen ist der Kaffee kalt geworden, aber ich trinke ihn trotzdem aus und stelle mir vor, du wartest noch immer dort unten im Tanzlokal. Die Beine übergeschlagen, in der Hand einen Martini, dein Kleid ist azurblau. Wie lange ich dich dort habe warten lassen? Wie viele Nächte du dagesessen haben musst, wie oft du zur Treppe gesehen hast? Ich stelle mir vor, wie sich das Lokal verändert, in all den Jahren. Wie es zum Klub wird. Die Bühne verschwindet vielleicht, die langen Tische, die Stühle. Die Lichter werden bunter, eine Nebelmaschine ersetzt den Zigarettendunst von früher.

Ich stelle mir vor, wie sich all die Menschen um dich herum verändern. Wie die langen Ärmel der Minikleider kürzer werden, wie die Röcke sich in Hosen verwandeln, wie die Oberteile bauchfrei werden und die Ponys den Mädchen übers Gesicht wachsen, wie die Farbe ihrer Haare greller wird.

Auch die Musik ändert sich, die Musiker verschwinden, die Instrumente lösen sich auf. Wo einst das Schlagzeug zitterte, steht jetzt ein DJ-Pult. Ein Mann mit dicken Kopfhörern reißt seine Arme in die Luft. Die Tänzer machen es ihm nach. Sie stehen nicht mehr eng beieinander, sie scheinen sich nicht mehr so nahe zu kommen wie wir damals.

Nur du, du sitzt noch immer am Tresen auf deinem Hocker. Sogar jetzt, in diesem Augenblick. Du hast noch immer deinen blonden Pony, deinen Lidstrich. Dein Minikleid mit den langen Ärmeln ist azurblau. In diesem Moment sitzt du hier, nippst am Martini und siehst durch die vielen Partygäste hindurch zur Treppe.

Ich habe so viele Jahre auf den heutigen Tag gewartet, dass ich alt geworden bin. Ich sehe auf die Uhr. Es wird Zeit. Ich stehe auf, nehme meine Jacke, meinen Hut und öffne die Tür. Es regnet, der Wind heult, die Nacht ist grau. Aber das ist nicht schlimm. Ich bin zwar alt, doch du sitzt noch immer am Tresen, du bleibst. Es ist endlich so weit, es ist endlich die richtige Nacht. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Ich gehe durch die nassen Straßen, halte mein Gesicht in den Regen, und meine Schritte sind groß. Ich bin spät dran, das weiß ich. Aber diesmal werde ich kommen. Diesmal werde ich an der Einlassdame vorbeigehen, unter den blauen Buchstaben hindurch, die Treppe hinunter. Diesmal werde ich dich, zwischen den Tänzern, im Nebel sehen. Diesmal wirst du deine Arme auf meine Schultern legen, ich werde dich an mich heranziehen. Wir werden tanzen. Meine Sorgenfalten werde ich verlieren in deinem Blick. Wir werden weich sein, wir werden schön sein, und dann werden wir uns küssen.

Ich biege um die Ecke. Und ganz hinten, am Ende der Straße, kann ich schon die Buchstaben erkennen. Durch die Nacht, den Regen, leuchten sie mir entgegen. Fast kann ich die beiden Worte entziffern: »Blue Nights«, flüstere ich. Endlich. Diese Nacht wird endlich azurblau.

1. KAPITEL

Dumpf vibrierte der Bass in ihrer Brust. Dudumm. Milena hasste dieses Gefühl. Als hätte etwas Fremdes von ihr Besitz ergriffen, ein Parasit, ein Virus. Es drang über ihre Haut ein. Dudumm.

Fraß sich durch ihr Fleisch.

Dudumm.

Bis zu ihren Organen. Hier nistete es sich ein, wollte den Rhythmus ihrer Atmung stören, das Pumpen ihres Herzens. Die Musik wollte Milena aus dem Gleichgewicht bringen. Dabei musste sie gerade jetzt aufrecht dastehen.

»Was soll die Scheiße?« Tropfen von Speichel landeten auf ihrer Wange.

Was hatte ihre Mutter gestern gesagt? Wahre den nötigen Abstand. Sprich ruhig, aber bestimmt. Milena versuchte es.

»Heute Abend lasse ich dich nicht rein.«

»Was sagst du?«, brüllte der Typ. Zerfetzte Jeansjacke, Hose mit Bierflecken.

»Lass gut sein«, sagte sein Kumpel, an dem er sich festhielt.

»Nein!«, rief der Erste. »Ich versteh die Alte nicht!«

»Du bist zu betrunken«, erklärte Milena. »Du kommst hier nicht rein.«

Noch vor wenigen Tagen hatte sie es sich cooler vorgestellt, einen solchen Satz zu sagen. In ihrer Vorstellung hatte sie die Arme verschränkt, plötzlich eine breitschultrige Lederjacke angehabt und gebrochen Deutsch gesprochen. So wie es die Türsteher in Filmen taten. Doch Milena war einfach kein Türsteher, nicht einmal einer, der einen Türsteher in einem Film spielen könnte. Sie war Milena: schmale Schultern, nervöse Lippen, zittrige Finger. Es war ihr zu laut hier, die Musik, die Menschen, Milena gehörte nicht hierher. Gleich würde der Betrunkene seine Hand zur Faust ballen und Milena ins Gesicht schlagen.

Nicht ausweichen, hatte ihre Mutter gesagt. Bleib freundlich.

Milena lächelte und trat einen Schritt vor.

Leise fragte sie: »Darf ich dich anfassen?«

Der Typ starrte sie an. Kurz wartete Milena noch, dann, langsam, vorsichtig, legte sie ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wir wollen doch hier keinen Streit. Du gehst jetzt nach Hause und kommst einfach morgen Abend wieder. Okay?«

Er starrte sie noch immer an, runzelte die Stirn.

»Komm schon.« Sein Kumpel zog ihn vorsichtig von Milena weg.

Sie atmete tief durch, schaute den beiden nach, wie sie über die dunkle Straße schwankten, vorbei an der Schlange, die sich vor dem Blue Nights gebildet hatte. Es regnete. Der Beton unter den Füßen der immer kleiner werdenden Männer glänzte schwarz, in den Pfützen tanzte das Wasser. Waren es nur die Regentropfen, die es zum Zittern brachten? Oder ließen auch die Pfützen sich vom Bass aus dem Inneren des Blue Nights lenken?

Milena wünschte, Paul wäre jetzt hier. Er würde am Ende der Straße im Schein der Laterne auftauchen – dunkle Lederjacke und helle Augen. Er würde lächeln, die Arme ausbreiten. Wow, würde er rufen. Wie du den in den Griff gekriegt hast!

Doch die Straße war voller fremder Menschen. Milena würde ihm die Szene später beschreiben, irgendwann, wenn diese Nacht einmal vorbei wäre. Bei Tageslicht würde sie sich in den Arm nehmen lassen. Sie würde ihm in die Seite kneifen. Mach dich nicht über mich lustig!, würde sie sagen, und er würde seine Hand auf ihre Wange legen und sagen: Ich habe mich noch nie über dich lustig gemacht. Milena bekam eine Gänsehaut, wenn sie an diese Worte dachte, an Pauls raue Stimme.

»Kannst du wieder übernehmen?«, bat sie den großen Sven, der wie jede Nacht auf seinem Barhocker neben der Kasse Stellung bezogen hatte.

»Klar«, antwortete der. Sven sah viel eher aus wie ein Türsteher: breitschultrig, muskulöse Oberarme, markante Wangenknochen. Er drehte sich zur Schlange vor dem Klub und winkte mit zwei Fingern eine kleine Gruppe laut lachender Mädels zur Tür. Noch beim Hineingehen reckten sie immer wieder die Hälse nach ihm.

Milena ging ein paar Schritte, suchte sich ihren Weg zwischen den Pfützen und stand schließlich mitten auf der Straße, drehte sich um. Von hier aus konnte sie den Eingang des Tanzklubs sehen. Die große, geschwungene Schrift über der Tür. Blue Nights – wie sie diese zwei Worte immer gehasst hatte. Als Kind hatte sie sogar die Farbe Blau gehasst, sie hatte sie einfach weggelassen. Auf all ihren Bildern war der Himmel so gelb wie die Sonne, das Meer war so rot wie die Luftmatratzen, die darauf schaukelten, sogar ihr blaues Haus malte sie haustürbraun und Mamas blaues Lieblingskleid perlenohrringweiß.

Milena hasste die Nacht. Sie ging vor Sonnenuntergang schlafen und wollte erst aufwachen, wenn es wieder hell wurde. Ihr Leben fand tagsüber statt, im Sonnenlicht, während die Vögel zwitscherten und die Hunde bellten, auch noch, als sie längst Teenager war, ihre Freundinnen Übernachtungspartys feierten, ausgehen wollten und von bunten Cocktails schwärmten. Milena blieb zu Hause – mit der Nacht wollte sie nichts zu tun haben.

Alles wegen des Tanzlokals Blue Nights, das früher, als Milena noch klein war, ihrem Vater gehört hatte und das nach seinem Tod in den Besitz der Mutter übergegangen war. Von außen sah es aus wie ein gefräßiges Tier: Nacht für Nacht riss es das Maul auf und verschluckte Mädchen, Jungs, Väter und Mütter.

Milena war fünf Jahre alt gewesen, als ihr Papa aus einer seiner unzähligen blauen Nächte nicht mehr zurückgekehrt war. Ihre Mutter hatte von einem Unfall gesprochen, von einem betrunkenen Autofahrer und einer gefährlichen Kurve, sie hatte gesagt, mit dem Klub habe das nichts zu tun gehabt, doch Milena hatte ihr nie geglaubt. Das Blue Nights hatte ihren Vater verschlungen, da war sich Milena sicher. Und nachdem es ihn gekaut und verdaut hatte, nahm es sich nun, Nacht für Nacht, ihre Mutter vor. Regelmäßig verschwand sie darin, erst am nächsten Morgen spuckte das Tier sie wieder aus. Wie lange noch? Die erwachsene Milena wusste, es war Unsinn, doch das Kind in ihr hatte noch immer Angst, dass auch ihre Mutter eines Tages, genau wie ihr Vater, endgültig im Blue Nights verschwinden würde.

Wenn Milena den Klub am Tag sah, hatte sie den Eindruck, er schliefe. Grau, klein, unscheinbar. Manchmal, wenn Milena durch diese Straße laufen musste, hörte sie das Tier leise schnarchen. Erst ein hohes Fiepen, dann ein tiefes Brummen. »So ein Unsinn, Milena«, hatte ihre Mutter widersprochen. »Das ist die Wasserpumpe. Und das Fiepen kommt von der Fußgängerampel!« Aber Milena hatte ihr nicht geglaubt.

Wer wusste schon, was das Blue Nights mit ihrer Mutter machte, wie es sie manipulierte? Schließlich verwandelte es sie Nacht für Nacht. Manchmal spuckte es Milenas Mutter fröhlich und lachend aus. Manchmal mit tiefen Augenringen und rauer Stimme. Milena mochte ihre Mutter lieber am Nachmittag, wenn sie geschlafen hatte und ihre Augen wieder leuchteten. Milena hatte beschlossen, dass sie sich nie vom Blue Nights verschlingen und wieder ausspucken lassen würde. Sie wollte sich nicht verwandeln, sie wollte nicht verschwinden, schon gar nicht für immer, wie ihr Vater. Milena wollte bleiben. So, wie sie immer gewesen war, sie wollte nichts verändern, ihr Leben nicht, sich selbst nicht.

Doch jetzt stand sie hier, vor dem Blue Nights. Es war der 18. Mai 2019, mitten in der Nacht, mitten im Regen, der im blinkenden Licht des Klubs ein wenig blau aussah. Ein Taxi hupte. »Hey!«, schrie der Fahrer aus dem Fenster, und Milena trat einen Schritt zurück. Das Auto rauschte an ihr vorbei, Regenwasser spritzte ihr die Beine hoch.

Trotz ihres Widerwillens hatte sie ihrer Mutter versprochen, vorübergehend auszuhelfen: Einen Monat lang würde sie für sie einspringen. Sie würde ihre Aufgaben übernehmen und sich um das Blue Nights kümmern: Tagsüber würde sie mit ihrer Mutter telefonieren und sich Anweisungen und Ratschläge abholen, sie würde Bestellungen aufgeben, Events planen, mit DJs verhandeln, die Presse informieren, die Website bestücken, den Dienstplan machen, Mitarbeiter koordinieren. Nachts würde sie im Blue Nights dafür sorgen, dass nichts aus dem Ruder lief. Milena schüttelte den Kopf. Was sie alles ihrer Mutter zuliebe zugesagt hatte …

»Milena?«, rief der große Sven.

»Was?«

»Schau mal an der Garderobe, da gibt es Stress!«

Es war zwar erst Milenas dritte Nacht, doch sie wusste längst, dass es immer irgendwo Stress gab. Sie hatte es schon gewusst, lange bevor ihre Mutter sie gebeten hatte, sie zu vertreten, und bevor Milena mit Bauchschmerzen Ja gesagt hatte.

Gewusst hatte sie es schon vor zwanzig Jahren. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen, sie hatte wie jedes Wochenende bei ihrem Großvater geschlafen, an seinem großen Esstisch gesessen – vor dem Brot, das er selbst gebacken hatte, vor der frischen Butter und der Brombeermarmelade, die aus den Früchten seines Gartens gekocht worden war. Sie hatten über irgendwas gelacht, sie und ihr Großvater, über einen Witz vielleicht, den er ihr erzählt hatte, oder darüber, wie eine seiner Tauben ihm am Vorabend die Haare zerzaust hatte – darüber konnte Milena als Kind stundenlang lachen. Bis zu dem Morgen, an dem ihre Mutter zur Tür hereinkam. Sie presste ein Taschentuch gegen ihre Nase, ihr Augenlid war dick. Ihr Großvater sprang auf.

»Monika, was ist passiert?« Er holte ein Kühlpad aus dem Tiefkühlfach.

»Ach, nur ein Betrunkener«, nuschelte Milenas Mutter hinter ihrem Taschentuch.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm das Kühlpad und drückte es gegen ihre Nase. Ihr Blazer war zerknittert, auf ihrer Bluse leuchtete ein großer dunkler Blutfleck.

»Wie konnte das denn passieren?«

»Ach, irgendwie passiert doch immer irgendwas«, sagte sie, und Milena konnte förmlich dabei zusehen, wie ihr Auge weiter zuschwoll.

»Warst du bis eben dort?«, fragte der Großvater.

»Es ist sechs Uhr morgens. Wieso seid ihr eigentlich schon wach?«

Der Großvater sah Milena an, lächelte.

»Wir fahren heute mit den Tauben raus.«

Milena versuchte, Mamas Taschentuch und ihr Augenlid auszublenden, während sie erklärte: »Wir machen bei einem Wettbewerb mit! Einem Flugwettbewerb! Wir fahren raus und lassen die Tauben fliegen, und dann warten wir hier, bis sie zurückkommen! Vielleicht sind sie die schnellsten von allen!«

Milena war aufgeregt, seit Tagen freute sie sich auf diesen Tag. Bisher war sie noch nie mit hinausgefahren. Ihre Mutter nickte.

»Ich gehe schlafen. Habt viel Spaß.« Langsam stand sie auf, Kühlpad und Taschentuch noch immer gegen das Gesicht gepresst, und verließ das Esszimmer.

Sie verschlief den ganzen Tag. Sie verpasste, wie Milena und ihr Großvater die Tauben fliegen ließen, wie sie stundenlang im Garten lagen und in den Himmel schauten. Während ihre Mutter schlief, zogen unzählige Quellwolken über Milenas Kopf hinweg. Sie sahen aus wie riesige Vögel, hohe Bäume, aufgeklappte Bücher oder Mickymaus. Milena wusste noch, wie sie dort gelegen und sich gefragt hatte, ob sie das gegen irgendetwas auf der Welt eintauschen würde. Die Sonnenstrahlen auf den Wangen des Großvaters, den Geruch des Grases, die Vorstellung, dass jeden Moment ein kleiner weißer Punkt am Himmel auftauchen könnte – eine der Tauben, die über all die Wiesen und Felder und Wälder diesen einen Garten wiedergefunden hatte und nun nach Hause zurückkehrte. Letztlich war ihr klar geworden, dass sie all das für nichts auf der Welt hergeben würde. Vor allem nicht dafür, jetzt in einem abgedunkelten Zimmer zu liegen, mit blauem Auge und blutender Nase.

Während Milena und ihr Großvater nebeneinander auf der Wiese lagen, in den Himmel schauten und warteten, erzählte er ihr von seiner einen, einzigen großen Liebe.

»Weißt du, Milena«, sagte ihr Großvater. »Ich werde sie nie vergessen. Sie ist vor Jahren gestorben, doch ich habe bis heute nicht das Gefühl, sie hätte mich verlassen. Irgendwo da draußen gibt es einen Menschen, der etwas bei dir auslöst. Du wirst ihn sehen, und dann wirst du es verstehen. So war es bei mir. Und so war es auch bei deiner Mutter. Sie hat deinen Vater gesehen, vor vielen Jahren im Blue Nights, und sie hat es gleich gewusst. Seitdem hält sie an ihm fest. Sie haben sich sehr geliebt, und ich glaube, sie werden sich für immer lieben. So, wie ich deine Großmutter für immer lieben werde. Nach ihr war ich nie wieder so verliebt. Ich wünsche dir, dass auch du irgendwann diesen einen Menschen findest. Vielleicht sieht er ja aus wie diese Wolke da hinten, schau!«

»Die da?« Milena zeigte auf eine Wolke, die einen Wasserkopf zu haben schien, kugelige Beine und Knubbel an den Schultern.

»Genau!«

»Das ist eine Monsterwolke!« Sie lachte laut. Und dann rissen beide die Augen auf: Direkt vor der Monsterwolke sahen sie den ersten Punkt. Winzig und weiß, er bekam Flügel, begann zu schweben, dann zu flattern. Milena und ihr Opa sprangen hoch und rissen die Arme in die Höhe. Sie tanzten mit nackten Füßen im Gras, bis die erste Taube, die Nummer 444, im Taubenschlag gelandet war.

Wie schön diese Zeit gewesen war. Milena lächelte, doch dann fielen ihr wieder die Worte ihrer Mutter ein: Irgendwie passiert doch immer irgendwas.

Während sie auf den Eingang des Blue Nights zuging, auf das Maul des Tieres, konnte Milena seinen Herzschlag hören. Wie wach es war, sein Atem klang wie hundert grölende Stimmen, er roch nach Nebelmaschine und Bier.

Das Erste, was sie ihrer Mutter nach diesem Monat empfehlen würde, war ein besserer Sicherheitsdienst. Einer, der nicht nur aus ein paar wechselnden Aushilfskräften und dem großen Sven bestand. Sven war zwar zuverlässig und wirkte Angst einflößend, in Wirklichkeit war er allerdings kein Türsteher. Tagsüber studierte er Eventmanagement, nachts arbeitete er im Blue Nights. Seit Monaten schon wollte er seine Masterarbeit beginnen, doch immer wieder verschob er es auf den nächsten Morgen, den übernächsten. Das Blue Nights bräuchte einen richtigen Türsteher, jemanden, der diesen Job gelernt hatte. Der sich für Milena und ihre Mutter von diesem Tier verschlingen ließ, der zur Garderobe ging und selbst mit den Gästen diskutierte. Aber darauf würde sich Milenas Mutter wahrscheinlich nicht einlassen. Sie behielt gern die Kontrolle über alles, sie wollte genau wissen, welche Gäste in ihrem Klub Stress machten, wer rausflog und wer trotzdem wiederkam. Sie beobachtete, wer sich besserte, wer an sich arbeitete. Und verteilte Hausverbot an all die Unverbesserlichen. Monika war die Chefin in diesem Haus, vor ihr hatten auch die Betrunkenen Respekt. Sogar sie wollten von Monika gemocht werden.

Was Milena über sie dachte, war ihnen herzlich egal. Milena war für sie nur der jüngere Abklatsch von Moni: etwas kleiner, etwas dunkelhaariger, mit schmaleren Oberarmen und weicheren Gesichtszügen. Sogar ihre Stimme war leiser. Milena sah den Leuten ungern in die Augen, lieber betrachtete sie ihren Haaransatz oder ihr Schlüsselbein. Sie bildete sich sogar ein, sie könnte im Dunkeln weniger gut sehen als ihre Mutter. Vielleicht lag es an ihrer Kurzsichtigkeit.

Milena öffnete die Augen etwas weiter, während sie am großen Sven vorbei durch den Eingang trat und die Treppe hinunterlief, in Richtung Garderobe. Eine große Frau auf High Heels stand dort mit dem Rücken zu Milena und fuchtelte in der Luft herum.

Heute arbeitete Michi hier unten, eine der jüngeren Aushilfen. Er stand zwischen den Jacken hinter der schwarzen Absperrung und hob die Schultern, als wollte er in den Kleidern der Gäste verschwinden. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er gerade. »Ohne Marke kann ich nicht …«

»Aber das ist meine Jacke! Ich werde so lange hierbleiben, bis ich sie wiederbekomme!« Die Frau verschränkte die Arme.

Jetzt entdeckte Michi Milena und winkte sie heran.

»Ich spreche kurz mit der Chefin«, erklärte er der Frau. Dann klappte er die Absperrung hoch und ging Milena entgegen. »Da ist eine, die hat ihre Marke verloren. Aber sie behauptet, diese Naketano-Jacke wäre ihre. Soll ich sie ihr einfach geben?«

Milena zog die Augenbrauen hoch. Woher sollte sie das wissen? Darauf war sie von ihrer Mutter nicht vorbereitet worden. Sie sah an Michi vorbei zu der Frau, die sich zu ihnen umgedreht hatte.

»Der hat mir überhaupt keine Marke gegeben!«, behauptete sie. »Ich hatte nie eine Marke, aber das ist meine Jacke, und ich will jetzt endlich nach Hause!«

Milena sah zwischen Michi und der Frau hin und her. Dann sah sie auf die Jacke. Es fehlte nur ein Beweis, überlegte sie.

»Hattest du irgendwas in deinen Taschen?« Milena fand, dass ihre eigene Stimme viel zu leise klang, ja, sie zitterte sogar ein wenig.

»Keine Ahnung!«

Kurz schloss Milena die Augen. Dann sagte sie, so selbstsicher sie konnte: »Es wäre toll, wenn du kurz nachdenken könntest. Schau, wir haben hier ein Problem: Du willst deine Jacke wiederhaben, und wir müssen sichergehen, dass sie nicht jemand anderem gehört. Also, was würde Michi in der Tasche finden?«

Die Frau schwieg, sah kurz zur Seite. Dann antwortete sie: »Ein rotes Feuerzeug.«

Milena nickte Michi zu, der in die Jackentasche griff.

»Und, stimmt es?«, fragte Milena.

Michi nickte.

»Dann gib ihr die Jacke wieder.«

Milena wandte sich ab. Mit so etwas würde sie sich jetzt noch die ganze Nacht herumschlagen müssen.

Von der Garderobe aus schaute sie auf die Tanzfläche. Der DJ am anderen Ende des Raumes trug dicke Kopfhörer, gerade riss er einen Arm in die Höhe. Die Tänzer machten es ihm nach. Was fanden sie nur an dieser Musik? Der Bass wummerte noch immer in Milenas Brust. Die Menschen schrien vor Freude, wirbelten im Kreis, jeder für sich. Der Alkohol, dachte Milena. Vielleicht sollte sie sich auch betrinken, gemeinsam mit Paul. Sie könnte sich Svens Handy leihen und ihn anrufen. Ich vermisse dich, würde sie ihm gestehen. Hast du Lust zu tanzen?

Er würde laut lachen. Was ist denn mit dir los?, würde er sagen, und er hätte sogar recht. Sie wusste nicht, wie sie all das erklären sollte. Den Unfall ihrer Mutter, ihr eigenes Versprechen, diese Nacht. Sie würde eine Weile schweigen, und dann würde sie fragen: Hast du Lust, dich zu betrinken? Sie stellte sich sein Lachen vor. Ich weiß nicht, was los ist, würde er sagen, aber in einer halben Stunde bin ich da, du springst zu mir ins Auto, und dann fahren wir weg. Wir fahren zu diesem leer stehenden Hotel am Waldrand, wir klettern durchs Fenster, machen einen Wein auf, und im dunklen Saal, auf der zerbrochenen Tanzfläche, zwischen den verstaubten Stühlen und den zerrissenen Vorhängen, öffne ich deinen Reißverschluss. Dann ziehe ich dich aus, zuerst deinen Blazer, dann deine Bluse, deine Hose …

Er würde immer leiser werden, seine Stimme würde immer rauer klingen, und Milena würde sich am Geländer festhalten müssen und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen bleiben.

Nein, sagte sie sich, sie konnte ihn nicht anrufen. Sie konnte hier nicht weg. Stattdessen trat sie ein paar Schritte vor, in Richtung Tanzfläche. Vielleicht würde ihr ein Martini dabei helfen, nicht länger an Paul zu denken. So einer, wie ihn die Frau an der Bar trank. Sie saß auf einem Hocker, den Rücken gerade, das Kleid azurblau. Ihr helles Haar trug sie hochgesteckt, und ihr Fuß im spitzen Schuh wippte zum Takt der Musik, vor, zurück, vor, zurück. Sie schien die Tanzenden zu beobachten, während sie am Glas nippte. Wie ruhig sie wirkte, wie aufrecht. Je länger Milena sie ansah, desto faszinierter war sie von ihr. Diese Frau passte perfekt zum Tresen, zum Hocker, zu dieser Musik, zu diesen Tänzern. Sie gehörte hierher. Und doch schien sie über den Dingen zu schweben. Sie schien edler und beständiger zu sein als alles sonst in diesem Raum. Würde der Klub eines Tages leer stehen – so wie das Hotel am Waldrand –, dann wäre diese Frau die Einzige, die noch immer am Tresen saß, Martini trank und mit dem Fuß wippte. Inmitten von Staub, umgekippten Hockern, auf einem sich auflösenden Tanzboden. Sie wäre stärker als die Musik und die Gäste, die Möbel und die Wände. Sie würde bleiben, egal, wie sehr die Welt um sie herum zerfiel.

In diesem Moment fasste Michi sie von hinten am Arm.

»Milena! Sven hat gerufen! Oben ist irgendwas los.«

Klar, irgendwo war immer irgendwas los.

Milena drehte sich um und stieg die Treppe wieder hinauf. Ein paar soeben eingetrudelte Gäste kamen ihr entgegen, ihr Lipgloss glänzte noch, ihr Haar saß fest. Schon von Weitem hörte Milena Svens Stimme.

»Warten Sie noch einen Moment. Die Chefin kommt gleich.«

Oben angekommen sah Milena, wie Sven mit seinen großen Händen ein paar Leute durchwinkte. Nur einen Mann ließ er warten.

»Einen Moment noch.« Sven winkte die Nächsten durch, vorbei an dem Fremden. Es war ein alter Mann, bestimmt schon siebzig, der gebückt dastand und Milena entgegensah. Er hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf, ein Altersfleck prangte auf seiner Stirn, und seine Hände zitterten leicht.

»Guten Tag«, begrüßte ihn Milena. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Er will in den Klub«, erklärte Sven und zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe ihm schon gesagt, dass das keine gute Idee ist, aber er lässt nicht locker.«

»Ich kann Sie hören, junger Mann.« Der Fremde zwinkerte mit einem Auge. »Ich stehe direkt vor Ihnen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Milena. »Sie wissen, dass das hier ein Klub ist?«

»Früher war das Blue Nights ein Tanzlokal. Hier gab es Beatmusik, jeden Abend hat eine andere Band gespielt.« Die Stimme des Mannes klang sanft und dunkel. Jemand rempelte Milena an, ein anderer trat ihr auf den Fuß.

»Hey!«, rief Milena, doch der Gast war schon weitergelaufen. Sie sah zurück zum alten Mann.

»Sicher, aber heute ist You-better-go-House-Party«, erklärte Milena. »Wir spielen elektronische Musik, und die Leute sind sehr jung und sehr betrunken.«

»Das macht mir nichts aus.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Lassen Sie mich nur kurz hinuntergehen, ich habe das Geld für den Eintritt dabei.«

Milena starrte ihn an. Mit der einen Hand stützte er sich auf Svens Tischchen, mit der anderen auf einen Stock. Mal abgesehen davon, dass er absolut nicht zu der Zielgruppe passte, die ihre Mutter ihr eingebläut hatte – da unten hatte ein Mann, der auf einen Stock angewiesen war, nichts zu suchen. Sie würden ihn dort womöglich einfach umrempeln. Sie konnte ihn nicht reinlassen.

»Was ist denn da vorn los?«, kam es von hinten aus der Schlange. »Dauert das hier noch lang?«

Milena versuchte, ihn zu ignorieren, und wandte sich wieder dem alten Mann zu.

»Das geht nicht.« Sie versuchte, ihre Stimme hart klingen zu lassen, und verschränkte die Arme.

»Ich kann Sie nicht reinlassen, zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

Die Augen des Mannes weiteten sich.

»Was sagen Sie da?«

»Was ist denn los dahinten?« Jemand stieß seinen Vordermann in der Schlange an.

»Ich habe doch auch keine Ahnung!«, keifte der zurück.

»Wir wollen endlich rein!«, polterte ein Dritter.

»Es tut mir leid«, versuchte Milena, den alten Mann zu beruhigen.

»Das können Sie nicht machen. Ich muss hinein, lassen Sie mich nur kurz hinuntergehen, bitte. Ich brauche nur ein paar Minuten, das verspreche ich Ihnen.«

»Es tut mir wirklich leid. Bitte gehen Sie nach Hause. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

»Sie verstehen das nicht. Ich habe einen riesigen Fehler begangen, und heute ist die letzte Gelegenheit, um alles wieder in Ordnung zu bringen.«

»Ist hier Einlassstopp, oder was?«, fragte jemand von ganz hinten.

»Ich rufe Ihnen ein Taxi.« Milena ging am Mann vorbei in Richtung Straße und hob die Hand. Sie sah den Taxis entgegen und hoffte, dass eines von ihnen neben ihr bremsen würde. Hoffte, dass diese Nacht bald ein Ende finden würde. Sie wünschte sich so sehr die ersten Sonnenstrahlen herbei, das Zwitschern der Vögel, sie wollte sich in den Garten legen, ganz allein, fern von Musik und Menschen und Entscheidungen, sie wollte in den Himmel sehen, in den Sonnenaufgang und auf ihre Taube warten, auf die Nummer 519.

»Milena!«, schrie Sven.

Sie wirbelte herum und sah den alten Mann auf der Straße liegen, während der Stock noch ein paar Zentimeter über den Bürgersteig rollte. Eine Hand drückte der Alte gegen seine Brust, sein Gesicht war verzerrt, seine Augen geweitet, der Mund offen. Seine Schreie waren leise, ein Wimmern fast, ein überraschtes, ängstliches Wehklagen.

»Er ist einfach zusammengebrochen!« Sven kniete sich neben ihn.

Die Schlange vor dem Blue Nights verlor ihre Kontur, sie löste sich auf, wurde zu einem großen pulsierenden Pulk, der sich um den alten Mann, Sven und Milena sammelte.

»O mein Gott«, flüsterte irgendwer.

»Was hat der Mann?«

»Was ist mit ihm?«

»Ach du Scheiße.«

»Jemand muss ihm helfen.«

»Bestimmt ein Herzinfarkt!«

Milena war plötzlich ganz ruhig, sie sah völlig klar, sie beobachtete sich selbst dabei, wie sie – ganz von allein – eins nach dem anderen tat.

»Gibt es hier einen Arzt?«, rief sie in die Menschenmenge hinein, doch niemand meldete sich.

Sven griff in seine Hosentasche, zog sein Handy heraus und gab es Milena. »Einfach auf Notruf tippen.«

Mit ruhigen Fingern folgte sie seinem Rat.

»Wir brauchen einen Notarzt. Vor dem Blue Nights, Hauptstraße 3, ist ein alter Mann zusammengebrochen, vielleicht ein Herzinfarkt«, sagte sie ins Handy und staunte, wie gefasst, wie organisiert das klang. Dann kniete sie sich neben Sven, versuchte, den Oberkörper des alten Mannes abzustützen, öffnete seine Jacke.

»Keine Angst«, flüsterte sie ihm zu. »Ein Notarzt ist auf dem Weg. Es dauert nicht mehr lang, dann wird Ihnen geholfen.«

Der Mann zitterte, seine Hand krampfte. Milena sah in seine überraschten Augen. Er hatte aufgehört zu wimmern, er sah sie nur an, groß und ängstlich und stumm. Sie redete auf ihn ein, leise, so ruhig sie konnte, hielt ihn fest. Wie dünn er war, wie leicht er sich anfühlte. Sven deckte ihn mit seiner Jacke zu, während die Menschen dastanden, sie anstarrten und warteten.

Und dann, endlich, heulte eine Sirene durch die Nacht.

Milena schaute in die blauen Lichter, die immer näher kamen. Vor einer Woche mussten sie sich ebenso grell in den Fenstern dieser Straße gespiegelt und die grauen Fassaden der Häuser genauso hell erleuchtet haben wie jetzt. Noch vor einer Woche hatte ihre Mutter dagelegen und Hilfe gebraucht. Wie spät es wohl gewesen war? Vier oder fünf Uhr vielleicht? Ihre Mutter hatte es ihr am Tag darauf nicht mehr genau sagen können. Sie sei die Treppe hochgerannt, hatte sie erzählt, irgendjemand habe gerufen, irgendetwas sei dringend gewesen. Sie habe zwei Stufen auf einmal genommen, sei hinausgestürmt und habe die Bordsteinkante übersehen.

»Wie konnte mir das passieren, Milena? Den Bordstein gibt es an dieser Stelle schon länger als mich, wir haben fast vierzig Jahre in beiderseitigem Einverständnis zusammengelebt!« Ihre Mutter hatte gelacht, als sie es Milena später erzählte, dann hatte sie die kleinen Augen wieder geschlossen. Sie hatte also den Bordstein übersehen, sie war gestürzt, und dann hatte dieses Taxi sie übersehen.

Milena kniff die Augen zusammen. Sie wollte sich das nicht vorstellen, nicht das Quietschen der Reifen, nicht den Schrei ihrer Mutter, nicht den Zusammenstoß von Schulter und Kühlerhaube, nicht die Rippenbrüche, die Schürfwunden, das verdrehte Bein.

Milena hatte geschlafen, als es passiert war. Während ihre Mutter mit heulenden Sirenen ins Krankenhaus transportiert worden war, hatte sich Milena zum ersten Mal an diesem Tag gestreckt. Während die offenen Wunden ihrer Mutter gesäubert und desinfiziert worden waren, hatte Milena in aller Ruhe gefrühstückt. Danach hatte sie sich in den Garten gelegt, die Arme im Gras ausgestreckt und mit den Zehen nach langen Halmen gefischt. Das Bein ihrer Mutter war geschient und gegipst worden, und Milena hatte dem Rascheln der Baumkronen und dem Zwitschern der ersten Vögel gelauscht, in den Himmel geschaut und auf ihre Taube Nummer 519 gewartet. So, wie sie es jeden Morgen machte – und jeden Abend. Seit zehn Jahren. Irgendwann einmal musste die 519 einfach zu ihr zurückkommen. Irgendwann.

Doch statt des Flatterns von Flügeln hatte sie aus der Ferne ihr Telefon klingeln gehört. Fünfmal. Zehnmal. Fünfzehnmal. Milena war aufgestanden und mit gerunzelter Stirn auf das Geräusch zugegangen – über die Wiese bis zum Haus, in den Flur, ins Antiquariat, dorthin, wo das alte Telefon mit der Wählscheibe auf dem Tresen stand. Sie nahm den Hörer ab.

»Milena? Hier ist Ivy.« Die Stimme ihrer besten Freundin hatte ruhig geklungen. Etwas zu ruhig.

»Rufst du aus dem Krankenhaus an?«, wollte Milena wissen. Ivy war Operationstechnische Assistentin an den Städtischen Kliniken, und diese Tonlage – etwas tiefer als sonst, etwas sanfter – hatte Ivys Stimme immer dann, wenn andere Stimmen schrill und laut werden würden.

»Deine Mutter liegt bei uns auf der Station.«

»Was ist passiert?«

»Mach dir keine Sorgen, so schlimm ist es nicht. Aber sie würde sich freuen, dich zu sehen.«

»Danke.«

So schnell wie an diesem Tag war Milena noch nie durch die Stadt gefahren.

Jetzt riss der Notarzt sie aus ihren Gedanken. Er wollte wissen, was passiert sei, seit wann der alte Mann schon so auf der Straße liege, wie er heiße, wie alt er sei. Woher sollte Milena das wissen?

Bald konnte sie wieder aufstehen und zusehen, wie die Rettungskräfte ihre Arbeit machten, wie sie den Mann auf eine Trage hoben und in den Wagen brachten. Um Milena herum wurde es wieder lauter.

Sobald der Rettungswagen mit blinkenden Lichtern davongefahren war, lachten die Menschen wieder, sie drängten wieder in den Klub. Nur Milena stand mit hängenden Armen vor der Tür, ließ all die Leute vorbeiziehen und sah die Straße hinunter.

Was hatte der alte Mann hier gewollt? Von welchem Fehler hatte er gesprochen? Warum wollte er unbedingt hineingelassen werden? Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er einfach verwirrt und hatte geglaubt, er wäre zwanzig und es wäre eine andere Nacht in einer anderen Zeit. Er hatte sich wahrscheinlich in den Jahren verirrt.

Milena löste den Blick von der Straße und wandte sich wieder an Sven, um ihm Bescheid zu sagen, dass sie noch mal runtergehen und dort nach dem Rechten sehen würde. Doch in diesem Moment trat eine kleine Frau aus dem Blue Nights ins Freie. Sie trug ein azurblaues Kleid, ihre Schuhe waren spitz – und ihre Haare glänzten schneeweiß. Es war die Frau, die Milena vorhin noch an der Bar beobachtet hatte, die Frau mit dem Martini, die sie so fasziniert hatte. In den bunten Lichtern des Klubs hatte Milena nicht erkannt, welche Farbe ihre Haare hatten, sie hatte nicht bemerkt, dass die Haut an ihren Armen schlaff war und ihre Schultern knochig. Dort unten war sie mit der Musik, den Lichtern, der Menge verschmolzen. Doch hier oben auf der Straße sah Milena, dass die Frau fast so alt sein musste wie der Mann, den der Krankenwagen gerade abtransportiert hatte. Aufrecht schritt sie zwischen Sven und Milena hindurch und trat auf die Straße. Sie sah nach rechts, nach links, dann ging sie den Weg hinauf.

Endlich löste sich Milena aus ihrer Starre.

»Hallo!«, rief sie der Frau nach. »Warten Sie!«

Doch die Frau schien sie nicht zu hören. Langsam schritt sie weiter, und ihr Dutt glänzte weiß im Licht der Straßenlaternen. Milena setzte sich in Bewegung.

»Hallo, entschuldigen Sie!«

Jetzt hielt ein Taxi neben der Fremden. Milena ging schneller.

»Warten Sie, hallo!«

Doch die Autotür öffnete sich, die Frau stieg ein, und Milena war zu weit weg. Die Tür schlug zu, das Auto fuhr an.

Milena fluchte leise.

Das Taxi bog um die Ecke, und die Straße war plötzlich viel dunkler als zuvor. Milena machte kehrt und ging langsam wieder zurück zum Klubeingang.

»Was war das denn?« Sie sah Sven an und runzelte die Stirn. »Hast du die Frau vielleicht reingelassen?«

Sven zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er fuhr sich mit der flachen Hand über die scharfen Wangenknochen und durch die kurzen blonden Haare.

Milena sah auf den Boden. Ihre Schuhe waren nass, ihre Strümpfe durchweicht. Wieso wollten an einem Abend gleich zwei alte Leute ins Blue Nights? Wie konnte das sein? Am liebsten hätte sie ihre Mutter angerufen und sie gefragt, ob sie so etwas schon mal erlebt hatte. Bestimmt konnte sie diese Situation einschätzen. Wahrscheinlich kannte sie die beiden Alten sogar mit Vor- und Zunamen. Sie würde laut auflachen und vielleicht sagen: »Ach, die Sengeboldts, die versuchen es immer wieder. Mach dir keine Sorgen, sie sind einfach ein bisschen verrückt.« Sie würde Milena beruhigen. »Du hast alles richtig gemacht. Natürlich durftest du ihn nicht reinlassen. Du kannst nichts dafür, dass er sich in seinem Alter so aufregt.«

Milena stellte sich das vor, die warme Stimme ihrer Mutter, die Gewissheit in ihrem Lachen, und wollte gerade schon Sven zurufen, dass sie sich gern sein Handy ausleihen würde – als sie zur Seite geschleudert wurde.

»Blöde Fotze!«, schrie einer sie an und schubste sie noch einmal. Speicheltropfen landeten auf Milenas Wange. Es war der Betrunkene von vorhin mit der zerrissenen Jeansjacke, sein Atem roch nach Alkohol. Der Typ, den Milena vorhin abgewiesen hatte, war ohne seinen Freund zurückgekehrt.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sven aufsprang, groß und breit, und auf Milena zurannte.

»Du hast kein Recht, mich nach Hause zu schicken!«, lallte der Typ, ballte seine Hand zur Faust und boxte Milena ins Gesicht. Sie hörte, wie die Nase knackste, spürte, wie sich der Knochen verschob, und schrie auf. Sven riss den Mann zurück und stieß ihn auf den Boden. Mit blutender Nase und Tränen in den Augen stand Milena da und beobachtete, wie Sven den Kerl umdrehte und ihm die Arme auf den Rücken bog. Er hatte tatsächlich was drauf – er war nur etwas zu langsam gewesen. Sven kniete sich auf den Rücken des Betrunkenen und hielt dessen Handgelenke fest, während er, zum zweiten Mal an diesem Abend, sein Handy aus der Hosentasche zog und es Milena reichte. Diesmal wählte Milena mit zitternden Fingern die Nummer der Polizei.

2. KAPITEL

Milenas Schritte hallten von den weißen Wänden wider. Die Krankenschwestern und Pfleger hinter den Glastüren blickten auf, während Milena an ihnen vorbeilief. Sie hätte die Ballerinas anziehen sollen, nicht die roten Schuhe mit dem Keilabsatz, dachte sie. Damit hätte sie nicht so viel Aufmerksamkeit erregt. Zimmer 101, 102, 103. In 104 lag ihre Mutter. Vor der Tür blieb sie kurz stehen. Sie würde das schaffen. Sie würde es ihrer Mutter sagen und ihrem Blick standhalten, den schmalen, gekräuselten Lippen und der Traurigkeit in den Augen. Milena würde trotzdem stark bleiben. Sie atmete tief ein, dann öffnete sie die Tür.

»Hallo, mein Schatz!« Ihre Mutter stützte sich mit beiden Händen ab und richtete sich ein wenig auf. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz.

»Bleib doch liegen, Mama.«

Milena fand, dass ihre Mutter in dem Bett so klein aussah. Ihre Schultern waren schmaler geworden, und dicke weiße Strähnen zogen sich durch ihre dunklen Haare, die bis auf das Kopfkissen hinunterreichten.

»Wie geht es dir?«, wollte sie wissen.

Ihre Mutter lächelte. »Es geht schon, Liebes. Es geht.«

»Du hast immer noch schlimme Schmerzen.«

»Ach was. Die Rippen machen mir noch etwas zu schaffen, aber das Bein ist schon viel besser geworden.«

Sie lächelte und musterte Milenas Gesicht.

»Was ist mit deiner Nase passiert?«

Milena berührte ihren geschwollenen Nasenrücken. Es sei ein glatter Bruch, hatte die Ärztin gesagt, Milena müsse sich aber schonen. Die Brille drückte etwas, doch wenn sie den Kopf nicht zu schnell bewegte, konnte sie den Schmerz gut aushalten.

»Ach, das war nur ein Betrunkener.« Sie lächelte.

»Irgendwas ist immer.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ach, Liebes, das tut mir wirklich schrecklich leid. Tut es sehr weh?«

»Ich kann es aushalten.«

»Du Arme! Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Mama, du liegst im Krankenhaus!«

»Das ist ja das Problem! Wenn ich nicht hier liegen müsste, wäre das wahrscheinlich nie passiert! Habt ihr die Polizei gerufen?«

Milena nickte. »Die waren sofort da und haben ihn mitgenommen.«

»Wer war es?«

»Marius Schmidt hieß er, glaube ich.«

»Dem werde ich was erzählen! Der kann sich warm anziehen, das sag ich dir.«

»Das brauchst du nicht, Mama.«

»Aber ich werde mit ihm reden, darauf kannst du dich verlassen. Es ist wirklich ein Jammer, nüchtern ist der Marius nämlich ein ganz Lieber.«

Milena riss die Augen auf. »Wirklich? Er hat mich blöde Fotze genannt.«

»Sobald er was trinkt, kannst du ihn vergessen. Deswegen feiert er meistens ohne Alkohol.«

»Gestern war er aber so betrunken, dass er nicht mehr geradeaus gehen konnte. Und dann hat er mir auf die Nase geboxt.«

»O Gott. Arme Maus.«

Sie streckte die Hand aus, Milena nahm sie und setzte sich neben sie auf das Bett.

»Bist du sehr müde?«, erkundigte ihre Mutter sich.

Milena zuckte mit den Schultern. Sogar jetzt ging von ihrer Mutter noch eine Sicherheit aus, eine Wärme. Sie würde Milenas Entscheidung schon verkraften.

»Ich muss dir was sagen, Mama.«

Ihre Mutter sah sie an, lächelte, drückte ihre Hand. Ihre Sommersprossen waren trotz der Woche im Krankenhaus noch nicht verschwunden.

»Jetzt schon?«

»Ich kann das einfach nicht. Ich bin dafür nicht gemacht. Ich habe es wirklich versucht, ich wollte durchhalten. Aber ich krieg das nicht hin. Ich kann dich nicht einen ganzen Monat lang vertreten.«

Ihre Mutter antwortete nicht, sondern sah an die Decke.

»Es tut mir leid, Mama.« Milena sprach ganz leise. Und dann wartete sie. Ihre Mutter drückte immer noch ihre Hand. Jetzt nickte sie langsam.

»Weißt du eigentlich, dass ich es damals auch nicht tun wollte?«

»Was meinst du?«

»Nach dem Tod deines Vaters. Ich wollte den Klub nicht übernehmen.«

»Was?« Milena runzelte die Stirn.

»Nachdem dein Vater gestorben ist, wollte ich das Blue Nights verkaufen. Ich hatte sogar schon Angebote eingeholt, ich wollte den Laden so schnell wie möglich loswerden. Er hat mich zu sehr an ihn erinnert. Daran, wie fröhlich er hier immer war, wie stolz er darauf gewesen ist, was er aus dem alten, heruntergekommenen Klub seines Vaters gemacht hatte. Das Blue Nights war mir zu laut und viel zu fröhlich.«

»Das hast du mir nie erzählt.«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern.

»Du warst sehr klein damals. Das beste Angebot kam von einem, der das ganze Gebäude abreißen wollte. Er wollte dort ein Hotel errichten. Drei oder vier Sterne. Er meinte, die Nähe zum Bahnhof wäre ideal, außerdem wäre man schnell im Grünen, schnell am See. Ich hätte es fast getan.«

»Und was ist dann passiert?«

Jetzt drehte sie den Kopf, sah Milena lächelnd an.

»Ich habe ein Buch gelesen.«

»Ein Buch?«

»Na ja, vielleicht eher ein Büchlein oder ein Heft. Ich habe es im Antiquariat gefunden.«

»Was denn für ein Heft?«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern.

»Es war nicht besonders dick. Sonst hätte ich es wahrscheinlich nicht bis zum Ende gelesen.« Sie lachte. »Den Autor kennt kein Mensch. Aber es hat mich irgendwie angezogen, ich musste es einfach in die Hand nehmen und hineinlesen. Und dann konnte ich die ganze Nacht nicht aufhören. Am nächsten Morgen wusste ich es: Ich würde nicht verkaufen.«

»Was hat dieses Heft denn mit dem Klub zu tun?«

Jetzt lächelte ihre Mutter noch breiter. »Lies es einfach.«

Milena öffnete den Mund, schloss ihn wieder.

»Aber … wieso?«

»Sag mir danach, wie du dich entscheidest.«

Milena zog die Augenbrauen hoch.

»Ist das dein Ernst?«

»Ich muss jetzt ein wenig schlafen.« Ihre Mutter schloss die Augen.

»Mama!«

»Lies es.« Wie müde sie jetzt klang.

»Und wo genau ist dieses Heft?«

»Das weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht lag es in irgendeiner Schublade? Du wirst es schon finden.«

»Mama!« Doch da gingen die Atemzüge ihrer Mutter schon ganz ruhig. Sie war tatsächlich eingeschlafen.

Leise stand Milena auf und ging zur Tür.

Wie sollte sie nur dieses Heft im Antiquariat Seitenschlag finden – zwischen Hunderten von alten Büchern?

Milena sperrte das Gartentor auf und sah über die weite Wiese ihres Gartens. Vom Apfelbaum fiel eine Frucht, der Holunderstrauch raschelte im Wind. Dahinter stand das Haus, das Milena von ihrem Großvater geerbt hatte. Über dem Schaufenster im Erdgeschoss stand in geschwungenen Buchstaben: Antiquariat Seitenschlag.

Wie sie diesen Namen liebte. Ihre Familie hatte seit Jahrhunderten mit Büchern zu tun. Sie waren Schreiberlinge, Schriftsetzer, Buchhändler, Antiquare gewesen. Milenas Urururgroßvater hatte eine Buchhandlung geführt, die immer wieder an die Nachkommen weitergegeben wurde, bis Milenas Großvater daraus ein Antiquariat gemacht hatte. Hier hatte sie ihre ersten Bücher gelesen, die großen Literaten vergangener Zeiten kennengelernt und vor vielen Jahren ihre Ausbildung gemacht – bei ihrem Großvater. Am allerersten Arbeitstag hatte er ihr in diesen Räumen Kafkas Briefe an Milena geschenkt.

»Schau, was ich gefunden habe. Deine Mutter hat es gelesen, während sie mit dir schwanger war. Na ja, um ehrlich zu sein, hat sie nur die ersten paar Seiten überflogen. Aber die müssen ihr gefallen haben! Sonst würdest du heute wohl nicht Milena heißen.«

Milena hatte das Buch noch in derselben Nacht durchgelesen. Sie liebte Kafkas Sprache, die Art und Weise, wie er Milena ansprach, wie er sie liebte, aus der Ferne, unerfüllt und geduldig. Irgendwann in ihrem Leben wollte Milena ebenfalls einen solchen Brief bekommen.

Nach dem Tod ihres Großvaters vor fünf Jahren hatte sie nicht nur sein Haus mitsamt dem Bücherbestand, sondern auch alle seine Tauben geerbt. Noch bevor sie einzog, schrieb sie ihren Namen an den Briefkasten. Jeden Morgen schaute sie hinein, stellte sich vor, diesmal würde ein Brief darin liegen – und freute sich schon auf den nächsten Tag, an dem sie erneut nachschauen könnte. Ein Handy oder einen Computer brauchte sie nicht. Sie verstand nicht, warum die Leute stundenlang in ihre winzigen Geräte schauten und sich über die Klicks von Halbfremden freuten, die sie ihre Freunde nannten. Milena machte da nicht mit, sie wollte Briefe bekommen. Lange, handgeschriebene, weitgereiste Briefe auf Papier.

Schon damals hatte ihre Mutter ihr vorgeschlagen, beim Blue Nights einzusteigen. Sie wollte, dass Milena Miteigentümerin wurde und sich erst mal um die Buchhaltung kümmerte. Doch Milena liebte die alten Bücher ihres Großvaters, die Stille zwischen den Regalen und das leise Klingeln, wenn ein Kunde die Tür öffnete, viel zu sehr. Sie liebte die Romane, die Geschichten, Romantik und Tragik.

Drei Tage hatte sie ihre Entscheidung hinausgezögert, dann hatte sie mit ihrer Mutter gesprochen und das Antiquariat neu eröffnet. Und nun sollte sie ausgerechnet dort ein Büchlein entdecken, das sie doch noch vom Blue Nights überzeugte? Das konnte sich Milena beim besten Willen nicht vorstellen.

Sie schloss die Haustür auf.

Wie schön es wäre, wenn Paul jetzt in einem der vielen Räume auf sie warten würde. Im Sessel vor dem großen Fenster zum Beispiel, vertieft in einen seiner Fotobände. Sie stellte sich vor, wie er von seinem Buch aufsehen würde, weil er sie hörte, wie er sie anlächelte und aufsprang, sobald sie den Raum betrat. Was ist denn mit dir passiert?, würde er sagen und sie in den Arm nehmen.