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Ela ist sich sicher: Sie hat den besten Freund von allen. Zwar ist er zwanzig Jahre älter als sie, doch das spielt keine Rolle. Mit ihm kann sie über alles reden, er bringt ihr Singen bei und gibt ihr Tipps für die Bewerbung an Schauspielschulen. Als sie ihr Abi in der Tasche hat, besorgt er ihr sogar ein Praktikum an einem Theater – Ela ist überglücklich. Doch weder sie noch er ahnen, dass mit diesem Praktikum alles anders wird. Dass Ela dort Betty kennenlernt und von ihr Dinge über ihren Freund erfährt, die nicht nur die Freundschaft zerstören, sondern auch Ela selbst. Ela muss herausfinden, dass ihr bester Freund vor Jahren Kinder missbraucht hat. Und dass er es wieder tun könnte – jederzeit. Ela splittert. Und versucht, es herauszuschreien. Sie redet mit ihrem Freund Martin und ihrer Schulfreundin Susi darüber, aber die können es nicht glauben. Schützend stellen sie sich vor den Freund. Sie wollen alles zusammenhalten, doch dafür ist es längst zu spät. Ela sieht schon, dass hier nichts mehr zusammenpasst: die Freunde, die wegsehen, der beste Freund, der mit jedem Treffen unangenehmer wird, und Ela selbst, die sich vor den eigenen Gedanken fürchten sollte, es aber nicht tut. Pädophilie gilt als Tabuthema. Immer wieder klagen Opfer darüber, dass Eltern, Freunde, Lehrer weggesehen haben, statt einzugreifen und ihnen zu helfen. SPLITTERMÄDCHEN sieht nicht weg, dieser Roman sieht genau hin. Provokant und gleichzeitig poetisch erzählt er eine aufrüttelnde Geschichte, die den Leser bis zuletzt in Atem hält. Denn Ela verfällt weder in Schweigen noch in blinde Panik. Stattdessen schlägt sie zurück. Doch ist ihr Weg der richtige?
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Seitenzahl: 346
REBEKKA KNOLL
Sie schließt die Wohnungstür so fest, dass sie nicht mehr umkehren kann. Jetzt ist sie draußen und starrt auf den runden Türknauf. Da kommt keiner mehr rein. Jetzt nicht mehr.
Alleine steht sie im Flur. Es ist kühl, die kalte Luft steigt die Treppe hinauf, alle drei Stockwerke hoch bis zu ihren Beinen.
»Warte im Fahrstuhl auf mich«, wurde ihr gesagt. Doch sie kann nur auf den runden Türgriff starren. Auf das Holz der Tür. Dahinter ist es still.
Vor nicht einmal einer Stunde hatten sie zu zweit im Keller gestanden. Dort unten hatte es noch ein Zurück gegeben. Vor kaum einer Stunde.
Sie hatte die Patronen in der einen Hand, das Magazin in der anderen gehalten. Und genau gewusst, was zu tun war. Sie hatte es so oft geübt. Sie hatte nicht einmal darüber nachdenken müssen. Also hatte sie nicht gedacht, sondern es einfach getan.
Und jetzt, allein im kalten Flur, kann sie sich nicht mal mehr daran erinnern. Hatte sie die Waffe wirklich geladen? Haben ihre Hände es automatisch getan? Vielleicht haben sie auch gestockt. Vielleicht haben sie das Magazin leer in die Waffe zurückgeschoben.
Langsam dreht sie sich um, weg von der Tür, dem Knauf, hin zum Fahrstuhl.
»Warte im Fahrstuhl auf mich.«
Sie drückt auf den kleinen Pfeil, der nach unten zeigt. Sie will runterfahren und dann losrennen. So schnell sie kann.
Der Fahrstuhl ist noch im Erdgeschoss. Dann im ersten Stock. Im zweiten. Im dritten. Leise ratternd öffnet sich die Tür und fast erwartet sie, hinter diesem Rattern ein anderes Geräusch zu hören.
Nur einmal kurz und dumpf.
1
Als Susi den Brief unter der Tür hindurchschiebt, wird ihr Rücken ganz rund. Ela kann die einzelnen Wirbel sehen, wie sie sich gegen die Haut drücken. Als würden sie Susis Haare wegschieben wollen. Eigentlich hängen diese blond bis auf Susis Steißbein, aber jetzt fallen sie rechts und links über ihre Ohren, hinunter zu ihren Händen und auf den Brief. Langsam verschwindet er im Türspalt.
Ela muss lachen und drückt die Klingel. Schnell laufen die Mädchen zur Treppe und steigen ein Stockwerk höher. Susi hat noch zwei Briefe. Der eine wird rechts unter der Tür hindurchgeschoben, der andere links. Sie klingeln auf drei. Und rennen wieder runter. Eine Treppe, die zweite – der Typ aus dem Dritten steht lächelnd in der Tür –, noch eine und schließlich die letzte.
Zurück in der eigenen Wohnung, wo Ela den Staub ihrer Flohmarktmöbel einatmet und den Geruch von Susis Shampoo, das nach dem Duschen noch lange für diese Friseurladen-Atmosphäre sorgt.
Elas und Susis WG ist klein, vollgestellt, unordentlich, aber gemütlich. Finden Ela und Susi. Und heute soll es ein besonderer Abend werden, also haben sie aufgeräumt. Zumindest in Susis Zimmer, dem größeren. Sie haben alles an die Wände geschoben, den Kleinkram in Regalen, Schubladen und Kartons verstaut und in der Mitte des Raums ein paar Sitzsäcke, Matratzen, Hocker und Sessel versammelt. Auf einem kleinen Tisch stehen Wein und Wodka. Nur kurz nimmt Susi sie noch einmal runter, stellt stattdessen einen Stuhl auf den Tisch und darauf einen Sitzsack. Vorsichtig klettert sie an dem Turm hinauf, und Ela reicht ihr die große Discokugel.
Einen ganzen Tag, zwei Flaschen Wein und drei ausgelutschte Fingerwunden haben sie gebraucht, um die Kugel zu basteln. Dafür sind alle ihre alten CDs draufgegangen und die halbe Füllung der Heißklebepistole. Sie wollten schließlich eine große Discokugel. Eine riesengroße.
Susi balanciert auf dem Sitzsack und macht sich ganz lang. Vorsichtig hängt sie das Seil der Kugel an den Haken. Schon jetzt fällt das Licht der Nachttischlampe auf die Discokugel und von dort aus überallhin. Zwischen Susis blonde Brauen, auf Elas nackte Arme und auf das Kleid, das über der groben Narbe auf ihrem Oberschenkel endet.
»Was meinst du, wer kommt heute?«, fragt Ela und streicht sich glättend über den Bauch, als wollte sie den gleich mit glätten und nicht nur die Stofffalten ihres Kleides.
»Alle!«
»Es sind noch nie alle gekommen.«
»Ja.«
»Aber heute könnte das trotzdem passieren?«
»Klar.«
»Was jetzt?«
»Na, die werden alle kommen.«
»Quatsch.«
Vorsichtig klettert Susi wieder von ihrem Turm runter, und Ela nimmt schon mal einen Schluck. Susi auch.
»Warum denkst du denn, dass sie alle kommen?«, fragt Ela.
»Wir haben doch nur drei Leute eingeladen.«
»Genau. Da ist doch die Wahrscheinlichkeit viel kleiner, dass alle kommen.«
»Ich finde, die Wahrscheinlichkeit ist viel kleiner, wenn man hundert Leute einlädt.«
»Ja?«
»Dass die alle kommen. Da haben wir es doch mit dreien viel leichter.«
»Mmh.«
»Das kann halt nur drei Mal schiefgehen, nicht hundert.«
Als Susi »hundert« sagt, klingelt es. Bei einem der Gäste scheint es schon mal nicht schiefgegangen zu sein. Ela läuft zur Tür und würde dabei so gerne die kleinen Lichter der Discokugel auf ihrem Rücken fühlen.
Sie öffnet und weiß schon, das muss der Typ aus dem Dritten sein. Der, der gerade schon in der Tür gestanden hatte, der Erste, dem Ela den Brief zuschieben wollte. Weil sie ihn gestern ohne Brille gesehen hat. Er ist schön ohne Brille und hatte ein bisschen zu lange nach dem Schlüssel gesucht. Stand vor der Haustür und wühlte in seinem Rucksack – im ganzen Rucksack. An Stellen, an denen kein Mensch seinen Schlüssel verstaut. Ela ist, von der Kreuzung aus, langsam auf ihn zugegangen, ganz langsam, jeder Schritt bewusst. Sie hatte ihren Körper im Rhythmus leicht gebogen – gerade so weit, dass es unter ihrer kurzen Lederjacke sichtbar gewesen sein muss – und hat ihn beobachtet. Seine gemütlich wandernden Arme, die zur Hälfte im Rucksack steckten, sein brillenloses Gesicht, seinen breiten Hals, den selbstbewussten Haaransatz. Drei Schritte bevor Ela ankam, holte er den Schlüssel dann doch aus der Tasche, lächelte, zuerst wie aus Versehen zur Tür, dann in Elas Richtung. Und hielt ihr die Tür auf.
Jetzt hält Ela ihm die Tür auf und lächelt direkt in sein Gesicht. Er trägt wieder keine Brille, zum Glück.
»Meine Einladung«, grinst er und überreicht ihr den eigenen Brief zurück.
Einladung zur dritten Hausvereinigung der Waldmannstraße 32, heute um 20 Uhr. Lasst uns die Stockwerke näher aneinanderrücken, uns unter den niedrigen Decken zusammenkauern und anstoßen. Susi und Ela, 1. Stock.
Ela faltet die Einladung wieder zusammen, nickt feierlich und gibt ihm die Hand.
»Ich bin Ela. Hi!«
»Micha. Freut mich.«
Dann führt sie ihn in Susis Zimmer, unter die Punkte der Discokugel.
Susi strahlt ihn an, schenkt ihm ein und weist ihn in einen Sitzsack. Am liebsten würde Ela gleich mitkommen, in den Sitzsack, doch dafür ist es noch zu früh.
Bei der allerersten Hausvereinigung hatte sie es so gemacht. Der Student aus dem Fünften mit seinen Sommersprossen hatte ihr gleich gefallen. Er roch nach Sonnenbank und schmeckte auch so. Doch nach dem ersten Kuss war noch niemand betrunken, die Gespräche waren schleppend, der Student peinlich berührt, und eine halbe Stunde später sah sie einen kleinen weißen Fleck über seiner Oberlippe, der mit jedem Wort auf und ab wippte. Sie fragte sich, ob sie ihn dort hinterlassen hatte, ob es ihr Speichel war, den er jetzt mit sich herumtrug, ob sie den Studenten gezeichnet hatte, gekennzeichnet, oder ob sie sich selbst auf ihm ausstellte. Vielleicht sahen ihn auch die anderen. Das dünne Mädchen im Sessel oder Susi, die sich ihre Haare ums Handgelenk wickelte. Vielleicht starrten auch sie nur auf den kleinen weißen Fleck und erkannten darin die ganze Ela. Wie sie küsst und spuckt, wie sie Dinge übereilt und sie dann bereut. Wahrscheinlich sind es dieser Kuss und Elas Speichel gewesen, die den Abend von Anfang an in die falsche Richtung gelenkt hatten. Um neun sind die zwei Gäste schon wieder gegangen, und niemand wusste, ob man sich zum Abschied noch die Hand geben konnte oder sich schon umarmen musste. Sie taten nichts von beidem, und als die Tür zu war, hat Susi Ela plötzlich mit zusammengezogenen Augenbrauen angestarrt.
Heute will Ela es anders machen. Sie wirft den Kopf zurück, hofft, dass Micha ihr auf den Hals sieht, und strahlt in die Runde.
»Das ist Susi! Wir haben zusammen Abi gemacht, vor einem halben Jahr. Dann sind wir hierhergezogen, wir sind also noch total frisch in der Stadt. Susi studiert Mathe, und ich bewerbe mich gerade an Schauspielschulen. Ist echt nicht so einfach, die Aufnahmeprüfungen sind hart. Aber ich übe den ganzen Tag. Vielleicht hast du mal jemanden im Haus trällern hören. Das war dann ich.«
Ela lacht laut, Susi macht mit, und Micha holt Luft, um zu antworten. Eigentlich wollte Ela noch ein paar auflockernde Sätze hinterherwerfen, aber wenn Micha schon freiwillig reden will, sollte sie ihn lassen. Doch dann sagt er nur: »Ja, kann sein.«
»Entschuldige«, lacht Ela also weiter, »ich hoffe, das nervt nicht. Muss aber sein, mein Gesangslehrer meint, ich muss die Übungen jeden Tag machen.«
»Verstehe«, er lächelt, »und Ela ist dein richtiger Name?«
»Ja!«, sagt sie schnell, doch jetzt mischt sich Susi ein.
»Nein«, sagt sie, »Quatsch. Sie heißt Elisabeth. Aber mit sieben hatte sie mal eine orientalische Phase.«
Micha lacht. »Also ist der Name arabisch?«
»Oder hebräisch«, sagt Susi.
»Da bedeutet er Göttin«, Ela lächelt. »Aber jetzt erzähl du. Was machst du und warum und alles?«
Während Ela redet, schenkt Susi Wein nach. Micha trinkt ihn schnell aus.
»Ich studiere.«
»Und was?«
»Informatik.«
»Oh«, Ela grinst.
»Ich weiß.«
»Was?«
»Na das Oh.«
»Wie das Oh?«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Ich nicht.«
»Oh heißt in dem Fall immer: Oh, unerotisch.«
Ela muss lachen, Susi auch. Sie schenkt Micha nach und kleckert nicht dabei. Ela hätte an dieser Stelle bestimmt gekleckert.
»Aber ich hab ›oh‹ doch gar nicht gesagt wie ›oh, unerotisch‹.«
»Sondern wie?«
»Wie ›oh, überraschend‹.«
»Wieso überraschend?«
»Weil du kein Gesicht hast wie ein Informatiker.«
»Dabei liebe ich auch noch Comics.«
»Informatiker lieben Comics?«
»Nerds lieben Comics.«
»Oh.«
»Schon wieder dieses Oh.«
»Das ist doch ein Kompliment!«
Leise wirft Susi ein: »Es heißt: Oh, dabei ist er gar nicht unerotisch.«
Jetzt lacht Micha und trinkt aus. Immer wieder, bis es noch einmal klingelt an diesem Abend. Es ist ein Paar aus dem vierten Stock, sie bringen Wein mit und schauen sich belustigt in der kleinen WG um.
Während die beiden sich darüber freuen, wie unterschiedlich zwei exakt gleich geschnittene Wohnungen aussehen können, wie schön die Discokugel sich dreht, obwohl es keinen Wind gibt, und wie hübsch Susis Haare fallen, kommt Ela dann doch zu Micha in den Sitzsack. Schön sieht es wahrscheinlich nicht aus, wie sie sich zuerst mit den Händen im Stoff abstützt und einsinkt, wie Micha zur Seite rutschen will, aber nicht aus seiner Kuhle kommt, und sie dann auf seinem Schoß landet – nur halb, aber immerhin auf seinem Schoß.
Da sitzen sie, in einem Sitzsack, die Oberschenkel übereinander, die Blicke verschränkt. Als würden sie auch ihre Wimpern verschränken wollen. Und lachen nicht mehr. Michas Lippen sind blau vom Wein, seine Zähne auch. Ela will sie abschmecken und beugt sich vor. Fast wirft sie ihn dabei aus seiner Sitzsackkuhle, doch er fängt sich wieder und öffnet den Mund gerade so weit, dass sie auch seine blaue Zungenspitze sehen kann.
Während die anderen über den Schnitt der Wohnung reden und auf gute Nachbarschaft trinken, küssen sich Micha und Ela, schwanken in ihrer nicht mehr ganz so gemütlichen Sitzgelegenheit und nippen zwischendurch immer mal wieder am Wein. Und bevor noch irgendjemand gehen möchte, stehen die beiden schon auf – zuerst viel zu weit nach vorne gebeugt, dann mit den Händen nachhelfend und stolpernd –, verlassen den Raum und betreten den anderen. Eine Spur zu laut schließen sie die Tür hinter sich ab.
*
Ela behält Micha da, die ganze Nacht. Auch wenn er keinen weiten Heimweg gehabt hätte. Es wären nur zwei Treppen gewesen, drei Türen: Elas Zimmertür, ihre Haustür und dann noch seine. Aber er will nicht, und sie mag, dass er nicht will. Dass er ihr stattdessen die Finger auseinanderbiegt, ihr den Scheitel auf der falschen Seite zieht und ihr grinsend die Decke wegnimmt, kurz bevor sie fast eingeschlafen wäre.
Ela schläft also gar nicht ein, Micha auch nicht. Und doch wird es nicht hell. Im Flur lacht Susi noch immer mit dem Pärchen aus dem Vierten, sie machen sogar die Musik an, und der Fußboden knarzt, als würden sie tanzen. Ela weiß genau, wie Susis Haare dabei wehen. Wenn sie tanzt, bewegt sie sich kaum, nur ihre Haare tun es. Das war schon in der Schule so, schon bevor die Mädchen in Clubs tanzen gingen, schon im Sportunterricht. Sie sollten zu zweit eine kleine Choreografie entwickeln, doch nach zehn Minuten war Ela ratlos. Egal, welchen Schritt sie vorschlug, bei Susi konnte man nichts davon sehen. Ihre Bewegungen waren klein, unauffällig und nebensächlich. Leider hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch keine langen Haare, die sie einhüllen, um sie her fliegen und jede winzige Bewegung in große Wellen, Haarwellen, Haartsunamis umsetzen können. Sie hatte damals ganz kurze Haare, aber schon diese kurzen Haare machten anmutige Bewegungen, während Susi sich nicht bewegte. Sie wogten auf und ab.
Mit elf beschloss Susi dann, ihre Haare wachsen zu lassen, so lang sie nur wollten. Zu tanzen begannen sie schon ein Jahr später. Die Mädchen waren zwölf und sollten auf Stefans Katze aufpassen. Ela liebte es, auf Stefans Katze aufzupassen. Stefan war ihr großer Held. Er konnte alles und hatte überhaupt die schönste Katze. Leider wusste die das auch. Immer wieder stellte sie sich fünf Meter vor ihnen auf, schaute sie verträumt an und streckte sich, so lang sie konnte. Sie war metallisch schwarz, auch ihre Pfoten und ihre Augen. Ihr Fell fühlte sich schon weich an, wenn Ela es nur ansah. Und so saßen die Mädchen manchmal stundenlang in Stefans Wohnung und schauten auf das schöne Tier. Sonst gab es da auch nicht viel zu sehen. Die Wohnung ist noch heute übertrieben modern eingerichtet: Boden und Wände weiß, die Möbel schwarz und schlicht, dazwischen teurer, leerer Platz. Gemütlich ist es nicht gerade, selbst die Katze konnte das nicht ändern. So schön sie auch war, sie konnte den leeren Platz nicht füllen. Also saßen die Mädchen auf den schwarzen Ledersofas und betrachteten sie. Manchmal sahen sie fern, manchmal unterhielten sie sich, meistens schauten sie nur.
An diesem einen Tag mit zwölf haben sie ihr Lieblingslied eingeschaltet. The World’s Greatest. Es war ganz neu und füllte den leeren Platz zwischen den Möbeln. Nicht nur mit seinen Tönen, sondern auch mit Susi und Ela: Sie standen auf, sangen laut und sprangen durch den Raum. Es war das erste Mal, dass Ela Susis Haare dabei tanzen sehen konnte. Mit kleinen Bewegungen, die Ela kaum wahrnahm, ließ sie sie tanzen. Wo ihr Bein nicht zuckte, da zuckte eine Strähne zur Seite; wo die Hüfte nicht wippte, da wippte ihr Haaransatz. Wo ihre Schultern sich nicht schüttelten, da schüttelten sich alle Spitzen. Sie flogen auf, drehten und wirbelten im Raum herum, als wäre Susi unter Wasser. Nur viel schneller. Ela hat laut gegluckst und Susi sich noch mehr in ihre tanzenden Haare gehüllt. Irgendwann stand Stefan lachend in der Tür, kuschelig groß im breiten Türrahmen, und sein ganzes Gesicht wirkte vergnügt. So was hatte er sicher auch noch nie gesehen. Er ließ die Mädchen weiter tanzen. Kurz schaute er zu. Dann ging er in die Küche, um ihnen heiße Schokolade zu machen.
Seitdem hat Susi nie anders getanzt.
Nicht auf der Kirmes, nicht, als sie zum ersten Mal in die Disco gingen. Immer war sie der Hingucker, und das war auch für Ela ein großer Vorteil. Durch Susis Haare wurden die Jungs auf sie aufmerksam. Sie kamen rüber, unterhielten sich mit Susi und begannen dann, auch mit Ela zu flirten. Am Ende musste man sich eh einigen, wer mit wem vor die Tür wollte.
Ela grinst in ihr Kissen, aber Micha kann es im Halbdunkel nicht richtig sehen.
Sie hören dem knisternden, knirschenden Fußboden so lange zu, bis es hell wird. Und erst, als Micha zur Uni geht, kann Ela dann doch noch ein bisschen schlafen.
*
Eigentlich hat sich Stefans Wohnung in den letzten Jahren absolut nicht verändert. Ela ist das zuvor nie aufgefallen, aber heute kommt ihr alles angenehm vertraut vor. Sodass der leere Platz zwischen den Möbeln jetzt doch warm erscheint. Und die schwarzen Sofas gemütlich. Das Klavier blitzt aus der hinteren Ecke am Fenster, wo es immer schon geblitzt hat, weil die Sonne nachmittags hereinscheint. Es riecht nach frischer Zitrone, wie es hier immer nach frischer Zitrone gerochen hat, und Stefan macht Ela erst mal eine heiße Schokolade.
»Du hast doch nicht getrunken?«, ruft er aus der Küche. Er klingt, als würde er dabei grinsen. Ela geht seiner Stimme entgegen, durch die Tür gleich rechts.
»Wieso, stinke ich?«, sie lacht.
Auch Stefans Küche ist wie immer: hell, sauber und glänzend grau. Er erhitzt die Milch in einem kleinen Kochtopf, den Gasherd hat er auf der höchsten Stufe eingeschaltet.
»Jedenfalls nicht bis hierher.«
Ela haucht laut und lang in die weite Küche hinein.
»Nichts«, bestätigt Stefan.
»Sondern?«
»Deine Stimme.«
»So schlimm?«
»Singen wäre heute jedenfalls nicht gesund.«
»Scheiße.«
Ela lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen.
»Das ist doch nicht so tragisch. Die Vorsprechen gehen eh alle erst in ein paar Wochen los.
»Schon.«
»Du trinkst ganz viel Kakao, bis du nicht mehr heiser bist, und wir holen die Gesangsstunde übermorgen nach.«
»Ach, Mann.«
»Sonst wird es nur schlimmer.«
Ela nickt, ohne Stefan anzusehen.
Sie hatte sich heute Morgen endlich für ein Lied entschieden, das sie perfekt einstudieren wollte: The World’s Greatest. Vielleicht wird es bei den Vorsprechen selten gewählt, weil es schon so alt ist. Sie hatte sich den ganzen Tag auf die Stunde gefreut. Wenn sie das gewusst hätte, wäre sie gar nicht erst aufgestanden.
Stefan mischt das Kakaopulver in die heiße Milch, sodass der Schokoladengeruch den von Zitrone überdeckt.
»Hat es sich denn gelohnt?«, fragt Stefan.
»Was?«
»Na, deine Stimme. Gestern Abend«, und setzt sich zu ihr. Er lächelt mit seinen grauen Augen, dem leicht silbernen Blick. Beide Pupillen schauen etwas zu weit in die Mitte. Ela hat das schon immer gemocht – als würde Stefan vorsichtig in sich hineinsehen. Oder Ela auf die Nasenspitze.
»Na ja«, sagt sie und grinst.
»Habt ihr wieder gefeiert?«
»Ein bisschen.«
»Jetzt erzähl schon.«
Eigentlich ist Stefan schon Mitte vierzig, aber vor allem jetzt, wenn er so neugierig wird, kommt er Ela viel jünger vor. Wie vierzig sieht er sowieso nicht aus, dafür ist sein rundliches Gesicht zu glatt. Wenn Ela es nicht wüsste, könnte sie sein Alter wohl gar nicht schätzen. Noch weniger in diesem Moment. Er stützt seine kräftigen Arme auf den Tisch, lehnt sich vor und zieht die Augenbrauen ganz hoch.
»Susi und ich haben wieder eine kleine Hausvereinigung gefeiert.«
»Und es scheinen spannende Leute gekommen zu sein?«
»Na ja, ein Pärchen war da, aber von den zweien hab ich nicht viel mitbekommen.«
»Weil …?«
»Weil ich mit Micha beschäftigt war.«
Stefan lacht.
»Ich hab es mir schon gedacht, als du in der Tür standest.«
»O Gott, bin ich so durchschaubar?«
»Na ja, deine Stimme. Die Augenringe. Und dass du trotzdem so fröhlich bist.«
Ela haut auf den Tisch, sodass der Kakao schwankt und ein paar Tropfen auf den stählernen Tisch spritzen. »Jetzt hab ich auch noch Augenringe!«
Stefan sagt lachend: »Na, das kannst du doch selbst sehen«, während Ela die Tropfen mit ihrem Finger einsammelt und jeden einzelnen von der Kuppe leckt.
»Sei lieb!«, sagt sie, »Sonst werde ich noch laut und wir können wochenlang nicht üben. Wochenlang!«
»Na gut. Dann hab ich’s am Knutschfleck gesehen.«
»Was für ein Knutschfleck?!« Jetzt wird sie doch laut.
»Ela!«, lacht Stefan, »Du hast einen riesigen Knutschfleck im Nacken!«
Sie lässt den letzten Kakaotropfen auf ihre Hose fallen und betastet ihren Hals. Wirklich, es gibt eine Stelle, an der sich ihre eigenen Finger unangenehm anfühlen. Eine große Stelle. Schnell macht sie ihre Haare auf, schüttelt sie und grinst.
»Ich hab doch keinen Knutschfleck.«
»Ach so«, sagt Stefan.
»Was du immer redest.«
»Und du redest heute gar nicht! Jetzt erzähl schon! Wer ist Micha?«
»Ein Typ aus dem dritten Stock. Er ist echt schön ohne Brille.«
»Und heute Morgen war er es immer noch?«
»Es ist wirklich seltsam, aber ja. Dabei hat er sie dann doch aufgesetzt. Trotzdem schön. Und ich wollte gar nicht schlafen.«
Jetzt lächelt Stefan noch breiter.
»Das klingt ja wirklich gut! Dann willst du endlich mal einen wiedersehen?«
»Ich hab ein gutes Gefühl bei dem. Wir gehen gleich heute Abend was essen.«
»Ich glaub’s nicht«, lacht er.
»Ich auch nicht. Aber das könnte was werden.«
Stefan hebt seine Kakaotasse.
»Dann mal auf Micha und Ela. Dass da einer gekommen ist, der deinen Flattergeist endlich beruhigt!«
»Hey!«, lacht sie und stößt an.
Der Kakao schmeckt, wie er schon vor acht Jahren geschmeckt hat: nicht zu süß, fast schon herb und dunkel schokoladig.
Sie hätte Lust, ihn in Susis Gesicht zu verteilen, so wie sie es früher gemacht hat. Damals, als die Katze noch lebte. Sie strich ihnen um die Beine, während Ela ihren Finger heimlich in die dunkle Masse getaucht hatte. Susi war abgelenkt gewesen, weil Stefan wieder eine seiner Geschichten vom Arbeitsamt erzählt hatte. Von seiner Vormittags-Welt, wie er es nannte. In der er im Büro saß und die Menschen bei der Arbeitssuche beriet.
Vielleicht hatte er gerade von der Frau, die nur Rosa trug, erzählt: rosa Kleid, rosa Strumpfhose, rosa Haarband, rosa Fingernägel. Die Frau tat das aber nur, weil sie unglaublich intelligent war. Sie war so intelligent, dass alle Angst vor ihr hatten. Sie sah so schlau aus, und jeder ihrer Sätze war tiefsinnig klug, sodass sie regelmäßig aus den Vorstellungsgesprächen geworfen wurde. Deswegen hatte sie angefangen, Rosa zu tragen. Das wirkte weich und lieb und natürlich ein bisschen dumm. Deswegen hatte sie sofort ein Jobangebot bekommen. Sie war nur noch einmal zu Stefan gegangen, um sich bei ihm mit einer Himbeertorte zu bedanken. Die stand damals auf dem grauen Tisch und Susi hatte ein großes Stück in sich hineingeschaufelt.
»Gut, dass ich nicht so schlau bin«, hatte Ela mit ihrem Finger im Kakao gesagt. »Ich hasse Rosa!« Susi hatte gelacht – sie wusste ja nichts von Elas Finger im Kakao.
»Du bist schlau«, hatte Stefan gesagt, »aber du solltest immer tragen, was du möchtest!«
Die Himbeertorte war aus Susis Mundwinkeln hervorgequollen, als sie sich Ela grinsend zugewandt hatte. In dem Moment hatte Ela den Finger aus dem Kakao gezogen und ihn in Susis Gesicht geschmiert.
Erst auf die Stirn und dann runter über beide Wangen. Susi hatte gelacht und sich auf den Boden fallen gelassen. Die Katze war fauchend weggerannt.
Jetzt hängt sie nur noch an der Wand, als Foto hinter Stefans Kopf. Wie sie damals thronte und glänzte. Am liebsten würde Ela Stefans Gesicht vollschmieren. Sie grinst, aber natürlich tut sie es nicht. Wirklich lustig fände es hier wahrscheinlich niemand mehr.
»Wenn du schon nicht singen kannst«, sagt Stefan jetzt, »könnten wir doch wenigstens für dein Vorsprechen üben.«
»Gern!«
»Hast du schon eine Rolle aus der Weltliteratur ausgewählt?«
Er springt auf, läuft zu seinem Bücherregal und beginnt, eine Reihe klassischer Autoren vorzulesen. Bei Kleist ruft sie laut »Stopp!«
»Aber ich hab nur Die Marquise von O.«
»Schlimm?«
»Na ja, es ist kein Drama.«
Ela will die Geschichte trotzdem hören, und so erzählt Stefan von einer jungen Frau, die schwanger wurde und nicht wusste, ob sie vergewaltigt wurde und von wem. Doch schon nach den ersten Sätzen lässt Ela ihren Kopf auf die Tischplatte sinken und schläft ein.
2
Er wacht von allein auf. Wie jeden Morgen, kurz vor dem Weckerklingeln, es ist 05:57 Uhr. Ein Griff auf den Nachttisch und er muss auch heute kein schrilles Klingeln hören. Er drückt den Knopf auf seiner Uhr, die im Dunkeln leuchtet, und bedauert, dass nicht alles, was er am Morgen braucht, im Dunkeln leuchtet. Nicht die Hausschuhe, die parallel nebeneinander vor dem Bett stehen, nicht der Morgenmantel an der Wand, nicht der Türgriff, den er drücken muss, um ins Bad zu gelangen. Dann bräuchte er das Licht nicht einzuschalten, sondern könnte im Dunkeln unter die Dusche gehen. Im Dunkeln duschen, wie schön das wäre.
Zwar weiß er genau, was wo steht, und theoretisch müsste er wohl kein Licht anmachen. Doch möchte er nicht danebengreifen. Um keinen Preis daneben. Er stellt sich vor, wie sein Fuß nur die Außenwand des Hausschuhs streift. Das unangenehme Kitzeln an seiner kalten Hornhaut. Wie seine Hand neben dem Morgenmantel gegen die Wand prallt. Wie seine Finger dabei einknicken, umknicken, seine Nägel am Putz kratzen. Er stellt sich den Schmerz vor von Fingern, die an der rauen Wand aufgerieben werden, deren Haut aufspringt und sich zu allen Seiten einrollt, offene Knöchel, die kleine Blutflecken auf der Wand hinterlassen. Und er könnte sie nicht sehen, die Blutflecken. Die nassen Stellen, die das bisschen Fleisch über dem Knochen absondert. Er stellt sich vor, wie er mit schmerzender Hand zur Tür läuft, den Griff erst beim dritten, vierten, fünften pochend blutigen Anlauf findet und ins Bad wankt, nur um sich im Duschvorhang zu verheddern. Er verliert den Halt, und seine Hand verfehlt den richtigen Winkel, um sich am Boden abzufangen. Also schlägt er sich den Ellenbogen und das Knie an, er kann richtig hören, wie die Gelenke knirschen und knacken. Aber duschen muss er, also würde er sich wieder aufrichten, so gut er kann und sicher freihändig. Unter der Dusche könnte er dann vielleicht den Hahn nicht finden. Oder die richtige Temperatur. Er würde das Wasser zu kalt einstellen. Oder zu heiß, viel zu heiß. Doch das alles wäre unwichtig, schließlich würde ihn das Wasser sowieso nicht finden. Dafür wäre es zu dunkel. Möglicherweise flöße das Wasser ohne Licht an ihm vorbei, um ihn herum und berührte ihn nirgends. Nur an den Fußsohlen würde er merken, dass es nass wird. Aber egal, wie er sich stellte und drehte, das Wasser wäre woanders. Weil es vielleicht auch nach ihm suchte, sich drehte und wendete, sich panisch umsah und ihn nicht erkennen konnte. Das Wasser und er würden im Dunkeln nacheinander tasten und sich nicht finden. Bis er selbst vergessen hätte, wo er war, und nicht mehr wüsste, wie er den Vorhang zur Seite schieben, den Fuß über das Duschbecken bewegen, den anderen nachziehen, zwei Schritte vorwärts machen und dann die Hand heben müsste, um das Licht im Bad endlich einzuschalten.
Also macht er es gleich an, noch im Bett liegend, die Hand auf dem Nachttisch. Er blinzelt in den hellen Raum hinein und ärgert sich, dass das Licht seine Möbel und Wände viel schneller erschließt, als er es kann.
Dabei bemüht er sich. Richtet sich auf, steigt mit einer flüssigen Bewegung in seine Hausschuhe, mit zwei behausschuhten Schritten ist er beim Morgenmantel, bemorgenmantelt bald darauf bei der Tür und schließlich im Bad. Der erste Griff geht zum Licht, der zweite ins eigene Gesicht. Er steht vor dem Spiegel und fährt sich über die Augen, prüft die Dichte seiner Brauen und bemerkt wieder zwei Härchen, die herausstehen. Geübt zupft er sie aus, er braucht nur zwei Fingernägel dazu.
Dann zieht er sich aus. Zum Glück hat er kein Brusthaar, darüber ist er schon immer sehr froh gewesen. Seine Brust ist zwar ein wenig zu weich, aber das würde nur denjenigen auffallen, die ihn anfassen. Solche Menschen gibt es zur Zeit nicht. Wenn überhaupt, können andere seine Brust sehen, und auf ungeübte Betrachter wirkt sie vielleicht sogar muskulös.
Sein Bauch macht ihm da schon mehr Sorgen. Langsam entsteht eine Falte am unteren Ende, über der er mehr und mehr nach vorn zu hängen droht. Er inspiziert sie gewissenhaft und testet, ob sie tiefer geworden ist: Dafür legt er seinen Zeigefinger hinein, darüber den Mittelfinger, und ist froh, dass er den äußeren Rand seines breiten Gelenks noch sehen kann. Lange wird es aber nicht so bleiben. Es ist erst drei Jahre her, dass er noch nicht einmal seinen kleinen Finger in der Falte verstecken konnte. Vielleicht sollte er noch eine weitere Sportart anfangen. Yoga. Oder Capoeira.
Wenigstens kann er noch seine sauber gestutzten Schamhaare sehen, drei muss er sich ausreißen, sie wachsen in die falsche Richtung. Ansonsten ist er zufrieden. Jetzt kann er in die Dusche steigen und mit geübten Handgriffen die genau richtige Temperatur einstellen. Es läuft ihm heiß über den Körper, den Kopf lehnt er gegen die kühle Wand.
Bis er seine Haare wäscht, sich einseift und die Augen dabei weit offen lässt.
Er weiß genau, wie er nun den Vorhang zur Seite schieben, den Fuß über das Duschbecken heben, den anderen nachziehen und zwei Schritte ins Bad machen kann.
Mit einem frischen Handtuch aus dem Schrank trocknet er sich ab und achtet dabei vor allem auf die Stellen zwischen seinen Zehen, denn er hasst es, wenn er in seinen Socken mit den Zehen wackelt und es sich rutschig anfühlt.
Zurück im Schlafzimmer, hängen seine Kleider schon auf dem Stuhl bereit. Und mit dem Gesicht zum Spiegel zieht er ein Kleidungsstück nach dem anderen an. Prüft, ob alles noch sitzt, ob die Länge passt, ob seine Kleidung auch gut genug gebügelt ist.
Erst dann verlässt er mit großen Schritten den Raum.
3
»Ich kann dich auch hinbringen!«, sagt Micha. – »Jetzt?« – »Morgen früh natürlich.« – »Lass uns jetzt hinfahren!«
Ela springt auf. Ihr Glas ist sowieso fast leer. In einem Zug trinkt sie den Rest Weizen aus und sieht Micha möglichst herausfordernd an.
»Es ist halb eins!«, sagt er nur und steht nicht auf. »Nachts! Da ist doch jetzt kein Mensch mehr! Um die Uhrzeit!«
Er lehnt sich in seinem Sessel zurück, nimmt sein Bier und trinkt einen großen Schluck. Um sie herum beginnen die Kellner gerade, die Tische abzuwischen, den Boden zu kehren und die Spülmaschine noch ein letztes Mal einzuschalten.
Einer von ihnen, schlaksig und schlurfend, kommt an ihren Tisch und fragt nach der letzten Runde.
»Wir würden gern zahlen«, antwortet Ela und sieht wieder Micha an.
Er schweigt und lächelt. Irgendwann, als der Kellner längst zur Kasse gelaufen ist, sagt Micha: »Was willst du denn da sehen?«
»Keine Ahnung, das Gebäude, ob noch jemand in der Kantine sitzt, wie es da aussieht, irgendwas!«
»Du warst doch erst letztens im Theater.«
»Aber das ist ewig her.«
»Zweieinhalb Wochen!«
»Ewig!«
»Ich war doch dabei, Ela, in der ersten Reihe, und du hast alles kommentiert wie im Kino!«
»Zweieinhalb Wochen sind ewig her!«, protestiert sie.
Und muss trotzdem ein bisschen grinsen. Weil es so lustig gewesen ist, Micha jeden Gedanken ins Ohr flüstern zu können, alles loszuwerden und dafür seinen Ohrläppchengeruch einzuatmen, ihre Hände auf seine Oberschenkel zu legen und den Arm an seinen lehnen zu können. Meistens hat er geräuschlos genickt, aber zwei oder drei Mal musste er seine Hände an ihre Wangen legen, um ihren Kopf wieder gerade auszurichten, mit Blickrichtung zur Bühne. Auch dann, als sie ihm sagte: »Du bist wirklich schön ohne Brille.«
»Nur ohne?«, hat er grinsend gefragt, und Ela hat leise gelacht, bis er ihren Kopf wieder in Richtung Bühne drehte.
Sie grinst und weiß natürlich, dass es eine seltsame Idee ist. Mitten in der Nacht zu einem leeren, dunklen Theater zu fahren, um davorzustehen und hochzusehen. Und doch.
Micha holt Luft zu einem neuen Anlauf: »Was hat Stefan denn gesagt?«
»Was soll er gesagt haben?«
»Er hat dir doch bestimmt beschrieben, wie das da abläuft.«
»Na ja, ich stelle mich halt erst mal vor. Und weil denen ja eine Praktikantin abgesprungen ist, würde es schon übermorgen losgehen. Ich müsste mich wohl wirklich dumm anstellen, damit es nicht klappt.«
»Also ist es kein richtiges Vorstellungsgespräch?«
»Keine Ahnung. Ich glaub schon ein bisschen. Stefan meinte, ich soll erzählen, dass ich Schauspielerin werden will. Und dass ich dafür gern Theaterproben als Praktikantin unterstützen würde. Um mal zu sehen, wie professionelle Schauspieler arbeiten und wie Regie geführt wird, so was halt.«
»Na, dann brauchst du dir doch gar keine Sorgen zu machen.«
»Ich mach mir auch keine Sorgen. Ich will nur hinfahren.«
Der Kellner kommt zurück zu ihrem Tisch, legt die Rechnung ab und sieht fragend zwischen Micha und Ela hin und her. Beide legen sie einen Fünfeuroschein auf den Tisch, sagen fast gleichzeitig »Stimmt so« und stehen auf.
»Aber du weißt, dass ich morgen früh in die Uni muss?«, Micha zieht die Augenbrauen hoch.
Ela lacht: »Alter, ich hab morgen mein erstes Vorstellungsgespräch! Heul mal nicht rum!«
Im Gehen streichelt sie seine Wange, seinen Nacken, legt den Arm um ihn. Und fragt sich, wie hoch ihre Jacke dabei rutscht und ob die Kellner es bemerken.
Draußen ist es überraschend mild für Ende April. Und hell für eine Nacht. Ela lässt die Jacke offen und sieht die Straße hinunter. Es leuchten nur noch die Straßenlaternen, alle Häuser sind bereits dunkel. Am liebsten würde sie einfach losrennen. So wie sie es mit 16 gern getan hat. Sobald sie eine dunkle lange Straße sah, wollte sie laufen, an allen Häusern vorbei, an all den vielen Menschen, die übereinander-, nebeneinandergestapelt in ihren Stockwerken herumlagen, schlafend, bewegungslos, hinter den Häuserwänden, die so dick waren, dass Ela ihren Atem, ihr Schnarchen und Grunzen nicht hören konnte. Sie wollte vorbeilaufen, so schnell sie konnte, und sich vorstellen, ihr Fahrt- oder Rennwind würde die warm eingepackten Nasen in den Häusern streifen und wach kitzeln. Sodass sich rechts und links von ihr nach und nach alle Leute aufsetzten und sich verwirrt in ihren dunklen Zimmern umsahen.
Doch Micha hat einen langsamen, bestimmten Schritt, Ela läuft nebenher. Und fühlt sich, als würden sie gleich in ein Schwimmbad einbrechen. Oder in der Schule Gras rauchen.
Mit wenigen Schritten erreichen sie die Bushaltestelle und schauen auf den Plan. Noch zwölf Minuten. Also setzt Micha sich auf einen blauen Stahlsitz, und Ela setzt sich auf Micha. Lehnt ihre Stirn an seine und wartet auf den Bus.
Wenn Warten immer so wäre, würde sie gerne warten. Keiner von beiden bewegt sich, sie atmen nur und beobachten, wie sich die eigenen Atemzüge immer wieder voneinander abheben oder sich angleichen.
Bis der Bus kommt, sie schwankend und schnaufend einsammelt und quietschend von einer Station zur nächsten fährt.
Es dauert nicht lange, natürlich nicht lange in dieser Stadt, bis Micha und Ela wieder aussteigen.
Sie sind die Einzigen im Bus gewesen und sind es auch hier wieder. Zurück wird kein Bus mehr fahren, das ist ihnen klar. Doch die Nacht ist noch immer mild und Ela ist viel zu ehrfürchtig, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie bleibt auf dem großen Platz stehen, den viele kleine Lichter umgeben. Und starrt auf das Gebäude auf der anderen Seite. Besonders groß ist es nicht, sicherlich gibt es beeindruckendere Theaterhäuser. Und doch steht Ela gern hier, sieht den vielen kleinen Lichtern dabei zu, wie sie die Steinwände, die dunklen Fenster und die großen Türen anleuchten. Und stellt sich vor, sie wäre nicht draußen, sondern drinnen, so richtig drinnen: auf einer Probebühne als Medea, im Umkleideraum mit fremden Händen in den Haaren, in der Cafeteria als Schauspielerin. Sie hat Lust, mittags verschlafen durch das große Tor zu treten, weil die Premierenfeier mal wieder zu lang gedauert hat. Oder Text zu lernen, laut sprechend, während sie durch die Straßen läuft, sodass die Leute sich zu ihr umdrehen, sie vielleicht erkennen und neugierig beobachten.
Vielleicht kommt sie ja durch das Praktikum ein wenig näher an dieses Drinnen heran. Morgen wird sie jedenfalls zum ersten Mal tagsüber ein Theater betreten, auch wenn es anfangs nur die Cafeteria sein könnte.
Micha steht still neben Ela und wartet. Sonst ist der Platz vollkommen leer. Hin und wieder ist ein Auto zu hören, doch Ela dreht den Kopf nicht weit genug, um es sehen zu können. Langsam gehen die beiden auf das Theater zu, über den gepflasterten Boden, immer näher und näher heran, sodass Ela bald schon nicht mehr das ganze Gebäude im Blick hat, sondern nur noch den unteren Stock, das Muster der Mauer, ein paar Fenster und Türen, bald nur noch die Türen, eine einzige Tür, den Griff. Micha steht hinter ihr, so nah, dass sie sich berühren. Und drückt sie vorsichtig gegen den Türrahmen. Ela lacht, das ist ihr viel zu vorsichtig. Sie dreht sich um, zieht ihn an sich heran, schnell, ruckartig, packt, küsst und stößt ihn gegen die Wand, so fest sie kann. Obwohl sie gar nicht weiß, ob die beiden dabei im Schatten des Türrahmens verschwinden oder sogar noch von den Lichtern angestrahlt werden. Sie fühlt nur sein Gesicht an ihrem und die kalte Mauer des Theaters unter ihren Handflächen.
*
Am nächsten Morgen, nachdem sie mit Micha durch die dunkle Stadt nach Hause gelaufen ist, nachdem sie ein paar Stunden geschlafen hat, unruhig, träumend und immer wieder die Bettdecke zu weit weg schiebend, streift sie diese Stelle der Wand im Vorbeigehen. Sie geht an ihr vorbei, und dabei ein bisschen auch an dem Moment, an dem heute noch morgen war, an dem sie sich alles nur vorgestellt, an dem sie noch die ganze Nacht und Michas Körper vor sich hatte.
Jetzt ist es da, das Vorstellungsgespräch, obwohl die Nacht so lang gewirkt hat. Es schien, als könnte Ela die Straßen immer weiter entlanglaufen, als könnte es gar nicht hell werden oder die Straßenlaternen dunkel. Und doch ist das Theater jetzt erleuchtet – von innen und der Sonne. Ela tritt so bestimmt wie möglich in den Schatten des Türrahmens und von dort ins Innere des Theaters.
Auf der einen Seite sitzt ein Pförtner hinter einem breiten Glasfenster.
»Einen wunderschönen guten Morgen!«, ruft er strahlend und wirkt, als wolle er am liebsten hinter seiner Absperrung hervorspringen, sobald jemand hereinkommt.
»Guten Morgen!«, lächelt sie zurück und erzählt von ihrem Termin. Mit einem Zwinkern nimmt der Pförtner das Telefon in die Hand und drückt eine Taste.
Ein paar Momente, Worte und Gewichtsverlagerungen von einem auf das andere Bein später tritt eine junge Frau aus dem Fahrstuhl hinter Ela. Mit etwas zu schnellen Bewegungen gibt sie ihr die Hand, lächelt kurz und weist ihr mit dem Arm den Weg in den nächsten Raum. Alles an ihr wirkt ruckartig, ihr ganzer Körper, sogar ihr Gesicht, die Brauen, ihre Nase.
»Ich bin Simone, komm mit hierher, wir haben nicht viel Zeit.« Sie ist anscheinend die Regieassistentin, die ihr Praktikum betreuen wird.
Schnell läuft sie vor Ela her durch eine große Glastür. Dahinter stehen Holztische, Hocker, Stühle und eine lange Theke. An wenigen Tischen sitzen ein paar Leute, es ist nicht besonders voll.
»Ich trinke keinen Kaffee, du?«, fragt Simone und läuft auf einen Tisch zu. Eigentlich trinkt Ela sehr gern Kaffee und würde eine Tasse nehmen, an der sie sich festhalten könnte, aber Simone weist schon auf einen Stuhl.
»Du weißt ja, bei uns ist es gerade etwas stressig«, beginnt sie, und Ela kann nur nicken, »im Theaterbetrieb kurzfristig abzusagen wie deine Vorgängerin geht halt gar nicht. Morgen gehen die Proben los und ich hab so vielen Bewerbern absagen müssen. Ich hatte gar keine Zeit, deren Nummern wieder rauszusuchen.«
Wieder nickt Ela, sie zieht sich noch nicht einmal die Jacke aus.
»Probenzeiten sind 10–14 und 15–19 Uhr. Du bist eine halbe Stunde vorher da zum Kaffeekochen. Wenn zwischendurch was gebraucht wird, versuchst du, es zu übernehmen. Solltest du etwas nicht wissen, wendest du dich an mich. An sonst niemanden, die sind gestresst genug. Bezahlung gibt’s nicht, das kann sich das Theater nicht leisten. Ist das so okay für dich?«
»Klar.«
»Schön. Du hast gerade Abi gemacht?«
»Ja genau.«
»Und was hast du vor?«
»Ich bewerbe mich auf Schauspielschulen.«
»Na dann viel Glück.«
Simone zieht die Augenbrauen einen Tick zu weit hoch und lässt sie zu lang oben. Ihr Blick scheint über Elas Gesicht hinwegzugleiten, er rutscht auf der Wange aus, erst irgendwo neben ihr bleibt er hängen. Simone lächelt breit. Ela dreht den Kopf, hinter ihr hebt einer der Schauspieler die Hand, sie kennt ihn von ihrem letzten Theaterbesuch. Sein Handzeichen gilt Simone, im Vorbeigehen.
Ela räuspert sich.
»Dankeschön«, sagt sie, so freundlich sie kann, zu Simone, ohne dass die sie überhaupt ansieht, »es ist bestimmt nicht leicht, aber ich will das auf jeden Fall schaffen!«
Ruckartig dreht sich Simones Kopf wieder zu ihr, die dünnen Locken an ihren Schläfen zucken.
»Wenn wir irgendwann mal Zeit haben, können wir ja drüber reden. Jetzt muss ich los. Wir treffen uns morgen um neun. Dann zeig ich dir alles.«
Ela nickt nur und Simone steht schon auf.
»Bis dann!«, ruft sie, während sie durch den Raum zu einer Tür auf der anderen Seite läuft.
Plötzlich steht Ela allein in der Cafeteria. Jetzt ist sie ein wenig drinnen, im Theater, dort, wo sie hinwollte. Ein ganz klein wenig, doch jetzt will sie erst mal wieder raus. Schnell geht sie an den Tischen vorbei, an dem Schauspieler mit dem halbherzigen Morgengruß und – wenigstens leicht lächelnd – auch am Pförtner. Raus ins Helle.
*
Dieses Rein-Wollen und Raus-Wollen ist es, was bei Ela von jetzt an oft wechseln wird. Das weiß sie schon jetzt. Während sie die Schwelle wieder übertritt und vorbei an der Stelle, auf die sie noch wenige Stunden zuvor ihre Handflächen gestützt hatte, aus dem Schatten des Türrahmens ins Licht des großen Platzes läuft, spürt sie das. Sie ist froh, draußen zu sein. Und doch weiß sie, sie will um jeden Preis am nächsten Morgen wieder hier stehen, mit dem Gesicht in die andere Richtung, mit dem Blick fest an die Tür geheftet.
Sie wird sich Simones ruckartigen Bewegungen und hochgezogenen Brauen wieder aussetzen, und sie wird darum kämpfen, dass sich ihr wandernder Blick auch mal auf ihr Gesicht konzentriert. Das schafft sie schon, denkt Ela, bisher musste sie um Aufmerksamkeit nie lange kämpfen. Da kommt ihr schon ihr Aussehen entgegen: die fast schwarzen Haare, die ihr langsam hinterherwabern, die hohe Stirn, die ihre runden Augen betont, und das auffällige Lachen.