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Wenn Dich die große Liebe trifft wie ein Blitz aus heiterem Himmel
Als Fotografin Ranya an einem Herbstabend auf einen Hügel klettert, um das aufziehende Gewitter mit ihrer Kamera festzuhalten, geschieht es – sie wird vom Blitz getroffen. Ranya trägt nur eine kleine Verletzung davon, doch etwas ist mit einem Mal anders: Sie fühlt sich mutiger als jemals zuvor in ihrem Leben. Endlich wagt sie es, ihre Verlobung mit dem arroganten Claus in Frage zu stellen. Bei einem Treffen für Blitzschlagopfer lernt sie Adam kennen. Ihn hat derselbe Blitz getroffen wie Ranya, und seitdem glaubt der TV-Meteorologe, das wichtigste Ereignis in seiner Vergangenheit vergessen zu haben. Ranya will ihm helfen. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach seiner verlorenen Erinnerung – und verlieben sich dabei unsterblich ineinander. Doch dann ziehen am Horizont neue Wolken auf ...
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2021
REBEKKA KNOLL, 1988 in Kassel geboren, studierte in Erlangen, Bern und Berlin. Sie hat schon mehrere Romane und ein Jugendbuch veröffentlicht und wurde mit dem Kurd-Laßwitz-Stipendium der Stadt Gotha ausgezeichnet. Nach Blaue Nächte ist dies ihr neuer Roman im Penguin Verlag. Sie lebt auf dem Land und liebt den Geruch, der kurz vor einem Regenschauer in der Luft liegt.
Außerdem von Rebekka Knoll lieferbar:
Blaue Nächte
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Rebekka Knoll
Herbstregenküsse
Roman
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Copyright © 2021 der Originalausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Annika Krummacher
Umschlaggestaltung: bürosüd
Umschlagabbildung: www.buerosued.de
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25438-4V002
www.penguin-verlag.de
Wer die Chance bekommt, einen Sturm zu sehen, sollte genau hingucken. Er sollte die Luft anhalten, um den Wind besser hören zu können. Das wusste der kleine Junge. Um nichts in der Welt hätte er dieses Schauspiel verpasst.
»Schatz?«
»Was ist?«
»Komm weg vom Fenster.«
»Ich will aber nicht.«
Seine wütende Atemwolke blieb am Glas kleben. Er drückte seine Nase mitten rein, um besser rausschauen zu können.
»Nicht gleich, sofort!«, sagte die Mutter, doch sie sah nicht hin. Später würde sie sich immer wieder fragen, warum sie nicht von ihrer Zeitschrift aufgesehen hatte, warum sie nicht aufgestanden war, ihren Sohn auf den Arm genommen und weggetragen hatte. Ins sichere, warme Bett. Wieso hatte sie nicht geahnt, was geschehen würde?
Draußen donnerte und stürmte es, der Regen prasselte ans Fenster. Die Mutter fand es gemütlich und wickelte sich die Wolldecke fester um die Beine.
»Ich habe sofort gesagt!«, rief sie und blätterte eine Seite um. Hat das Wetter Einfluss auf Ihre Gesundheit?, las sie. Fünf schnelle Tipps gegen Wetterfühligkeit.
»Nein«, widersprach der Junge, und wieder beschlug die Fensterscheibe. Es war spät am Abend, der Garten vor dem Haus lag im Halbdunkel, nur der schwere, wolkenverhangene Himmel leuchtete hin und wieder im zuckenden Licht der Blitze. Es donnerte so laut, dass der Junge die Erschütterung in der Scheibe spüren konnte. Der Walnussbaum schwankte und knarzte, der Wind riss an seinen Ästen. Regentropfen wehten in sein Gesicht und trafen ihn doch nicht.
Der kleine Junge fand es schön, direkt hinter dem Fensterglas zu stehen. Das Wetter war genauso aufgewühlt und wütend wie er. Er wollte noch nicht ins Bett. Schließlich konnte man am Fenster so viel sehen. Es blitzte. Eins, zwei, drei, vier … Es donnerte. Der Junge hatte gar nicht gewusst, wie laut ein Donner sein konnte. Er war lauter als das Geschimpfe der Kindergärtnerin, das Knallen der Spielzeugpistolen oder die Tür, die sein Bruder ihm so gern vor der Nase zuschlug, wenn er mal wieder Gameboy spielen wollte. Bestimmt tat er das auch heute Abend wieder – ohne ihn. Viel zu selten ließ er ihn zusehen, geschweige denn selbst einmal spielen.
Der Donner in diesem Moment war nichts für den großen Bruder, er würde vor Schreck zusammenzucken, so sehr schepperte es in den Ohren. Der kleine Junge war mutiger und unerschrockener, furchtloser als alle anderen in seiner Familie. Er zuckte nicht zusammen, er bewegte sich nicht, er blieb mit großen Augen stehen und schaute lächelnd ins Gewitter hinaus. Als würde etwas nach ihm rufen.
»Ich sage es nicht noch mal«, sagte die Mutter. Und damit hatte sie recht.
»Ich will aber nicht«, entgegnete der Junge und legte seine Hände flach auf das Fensterglas. Es war eiskalt. Da draußen war die Welt, der Lärm, das Chaos, die Gefahr. Was wäre, wenn es das Glas nicht gäbe? Wäre das schön?
Der Junge stellte sich vor, er könnte den Regen auf seinem Gesicht spüren, die Kälte auf seinen nackten Armen, den Wind, der unter seinen Schlafanzug kroch. Er könnte auf der anderen Seite des Fensters stehen, dem Gewitter ganz nah kommen und so laut brüllen wie die Wolken. Wie nah wäre nah genug? Gab es eine Stelle, an der er Teil des Unwetters wäre? An der er selbst der Sturm sein könnte? Etwas schien ihn hinauszuziehen. Es blitzte. Eins, zwei, drei … Es donnerte.
Erst jetzt bemerkte der Junge, dass rechts von ihm, ganz am Rand des Fenstersimses, ein großer schwarzer Vogel saß. Den Kopf hat er eingezogen, die Flügel fest an den Körper gepresst. Erst sah er in das Unwetter hinaus, seine dichten, schweren Federn glänzten im Lichtschein eines Blitzes. Doch dann schien er den Blick des Jungen zu bemerken. Langsam drehte er den Kopf und sah das Kind an.
Der Junge lächelte. So ein schöner Vogel. Ob ihm wohl kalt war? »Na, Vogel?«, flüsterte er. »Wie ist es dort draußen?«
»Hast du was gesagt, Liebling?«, fragte seine Mutter.
»Nein, nein!«
Der Junge sah den Vogel an, und der Vogel sah den Jungen an. Beide legten den Kopf schief. Das Tier öffnete den Schnabel und krächzte.
»Soll ich zu dir kommen?«, flüsterte der Junge. Da breitete der Vogel seine Flügel aus und hob ab. Schnell zog der Junge am Fenstergriff.
»Was machst du da, Schatz?« Die Mutter richtete sich auf und legte die Zeitschrift zur Seite. »Mach das Fenster sofort wieder zu!«
Der Junge sah nicht über die Schulter zu seiner Mutter, er schaute in das Unwetter hinaus. Es war jetzt ganz nah, er konnte es riechen – Regen und nasse Erde. Er konnte es fühlen – kalter Wind und Feuchtigkeit. Er öffnete das Fenster, so weit er konnte, und ließ den Sturm herein. In seine Haare, in seinen Schlafanzug. Alles wehte, beinahe verschlug es ihm den Atem, so stark war der Wind. Aber das machte nichts. Das Unwetter atmete für ihn, es sprühte und brüllte für ihn. Für einen kurzen Moment glaubte er sogar, er würde dazugehören, er wäre Teil des Gewitters. Mächtig, schlau und wütend.
Und dann blitzte und donnerte es fast gleichzeitig. Es war so gleißend hell und so krachend laut, dass draußen sogar der Walnussbaum zusammenzuckte. Sein Stamm ächzte und knackste vor Schreck, und dann brach er. Der Vogel stieg kreischend auf, der Junge blieb stumm am Fenster stehen. Er starrte auf den Baum, der immer näher kam. Der seine Äste ausbreitete, als wollte er den Jungen umarmen. Seine Zweige rauschten.
»Benjamin!« Die Mutter heulte, doch der Sturm heulte lauter. Und dann wurde der kleine Junge zum Regentropfen, zum Windzug, zum fernen Donnergrollen. Er wurde aufgewirbelt und davongetragen in höhere Luftschichten, weit über den Garten und die Straße und die Stadt hinaus.
Niemand würde ihn je wiedersehen. Nur hin und wieder, wenn der Regen prasselte und der Donner rollte, konnte man ihn zwischen den Blitzschlägen flüstern hören.
»Na, Vogel?«, sagte er dann, ganz leise. »Soll ich zu dir kommen?«
Erzähl mir unsere Geschichte.
Was meinst du?
Erzähl sie mir von Anfang an.
Ich habe keine Ahnung …
Erzähl mir, wie wir uns getroffen haben. Was dann passiert ist. Warum wir heute hier stehen und nicht weiterwissen.
Fang am 1. September an. Erinnerst du dich?
Wie sollte ich das vergessen?
Beginne an diesem einen stürmischen Nachmittag.
Der Donner ist so leise herangerollt.
Fang mit dem Moment an, der alles veränderte.
0,0004 Sekunden lang hat er gedauert.
Erinnerst du dich?
Natürlich. Sobald ich die Augen schließe, ist alles wieder da.
Dann schließ die Augen.
Ja.
Sind sie zu?
Sie sind zu.
Und jetzt erzähl mir, was du siehst.
An meinem Junggesellinnenabschied, kurz nachdem ich zehn Unterhosen-Etiketten gesammelt, ein Schokokuss-Wettessen gewonnen und drei Männerbeine rasiert hatte, genau um 20.20 Uhr, traf mich der Blitz.
Meine Trauzeugin Merle hatte Minuten zuvor noch mit dem guten Gin hantiert. Den ganzen Tag hatte sie schon von Gin Basil Smash gesprochen – das Basilikum in diesem Cocktail bringe den Gin besonders gut zur Geltung, hatte sie gesagt und auf den Abend hingefiebert.
»Jetzt ist es endlich so weit: Zeit für Gin! Basil! Smash!«, rief sie gegen zwanzig Uhr und betonte jedes einzelne Wort, als würde sie einen großen Fernsehstar ankündigen. Wir anderen saßen erschöpft um den runden Tisch der kleinen Holzhütte: meine Freundinnen Lina und Biene (die eigentlich mehr mit meinem Verlobten als mit mir befreundet waren), meine Kollegin Elske (die häufiger mit Claus zusammenarbeitete als mit mir), meine beste Freundin Merle (die Einzige, die mich eindeutig lieber mochte als meinen Zukünftigen) und ich. Den ganzen Nachmittag hatten sie mich mit verschiedenen Aufgaben durch die Stadt gejagt: Sammle fünf Kondome, verkaufe zehn Shots, trinke einem Fremden sein Bier weg, halte eine spontane Rede über die Vorteile von Feinripp-Unterwäsche. Jetzt war ich beschwipst, müde und peinlich berührt. Unter meinen Händen schien sich der runde Tisch zu drehen. Rund und rund und rund. Wie das Steuerrad eines großen Schiffes, das durchdrehte und nicht unter Kontrolle zu bringen war. Das Haus schwankte auf den Cocktailwellen.
»Keine Angst, ihr Lieben, ich mach euch wieder wach«, rief Merle, die an der Küchenzeile stand und unsere Getränke mixte, und ihr Pferdeschwanz wippte fröhlich. »Gleich macht das Leben wieder Gin.« Sie kicherte, während draußen leise der erste Donner heranrollte.
Auf die Spiele war eine Schnitzeljagd quer durch die Stadt vom Eisladen über die Bäckerei bis zur Turnhalle gefolgt. Am Ende musste ich in ein Taxi steigen, das uns bis zu dieser Hütte mitten im Wald gebracht hatte. Hier sollte der gemütliche Teil beginnen.
»Ab jetzt geht es nur noch um uns. Wir werden viel trinken, wild tanzen, Wahrheit oder Pflicht spielen und erst morgen Vormittag wieder abreisen. Jetzt sind Deep Talk und Quality Time angesagt – die ganze Nacht«, hatte Merle in ihrem dunkelroten knappen Kleid verkündet, und ich war ihr unendlich dankbar gewesen, nach diesem Tag nicht auch noch in einen Club gehen zu müssen.
Draußen wurde es dunkel, und ich überlegte, ob das an der Tageszeit oder am Sturm lag, der gerade aufzog. Dass es heute gewittern würde, wusste ich längst – allerdings hatte ich nicht geahnt, dass ich währenddessen hier draußen im Wald sein würde. Die Hütte stand inmitten von Bäumen an einer steil aufsteigenden Lichtung. Ich brauchte nur den Hang hinaufzusteigen, und schon hätte ich einen guten Ausblick über den Wald, die Stadt dahinter und vor allem auf den schwarzen Himmel. Der Sturm zog von Westen her auf, die Richtung müsste also stimmen.
Jetzt heulte der Wind lauter. Lina und Biene sahen ängstlich zum Fenster. Ihr Luschen, dachte ich, doch laut sagte ich: »Ihr braucht keine Angst zu haben. Die Hütte hat schon viele Unwetter heil überstanden.«
Aus irgendeinem Grund schien sie das noch mehr zu beunruhigen. Sie rückten näher zusammen.
»Claus hat doch mal diese Reportage geschrieben«, überlegte Biene und wickelte sich den blonden Zopf um den Zeigefinger.
»Stimmt«, antwortete Lina. »Über das Holzhaus im Grenzforst.«
»In einer Gewitternacht ist es komplett abgebrannt. Alles ist zu Asche geworden, außer … Irgendwas ist doch übrig geblieben, oder? Was war das noch gleich?«
»Ein Familienfoto«, warf Elske ein und lächelte. Sie sah unglaublich gut aus im Dämmerlicht mit ihrer intellektuellen Kurzhaarfrisur und der großen, runden Brille. »Das Glas war gesplittert, der Rahmen voller Ruß, aber das Foto sah aus wie neu.«
»Stimmt ja. O Gott, die Reportage war so gut«, schwärmte Biene und ließ die aufgewickelten Haare von ihrem Zeigefinger springen.
»Der Waaahnsinn«, stimmte Lina zu.
»Hier brennt heute aber gar nichts.« Merle griff zur Ginflasche und kicherte. »Außer vielleicht der Alkohol im Abgang.«
»Wisst ihr noch – das Interview mit den Nachbarn?«, fuhr Elske fort, als hätte sie Merle nicht gehört. »Claus ist doch kurz nach dem Brand zum Nachbarhaus gefahren. Die Hütte stand über einen Kilometer entfernt, doch noch am nächsten Tag hat man dort das Feuer riechen können. Er hat mit dem alten Mann gesprochen, der dort lebte. Darüber, wie gut er seine Nachbarn kannte und wie er das Unwetter erlebt hat. Erinnert ihr euch daran?«
Elske schob ihre runde Brille höher auf die Nase.
»Das Verrückte war, der Nachbar wusste gar nicht, dass dort mal ein Haus gestanden hatte«, fuhr sie fort. »Die Familie hat er nie gesehen, dabei muss sie jahrelang in seiner Nachbarschaft ein und aus gegangen sein. Aber das Feuer, das hat er gesehen. Der Qualm ist bis in sein Wohnzimmer gezogen. Er war davon tagelang wie benebelt.«
»Claus schreibt einfach so gut!« Biene ließ ihre Zopfsträhne springen.
»Da hast du echt einen guten Fang gemacht.« Elske sah mich an, lächelte breit und schüttelte den Kopf über das ganze Glück, das ich mit Claus hatte.
Der Donner draußen wurde lauter, und ich sah aus dem Fenster. Der Himmel war längst zugezogen, der Wind heulte, und hin und wieder blitzte es. Nur der Regen blieb aus. Wie weit das Gewitter wohl entfernt war? Ich starrte hinaus, um den nächsten Blitz nicht zu verpassen.
»Und außerdem ist er so verdammt attraktiv!«, meinte Lina. »Stört es dich, wenn ich das sage, Ranya? Nein, oder? Es ist ja auch ein Kompliment für dich. Also, ich finde, Claus ist wirklich ein Hingucker. Ich bin schon echt gespannt, wie er in seinem Hochzeitsanzug aussehen wird.«
Es blitzte. Eins, zwei, drei, vier …
»Ich denke ja, Ranya wird in ihrem Hochzeitskleid unglaublich attraktiv aussehen«, versuchte Merle das Thema zu wechseln. »Habt ihr es euch eigentlich schon angeschaut?«
»Nein, aber es ist sicher wunderschön«, sagte Biene.
»Bestimmt!«, fiel Lina ein.
»Die meisten Frauen sehen ja großartig aus bei ihrer Hochzeit«, meldete sich Elske wieder zu Wort. »Bei Männern ist das schwieriger, finde ich. So viele haben einen schlechten Geschmack und wissen nicht, welche Anzugschnitte ihnen stehen. Claus ist da anders. Er ist schon ein ganz besonderer Mann.«
Fünf, sechs, sieben, acht …
»Erinnert ihr euch noch an seinen Bericht über die Hochzeitsmesse?«, fragte Elske in die Runde.
»Oh, ja! Ich hab so gelacht!«
»Ich auch! Es war wirklich lustig.«
»Total!«
Neun, zehn, elf – es donnerte. Ich überschlug die Entfernung kurz im Kopf: Wenn zwischen Blitz und Donner elf Sekunden vergehen, müsste das Gewitter … wie war das noch … elf durch drei? Also musste es ungefähr dreieinhalb Kilometer entfernt sein. Fast schon über unserer Stadt. Der Wind riss an den Ästen der Bäume vor dem Fenster. Etwas heulte zwischen den Blättern. Oder jemand. Manchmal klingt ein Gewitter, als hätte es eine Stimme, als könnte es sprechen. Ich blendete das Gespräch der anderen aus und versuchte, dem Sturm zuzuhören. Sprach er vielleicht mit mir? Was sagte er da? Es war ein hohes Murmeln, ein Wispern, ein Flüstern.
»Was macht eigentlich Claus heute?«, erkundigte sich Lina.
»Wir sollen das ja offiziell nicht wissen, aber sein Bruder hat es mir verraten. Sie sind nach Berlin gefahren«, erzählte Elske.
»Nach Berlin?«
»Heute Morgen um fünf haben sie ihn abgeholt und sind in den Zug gestiegen. Er wusste bei der Abreise nicht, wo es hinging, aber sie haben Tickets für Farbspiel.«
»Was ist das denn?«
»Dieser Sänger aus der Schweiz, den er so gut findet.«
»Genau. Und danach geht’s ins Casino.«
»Die lassen es bestimmt richtig krachen.«
»Na klar.«
»Auf Casino hätte ich ja auch mal Bock.«
Während die anderen redeten, sah ich weiterhin schweigend in den Sturm hinaus. Da war es immer noch, das Flüstern, es klang verlockend, einladend. Wie ein: »Hallo«, und ein: »Du bist herzlich willkommen.« Es klang wie: »Komm doch her!«
Hast du es an diesem Tag vielleicht auch gehört? Bist du diesem Ruf ebenfalls gefolgt?
Ich stand auf und griff nach meiner Spiegelreflexkamera. Heute hatte sie nur Fotos von mir zwischen Männerpos, beim Verteilen von Küsschen und beim Ausschneiden von Unterhosen-Etiketten aufgenommen. Es wurde höchste Zeit, dass sich das änderte.
»Ich geh kurz ein paar Bilder machen«, verkündete ich.
»Aber Ranya!« Merle ließ die Ginflasche sinken und starrte mich an. »Jetzt willst du noch arbeiten? Es ist dein Junggesellinnenabschied! Du bist betrunken! Es ist spät!«
»Diese Gelegenheit darf ich nicht verpassen, wir sind hier auf so einem guten Aussichtspunkt, und der Sturm müsste fast schon über der Stadt sein. Ich bin gleich zurück, versprochen.«
Das Versprechen fühlte sich komisch an – als ahnte ich, dass ich es nicht würde halten können. Doch vielleicht denke ich das auch nur jetzt, im Nachhinein.
Ich zog meine Jacke über und trat ins Gewitter hinaus. Es war noch trocken, doch der Wind war kühl.
Hast du ihn zur selben Zeit gespürt?
Laut knarzten die Fensterläden unserer Holzhütte im Wind. Dahinter bogen sich die Bäume, ein paar Blätter lösten sich und flatterten an mir vorbei. Ich schaute zum Hang hinüber. Genau wie ich gehofft hatte: Die Anhöhe war komplett baumfrei. Von dort oben könnte ich bestimmt fotografieren, wie das Gewitter über die Stadt zog. Die Neue Presse würde sich über Material von heute Nacht freuen – und mein vom Brautkleid schwer belastetes Konto auch.
Also klemmte ich mir das Stativ unter den Arm, hängte mir die Kamera um den Hals und schraubte schon mal das Weitwinkelobjektiv auf. Langsam begann ich, den Hang hinaufzusteigen. Noch immer raschelte und flüsterte es an jeder Ecke. »Guten Abend«, schien das Gewitter zu sagen. »Schön, dass du da bist. Komm doch näher.«
Ich hätte misstrauisch werden sollen. Ich hätte darüber nachdenken sollen, wie gefährlich freie, erhobene Flächen bei Gewitter sind. So viel habe ich über Stürme gelesen, so oft hatte ich schon für meine Natur- und Pressefotos Unwetter gejagt und abgelichtet. Wie konnte es sein, dass ich all meine Erfahrungen an diesem Tag ignorierte?
»Der Alkohol«, würde Merle später sagen. »Du hast von morgens bis abends gesoffen!«
Doch ich weiß nicht, ob sie damit recht hat. Den Hang stapfte ich zumindest in einer geraden Linie hinauf. Ich schwankte nicht, und nichts drehte sich. Ich dachte nur an das Unwetter und daran, wie ich es von einem perfekten Standpunkt aus fotografieren könnte.
Woran hast du in diesem Moment gedacht? Ging es dir vielleicht ganz ähnlich?
»Komm her. Komm doch rein«, flüsterte es, und ich drehte mich um und sah über den graugrünen Hang und den braunschwarzen Wald auf die tausend Lichter der Stadt hinab. Sie lagen im Dämmerlicht, und genau über dem Zentrum türmten sich in diesem Moment schwere Wolken auf. Wie ein Hut schwebten sie über den Häusern: schmale Krempe, schwarze Krone. Darunter regnete es in Strömen, man konnte es bis hier oben riechen. Dann hielt ich die Linse vors Auge, variierte Blende und Belichtungszeitraum. Ich probierte verschiedene Kombinationen. Etwas mehr Belichtungszeit, dann könnte es gehen. Ich drückte ab – und war begeistert. Die Wolken sahen wunderbar bedrohlich, der Regen so schön unheilvoll aus. Dazu die Stadtlichter und die Bäume – es war perfekt. Wenn es jetzt noch blitzen würde! Ich müsste nur im richtigen Moment abdrücken, dachte ich. Dann hätte ich das bisher schönste Foto des Jahres auf der Speicherkarte.
»Bleib ruhig«, flüsterte das Gewitter. »Bleib ruhig hier.«
Hinter mir raschelte es, und ich drehte mich um. Eine Krähe flog krächzend aus dem Gebüsch auf. Wenn ich Glück hatte, flog sie mir genau vor die Linse. Was für ein stimmungsvolles Bild das werden könnte!
Doch das wurde es nicht. Ich wusste, dass Blitze weit streuen können. Bis zu zwanzig Kilometer. Ich wusste, dass Vögel sie spüren können. Dass man ebenfalls verschwinden sollte, wenn Tiere davonfliegen. Doch an all das dachte ich nicht, stattdessen blieb ich auf der Anhöhe stehen. Die Krähe schrie und stieg auf. Und ich dachte nur an mein Foto. Und dann traf mich der Blitz.
Und ich explodierte.
Und ich verbrannte.
Und ich löste mich auf.
Meine Kleider verglühten, meine Haut verkohlte, mein Fleisch wurde schwarz, meine Gedanken zu Asche. Schwarz und trocken und staubig. Eine Windböe wirbelte mich auf und zerstreute mich. Von mir blieb nichts übrig. So zumindest fühlte es sich an – eine Machtlosigkeit, eine Hitze, eine Angst, die über Schmerz weit hinausging. So zumindest sah es für die anderen aus, die gerade an einem der kleinen Fenster in der Holzhütte gestanden haben mussten, um mich beim Fotografieren zu beobachten: So hell, dass der Lichtpunkt noch stundenlang in ihren Blicken zurückblieb, so heiß, dass sie taumelten. So zumindest klang der Donner, ein zerstörerisches Krachen, ein Knall, nach dem die Ohren erst fiepten und dann benommen summten. So zumindest roch es, schwarz und tot und rußig.
Und auch, wenn mein Körper in Wirklichkeit gar nicht verschwand an meinem Junggesellinnenabschied: Etwas explodierte. In mir. In meiner Welt. Die Grenzen zwischen oben und unten lösten sich auf, das Gewitter war plötzlich in meinem Körper, ich war der Himmel, ich schwebte weit über den Dingen, in mir krachte es, und etwas in mir zerbrach.
Bis zu diesem Blitz hatte es dich vielleicht noch gar nicht gegeben. Manchmal stelle ich mir vor, dass du erst mit dem Gewitter in die Welt gekommen bist, wie ein verwirrter Engel. Vielleicht stimmt das mit den Luftschichten und der Elektrizität ja gar nicht. Vielleicht gewittert es immer nur dann, wenn sich zwei Realitäten zu nah kommen. Und an diesem 1. September um 20.20 Uhr ist deine Realität auf meine zugerast. Beide sind frontal zusammengestoßen, und es donnerte. Plötzlich sind unsere Welten zu einer geworden, du warst in meiner, und ich war in deiner. Schade nur, dass es noch etwas dauern sollte, bis wir voneinander erfuhren.
Der Blitz schlug in einen Baum ein und sprang von dort auf meine Schulter über. Mediziner sprechen von »Überschlag«, »side splash« oder »side flash«. Er zuckte über meinen rechten Arm und meine Hand, die gerade an meiner Hüfte lag. Meine Uhr blieb stehen, genau um 20.20 Uhr. Er fuhr mir durch das Bein und den Fuß, dann floss er in den Boden ab.
Gott sei Dank, würde die Ärztin später sagen, ist der Blitz über die Schulter in meinen Körper eingedrungen und nicht über meinen Brustkorb. Gott sei Dank traf mich nur der Überschlag eines Seitenarms. Den Hauptarm des Blitzes hätte ich vielleicht nicht überlebt.
Immer wieder habe ich mich gefragt, wie viele Verästelungen mein Blitz wohl hatte. Ob zu jedem Blitzarm auch eine eigene Geschichte gehörte. Ob sie alle zusammenhingen und ob ich all das verstehen würde, wenn ich nur die vielen gleißend hellen Lichtwege zurückverfolgen würde. Ob ich dann wohl begreifen könnte, warum dieser eine Blitz gerade mich ausgewählt hatte, warum er mir in die Schulter gefahren war, warum er über meinen Arm zuckte und mich von den Füßen riss.
Niemand hätte gedacht, dass einem von uns je so etwas widerfahren würde. Merle nicht, Elske nicht, nicht einmal die ängstliche Lina oder die besorgte Biene. Sie starrten durch die quadratische Fensterscheibe, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Mein Blitz habe etwa 25 000 Ampere gehabt, sagte mir die Ärztin später. 25 000 Ampere können etwa 3571 Bügeleisen gleichzeitig heiß werden lassen. Sie kühlen 31 250 Kühlschränke, sie bringen 62 500 Fernseher zum Flimmern. Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit für diese Rechenspiele. Manchmal stellte ich mir vor, der Blitz wäre nicht in meine rechte Schulter eingeschlagen, sondern in die stillgelegte Stromleitung eines Geisterdorfs. Schlagartig wären die Fernseher angegangen, die Kühlschränke hätten gesummt, die Bügeleisen geglüht. Mein Blitz könnte eine ganze Stadt mit Strom versorgen, er würde überall Straßenlaternen und Küchenlampen zum Leuchten bringen, und in meinem neuen Licht würde der Staub fliegen, und unter meiner neuen Hitze würden zerknitterte Hemden brennen.
Doch ich war Ranya, damals schon, wenn auch anders als heute. Ich war aus Fleisch und Blut. An diesem Tag hatte ich hellrote Locken, und ich trug ein grünes Kleid unter meiner Allwetterjacke. Ich wurde zur Seite geschleudert, ins Wanken gebracht, aus der Bahn geworfen. Ich lag da, und noch konnte man mein Blitzmal nicht sehen. Noch hatte ich keine Schmerzen und keine Ahnung, dass sich von einem auf den anderen Moment alles geändert hatte. Ich atmete ein und aus, und mein Herz schlug, aber denken konnte ich nicht.
Manchmal braucht es nur 0,0004 Sekunden, damit sich alles ändert. So lange dauert die Hauptentladung eines Blitzes. Um einmal zu schlagen, braucht mein Herz etwa 1,17 Sekunden. Der Blitz war also 2916 Mal schneller als mein Herz. In schwierigen Momenten rechne ich mir das immer wieder vor. Ich hätte nicht fliehen können. Nicht zur Seite gehen oder mich wegdrehen, es hätte alles nichts gebracht, der Blitz war schneller als ich. Er konnte 145 000 Kilometer in der Sekunde zurücklegen, während der Kilometerzähler meines alten Twingo nach fast sechs Jahren bei 14 000 angelangt war.
Das Gewitter hatte mich gerufen, es musste alles so kommen. Der Blitz schlug ein, ein Ast brach, ich fiel, und dann war ich weg.
Die anderen standen da, erzählten sie mir später, und starrten mich an. Es vergingen etwa zehn Sekunden, bis es wieder donnerte, diesmal weiter weg. Zehn Sekunden, in denen sie innehielten, gestoppt wie ein Film. Sie konnten sich nicht rühren, erzählten sie mir später. Bis ein weiterer Donnerschlag ertönte und es im selben Moment anfing zu regnen. Da erst stürzten sie alle gleichzeitig zur Tür und den Abhang hinauf, auf mich zu.
»Wir waren wie vom Donner gerührt«, erklärte Merle und schüttelte den Kopf. »Jetzt weiß ich endlich, was dieses Sprichwort bedeutet. Wir alle waren wie vom Donner gerührt.«
Eine Zeit lang war ich fixiert auf diesen einen Moment, auf diese 0,0004 Sekunden. Ich wollte sie verstehen. Ich wollte wissen, was da passiert war. Ich konnte nicht aufhören, danach zu fragen. Jeden. Zuerst die Ärztin.
»Der Blitz war etwa 30 000 Grad heiß«, erklärte sie. »Den Pfad, den er genommen hat, sieht man noch auf Ihrem Arm, als rote Verästelungen von der Schulter bis zum Handgelenk. Wie ein umgedrehter Baum mit tausend Zweigen. Aber keine Angst, die Zeichnung verschwindet mit der Zeit. Trotzdem hat der Blitz die elektrischen Ladungen in Ihrem Körper durcheinandergebracht, Sie sind sofort ohnmächtig geworden. Anfangs litten Sie unter leichten Herzrhythmusstörungen, Ohrensausen und Schwäche im rechten Arm, erinnern Sie sich? Glücklicherweise waren diese Symptome nur vorübergehend. Blitzschläge sind selten in Deutschland, daher können wir nicht mit genauen Prognosen dienen – je nach Unfallhergang können unterschiedliche Folgen auftreten. Vielleicht fühlen Sie sich in den nächsten Tagen noch etwas kraftlos und abgeschlagen. Kopfschmerzen sind möglich, in seltenen Fällen werden auch organische Psychosyndrome diagnostiziert. Wir werden Sie beobachten, zunächst kümmern wir uns aber um Ihren Arm.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das meinte ich nicht. Was ist passiert, während es geblitzt hat? Was haben Sie gemacht?«
»Ich?« Die Ärztin runzelte die Stirn. »Ich persönlich?«
Ich nickte. Und dann erzählte sie mir, langsam und zögerlich, am 1. September um 20.20 Uhr sei sie wohl hier gewesen, genau auf diesem Stuhl habe sie gesessen und Papierkram erledigt. Was genau es war, wisse sie nicht mehr genau. Eigentlich wisse sie von diesem Tag gar nichts mehr genau. Nur, dass es gewittert habe.
»Warten Sie«, sagte die Ärztin. Und dann erinnerte sie sich doch: Sie habe es in der Ferne donnern hören, dann habe sie aus dem Fenster gesehen, und auf der Straße habe ein Vogel gesessen. »Vielleicht war es ein Rabe«, überlegte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn genau um 20.20 Uhr gesehen habe, aber irgendwann an diesem Nachmittag, während es in der Ferne gewitterte, hat der Vogel dort gesessen und den Kopf nach rechts und links gedreht, und er hat geschrien, einmal, zweimal, dreimal. Als wollte er mir etwas sagen.« Doch seine Worte habe die Ärztin nicht verstanden. Und dann sei ihr die Porzellantasse aus der Hand gerutscht. Einfach so. Sie habe dagesessen und Tee aus einer alten Tasse ihrer Mutter getrunken. Es sei eine wertvolle, eine hübsche Tasse gewesen mit kleinen roten Blumen darauf. Und plötzlich habe die Tasse in tausend Scherben vor ihr auf dem Boden gelegen, und die Ärztin konnte nicht sagen, wieso ihr das passiert sei.
Man könnte meinen, die Menschen wüssten nicht, was ihnen um 20.20 Uhr am 1. September passiert sei. Und wenn sie es wüssten, wäre es etwas absolut Belangloses. Doch das stimmt nicht. Vielleicht lag es am Gewitter, am Donner, an der Schwüle. Irgendetwas muss in der Luft gelegen haben an diesem 1. September. Etwas, das die Krähen schreien und die Tassen zu Boden fallen ließ.
Das spürte auch mein kleiner Bruder Janosch, der gerade durch die Sporthalle auf der anderen Seite unserer Stadt rannte. Kurze Hosen, wehendes rotblondes Haar. Seine grünen Augen huschten von Spieler zu Spieler – er hatte den Ball. Während der Himmel draußen zuzog, wurde drinnen die Abwehr dichter. Schulter an Schulter stellten sie sich ihm entgegen, doch Janosch war flink. Er schlug Haken, täuschte rechts an, entwischte links, sah das Tor und warf. Vielleicht war es genau 20.20 Uhr, als der Ball durch die Luft flog, als Janoschs Blick den Torwart traf und Janosch nicht wusste, wie ihm geschah. Der Torhüter trug grüne Hosen, wie alle Spieler der gegnerischen Mannschaft, er hatte gelocktes Haar, riesige Hände und feste Waden. Er fixierte den Ball mit seinen hellblauen Augen, sprang und fing Janoschs Ball aus der Luft. Sein Team jubelte, er grinste Janosch an, und dabei bekamen seine Wangen tiefe Grübchen.
Während mich, etwa drei Kilometer entfernt, der Blitz traf, gestand sich mein kleiner Bruder zum ersten Mal ein, dass er einen Mann ausgesprochen schön fand. Der Jubel der gegnerischen Mannschaft klang verheißungsvoll, nach warmen Küssen im Regen, es klang wie Händchenhalten an einem schnellen Fluss. Aber auch beängstigend, gefährlich. Wie das Donnern eines bösen Lachens oder einer schallenden Ohrfeige.
Es regnete in Strömen, es donnerte und stürmte, und Helga, die freundlichste Bäckerin unserer Stadt, stand im Türrahmen ihres Ladens und sah in den Himmel. Ihre Hände vergrub sie in ihren Kitteltaschen, ganz tief. Die rechte klammerte sich an ihren Flachmann, befingerte das kühle Metall, die runde Verschlussklappe. Es war ein stressiger Tag gewesen. Die Kollegin von der Spätschicht war krank geworden, und Helga hatte alle Brötchen, Plunder, Nussecken, Mohnschnecken und Dinkelbrote allein backen müssen, obwohl ihr der Vormittag schon in den Knochen gesteckt hatte. Seit einigen Wochen hatte sie ganztags geöffnet – ein Versuch, mit den Ketten in der Innenstadt mitzuhalten. Sie wusste noch nicht, ob ihr kleiner Bäckerladen das auf Dauer würde stemmen können.
Endlich war zumindest für heute Feierabend, das Mehl juckte auf ihrer Kopfhaut, der Teig klebte unter ihren Fingernägeln. Sie hatte sich ihren Rum verdient. Wie jeden Abend. Ein paar Schlucke noch im Türrahmen, dann würde sie durch den Regen nach Hause schweben, sich in ihren Ohrensessel setzen und ihre Abendserien einschalten. Sie würde die dicken Füße hochlegen, und das Eis in ihrem Kristallglas würde klirren. Doch noch stand sie auf der Straße, sah in den Himmel. Es war schwül, Helga vergrub das Kinn im Jackenkragen und holte ihren Flachmann hervor. Sie wollte ihren wohlverdienten ersten Schluck für heute nehmen – und hielt inne. Der Himmel war genauso dunkelgrau wie damals. War heute nicht auch noch der 1. September? War es heute nicht genau zehn Jahre her, dass Heiner gestorben war? Hatte sie sich diesen Flachmann nicht genau heute vor zehn Jahren zugelegt? Hatte sich seitdem in ihrem Leben überhaupt irgendetwas verändert? Langsam ließ sie die Flasche wieder sinken.
Während mich, drei Kilometer entfernt, der Blitz traf, beschloss Helga, mit dem Trinken aufzuhören. Über ihrem Kopf donnerte es, und hinter den Wänden der Sporthalle mit den winzigen Fenstern unterm flachen Dach jubelte leise eine Mannschaft. Als applaudierte sie Helga. Als spräche sie ihr Mut zu.
Auf dem Absatz drehte sich die Bäckerin um, lief zurück in ihren Laden, geradewegs auf das Schränkchen neben dem Kühlschrank zu. Zwei Flaschen Rum standen noch darin. Beide nahm sie heraus. Kurz dachte sie nach, dann machte sie sich auf den Weg zu Jacopo.
Jacopo ist der Besitzer der einzigen Eisdiele unserer Stadt. Sie liegt direkt am Marktplatz, neben dem roten Rathaus. Um ein kleines Bäumchen herum stehen runde Tische und Plastikstühle, die Jacopo fein säuberlich wienert, jeden Morgen und jeden Abend. Nur die Eiskarten sind verknickt und angelaufen – aber das ist nicht weiter schlimm, die ganze Stadt kann das Angebot sowieso auswendig aufsagen.
Seit Jahren spielt Jacopo mit dem Gedanken, eine neue Sorte zu erfinden. Tagein, tagaus fragen ihn seine Stammkunden, ob es denn schon so weit sei.
»Nein, nein, noch nicht. Aber ich bin kurz vorm Durchbruch. Ich sage euch, das wird eine Geschmacksexplosion.«
»Dann zwei Kugeln Schokolade, bitte.«
An diesem 1. September sah er in den schwarzen Himmel, in den Regen hinaus und beeilte sich, die letzten Polster und Tischdecken nach drinnen zu bringen. Zwischendurch fiel sein Blick auf Marianna. Die Aushilfe im Nahkauf nebenan brachte gerade das Obst und Gemüse hinein, um die Ladentür für heute schließen zu können. Beim Herauskommen stieß sie gegen die geöffnete Tür, sie stolperte über eine Kiste Äpfel und ließ eine offene Tüte fallen, die sie gerade in der Hand gehalten hatte. Mandeln rieselten auf den Boden und kullerten ein Stück über die regennasse Straße. Jacopo hielt inne. Mandeln, dachte er. Das war es. Mandeln im Gewitter. Er würde Mandel-Rum-Eis machen! Dass er nicht früher darauf gekommen war!
Während mich, etwa zweieinhalb Kilometer entfernt, der Blitz traf, erfand Jacopo eine neue Eissorte. Er klatschte in die Hände, und direkt über seinem Kopf hörte er es donnern. Er wusste noch nicht, dass gleich Helga auf ihren kurzen, dicken Beinen um die Ecke kommen würde – triefend nasses Haar, rote Wangen. Dass sie ihm ausgerechnet jetzt ihre letzten Flaschen Rum in die Hände drücken und sagen würde: »Mach damit, was du willst.«
Er lachte auch jetzt schon vor Freude. »Mandelgewitter!«, rief er dem Postboten zu, der auf der anderen Seite des Marktplatzes stand, die Kapuze tief im Gesicht, und zum Gruß die Hand hob. »So heißt meine neue Eissorte!« Der Postbote nickte, und von seiner Kapuze rann das Wasser. »Klingt gut!«, rief er durch den Regen.
Der Postbote war mein Vater. Eigentlich war er längst durch mit seiner Tour für heute. Er war schon zu Hause gewesen und wollte sich gerade die Hühnersuppe aufwärmen, die er am Wochenende gekocht hatte. Sein Postrad vor der Tür war leer. Nur seine Hosentasche war es nicht. Seit Jahren trug er darin einen Brief, der noch viel zerknickter war als die Eiskarten von Jacopo. Die Schrift auf dem Umschlag konnte man kaum noch erkennen, trotzdem überlegte er jeden Tag, ihn einzuwerfen. Bisher hatte er sich immer dagegen entschieden. Ein Tag noch, hatte er gedacht, eine Woche, nur noch diesen einen Monat. Mein Bruder Janosch wohnte schließlich weiterhin daheim und brauchte finanzielle Unterstützung. Also machte der große Mann mit dem weißen Haar weiter und dachte, während er von Tür zu Tür lief und die Gartentore hasste, die Haustüren verachtete und einen Ekel vor den Briefkästen empfand, an den einen Brief in seiner Hosentasche, biss sich auf die schmalen Lippen, atmete tief durch.
An diesem 1. September fiel ihm das Durchatmen allerdings schwer. Es war schwül. Und irgendetwas drückte seine breite Hand immer wieder in seine Hosentasche, zu seinem Brief. Sollte er es heute tun? Draußen begann es zu donnern, und mein Vater traf eine Entscheidung. Er ging hinaus in den Regen. Am Marktplatz angekommen hob er die Hand, um Jacopo zu grüßen, dann hielt er inne: Auf der Straße saß eine Krähe. Sie drehte den Kopf nach rechts, nach links, dann sah sie ihn an. »Flieg«, schien sie zu sagen. »Es wird Zeit.«
Und während ich, etwas mehr als einen Kilometer entfernt, von einem Blitz getroffen wurde, warf mein Vater seinen eigenen Brief in den Briefkasten: seine Kündigung. Und er lachte. Und genau über seinem Kopf hörte er es donnern.
Die Stadt zuckte zusammen. Die Menschen, die Hunde, Katzen und Vögel, sogar die Bäume. Mich traf der Blitz, und ich ahnte nicht, wofür das gut sein sollte, was es lostreten und mit mir machen würde. Seine Energie muss durch meine Schulter, den Arm und die Beine in den Boden gefahren sein, er muss sich auf der Erde ausgebreitet und seine Kraft durch die ganze Stadt gejagt haben. Er ließ sie erzittern, erleuchten. Wären wir ein Zug, hätte der Blitz die Weichen verstellt. An diesem Tag nahmen wir alle eine neue Abzweigung, die wir uns nie zugetraut hätten. Ihren Verlauf kannten wir nicht, und ihr Ziel lag irgendwo im Dunkeln.
»Wo bin ich?«, fragte ich, und meine Stimme klang viel rauer als sonst. Meine Ohren summten.
»Sie sind im Krankenhaus.«
Vor mir stand eine Frau in einem weißen Kittel. Sie hatte eine kleine Lampe in der Hand und leuchtete mir in die Augen. Ich stöhnte auf.
»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
Ich sah sie an. Gute Frage. Mein Name. Wie war noch gleich …
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Sie hatten einen Unfall – vor drei Tagen. Seitdem liegen Sie in der Städtischen Klinik. Erinnern Sie sich an Ihren Namen?«
Ich runzelte die Stirn.
»Warten Sie einen Moment. Ich komme gleich drauf.«
Er lag mir auf der Zunge, ich hatte ihn schon oft ausgesprochen und noch öfter gehört. Es war ein guter Name. Ein starkes Wort. Etwas mit A.
Ich sah an mir hinunter. Auf meinen Unterarmen wuchsen dunkle Härchen, meine Brust war trainiert, mein Bauch flach. Alles für den Job. Ich war ein Karrieretyp, daran erinnerte ich mich als Erstes. Erfolgreich und zielstrebig. Drei Tage im Bett bedeuteten drei Tage ohne Sport. Und drei Tage ohne Kamera! Gott, was würde mein Sender sagen? Hatte man schon Ersatz für mich gefunden? War ich schon abgeschrieben? Könnte ich wieder …
»Ich muss an die Arbeit«, sagte ich. »Die Dokumentation. Ich muss …«
Schnell versuchte ich mich aufzurichten, doch die Ärztin hielt mich zurück.
»In diesem Zustand lasse ich Sie nirgends hin. Zuerst müssen Sie sich an Ihren Namen erinnern.«
»Und dann lassen Sie mich gehen?«
»Dann schauen wir mal.«
Sie begann, mich abzuhören.
»Tief einatmen. Und wieder ausatmen. Und noch mal ein.«
Ich atmete und dachte nach. Irgendwas mit A. Anton? Armin? Alex? Nein, das war es nicht. Ich arbeitete fürs Fernsehen. Wir wollten eine Dokumentation über diese Kleinstadt in Österreich drehen, die durch ein Unwetter fast vernichtet worden wäre. Es war meine Idee gewesen, und die Kollegen liebten sie. Damit könnte ich den Durchbruch schaffen, hatte ich gehofft. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Zunächst brauchte ich aber meinen Namen. Wie stellte ich mich normalerweise vor? Was würde ich sagen, sobald die Kamera lief? Ich probierte es aus und sagte leise: »Guten Tag, mein Name ist Adam Münchberg, und ich berichte live für Sie aus der Städtischen Klinik.«
»Bitte was?« Die Ärztin runzelte die Stirn.
»Adam Münchberg heiße ich. Natürlich! Kann ich jetzt gehen?«
»Nein, Sie müssen bedauerlicherweise noch etwas bleiben. Erinnern Sie sich daran, was passiert ist?«
Ich stöhnte auf und ließ mich zurück ins Kissen fallen. Erst jetzt merkte ich, dass meine Beine kribbelten, als hätte sich ein riesiger Haufen Waldameisen in meinen Adern eingenistet. Sie krabbelten in rasendem Tempo meine Schienbeine hinauf, durch meine Knie hindurch bis zu den Oberschenkeln – und wieder zurück. Vielleicht sollte ich mich tatsächlich erst mal ausruhen.
»Ich weiß nur, dass ich mit Susi, der Kamerafrau, unterwegs war, am Rande einer kleinen Stadt. Mehr nicht. Dann ist alles weg. Was ist mit meinen Beinen?«
Die Ärztin nickte. »Die Erinnerung wird zurückkommen. Aber jetzt sollten Sie noch etwas schlafen.«
Sie drehte sich um und verließ das Zimmer. Ich tastete nach meinen Oberschenkeln – sie fühlten sich ganz normal an –, sah an die Decke und dachte nach. Ich war draußen gewesen, voller Freude und Aufregung. Wieso noch gleich?
Ich heiße Adam, überlegte ich, Adam Münchberg. Ich arbeite fürs Fernsehen, mein Spezialgebiet ist das Wetter. Ich wohne in Köln in einer Singlewohnung im vierten Stock mit Dachterrasse und tollem Ausblick. Ich mag es, in den Himmel zu schauen. Ich liebe den Regen.
An diesem Tag regnete es nicht. Ich sah aus dem Fenster des Krankenhauses. Der Himmel war blau. Die Dächer spiegelten die Sonne. Moment. Was waren das denn überhaupt für Dächer? Im Hintergrund konnte ich einen weiten, dunklen Wald erkennen. Kannte ich diesen Wald? In der Nähe von Köln stand er sicher nicht.
Ich klingelte nach einer Schwester.
»Wo bin ich hier?«
»In der Städtischen Klinik«, antwortete ein junges Mädchen mit schwarzen Locken.
»Ja, aber in welcher Klinik?«
»In Gudenshain natürlich.«
»Gudens … wo?«
Ich starrte sie an. Dieser Name kam mir zwar bekannt vor, doch ich hatte nicht vorgehabt, jemals in so einem Ort im Krankenhaus zu liegen.
»Wie weit ist Köln von hier entfernt?«
»Köln? Ich weiß nicht genau. Drei oder vier Stunden vielleicht?«
»Was?«
Meine Beine kribbelten, mein Kopf dröhnte. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich sah mich um und entdeckte mein Handy auf dem Nachttischchen. Schnell schaltete ich es ein. Fünfundsechzig Nachrichten hatte ich darauf, sechzehn Anrufe und sogar vier SMS.
»Wir haben Ihre Familie benachrichtigt«, erzählte die Schwester. »Ihre Mutter ist in der Stadt. Sie war häufig hier an Ihrem Bett, ist aber gerade zum Einkaufen weggefahren. Sie ist sicher gleich zurück.«
»Sie haben meine Mutter benachrichtigt?« Wieder stöhnte ich.
»Sie ist Ihr Notfallkontakt«, erklärte die Schwester.
»Das muss ich dringend ändern lassen.«
Ich sah auf mein Handy und begann, die Nachrichten zu lesen.
»Es ist so furchtbar, was dir passiert ist. Das ganze Team wünscht gute Besserung, wir denken an dich!«
»Deine Mutter hat uns angerufen – wir machen uns hier alle riesige Sorgen. Sag Bescheid, wie es dir geht, wenn du das liest.«
»Hey Mann, wie geht es dir? Susi hat uns alles erzählt – unfassbar. Bitte melde dich, sobald du kannst.«
»Mensch, Adam, was ist denn mit dir passiert? Sollen wir rumkommen? Brauchst du irgendwas?«
»Hallo Adam! Ich hoffe so sehr, dass es dir bald besser geht. Gestern habe ich den ganzen Tag an deinem Bett gesessen, aber der Sender braucht mich, und deine Mutter meinte, ich soll ruhig nach Köln zurückfahren. Aber ich bereue es voll, ich hätte bleiben sollen. Sorry! Liebe Grüße, Susi.«
»Oh. Mein. Gott. Das Video ist SO krass. Ich kann das nicht fassen. Ruf bitte an, sobald du wach bist.«
»Ach, du Scheiße! Du solltest dir einen Anwalt nehmen. Es kann nicht sein, dass dieses Video im Internet steht.«
»Alter, was ist das für ein Video? Willst du, dass das öffentlich bleibt?«
»Adam, ohne Scheiß, ich schwöre dir, dass ich das Video nicht online gestellt habe. Ich habe keine Ahnung, wie es ins Netz kommen konnte! Nicht die geringste! Glaubst du mir? Liebe Grüße, Susi.«
Ich rieb mir die Stirn. Wovon sprachen die alle? Mit einem Tippen öffnete ich YouTube und schrieb meinen Namen in die Suchleiste. Gleich das oberste Video kam mir unbekannt vor, dabei hatte es schon über eine Millionen Klicks – so viel wie noch keine meiner Sendungen zuvor. Ich startete es und sah mich selbst. Schwarze Locken, große, dunkle Augen und ein verschmitztes Lächeln mit geschlossenen Lippen. In der Hand hielt ich ein Mikrofon, ich sah in den Himmel. »Das ist mal ein Gewitter«, rief ich. Über meinem Kopf türmten sich Wolken auf. Hinter mir konnte man Häuserdächer erkennen. Ich musste auf einer Anhöhe stehen, auf einem Hügel oder, noch eher, auf einer Aussichtsplattform. Rechts von mir konnte ich ein Metallgeländer erkennen, gegen das ich mich mit den Beinen lehnte, dahinter ging es wohl steil bergab. Über dem Zentrum der Stadt begann es gerade zu regnen und zu stürmen. Ein Blitz erhellte die Wolken. Ich selbst stand im Trockenen, auf der Aussichtsplattform war das Gewitter noch nicht angekommen.
»Was Sie hier hinter mir sehen können, sind energiereiche Luftmassen. Sie sind warm und labil und stehen unter extremem Tiefdruckeinfluss.«
Ein Donnern unterbrach mich.
»Das Gewitter konzentriert sich ausschließlich auf eine Kleinstadt namens Gudenshain. Die umgebenden Hügel halten es über den Dächern fest, hier kommt punktuell gerade viel Regen runter.«
Meine Locken wehten leicht im Wind, meine rote Wetterjacke ebenso. Eine Krähe setzte sich auf das Geländer schräg hinter mir, doch ich beachtete sie nicht. Über mir donnerte es. Ich lächelte. Pause. Dann fragte ich in Susis Richtung, leiser als vorhin: »Hast du das?« Die Krähe schrie und flog davon. Gerade wollte ich das Mikrofon sinken lassen, mich vom Geländer lösen und auf die Kamerafrau zugehen, da wurde der Bildausschnitt plötzlich von gleißendem Licht erhellt. Es krachte, eine Frau schrie, die Kamera wackelte, zitterte, doch sie hielt weiter drauf, sie filmte, wie ich zuckte und in mich zusammenfiel.
Schnitt. Kurz war das Bild schwarz, dann sah man die gleiche Aufnahme noch einmal. Erst stand ich aufrecht und lächelte. Die Krähe flog auf. »Hast du das?« Der Rest wurde in Zeitlupe gezeigt. Ein weißgelber Lichtstrahl fuhr vom Himmel und traf das Geländer, das ich mit meinen Beinen berührte. Ich riss die Augen auf und fiel. Mich hatte der Blitz getroffen.
Ich spulte das Video zurück. Den Schrei der Kamerafrau, ihr Zittern, mein Leuchten. Das konnte doch nicht wahr sein. So etwas passierte doch nicht in Wirklichkeit. Schon gar nicht mir. Einem Fachmann. Täglich hatte ich in meinen PC geschaut und geglaubt, aus den Luftmassen, den Temperaturen, den Strömungen und der Elektrizität schlau zu werden, die mir da als Zahlen und Graphen angezeigt wurden. Dass ich sie einschätzen könnte und in der Lage wäre, zumindest ein klein wenig in die Zukunft zu schauen. Aber ich hatte mich geirrt. Ich hatte nicht begriffen, dass ich nichts voraussehen konnte, dass ich genauso naiv durch meinen Alltag stolperte wie jeder andere.
In diesem Moment, in meinem Krankenhausbett, spürte ich, dass sich meine Welt grundlegend verändert hatte. Dass sie zerfallen war und sich nun vollkommen neu zusammensetzte.
Ich öffnete Google und gab meinen Namen in die Suchleiste ein. Sofort erschienen Schlagzeilen von Focus, Merkur und der Bild: »Wettermann vor laufender Kamera vom Blitz getroffen«, »Blitz trifft TV-Meteorologen – er überlebt«, »Vom Blitz getroffen: Wetterfrosch in Lebensgefahr«, »Video zeigt Blitzschlag live«, »So sieht es aus, wenn ein Mensch vom Blitz getroffen wird«.
Langsam ließ ich mich ins Kissen sinken und wartete darauf, dass die Erinnerungen zurückkehrten. Wieso war ich nach Gudenshain gefahren? Warum hatte ich auf einer Aussichtsplattform über ein herannahendes Gewitter berichten wollen? Für welche Reportage hatte ich die Szene vorgesehen?
Die Tür meines Zimmers öffnete sich langsam, und der Kopf meiner Mutter schaute herein. Ihre dunklen schulterlangen Locken mit den weißen Strähnen wirkten stumpf, ihre olivfarbene Haut war blass, ihre Wangen eingefallen.
Sie sah mich an und lächelte vorsichtig.
»Hallo, mein Schatz«, sagte sie leise.
Jetzt müsste der Moment kommen, in dem ich mich freute. Schließlich freut man sich, wenn man seine Mutter sieht. Vor allem in einem Krankenhaus. Müde, geplagt von Schmerzen liegt man da und fühlt sich wie ein kleines Kind, wenn die Mama ans Bett kommt, um einem die Hand zu drücken. So zumindest sollte es sein. Doch bei mir war es anders. Stumm sah ich sie an.
»Wie fühlst du dich?« Meine Mutter blieb in der Tür stehen und hielt sich am Griff fest. Sie war so dünn, dass sie andernfalls wohl einfach umgekippt wäre. Oder davongeflogen. Sie wusste, dass ich nicht antworten würde.
»Ich … Ich hatte geglaubt … Mir tut das …«
Schweigend lag ich da. Mir war, als würde ich in einen dunklen Tunnel sehen, und wenn ich weiterliefe, käme ich vielleicht nicht mehr hinaus.
Flehend schaute sie mich an. »Sag doch was.«
Ich schluckte. »Lass mich bitte allein«, sagte ich.
Wie sehr ihre großen dunklen Augen meinen glichen. Kurz erwiderte ich ihren Blick, dann sah ich weg, aus dem Fenster. Ich hörte, wie meine Mutter durch den Raum ging in Richtung Tisch, wie sie etwas anhob oder abstellte, doch ich sah nicht hin. Ich schaute in einen leicht bewölkten Himmel, die Sonne stand tief. Es musste später Nachmittag sein. Die letzten Strahlen schienen auf die dunklen Bäume des Waldes, der diese Stadt abschloss wie eine Tür aus Eichenholz. Und dann fiel meine ins Schloss. Meine Mutter war gegangen.
Ich sah zum Tisch. Sie hatte Pralinen abgestellt und eine Karte. »Für Adam« stand darauf. Sobald ich aufstehen konnte, würde ich beides wegwerfen.
Die Wut saß mir im Rachen. Ich wollte spucken oder schreien, beides ging nicht, also hustete ich, und der Husten jagte einen Schmerz durch meinen Kopf, meine Haut brannte. Ich verzog das Gesicht, stumm. Was tat ich hier? Warum hatte ich diese Wut, diesen Hass in mir? Was hatte meine Mutter noch gleich getan? Da war doch was, da musste doch was gewesen sein, nur was? Zwar wusste ich meinen Namen wieder, ich erinnerte mich daran, wer die Person gewesen war, die vom Blitz getroffen worden war. Und doch spürte ich, dass da etwas fehlte. Ich konnte die Abwesenheit meiner Erinnerungen fühlen, so wie man manchmal hört, dass das Telefon stumm bleibt, obwohl man auf einen wichtigen Anruf wartet. Ich wartete, doch nichts klingelte. In meinem Kopf blieb es still.
Erzählen konnte ich all das niemandem. Gab es einen Menschen, den ich jetzt an meinem Bett haben wollte? Meine Mutter definitiv nicht. Mein Vater konnte mir ebenfalls gestohlen bleiben. Susi vielleicht? Nein, wir waren Kollegen, und das hier wäre mir dann doch zu intim. Paul, mein unerschrockener und kaum empathiefähiger Kumpel, wäre vermutlich der Richtige, doch er arbeitete seit ein paar Wochen als Unternehmensberater in München und hatte sicherlich andere Sorgen.
Mit einem Mal kam ich mir unendlich einsam vor. Um nicht weiter darüber nachzudenken, hob ich das Handy noch einmal vor meine Augen und startete das Video erneut. Ich sah mein Lächeln. Den Vogel. »Hast du das?« Und dann: den Blitz.
»Oh. Mein. Gott.« Ich starrte auf Merles Handy, das sie mir mit ausgestrecktem Arm unter die Nase hielt.
»Und jetzt kommt es noch mal, schau!«
»Ich weiß gar nicht, ob ich das sehen will«, sagte ich langsam und laut, um mich selbst hinter meinem Ohrensausen verstehen zu können. Doch ich drehte den Kopf nicht weg. Ich sah, wie dieser Wettermann in die Kamera schaute und mit geschlossenem Mund lächelte. Wie er wartete. Wie der Vogel aufflog. Wie er sagte: »Hast du das?« Und dann sah ich, wie er vom Blitz getroffen wurde.
»Ach. Du. Scheiße.«
Für einen kurzen Moment ließ dieses Licht alles andere verschwinden. Die Stadt, den Vogel, den Mann. Sie waren verschluckt, erloschen, versengt. War ich für 0,0004 Sekunden ebenso körperlos gewesen? Licht statt Fleisch, Helligkeit statt Knochen?
Es war ein verschwindend kurzer Augenblick, doch er hatte den Mann verändert. Etwas in seinen Augen, etwas an der Art, wie er den Mund aufriss, erschien mir nach dem Blitz anders als zuvor. Seltsam irgendwie. Wo war er gewesen? Wo waren wir beide gewesen?
»Spul es noch mal zurück«, sagte ich.
»Der Typ ist hübsch, oder?« Merle grinste mich an.
»Quatsch! Darauf hab ich überhaupt nicht geachtet.« Mein Kopf schepperte, hinter meinen Augen fühlte ich ein Stechen. Ich sollte weder so viel sprechen noch so schnelle Bewegungen machen. Schließlich lag ich im Krankenhaus, und der Blitzschlag war erst wenige Tage her.
»Ist klar.« Merle tippte auf den Zeitstrahl des Videos und startete es noch mal.
Genauso ahnungslos wie dieser Mann hatte auch ich dagestanden. Ich war ebenso naiv gewesen. Ich hatte gleich große Schmerzen gespürt.
»Hast du die Uhr am Kirchturm gesehen?«, sagte Merle, sobald das Video zu Ende war.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann schau noch mal.«
Erneut startete sie das Video. Diesmal versuchte ich, nicht auf die Stimme des Mannes zu hören oder auf sein Gesicht zu schauen, sondern an ihm vorbei auf unsere Stadt. Man konnte das Neubaugebiet mit seinen kleinen Häuschen, den niedrigen Dächern und den genau bemessenen Grünflächen gut erkennen. Dahinter wurden die Straßen enger, die Häuser standen dichter. Über allem thronte unsere kleine Kirche mit dem schmalen, spitz zulaufenden Glockenturm.
»20.20 Uhr«, flüsterte ich. Dann riss ich die Augen auf. »Es ist genau die gleiche Uhrzeit!«
Merle nickte. »Er ist im gleichen Moment vom Blitz getroffen worden wie du.«
»Aber … Wie kann das sein?«
»Ich denke, es war derselbe Blitz.«
»Das ist doch nicht möglich.«
»Anscheinend doch. Ich hab ein bisschen recherchiert. Es kommt wohl sehr oft vor, dass Blitze nicht nur an einer, sondern zur gleichen Zeit an zwei Stellen einschlagen. Forscher haben in den Neunzigerjahren vierhundert Blitzeinschläge gefilmt und herausgefunden, dass jeder Blitz den Boden im Schnitt 1,45 Mal getroffen hat. Ich denke also, dein Blitz war einer mit zwei Armen. Und diesen Wettermann hat der zweite Arm getroffen.«
»Aber er stand doch ganz woanders als ich.«
»So weit weg war das gar nicht. Siehst du dieses Geländer? Ich denke, das ist die Aussichtsplattform am Tretbecken, weißt du, welche ich meine? Unten am Wanderweg.«
Ich nickte.
»Sie liegt nicht mal einen Kilometer Luftlinie von unserer Hütte entfernt.«
»Verrückt.« Ich legte den Kopf wieder ins Kissen. »Weißt du, wie es ihm geht?«
»Die Bild schreibt, er hätte überlebt. Und denen glaube ich das, die gegenteilige Meldung hätten sie bestimmt noch lieber gebracht.«
Ich seufzte. »Das stimmt allerdings.«
»Vielleicht liegt er in diesem Moment sogar im selben Krankenhaus.«
»Ich könnte ihm im Flur begegnen?«
»Wer weiß.« Merle zuckte mit den Schultern.
»Wo ist eigentlich Claus?«, fragte sie dann.
Ich wich ihrem Blick aus. »Arbeiten, schätze ich.«
Dieser 5. September hätte mein Hochzeitstag werden sollen, an dem ich mit laut klopfendem Herzen erwachte. Ich hätte mich auf mein Hochzeitskleid freuen sollen, das bodenlang war und an Bauch und Schultern mit Spitze besetzt. Seit Wochen hatte ich gehofft, dass ich am 5. September die Frau sein würde, die dieses Kleid verdient hatte. Aufrecht, stolz und schön. Irgendetwas in mir hatte geahnt, dass es anders kommen würde. Und nun hatten wir die Hochzeit tatsächlich verschoben. Heute hätte ich mich vor lauter Schwindel auf meinen hohen weißen Schuhen kaum halten können.
»Es hat keinen Sinn«, hatte Claus schon am Tag nach dem Blitzschlag gesagt, als mein Ohrensausen noch viel lauter war und ich alle Kraft aufbringen musste, um ihn durch den Sturm hindurch zu verstehen. Er saß am Rand meines Bettes und musterte mich mitleidig. »Sieh dich nur an.«
Sagte er das wirklich?
»Ja«, antwortete ich eine Spur zu laut. Und meinte Nein. Seit dem Blitzschlag vermied ich jeden Blick in den Spiegel. Ich war totenblass, hatte schwarz unterlaufene Augen, meine Haut brannte, mir war schwindelig, alles tat mir weh. Wer mich sah, fragte sich, ob ich tatsächlich am Leben war.
»Du bist völlig durch den Wind«, fuhr er fort. »Und das kurz vor unserer …« Es dröhnte so laut in den Ohren, dass ich nur noch die Hälfte von Claus’ Worten verstehen konnte. Er fuhr sich durch die weißblonden Haare. Sehen konnte ich ihn gut.
»Wieso bist du bloß … ins Gewitter …? So kurz … Ich hatte mich so auf alles gefreut.«
Ich kniff die Lippen zusammen, versuchte mich zu konzentrieren. Worum ging es hier gerade?
»Das … so tragisch.« Er redete weiter, doch seine Worte drangen nicht mehr zu mir durch. Ich sah nur in seine blauen Augen. Auf seine blonden Brauen und die unzufriedene Nase. Niemand auf der Welt konnte eine so unzufriedene Nase haben wie Claus. Meist erkannte ich schon an seiner Nasenspitze, was er dachte. An diesem Tag zeigte sie weit nach unten. Sie war schmaler und zugleich eckiger als sonst. Sie sagte: Wie konntest du mir das antun? Das zumindest verstand ich deutlich.
Claus hatte nicht nur die gesamte Redaktion des Hauses zu unserer Hochzeit eingeladen, sondern auch seine wichtigsten Kontakte aus der lokalen Wirtschaft. Als Chefredakteur der regionalen Tageszeitung wollte er diese Gelegenheit nutzen, um sich innerhalb unserer Stadt stärker zu vernetzen und sich als gastfreundlicher und strategisch wichtiger Ansprechpartner zu positionieren. Ich hatte so gehofft, ihn dabei unterstützen zu können. Und nun war das Gegenteil eingetreten. Ich hatte die Hochzeit kurz vor dem entscheidenden Tag doch noch platzen lassen.
»Ich sage alles ab«, hörte ich ihn sagen. »Heute noch. Je eher wir uns entscheiden, desto besser.«
Ich nickte und versuchte, meinen Schwindel einzufangen. Dieser Frau, die ich so gern für ihn gewesen wäre, war nicht schwindelig. Sie weinte nicht.
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich bin auch traurig.« Er stand auf. Seltsam, dass seine Haare in meinem Sturm nicht wehten. Er trug sein helles Jeanshemd, unter dem sich seine starken Schultern und der große Bizeps abzeichneten, dazu die schwarze Hose und die eleganten Turnschuhe. Ein Hingucker, ja. Da hatte Elske recht gehabt. »Du weißt, dass ich … keine Wahl …«
Obwohl mein Ohrensausen wieder lauter wurde, nickte ich langsam.
»Aber … Glück. Ich habe eine Rücktritts… für die Hochzeit …«
»Was hast du?« Ich setzte mich ein Stück auf und versuchte, mich besser zu konzentrieren.
»Weißt du das nicht? Man kann Rücktrittsversicherungen abschließen. Sie treten in Kraft, falls eine Hochzeit platzt. Zum Glück habe ich rechtzeitig daran gedacht. Der Eigenanteil liegt bei gerade mal zweihundertfünfzig Euro. Die übernehme ich.«
»Wieso hast du das gemacht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weil ich dich kenne.«
Jetzt weinte ich doch. Ich schluchzte laut auf und hasste mich dafür. Er trat einen Schritt vor und strich mir über den Kopf. »Scht. Ich hab doch gesagt, dass ich das übernehme.«
»Es ist so toll, dass du dich um alles kümmerst. Wie immer.« Und ich meinte es so. Ich war unendlich froh, dass er da war und wusste, was zu tun war. Dass er alles in die Wege leitete.