Bleib du im ewgen Leben mein guter Kamerad - Band I - Jost Müller-Bohn - E-Book

Bleib du im ewgen Leben mein guter Kamerad - Band I E-Book

Jost Müller-Bohn

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Beschreibung

Hans Nowak erlebt den Vormarsch der deutschen Armeen nach Russland an vorderster Front mit, seine Eltern erfahren die Auswirkungen der Machtübernahme Hitlers und nehmen Ruth Engelmann auf, die als Jüdin in Lebensgefahr ist. Sie wird entdeckt und muss fliehen … Es ist für Christen lebensgefährlich geworden, ihres Glaubens zu leben. Die Trilogie „Bleib du im ewgen Leben mein guter Kamerad“ zeigt die ganze Problematik des Verhaltens von entschiedenen Christen in einem furchtbaren Krieg und unter dem antichristlichen Gewaltregime auf.

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Bleib du im ewgen Leben mein guter Kamerad

Band I

Jost Müller-Bohn

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Jost Müller-Bohn

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-047-6

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Das eBook Bleib du im ewgen Leben mein guter Kamerad – Band 1 ist als Buch erstmals 1980 erschienen.

Autorenvorstellung

Jost Müller-Bohn, geboren 1932 in Berlin, ist der bekannte Evangelist und Schriftsteller von über 40 Büchern. Er studierte in Berlin Malerei und Musik. Über 40 Jahre hielt er missionarische Vorträge. Seine dynamische Art der Verkündigung wurde weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.

Als Drehbuchautor und Kameramann ist er der Begründer der „Christlichen Filmmission“. Seine Stimme wurde unzähligen Zuhörer über Radio Luxemburg bekannt. Einige seiner Bücher wurden zu Bestsellern in der christlichen Literatur.

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autorenvorstellung

Vorwort

Friedland

Verirrt im Sumpf

Von unsichtbarer Hand zerrissen

Die letzten Urwälder

Die Heimat glaubt

Marschall Vorwärts regiert

Im Feldlazarett

Christen zwischen braun und rot

Die Heimat kämpft

Im Schlamm versunken

Weihnachtsurlaub

Frontauffangsstellung

Hölle zwischen Mitternacht und Morgen

Der Zwischenfall

Ausbruch aus dem Kessel

Unsere Empfehlungen

Vorwort

»Es kommt Krieg!« sagte die Mutter, »an der Grenze wird schon geschossen!« Sie blickte besorgt in die Ferne. Ich hielt mich fest an ihrer Hand und schaute mit angstvollem Gefühl in die Dämmerung bis hin zur dunklen Hecke. Ich meinte, nicht weit von dieser Hecke entfernt müsse die Grenze zwischen Krieg und Frieden sein.

Die Menschheit stand am Abgrund eines furchtbaren Weltkrieges, des schrecklichsten, der je über die Erde seit Schöpfungsbeginn kommen sollte.

Nun sind bereits über vierzig Jahre vergangen seit den ersten Schüssen zu diesem zweiten Weltkrieg. Viele Wunden sind verheilt, manches Grauen fast vergessen, leider aber auch Gottes Güte und Erbarmen, welche in vielen Einzelschicksalen sichtbar geworden waren.

In dieser Berichterstattung sollen keine alten Dinge wieder aufgewärmt werden, wie es im Trend unserer Zeit liegen mag, sondern der Name Gottes soll verherrlicht werden, der in den Tagen größter Not für viele die einzige Zuflucht und Hilfe war.

In diesem Werk soll keinem Menschen ein Heldendenkmal gesetzt werden, wir sollen aber erinnert werden an wunderbare Führungen und Bewahrungen in gefahrvollster Zeit.

In den vergangenen Monaten wurden mir so viele eindrucksvolle Zeugnisse vom Wirken Gottes im Leben einzelner Familien während des Krieges, die Gott allein vertraut haben, erzählt, dass ich mich entschloss, aus den hervorragendsten Berichten ein Gemälde der Vergangenheit zu gestalten. Ich hielt es für angebracht, aus der Vielzahl der Berichte eine fortlaufende, zusammengefasste Erzählung niederzuschreiben, wobei Namen von noch lebenden Personen rein zufällig wären. Die Begebenheiten, die hierin geschildert werden, beruhen aber auf durchlebten Erfahrungen. Nie werde ich die Tatsache vergessen, dass sich ein junger Christ aus unserer Heimat freiwillig gemeldet hat für die Schlacht um Stalingrad, um damit einem Familienvater die Rückkehr aus dem Kessel zu ermöglichen. Er selber hat dadurch sein Leben geopfert, denn er hat seine irdische Heimat nie wiedergesehen. Auch von ihm werden wir in diesem Buch lesen können.

In der Person des Hans Nowak wurden Zeugnisse von ehemaligen Frontkämpfern, die als Jünger Jesu in den Kriegsdienst berufen wurden und die erregenden Jahre des Krieges miterlebt haben, dargestellt. Es wurden Auszüge aus Fronttagebüchern und Berichte verwandt, um ein möglichst umfassendes Bild aus dieser Zeit und von den damaligen Umständen wiedergeben zu können. Viele Gespräche, die ich mit überzeugten Christen geführt habe, wurden bei der Schilderung des Russlandfeldzuges verwandt, um somit eine viel zu wenig beschriebene Seite des Krieges zu beleuchten, nämlich die bewahrende Gnade und die wunderbaren, das soll heißen: die an Wunder grenzenden Führungen Gottes in den seelenlosen Materialschlachten des zweiten Weltkrieges.

Heute, vierzig Jahre nach Kriegsbeginn, ist die Welt gespickt voll von angehäuften Massenvernichtungswaffen. Die Menschheit bewegt sich wieder auf einen neuen Weltkrieg zu. Unheimlich schreckliche Vernichtungswaffen lagern in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Nach Aussagen von Militärexperten muten heute die einstigen Atombomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten, in dem damaligen Ausmaß ihrer Vernichtungskraft wie Kinderspielzeuge an neben den Bomben unserer Zeit mit ihrer unvorstellbaren Zerstörungskraft.

»Nie wieder Krieg!« und »Ohne uns!« lauteten die Parolen der Männer, Antifaschisten und Politiker wie auch Nichtpolitiker, die heil aus dem Krieg zurückgekommen waren, denn sie hatten das Grauen kennengelernt. Die deutschen Kinder sollten nicht einmal mehr eine Andeutung von Kinderkriegsspielzeug in die Hand bekommen, war der aufrichtige Wunsch vieler Überlebender gewesen. Doch was sehen wir heute?

Seit Jahren üben Truppen in zwei deutschen Staaten in unterschiedlichen Uniformen und vor allen Dingen innerhalb ihrer gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen den grausamen Krieg gegeneinander! Die meisten der Männer haben das Grauen eines Krieges noch nie gesehen, sie sind später zur Welt gekommen oder aber die älteren unter ihnen, die wieder Dienst mit der Waffe tun, haben anscheinend vergessen.

Möge es dem Geiste Gottes gelingen, viele durch diese Erzählung an die Wohltaten des Schöpfers inmitten des Infernos von Schlachten nachdrücklich zu erinnern und so manchem noch sein einst gegebenes Gelübde ins Gedächtnis zurückrufen, das er seinem Schöpfer gegeben hat, als er in Todesnöten nach ihm rief.

»Einmal, wenn alles vorüber ist,werden Mütter weinen und Bräute klagen,und man wird unterm Bild des Herrn Jesu Christwieder die frommen Kreuze schlagen.

Und man wird sagen: Es ist doch vorbei!Lasst die Toten ihre Toten beklagen!Uns aber, uns brach es das Herz entzwei,und wir müssen unser Lebtag die Scherben tragen.«

Carl Zuckmayer

Friedland

Wer kennt den KameradenHans NowakLetzter Standort: Stalingrad

Zu lesen ist diese Anfrage auf einem großen Plakat, daneben steht eine junge Frau, die eine Fotografie in übergroßem Format in ihren schlanken Fingern hält. Es ist die Ablichtung des Gefreiten Hans Nowak. Stundenlang, tagelang warten Frau Nowak und Fräulein Ruth Engelmann im Lager Friedland auf den seit zehn Jahren vermissten Sohn und Freund. Laufend kommen entlassene Kriegsgefangene mit ihren Kisten und Säcken an ihnen vorüber. Es sollen die letzten Kriegsgefangenen sein aus den sibirischen Arbeitslagern. Sie müssen an einer langen Menschenansammlung vorbei, an der Reihe wartender Mütter, Frauen, Kinder, die in Hoffnung und Verzweiflung den Heimkehrern entgegenblicken.

Herzergreifende Szenen spielen sich hier ab, wenn nach vielen Jahren sibirischer Zwangsarbeit eine Mutter ihren Sohn erkennt, eine Frau ihren lang ersehnten Mann! Sie schreien laut, überwältigt von Freude und Schmerz. Ihre Arme umschlingen die mit schmutzigen, grauen Wattonjacken bekleideten Männer, die dazu auch noch die typischen Russenpelzmützen tragen.

Hinter den beiden Frauen Nowak und Engelmann wartet noch jemand, der plötzlich erregt aufschreit: »Da! Da! Da ist er! Da ist er ja!« – »Wer?« – »Wo denn?« – »Hans?« – »Mein Gott, wo denn?«

»Nicht Hans! Das ist Albert! – Albert Kusserow!«

Kusserow hört seinen Namen – eine altbekannte, ihm vertraute Stimme hat ihn genannt. Forschend blickt er in die Runde. Die beiden Frauen mit dem Plakat und dem großen Foto von Hans Nowak kommen jetzt in sein Blickfeld. Schnell bahnt er sich einen Weg und läuft auf sie zu. »Hallo, den Soldaten kenne ich«, sagt Albert und zeigt auf das Bild.

»Dich kenne ich auch, mein Lieber!« dröhnt es aus dem Hintergrund. Ein Mann drängt sich nach vorn, es ist Siegfried Kittel, und sagt: »Darf ich bekannt machen? Das ist Albert Kusserow – und dir Albert: das ist Frau Nowak, die Mutter von Hans, und seine Braut Fräulein Engelmann.«

Die beiden Männer fallen sich um den Hals, danach begrüßt Kusserow die beiden Frauen.

»Wissen Sie etwas über meinen Sohn?« fragt Frau Nowak flehentlich.

»Von Hans? – Nein, wieso, wo ist Hans?«

»Das wollte ich Sie fragen?«

»Ich meine, Hans hätte Stalingrad auf dem Luftweg rechtzeitig verlassen? Er war doch der einzige unserer Kompanie, der ausgeflogen wurde.«

Dann schweigen sie – die vier Betroffenen. Der Mut sinkt, die Hoffnung schmilzt zusammen. Albert Kusserow starrt Siegfried Kittel betroffen an. – Die Seele scheint zu sterben – ein glimmender Docht erlischt!

Verirrt im Sumpf

»Nur noch ein Wunder kann uns retten!« stöhnt Hauptmann Köhler. Der Kompaniechef ist verzweifelt, er weiß keinen Ausweg. Seine Augen blicken ratlos, Schweiß tropft von Stirn und Wange. In den Stoppeln des ruppigen Bartes glänzt es feucht.

Über den Stahlhelm ist ein Tarnnetz gezogen.

Der Feind schießt sich ein. Sein Artilleriefeuer wird gezielter. Die Granaten explodieren immer näher.

Das Stoßtruppunternehmen ist fehlgelaufen, die Kompanie hat sich verirrt. Sie sind in Russlands Urwälder geraten. Unheimlich weit und gefährlich wie Rattenfallen sind diese Wälder. Ekelhafte Mückenschwärme belästigen die Landser. Sie fallen, wie vom Feind herbeigehext, über die lehmverschmierten Männer her.

»Zum Donnerwetter! Wo bleibt die Luftwaffe?« schreit der Hauptmann.

Es ist die Angst – ja die nackte Angst, die ihn ergriffen hat! Die alten Frontkämpfer spüren es, sie lesen es ihrem Kompaniechef von den Augen ab. Im hageren Gesicht spiegeln sich Anstrengung und panische Furcht. Oberfeldwebel Heinze schaut den Chef an, der das Fernglas vor seine Augen nimmt. Rundherum ist dichtes Unterholz, die Blätter bilden eine undurchsichtige Wand.

Die »Nähmaschine« kommt wieder! Sie ist ein altes Modell, ein sowjetischer Doppeldecker, für jeden, der sich verbergen will, ein heimtückisches Flugzeug. Als Artilleriebeobachtungsflugzeug ist es geradezu ideal und eine großartige Unterstützung im Erdkampf. Es ist zum Verzweifeln! Seit Tagen schon irrt die Einheit durch die Gegend in vollständiger Ungewissheit, man hat einfach die Richtung verloren.

Wenn die »Nähmaschine« wieder über ihnen kreist, wird das Feuer des Feindes höchst gefährlich. Ein unheimliches Rattern ertönt über ihnen, wirklich ein Geräusch wie bei einer alten Nähmaschine. Sie fliegt sehr tief, so dass ihre Besatzung fast in jedes Vogelnest schauen kann. Da schaukelt sie auch schon heran!

»Hinlegen! – Keine Bewegung!« schreit Hauptmann Köhler. Alle sind im Nu verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Unter ihren Tarnhemden und unter dichtem Gebüsch erwarten die Feldgrauen den »Morgensegen« des Feindes. Wenn nur keinem die Nerven durchgehen!

Dieses scheußliche Tackern der Maschine geht allen durch Mark und Bein.

In kaum dreißig Metern Höhe zieht das Flugzeug über den Bäumen eine Schleife. Aus offener Kanzel sehen Pilot und Beobachter hinunter. Jeder der Männer fühlt sich von ihnen entdeckt. Ihre Körper beginnen zu zittern, die Füße und Arme verkrampfen sich bei solcher Anspannung. Und noch einmal kurvt der gefährliche »Drache« heran. Hoffentlich wirft er keine Splitterbomben!, denkt jeder.

Da! Ganz plötzlich ist jemand hinter den Büschen aufgesprungen! Wie irrsinnig schießt er mit seiner Maschinenpistole in die Luft! »Elende Schweinerei! Das hat gerade noch gefehlt! Dem sind die Nerven durchgegangen, jetzt haben wir den Salat!« denkt der Kompaniechef.

Der Feind weiß genau, wo einer sitzt, da sitzen auch noch mehr! »Knallt ihn ab!« brüllt der Hauptmann.

›Wen denn? Den Feind dort oben?‹ denkt Oberfeldwebel Heinze.

Ein wildes Infanteriefeuer geht los, – ungenau – panisch – überhastet. Der Doppeldecker dreht ab. Nein! Er entzieht sich nur dem Feuerbereich der Infanteriewaffen!

Jetzt leitet der Artilleriebeobachter über Funk die Geschütze des Feindes! Schrapnelle zerknallen über den Köpfen der Männer, Dreckfontänen spritzen hoch, jaulend fegen die Kugeln durch die Luft. Sie schlagen ein in Holz, Sand und Steinen.

Die Deutschen sind zwar wieder wie vom Erdboden verschwunden, aber der Russenflieger hat sie untertauchen sehen und leitet das Feuer der Sowjets immer näher. Eine MG-Salve bringt augenblicklich den Stillstand des heftigen Feuers. Das Flugzeug ist getroffen und zieht mit dunkler Rauchfahne davon.

Doch diese Feuerpause wird sicher nicht lange dauern. Hauptmann Köhler traut dem Frieden nicht.

»Alles sammeln!« schreit er mit sich überschlagender Stimme. Aus dem Unterholz kommen seine Männer, ihnen steht noch die eben durchlebte Angst im Gesicht.

»A tempo! Vorwärts! Nach drüben in die dichte Schonung!« Der Hauptmann weist ihnen die Richtung an. Die Männer schleppen auch die Verwundeten und die Munitionskisten über den glitschigen Boden mit. Nur dreihundert Meter sind es bis zu der Schonung, in der sie untertauchen können, aber dieser scheußliche Boden! Keuchend schleifen die Landser ihre Lasten.

Oberfeldwebel Heinze kniet unter einem Busch und hat die Karte vor sich ausgebreitet, Hauptmann Köhler schaut ihm über die Schulter. »Noch kein Anhaltspunkt? Wenn kein Wunder geschieht, sind wir in diesem dreckigen, sumpfigen Gebiet gefangen – erledigt!«

Heinze sucht auf der Karte nach einem Ausweg, vergebens! Hans Nowak hastet an den beiden vorbei.

»He, Pastor (Hans wird wegen seines entschiedenen Christseins in der Kompanie ›Pastor‹ genannt) fragen Sie mal beim himmlischen Hauptquartier an, ob uns der liebe Gott einen Engel oder sonst jemand schicken kann, der uns hier herausführt!« höhnt die sogenannte »Mutter der Kompanie«. Hans ist es gewöhnt, mit solchen Reden herausgefordert zu werden. Seine Kameraden vom 3. Zug, allen voran der giftige Spötter Unteroffizier Diehlmann, sein Gruppenführer, haben eine Freude daran, ihn auf diese Weise zu schikanieren.

Diehlmann allerdings liegt gerade unter einem Busch und stöhnt, sein Bein ist verletzt, das Verbandspäckchen schon durchblutet.

Hauptmann Köhler beurteilt die Lage richtig, der Russe hat ›Blut geleckt‹. Eine weitere ›Nähmaschine‹ rattert heran. Sie überfliegt den Wald. Noch haben sie niemanden entdecken können, doch die Besatzung scheint genauestens orientiert zu sein. Vielleicht ist der Artilleriebeobachter nach einer Notlandung aus dem brennenden Flugzeug nur in diese andere Maschine umgestiegen? Die feindlichen Geschütze schweigen im Augenblick, doch der gefährliche ›Aasgeier‹ kreist weiterhin über dem letzten Standort der Kompanie.

›Hoffentlich verliert nicht wieder jemand die Nerven‹, denkt der Hauptmann. Dabei fällt ihm ein, dass er gar nicht nach dem ›Sünder‹ Ausschau gehalten hat, der das erste Mal durchgedreht hat. Ob das vielleicht der ›Fromme‹ war? Der hat doch in solchen Situationen bestimmt die Hosen ›gestrichen voll‹!

Aber jetzt ist keine Zeit für weitere Überlegungen.

»Keine Bewegung! Keinen Schuss ohne meinen ausdrücklichen Befehl!« ruft er seinen Leuten zu.

Dicht neben Nowak liegt der Familienvater Siegfried Kittel, ein Ur-Berliner. Irgendwie fühlt er sich zu dem ›Frommen‹ hingezogen. Er hält nicht offiziell zu ihm, nein, aber er hat Mitleid mit diesem jungen Mann, der trotz aller giftigen Bemerkungen der Kameraden und Vorgesetzten seiner Überzeugung treu bleibt und nie zurückschlägt. Auch hat er für sich selber das unbestimmte Gefühl, in der Nähe dieses Kameraden sicherer, geschützter zu sein.

Oder ist das nur Einbildung? Kittels Familie ist wegen der gefährlichen Luftangriffe auf Berlin aufs Land gezogen. Sein Bruder, ein Landwirt in der Lüneburger Heide, war im Frankreichfeldzug vor Dünkirchen gefallen. Er hinterließ seine Frau mit sechs Kindern, zu der dann Kittels Frau mit ihren acht Kindern aus Berlin kam, um der Schwägerin helfen zu können. Alle Kinder müssen fleißig mithelfen, sowohl im Stall als auch auf den Feldern und Wiesen. Der älteste Sohn ist gerade erst sechzehn Jahre alt. Zusammen mit einem polnischen Fremdarbeiter, der ihnen zugeteilt wurde, arbeitet er jetzt als die wichtigste Arbeitskraft in der großen Landwirtschaft.

Wenn der Briefträger mit seinem Fahrrad durch den staubigen Feldweg geradelt kommt, denkt die Kriegerwitwe wehmütig an die Zeit, als sie noch Feldpostbriefe bekam, bis eines Tages der Bürgermeister einen schwarz umrandeten Brief brachte mit der Mitteilung des Kompaniechefs: »Für Volk und Vaterland in der Schlacht bei Dünkirchen gefallen.« Erst später bekam sie dann das persönliche Eigentum ihres Mannes zugeschickt: eine goldene Armbanduhr, eine Tabakdose, den Trauring und die persönlichen Briefe. ›Was muss noch alles geschehen, bis dieser elende Krieg endlich zu Ende ist?‹ denkt Frau Kittel.

Siegfried Kittel späht durch das dichte Gestrüpp des Unterholzes. Der Sowjetaufklärer taucht vor der Schonung auf, er fliegt so tief, dass Kittel die breiten Gesichter der Russen genau erkennen kann. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals hinauf. Nur nicht so laut atmen, denkt er, aber das ist ja doch Quatsch! Es ist die Angst, die ihm wieder in die Glieder gefahren ist. Er sieht den roten Sowjetstern im Sonnenlicht glänzen. Die Räder des starren Fahrgestells hängen bewegungslos in der Luft. Dieses sowjetische Allzweckflugzeug sieht primitiv und völlig harmlos aus. Wie bei einer Flugsportschau lässt der Pilot einmal den rechten und einmal den linken Flügel absinken. Der Beobachter neben ihm dagegen lauert wie ein Luchs. Er ist krampfhaft bemüht, die wie vom Erdboden verschluckte deutsche Einheit wiederzufinden. Kittel wagt einen Blick zur anderen Seite des Busches und sieht Nowak unter dem Tarnhemd liegen. Er hat seine Hände gefaltet und betet. ›Wie gut, dass jetzt kein Spötter neben ihm liegt‹, denkt Kittel.

Die Stechmücken, diese unzählbaren Quälgeister, sind eine wahre Plage für die Männer.

Und plötzlich! Ein rasend schnell sich näherndes Pfeifen, was zu einem ohrenzerreißenden Lärm anschwillt! Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt spritzen im nassen Sumpf mächtige Dreckfontänen hoch. Die hallenden Abschussknalle und die blaffenden Detonationen fallen zeitlich fast zusammen. Der Russe schießt mit den gefürchteten 7,62 cm-Geschützen. Die Männer haben kaum Zeit, in bessere Deckung zu gehen. Mit lehmverschmierten Händen wischen sie sich die triefende Brühe aus den Gesichtern.

Da heult es durch die Luft: Rum – Wum! Rum– Wum! Die russische Artillerie hat offensichtlich neue Informationen vom fliegenden Beobachter bekommen. Splitter zischen über die Köpfe der Männer hinweg. Einschlag auf Einschlag folgt. Immer näher rückt das tödliche Feuer. Innerhalb der Schonung schreien Verwundete auf. Wenn das so weitergeht, kommt aus dieser Schonung niemand mehr lebendig heraus.

»Sanitäter!« Von mehreren Seiten gleichzeitig wird nach ihm gerufen. Aber jetzt aufspringen und helfen zu wollen, ist lebensgefährlich. Darauf warten die Russen ja nur, die weiterhin aus ihrem Aufklärungsflugzeug die Gegend beobachten. Doch müssten die Verwundeten schnellstens Hilfe haben.

Hans Nowak betet! Will er sich damit selbst etwas beruhigen? Hilft und nützt beten in diesem mörderischen Krieg überhaupt noch? Der russische Pilot gibt so oder so doch seine Befehle an die sowjetischen Batterien. Gewiss hat der ›liebe Gott‹ auch anderes zu tun, als sich die Gebete des Hans Nowak anzuhören, denkt Kittel. Europa blutet aus unzähligen Wunden, weshalb sollte der Herrgott, wenn es ihn überhaupt gibt, sich gerade eines Hans Nowak und seiner verwundeten Kameraden annehmen und ihnen Hilfe schicken? Noch dazu in diesem ›gottverlassenen‹ Sumpf! Sind sie wirklich schon gottverlassen? Das Feindfeuer wütet entsetzlich auf der anderen Seite der Schonung. Äste, Buschwerk, ja sogar ganze Bäume wirbeln durch die Luft. Jetzt springen Sanitäter auf und rennen, um den jämmerlich schreienden Kameraden zu helfen. Man kann ja nicht warten, bis alle verblutet sind.

Ratlos und aufs Äußerste angespannt sieht Hauptmann Köhler dem Untergang seiner verstreuten Einheit entgegen. »Wenn dieser Artilleriebeobachter doch nur krepieren würde!« flucht er leise vor sich hin. »Haben wir uns denn so weit vom Regiment entfernt, dass kein Schwein den Feuerüberfall hört?«

Die Geländeschwierigkeiten sind zu groß, um die Männer auf eigene Faust durch den Wald zu jagen. Der moorige Grund, die zahllosen Flüsse und Moräste bieten keinen Ausweg, sondern halten die Mannschaft gefangen.

Neben dem Hauptmann hocken der Oberfeldwebel Heinze und der Obergefreite Linsen, der Melder. Der ganze Wald, in dem sie festsitzen, gleicht einer Hölle. Neben den todbringenden Waffen werden die Deutschen auch noch bis zur Weißglut von Mückenschwärmen gepeinigt. Hauptmann Köhler sieht bereits das Ende seiner tapferen Mannschaft. Werden auch sie ein Raub des unerbittlichen Waldkrieges? Unzählige sind ertrunken, verhungert, verblutet in Russlands Weiten, den schrecklichen ›Bundesgenossen‹ der Sowjets, die zu Menschenfallen geworden sind.

›Warum auch haben wir uns diesen Krieg von den Russen aufzwingen lassen?‹ geht es Köhler durch den Kopf. Fünf Tage lang schon besteht keine Verbindung mehr zum Regiment, über eine Woche haben sie keine warme Verpflegung gehabt. Die eisernen Rationen sind bereits verzehrt. Die Leute können ja vor Erschöpfung kaum noch weiter. Die Toten hat man jeweils an Ort und Stelle liegen gelassen, die Verwundeten, so gut es ging, mitgeschleppt. Dazu kommen dann Fälle von Malaria, Sumpffieber und Brechdurchfällen. Erneut kommt der Beobachtungsflieger in ihre Nähe. Er scheint keinen Benzinmangel zu haben. Dieser motorisierte Todesengel sucht nach neuen Opfern hinter den Büschen. Angesichts dieser aussichtslosen Lage kann keiner mehr an eine Rettung glauben.

Nur Hans Nowak betet weiter. Doch scheint der Fromme auch nichts ausrichten zu können.

»Hast du noch Hoffnung, Hans? Glaubst du, det wir aus diesem Dreck noch eenmal rauskommen?« Kittel blickt Hans flehentlich an.

»Ja, wir kommen hier heraus«, sagt dieser kurz.

»Ick kann dir nur bewundern, Hans! So wat hab ick mein Leben lang nich jesehn«, meint Kittel anerkennend.

Schwindelanfälle und Übelkeiten quälen die zu Tode erschöpften Soldaten. Manchem brennt der Magen wie Feuer. Aussehen tun sie wie die ›Moorteufel‹, aber der Dreck ist die beste Tarnfarbe.

Und wirklich – die Hilfe kommt!

Ein deutsches Jagdflugzeug braust heran. Der Pilot hat den sowjetischen Doppeldecker erspäht. Mit nur wenigen Feuerstößen schießt er den Russen in Brand, der in den Sumpf stürzt. Der deutsche Jäger überfliegt mehrmals das Gebiet und wackelt mit den Flügeln der Maschine: ›Verstanden! – Habe euch gefunden!‹

Nach weiteren zwanzig Minuten naht ein Fieseler Storch, ein deutsches Kurierflugzeug, und wirft eine Nachrichtenbombe ab. Dort, wo sie zu Boden fällt, steigt Rauch auf und signalisiert den Landsern, wo sie zu finden ist. Mehrere Grenadiere beeilen sich, die Bombe zu erreichen. Linsen bringt sie dem Hauptmann. In ihr findet er eine Karte mit dem eingezeichneten Standpunkt, den sie zur Zeit einnehmen und dazu eine angegebene Richtung, die sie aus dem Gebiet heraus- und zur Truppe zurückführt. Nach acht Stunden haben die versprengten Landser mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte die eigene Front erreicht. Auch die Verwundeten sind mitgenommen worden.

Am Abend fallen die achtzig Männer, der Rest der zweihundert Mami starken Kompanie, ins Stroh. Todesähnlicher Schlaf hat sie übermannt. Essen – trinken – schlafen! Alles andere morgen!

»War det nun Zufall, det wa aus dem Scheißdreck rausjekommen sind oder is det, weil der Hans jebetet hat!« fragt Kittel seinen Kameraden Kusserow, den MG-Schützen.

»Mir wurscht! Hauptsache, wir sind noch einmal davongekommen! Und nun lass mich endlich schlafen!« knurrt dieser.

Von unsichtbarer Hand zerrissen

Der »Völkische Beobachter«, die Standardzeitung des »Großdeutschen Reiches«, liegt auf dem Tisch. In großen Balkenüberschriften werden die Siegesparolen vom heroischen Kampf deutscher Soldaten im Osten hervorgehoben. Aber in dieser Tagesausgabe steht noch ein anderer Bericht, der folgende Überschrift hat: »Wie von unsichtbarer Hand zerrissen.«

Herbert Kusserow ist Augenzeuge gewesen von dem, was am Tag zuvor passiert war. Es hatte mit einem seltsamen Volksauflauf am Marktplatz begonnen, zu dem sich Kusserow gesellte, um zu erfahren, was es da gäbe. Es handelte sich offenbar um etwas Außergewöhnliches, nicht etwa um eine Parteiversammlung, einen Hitlerjugendappell oder ähnliches mit den üblichen Fanfaren- und Trommelklängen. Nein, ein einzelner Mann mit Pferd und Wagen, irgend so ein religiöser Fanatiker vielleicht oder war es sogar ein Pastor, der da vor einer Gruppe von Menschen sprach? Seine kräftige Stimme übertönte den mittelalterlich anmutenden Marktplatz. Er sprach von einem Reich. Nicht etwa dem Dritten Reich, sondern von dem Friedensreich Gottes. Es gab andächtig lauschende Zuhörer, aber auch solche, die sich und ihre Gesinnung nicht zu erkennen gaben. An dem klobigen Pferdewagen hing ein Transparent mit den Worten: »Land, Land, höre des Herrn Wort!«

Von der Höhe seines Wagens aus konnte der Sprecher seine Zuhörer übersehen. Vernahm er ein oppositionelles Raunen, so erhob er seine Stimme, um jede Störung im Keim zu ersticken. Hin und wieder verließen einige Zuhörer, vor sich hinschimpfend und mit verächtlich machenden Gebärden, die Menge.

»Solch ein Blödsinn. Dieses fromme Gerede! Das sind doch alles Märchen für alte und lebensschwache Großmütter!«

»Man sollte solchen Unsinn von der Parteileitung aus verbieten!«

»Hör auf, Pfaffe, mit deinem blödsinnigen Gequatsche! Deine Märchen kannst du dem Papst in Rom erzählen, nicht aber uns hier!«

»Man sollte dem Gauleiter schreiben und diesen Verrückten in ein Arbeitslager einsperren lassen! Dieser Faulenzer stiehlt dem lieben Gott doch nur die Zeit!«

»Wem stiehlt er die Zeit?« wollte jemand wissen.

»Wie? – Na, dem Staat! Wieso? Na, ich meine, dem Führer und uns in unserer nationalsozialistischen Aufbauarbeit!«

»Das meine ich auch. Mit den alten und überholten Phrasen kann man heute doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken!«

Eine kleine Gruppe von Menschen blieb dennoch unbeeinflusst von den Zwischenrufern stehen, neben ihnen Kusserow, der sich nur ab und zu ein wenig nervös umsah, weil er befürchtete, von Parteigenossen oder anderen Bekannten gesehen zu werden, was ihm nicht unbedingt gepasst hätte. Eigentlich wäre er gern weggegangen, aber es interessierte ihn doch sehr, was der Mann da so vorbrachte. Außerdem hatte er genug Zeit und konnte sich das Zuhören leisten.

Was die Partei anbetraf, so war er als ›Mitläufer‹ bekannt, er besuchte auch nur die ›Pflichtversammlungen‹, denn das nationalsozialistische Gedankengut befriedigte ihn nicht, aber was blieb einem übrig, als mit den Wölfen zu heulen!

Herbert Kusserow, Beamter bei der Deutschen Reichsbahn, an seinem Arbeitsplatz ein gewissenhafter Mann, hatte die Fünfzig bereits überschritten. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP war nur formell. In der Parteiliste stand er lediglich als ›Karteileiche‹.

»Was du bist, das sei ganz!« rief der Mann in die Zuhörermenge. »Ein halber Christ ist ein ganzer Unsinn!«

Herbert Kusserow gehörte zwar noch der Kirche an, nannte sich aber nach neuester Mode: ›gottgläubig‹, wie es erwünscht war.

»Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«

Der Sprecher hielt eine Bibel zum Himmel empor und rief:

»Dreimal hat Jesus das betont: Ganz! Von ganzem Herzen – von ganzer Seele – von ganzem Gemüte! Wie stehen Sie zu Jesus Christus? Ich kenne junge Männer, die heute an der Front im Einsatz sind, die ihre Hoffnung und ihr Vertrauen ganz auf Jesus setzen. Wer nicht mit ganzer Kraft und in vollem Bewusstsein seiner Überzeugung kämpft, wird nie Sieger werden! Nicht auf Erden, auch nicht im Himmel! Jesus Christus fordert den Einsatz unserer ganzen Persönlichkeit! An IHM kommen wir nicht vorbei! Wir können Gott ignorieren und so tun, als wäre er nicht da, doch wir können ihm nicht entfliehen.

Wir können Gott verspotten, verlästern und wider ihn reden, doch wir können ihm nicht ausweichen.

Wir können Gott ablehnen, doch ihn nicht zum Schweigen bringen.

Wir können das Wort Gottes verlachen oder es in den Schmutz ziehen, wir können es aber nicht auslöschen.

Wir können Gott für tot erklären, doch wir können ihn nicht daran hindern, uns weiterhin zu lieben.«

Der Sprecher machte ein kleine Pause, um die Worte auf die Zuhörer nachwirken zu lassen. Dann fuhr er fort: »Alle müssen einst vor Jesus Christus ihre Knie beugen. Bedenken Sie, dass Sie in diesem Leben zwischen Himmel und Hölle wählen! An welchem Ort wollen Sie Ihre Knie beugen?«

Der mutige Mann hatte seinen Zuhörern eine entscheidende Frage gestellt. Da steigt ein Fremder zu dem Sprecher auf den Wagen. Er kommt von hinten herauf. Der Redner bemerkt ihn erst durch die Blicke der Menschen, die den Vorgang gespannt beobachten.

Was will der Fremde? Ist er ein Mitarbeiter des Redners? Danach sieht er eigentlich nicht aus. In der einen Hand hält er eine Aktentasche, aus der eine Thermosflasche herausragt. Mit wenigen Schritten ist er neben dem Prediger. Herbert Kusserow verspürt ein Unbehagen. Ist das etwa eine Störung?

Dreist wendet sich der Unbekannte an den für Augenblicke verstummten Redner: »Soll ich Ihnen mal was sagen? Was Sie hier behaupten, ist ein totaler Unsinn! Einen lebendigen Gott soll es geben? Wissen Sie, was das hier ist?« und dabei zieht er aus seiner Tasche eine Zeitung. »Das ist der ›Völkische Beobachter‹! Und nun passen Sie mal gut auf! Wenn es einen Gott im Himmel gibt, dann soll er mich augenblicklich so zerreißen, wie ich hier jetzt diese Zeitung zerreiße! Haben Sie mich verstanden, Herr Pastor?« höhnt der Mann und reißt seine Zeitung zwei- bis dreimal demonstrativ durch.

Frenetischer Jubel und Hohngelächter erschallt von denen, die bisher schon durch bissige Zwischenrufe auf sich aufmerksam gemacht haben. Dieser Zwischenfall kommt ihnen sehr gelegen. Der neue Mann da oben ist ihr Held! Sie jubeln ihm zu. Mit schallendem Gelächter nehmen die Radaubrüder den Mann danach in ihre Mitte und verschwinden. Er hatte dem verrückten, religiösen Spinner seine ›Zirkusnummer‹ kaputtgemacht, so meinen sie jedenfalls.

Einige aus der Gruppe der Zuhörer schleichen beschämt davon, auch Herr Kusserow. Andere bleiben bei dem erschüttert drein-blickenden Redner stehen, sie beten für und mit ihm. Dann gehen alle auseinander. Das ist gestern gewesen! Und heute?

Kusserow starrt auf die sensationell klingende Überschrift im ›Völkischen Beobachter‹: ›Wie von unsichtbarer Hand zerrissen.‹

»Folgendes soll sich gestern auf dem Marktplatz unserer Stadt abgespielt haben …« In wenigen Zeilen wurde das berichtet, was Kusserow mit eigenen Augen gesehen und erlebt hatte. Der Bericht endete mit den Worten: »Derselbe Volksgenosse ist am späten Abend an seinem Arbeitsplatz in eine Maschine geraten und buchstäblich in Sekundenschnelle zerrissen worden.«

Kusserow scheint wie versteinert. Sollte Gott wirklich …? Gestern, um diese Zeit, so ging es ihm durch den Kopf, und auf einmal bemächtigt sich seiner eine bisher nicht gekannte Unruhe, die ihn wieder zum Marktplatz treibt.

Was er dort erblickt, ist eine große Überraschung für ihn, denn die Menschenmenge, die sich da eingefunden hat, kann er nicht einmal mehr überschauen. Er schätzt an die zweitausend Zuhörer. Die Polizei ist bemüht, für Ordnung und Disziplin zu sorgen. Aus einiger Entfernung hört man den Redner, der gestern scheinbar so blamiert dagestanden hatte, rufen: »Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten! Denn was der Mensch sät, das wird er ernten!«

»Was ist denn hier los?« fragt Kusserow einen der Zuhörer, um den Anschein zu erwecken, als sei er völlig unwissend und ganz per Zufall hierher geraten.

»Na, haben Sie denn nicht die Zeitung gelesen? Hier hat sich doch gestern was abgespielt!«

»Ruhe!« zischt jemand. »Halten Sie den Mund!«

Der Gefragte schiebt Kusserow eine Zeitung zu, doch dieser winkt ab und lauscht gespannt den Worten, die der Redner jetzt an die Leute richtet: »Darum, wir alle sind gemeint! Heute, so ihr hören werdet seine Stimme – sagt die Bibel! – verstocket eure Herzen nicht! O Land, Land, höre des Herrn Wort!«

Wieder zu Hause angekommen, setzt sich Herr Kusserow hin und schreibt seinem Sohn, was ihn jetzt so nachdenklich gestimmt, ja, sogar sehr verunsichert hätte. Er bittet seinen Sohn um eine schnelle Antwort und fügt dem Feldpostbrief den Zeitungsausschnitt bei.

Die letzten Urwälder

Um drei Uhr ist es noch dunkel. Die Schwärze der Sommernacht liegt schwer über den unendlich scheinenden Wäldern des weiten Russlands. Grenadiere aus Nord- und Süddeutschland machen die schreckliche Bekanntschaft mit den fast unberührten, von der Zivilisation unerreichten europäischen Urwäldern. Sie gleichen Naturfestungen, grausamen Todesfallen, einem einzigen Hinterhalt. Jede Baumkrone, jeder Baumstumpf, jeder Busch kann ein getarntes Heckenschützennest eines russischen Scharfschützen sein. Die Russen entwickelten sich zu Meistern im Waldkampf. In diesen versumpften Mischwäldern haben die Rotarmisten ihre Spezialausbildung erhalten. Mit Vorliebe bauen sie ihre Stellungen hinter Sümpfen aus. Die Schützenlöcher kann man von der Frontseite aus nicht erkennen. Sie sind so gebaut, dass man bereits vorbeigestürmte deutsche Truppenteile aus einem Hinterhalt heraus überfallen kann. Flieger und Artillerie sind bei einem solchen Waldkampf nicht in der Lage, helfend einzugreifen, weil Freund und Feind viel zu dicht beieinander oder hintereinander, wie verzahnt, liegen und nicht zu erkennen sind. Hier kann man nur mit Handgranaten und Granatwerfern operieren.

Hinter solchen Sumpffestungen liegen Stoßreserven. Ihre Stellungen sind derart gut ausgebaut, dass Natur und Tarnung nicht voneinander zu unterscheiden sind. Die Luftaufklärung ist außerstande, solche Stellungen auszumachen.

In diesen unheimlichen Irrgärten aus Büschen, Sümpfen, Dornengestrüpp, kreuz und quer liegenden Bäumen, umgestürzten Urwaldriesen tasten sich die deutschen Fußtruppen seit Tagen hindurch.

Hauptmann Köhler befindet sich in vollsaftiger Laune: »Wann endlich ist dieser verfluchte Wald zu Ende?«

Seine Kompanie quält sich buchstäblich Meter um Meter nach Osten weiter. Die Schützenlinien sind weit auseinandergezogen. Jeden Augenblick kann man auf sowjetischen Widerstand stoßen. Die Männer haben zu laufen, zu springen und einer dem anderen nachzuklettern. Die Gegend wirkt gespenstisch. Ständig lassen sie ihre Blicke misstrauisch in die Runde gehen, denn von oben oder unten, von rechts oder links, von vorn oder hinten kann plötzlich ein Überfall erfolgen.

Der Gefreite Kusserow trägt das MG. Seit zwei Stunden schon trottet er vor Hans Nowak dahin. Seine Füße sind wundgelaufen und samt den Beinen geschwollen. Jeder Schritt schmerzt ihn bis in die Kniekehlen. Kusserow hat sich ein Handtuch unter die Uniform geschoben, denn das Maschinengewehr drückt auf die Dauer unheimlich. So oft er das MG von der einen auf die andere Schulter wechselt, legt er auch das Handtuch mit auf die Schulter, die das MG zu tragen hat. Dazu muss er jedes Mal für einen Augenblick stehenbleiben. Nowak, der hinter ihm die schwere Munitionskiste schleppt, ist dankbar für die Sekunden, in denen auch er kurz die Kiste abstellen und sich verschnaufen kann Zwar schimpfen und schreien die Landser unmittelbar hinter ihnen, doch Kusserow wettert dann mit ganz gemeinen Kraftausdrücken zurück.

»Lass sie, Albert«, sagt Nowak, »lass mich das MG nehmen, wir wechseln ab. Nimm du die Munitionskiste.«

Ehe er sich aber das Handtuch unter die Feldbluse stecken kann, bekommt er einen gewaltigen Stoß vom Hintermann.

»Los! Weiter, du Schlappschwanz! Vielleicht hilft dir ein Engel oder der Teufel, das MG zu tragen!«

»Halt deine Fresse!« brüllte Kusserow zurück.

Jetzt müssen sie laufen, um den befohlenen Abstand wieder herzustellen.

Feldwebel Becker taucht neben Nowak auf und fragt: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Alles in Ordnung, Herr Feldwebel!« entgegnet Nowak. Der Feldwebel grinst, es ist ein bösartiges Grinsen übers ganze Gesicht! Der Fromme hat die meisten Feinde in der Kompanie. Kusserow spuckt wütend hinter dem Feldwebel her, der dabei ist, sich wieder an die Spitze seines Zuges zu begeben.

»Ich habe einen saumäßigen Hunger«, schimpft Kusserow. Seit gestern früh hat die Einheit keine Verpflegung mehr bekommen. Partisanen konnten die Versorgungswagen abfangen. »Wahrscheinlich haben die Russen große Freude an unseren

Rationen gehabt«, mein Nowak.

Vor ihnen trottet jetzt Vater Kittel, der Senior im dritten Zug. Er holpert über Stock und Stein. Ohne nennenswerte Rast marschieren sie bereits die ganze Nacht. Wer weiß, ob nicht am Tage wieder die ›Nähmaschine‹ Alarm schlägt.

Alle fürchten dieses grässliche Flugzeug mit dem roten Stern. In den Sümpfen quaken die Frösche und zirpen die Grillen, es klingt schrill und laut. Ihr Konzert übertönt das Knarren und Scheppern der Gasmaskenbüchsen, der Seitengewehre und Stahlhelme am Koppel.

»Gott sei Dank!«, denkt Hauptmann Köhler, denn das Knacken der Äste, auf die man tritt und das Stampfen der Stiefel wird da-durch überdeckt. Nur wenn ein Waldkauz aufschreit, zucken alle zusammen. Nein, sie sind ja nicht abergläubisch, aber sie wissen, dass die Russen es meisterhaft verstehen, sich an die deutschen Einheiten heranzuschleichen und sich durch nachgeahmte Tierrufe zu verständigen, um dann irgendwann urplötzlich über die Deutschen herzufallen. Immer wenn ein Tierlaut zu vernehmen ist, bleiben die Soldaten wie erstarrt, voller Spannung und in Er-wartung stehen, um abwehrbereit zu sein. Jeder hat dann ein merkwürdiges Gefühl in Herz- und Magengegend. Der Herzschlag ist bis in die Kragenbinde hinauf zu spüren. Gespenstisch heben sich die weitverzweigtem Äste der Bäume vom Himmel ab, die kühle Waldluft duftet würzig.

Am Horizont dämmert schwach der Morgen heran. Die Vögel beginnen ihr schönes Morgenkonzert. Man könnte vergessen, mitten in einem gnadenlosen Waldkampf, im feindlichen Urwald zu stehen.

Die Kompanien sollten eigentlich am frühen Morgen den Wald durchquert und hinter sich gelassen haben. Man würde auf die erste geschlossene Auffangstelle des Feindes stoßen. Beim letzten Halt hieß es, dass sie in etwa zwei Stunden direkte Feindberührung haben sollten.

Da kommt es schon! Von der Spitze der Gruppe wird der Befehl durchgegeben: »Das ganze Halt! Zug- und Gruppenführer nach vorn!«

Drei Unteroffiziere, zwei Feldwebel und ein Leutnant springen an den stehengebliebenen Mannschaften vorbei. Der Obergefreite Linsen, er ist der Kompaniemelder, begegnet ihnen und ruft verhalten: »Funktrupp nach vorn! Wo ist der Funktrupp?«

»Funktrupp nach vorn!« die Landser geben den Ruf nach hinten weiter.

»Alles in Deckung gehen!« schnarrt es von vorn. Die ermatteten Soldaten legen sich rechts und links an den Büschen nieder. Der Funktrupp hastet mit seinen Handgeräten an Nowak, Kusserow und Kittel vorbei. Alle sind mit ihren Kräften so ziemlich am Ende.

Kusserow wettert leise vor sich hin: »Solch ein Mist! Elende Schweinerei! Nichts zum Fressen und solche Schinderei! Gleich ins Feuer dem Feind entgegen! Ehe man in den Tod marschiert, möchte man doch wenigstens noch einmal satt sein! Das ist doch alles zum Kotzen!«

Hans Nowak zerrt aus seiner Feldbluse eine kleine Taschenbibel hervor. Das Morgenlicht reicht gerade aus, um einige Verse lesen zu können: »Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?« Kittel rückt etwas näher an Nowak heran. Er ist so still und schweigsam, dass es verdächtig scheint. Rücken an Rücken hocken sie auf dem feuchtkalten Boden. »Lies lauter, Hans, dass ich auch was verstehen kann!«

Auch Kusserow scheint seine Ohren zu spitzen, obwohl er mit seiner Miene ganz abwesend tut.

Hans liest etwas lauter: »Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?«

Hans hält inne und blickt zu Kusserow hinüber. Dieser hat seine Augen geschlossen und seine Lippen fest aufeinander gepresst. Auch andere Kameraden schauen interessiert herüber. Von vorn aus einer Mulde, in der der Kompaniechef mit seinem Stab eine Lagebesprechung abhält, hört man nervöses, hektisches Raunen. Die Männer vom Funktrupp machen sich an ihren Geräten zu schaffen.

Nowak liest weiter: »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe. Aber in allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.«

Der letzte Satz ist gerade verklungen, als man die Unterführer hastig zurückeilen sieht. Am Waldrand wird es immer lichter, in einiger Entfernung kann man zwischen dem Unterholz schon einen Bahndamm erkennen.

Feldwebel Becker, die Maschinenpistole in der Hand, stellt sich neben Kusserow und winkt den dritten Zug zu sich heran: »Alles mal herhören! In zehn Minuten geht's los!«

Kniend hockt er in der Mitte seiner Leute. Mit der linken Hand markiert er einen Bogen und sagt: »Dort hinter dem Bahndamm befindet sich die sowjetische Auffangstellung. Unsere Kompanie bildet den vordersten Stoßkeil, die zweite Kompanie gibt uns Feuerschutz von rechts. Links neben uns kommt die dritte Kompanie in Schützenkette voran. Wir werden als erste die Feindstellung eindrücken!«

Alle Augen sind auf Becker gerichtet. »Noch irgendwelche Fragen?«

Pause. –

»Bekommen wir Artillerie- oder Luftunterstützung?« fragt Kit-tel.

Becker zuckt mit den Schultern: »Es sieht nicht so aus, wir müssen die Aufgabe wohl selber lösen.«

»Na dann, Prost-Mahlzeit!« zischt Kusserow dem Feldwebel ins Gesicht. Becker tut so, als hätte er es nicht gehört.

»In Abstand von dreißig Metern folgt uns die zweite Gruppe, danach die dritte. Ihr stürmt als erste! Wir müssen versuchen, das freie Feld ohne jeden Aufenthalt zu überwinden, verstanden?«

Hans steckt seine Bibel wieder in die Uniformjacke. Kompaniemelder hasten an ihnen vorbei.

»Wenn wir den Bahndamm erreicht haben, alles in volle Deckung! Maschinengewehr in Stellung! Feuerschutz nach rechts und links, so lange, bis die anderen Kompanien heran sind! Ist das klar?«

Nervös blickt der Zugführer auf die Uhr. Der andere Zug neben ihnen tastet sich in aufgelockerter Formation nach vorn. Auch die Männer vom ersten Zug schwärmen durch das Unterholz unter Ausnutzung jeder Deckung zum Waldrand.

Nowak hat seine Augen geschlossen und seine Hände gefaltet. Er betet: »Vater im Himmel, im Namen Jesu bitte ich dich, behüte du meine Kameraden und mich. Gib Gnade, dass es nicht zum großen Blutvergießen kommt, weder bei uns noch beim Feind. Herr, offenbare dich jedem, der dich noch nicht kennt! Ich lege mein Leben vertrauensvoll in deine Hände!«

Tonlos bewegen sich seine Lippen, niemand spottet in diesem Augenblick. Schweigsam blicken sie auf Nowak, niemand weiß, was sie erwartet in den nächsten Stunden, ob sie ihr Leben verlieren werden bei diesem Sturmangriff. Feldwebel Becker sieht unverwandt auf seine Uhr, und plötzlich befiehlt er: »Los auf! – In Schützenkette marsch! – Mir nach! – Abstand halten! Aufrücken!«

Kusserow hat das MG in die Hand genommen. Nowak schleppt die Munitionskästen. Der Kompaniechef erwartet sie an der Mulde. Zu ihrem Glück sind sie noch durch dichtes Buschwerk geschützt. Der Hauptmann erteilt ihnen letzte Anweisungen.

Becker legt seine Hand an den Stahlhelm: »Zu Befehl, Herr Hauptmann!« Dann wiederholt er die angegebenen Leuchtzeichen. Hauptmann Köhler beobachtet durch seinen Feldstecher noch einmal den Feind, während Oberfeldwebel Heinze auf seine Uhr blickt. Unteroffizier Geyer, der Führer des Panzerbekämpfungstrupps, trabt mit seinen acht Männern heran. Sie schleppen ihre Molotowcocktails als einzige Panzerabwehrwaffe mit sich. Die geballten Handgranaten stecken in ihren Koppeln.

Geyer war sozialdemokratischer Jugendführer, ein eingefleischter Atheist und somit Nowaks größter Gegner in der Kompanie nach Unteroffizier Diehlmanns Verletzung und Abtransport zum Lazarett. Im Augenblick ist die ›Streitaxt‹ begraben, jetzt sind sie alle gleichermaßen klein angesichts der bevorstehenden Feindberührung, voller Ungewissheit und in latenter Todesfurcht. Stumm und blass, mit gespielter Selbstbeherrschung, versucht jeder seine Angst ins Unterbewusstsein zu verbannen. Vor ihnen liegt der Feind, nur etwa dreihundert Meter entfernt, und zwischen ihnen ein gnadenlos erscheinendes, freies Feld. Wird es vermint sein?

Wer von ihnen wird den Bahndamm unverletzt erreichen? Wen wird es erwischen? Das flache Feld bietet keinerlei Deckung, der Gegner hat freies Schussfeld.

»Achtung!« Hauptmann Köhler hebt seine rechte Hand, mit der linken hält er die Trillerpfeife im Mund, schrill gellt es in den Ohren: »Sprung auf! Marsch, Marsch! – Zugweise zum Angriff vorwärts!«

Jetzt wird es hinter den Bäumen lebendig. Auf breiter Front springen die Männer der ersten Kompanie über das Feld. Beim Feind rührt sich noch nichts! Kusserow hält seinen Finger am Abzugshebel. Das MG hat er in seine Hüfte gestemmt. Nur zwei Schritte hinter ihm rennt Nowak, ganz vorn der Feldwebel. Neben ihnen stolpert ein Kamerad und schlägt lang hin, springt aber sofort wieder auf. Nowaks Herz schlägt bis zum Hals, die Angst, die schweren Munitionskästen und die innere Anspannung machen seine Beine schwer wie Blei.

Jetzt steigen beim Feind Leuchtsignale zum Himmel empor, eine erste Salve peitscht durch die Luft, doch die Männer laufen weiter. Feldwebel Becker schaut kurz zurück und schreit: »Los! Vorwärts! Von hinten aufgeschlossen!«

Die Hälfte des Feldes haben sie bereits hinter sich. Da zucken vor ihnen deutlich die bläulich-grünen Blitze aus den russischen Maschinenpistolen. Der Feind scheint überrascht zu sein, denn das Feuer ist viel zu schwach. Da es keine Artillerievorbereitung gab, liegen in der Frontlinie wahrscheinlich nur die Posten.

Jetzt ist Becker mit seinen Leuten bis auf hundert Meter an den Bahndamm herangekommen. Zur Rechten beginnt ein Sowjetisches Maschinengewehr zu hämmern. Die ersten Sturmgrenadiere schreien auf, strecken ihre Hände in die Höhe und fallen wie Säcke zur Erde. Kusserow wirft sich nieder und visiert das Mündungsfeuer eines russischen MG-Schützen an. Vier kurze Feuerstöße jagt er hinüber, dann springt er wieder auf, Nowak hinter ihm her.

Auch Unteroffizier Geyer ist mit seinen Leute herangekommen. Sie keuchen mit ihrer Ladung von hochexplosiven Molotowcocktails über den lehmigen Acker.

Die ersten haben den Bahndamm erreicht. Man hört das harte Knallen von Handgranaten. Feldwebel Becker befindet sich bereits in Wurfweite des Dammes. Hart hat er sich auf die Schottersteine niedergeworfen und schießt mit der Maschinenpistole in die feindliche Stellung hinein. Nowak und Kusserow sind nur noch fünfzig Meter vom Bahndamm entfernt, das Feindfeuer wird immer stärker. Die Sowjets feuern aus allen Richtungen. Links von ihnen explodiert eine Werfergranate, so dass Nowak und Kittel vom Explosionsdruck auf die Erde geworfen werden. Auch Kusserow wird zur Seite geschleudert, das Maschinengewehr liegt etwa zwei Meter weit von ihm entfernt. Als er zur Besinnung kommt, vernimmt er neben sich ein jämmerliches Schreien, den Geyer hat's erwischt. Becker brüllt vom Bahndamm herüber: »Wo bleibt das MG? Kusserow, Nowak, los herauf zu mir!«

Kittel richtet sich als erster wieder auf. Er reißt Kusserow am Kragen hoch und gibt ihm das MG. Nowak lässt die Munitionskästen stehen und springt zu Geyer hinüber. Das Rattern und Bellen der Infanteriewaffen schwillt an, es heult und pfeift von allen Seiten. Dazwischen mischt sich das Krachen der Granatwerfer und das Explodieren der gefährlichen Geschosse.

Nowak hat sich über Geyer geworfen und deckt den Schwerverwundeten mit seinem Körper, dessen Hände sich vor Schmerz in die Erde krallen. Er reißt ein Verbandspäckchen aus der Hülle. Der Kopf und die Schultern von Geyer sind voller Blut. Nowak spürt das Blut an seinen Händen. Warmes, rotes Blut! ›Wenn ich nur wüsste, wo es ihn erwischt hat‹, denkt Nowak. Er tastet sehr vorsichtig den Kopf ab und sagt: »Unteroffizier Geyer, hören Sie mich?« Nowak beugt sich tief herunter zum Unteroffizier. Nur ein dumpfes, schweres Röcheln, ein ohnmächtiges Stöhnen. Geyer scheint ohne Bewusstsein, er hat den Mund weit aufgerissen. Die Barthaare an den eingefallenen Wangen sind voller Blut. Im Augenblick schießen die Russen pausenlos, ihr Granatwerferfeuer scheint das ganze Gelände umzupflügen. Die Einschläge liegen etwa zwanzig bis dreißig Meter entfernt. Scheinbar kommen die Sturmtruppen auf der linken Seite nicht voran. Auch das Rattern der Maschinengewehre wird lebhafter. Die zweite Kompanie liegt noch am Waldesrand und gibt unentwegt Feuerschutz. Weiße Leuchtkugeln steigen im ersten Morgendunst vom Bahndamm empor. Auch die grüne Rakete ist zu sehen. »Feind tritt zum Gegenangriff an!«

Mit lautem »Hurra!« stürmen nun auch die Männer der zweiten Kompanie aus dem Wald, um den Kameraden zu Hilfe zu eilen. Sie erhalten starkes Granatwerferfeuer. In dichten Wellen stürmen die Grenadiere über das Feld. Mit einem scharfen Ruck hat Nowak den verwundeten Unteroffizier herumgewuchtet. Seine eine Schulter ist getroffen, das Blut läuft wie ein Rinnsal über das Gesicht.

»Duuurst!« stöhnt Geyer. Nowak nimmt seine Feldflasche und gießt den letzten Schluck in den geöffneten Mund des Unteroffiziers. Dann bückt er sich nieder, ergreift ihn und versucht, den schweren Körper auf seine Schulter zu heben. Er kommt aber nicht hoch, sondern bleibt kniend mit dem über ihm hängenden Körper auf der Stelle hocken. Neben ihm schlagen Schüsse ein, es pfeift und zischt durch die Luft.

»Herr, hilf mir! Hilf mir, Meister, den Kameraden aus dem Feuer zu tragen!« ist sein Stoßgebet. Mit einem erneuten Ruck reißt er sich mitsamt der Zentnerlast empor, er wankt ein paarmal hin und her, ehe er Schritt für Schritt im unwegsamen Gelände mit dem Verwundeten zu laufen beginnt. Seine Kräfte scheinen ihn verlassen zu wollen, doch er kommt allmählich voran. Da schlagen plötzlich dicht hinter ihm Granatwerfergeschosse ein, es muss die Stelle sein, die er soeben mit Geyer verlassen hat. Soll er sich fallen lassen? Nein! Niemals! Vorwärts, solange es nur eben geht, denn er würde wohl kaum wieder hochkommen mit der über ihm hängenden Last. Es war höchste Zeit, wegzukommen.