Blumen für sein Grab - Ann Granger - E-Book
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Blumen für sein Grab E-Book

Ann Granger

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Beschreibung

Mitchell & Markbys 7. Fall. Als Meredith Mitchell auf einer Ausstellung zufällig ihrer alten Schulfreundin Rachel Hunter begegnet, dauert es nicht sehr lange, bis sie erkennt, dass sie heute noch weniger mit dieser selbstbewussten Frau gemeinsam hat als damals in ihrem Mädchenjahren - bis auf eine unangenehme Tatsache: Es stellt sich nähmlich heraus, dass Rachel niemand anderes ist als Chief Inspector Markby geschiedene Frau, von der er sich vor Jahren alles andere als freundschaftlich getrennt hat. Doch die Ausstellung hält noch mehr Überraschungen bereit, denn am selben Nachmittag wird eine Leiche entdeckt. Sehr schnell finden Mitchell und Markby sich in der nur scheinbar idyllischen Welt von Rachel Hunter und ihrem zweiten Ehemann wieder. Das Paar hat sich in den Cotswolds ein abgeschiedenes, großes Landhaus errichtet - ein Heim, so stellt Markby schnell fest, das einen hoch intelligenten Mörder beherbergt ...

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Seitenzahl: 485

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Einleitende Zitate

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Über die Autorin

Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis. Nach Ausflügen ins viktorianische England mit den Lizzie-Martin-Romanen, knüpft sie mit der Serie um Inspector Jessica Campbell wieder unmittelbar an die Mitchell-und-Markby-Reihe an.

ANN GRANGER

BLUMEN FÜR SEIN GRAB

Mitchell & Markbys siebter Fall

Ins Deutsche übertragen von Axel Merz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:Flowers For His Funeral

© 1995 by Ann Granger

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2002/2011 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Beate Brandenburg / Stefan Bauer

Titelillustration: David Hopkins

Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-0694-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Einige alte Männer, Nachtwächter genannt, … und eine Hand voll Richter und Polizisten sind die Einzigen, deren Aufgabe es ist, Räuber und Diebe zu entdecken und zu bestrafen, … und doch gibt es keine Stadt, die freier ist von Gefahr …

The Picture of London 1918

Ein Mann, der durch London bummelt … oder sich in große Menschenmengen begibt … ohne besondere Vorsicht, … verdient kein Mitleid wegen der Schäden, die er möglicherweise davonträgt.

Ebd.

Chelsea, eine Gemeinde in Middlesex, … zwei Meilen westlich von London …

Ebd.

 KAPITEL 1 

»Heute musst du mit den Hunden gehen, Nevil!«, rief Mrs. James. »Ich muss nach Chippy, Hundefutter und Katzenstreu kaufen!«

Ihr Sohn blickte von dem mit Papieren übersäten Tisch auf. Er setzte die Brille ab und blinzelte seine Mutter aus blassen blauen Augen an, weil diese eine ganze Weile benötigten, um das, was sie sahen, scharf zu stellen.

Mrs. James wartete geduldig ab und dachte nicht zum ersten Mal, dass Nevil ohne seine Brille ein halbwegs gut aussehender Mann war. Wann immer diese Gedanken durch ihren Kopf gingen, empfand sie eine Mischung aus mütterlichem Stolz und wilder Befriedigung. Solange keine Frau Nevil am Haken ihrer Angel hatte, würde er bei ihr bleiben und ihr Hilfe und Unterstützung gewähren. Trotz einer tief sitzenden Geringschätzung des männlichen Geschlechts im Allgemeinen gestand Mrs. James bereitwillig ein, dass sie einen Mann zur Unterstützung in ihrem Alltag brauchte – selbst wenn es nur Nevil war.

»Ich habe mit den monatlichen Abrechnungen angefangen«, sagte Nevil. »Kann denn nicht Gillian gehen?«

»Nein, auf gar keinen Fall! Sie muss sämtliche Katzenkäfige sauber machen! Du könntest ihr im Gegenteil ein wenig zur Hand gehen, sobald du mit den Hunden draußen warst. Schließlich haben wir im Augenblick nur vier. Du könntest die Bücher auch heute Abend machen.«

Angesichts dieses Zeitplans, der seinen gesamten Tag umfasste, fühlte sich Nevil einmal mehr genötigt zu protestieren. »Ich habe auch noch andere Dinge zu tun, wie du weißt!«

»Zum Beispiel?«

Mrs. James zog sich eine ihrer ärmellosen, dick abgesteppten Westen an – oder genauer gesagt, die bessere ihrer beiden Westen –, weil sie in die Stadt fahren würde. Es war ihr einziger Versuch, sich ein wenig zurechtzumachen. Sie trug ein khakifarbenes Baumwollhemd über einer braunen Kordhose und schwere Schnürstiefel. Die Rundungen ihrer vollen, von keinem Büstenhalter gestützten Brüste unter dem Hemd waren der einzige Hinweis auf ihr Geschlecht. Ihr Haar, kurz geschnitten wie bei einem Mann, war stahlgrau und drahtig wie ein Pferdestriegel. Ihr Gesicht war wettergegerbt und von tiefen Linien durchzogen und bar jeden Make-ups. Sie war erst neunundvierzig Jahre alt, doch sie wirkte wie aus Teak geschnitzt, das eine Ewigkeit Regen und Wind ausgesetzt war, bevor es dauerhaft zu einem Bestandteil der Landschaft geworden war. Wie immer schürte Nevils Andeutung, dass er Interessen besitzen könnte, welche nicht unmittelbar den Zwinger und die Katzenpension betrafen, das nie verlöschende Feuer des Misstrauens und Unwillens in Mrs. James’ von Kämpfen zernarbtem Herzen.

»Ich habe Rachel versprochen, dass ich nach Malefis kommen würde. Sie möchte noch eine Stunde Schachunterricht, und es muss heute sein, weil sie und Alex morgen nach London zur Chelsea Flower Show fahren wollen.«

»Um Himmels willen!« Mrs. James’ gebräuntes Gesicht nahm einen dunklen, wenig attraktiven Rotton an. »Kann sich diese nichtsnutzige Frau denn nicht einmal für einen einzigen Tag mit sich selbst beschäftigen?!«

»Sie ist nicht nichtsnutzig!«, widersprach Nevil und errötete ebenfalls, wenn auch nur leicht. »Sie ist nur nicht so wie du, Ma.« Hastig fügte er hinzu: »So tüchtig.«

Seine Mutter blinzelte ihn an. »Ich bin deswegen so tüchtig, weil ich es verdammt noch mal sein musste! Ich habe hart gearbeitet, Nevil, damit wir ein Dach über dem Kopf haben!«

»Ich weiß, Ma.« Er setzte seine Brille wieder auf und nahm den Stift zur Hand. Er klang gelangweilt. Aus keinem anderen Grund als dem, dass sie dieses Gespräch schon zu oft geführt hatten und er es nicht mehr hören konnte, wie sie wusste, doch sie konnte nicht anders. Sie spürte Zorn und eine dumpfe Wut in sich brennen, weil sie nicht verhindern konnte, dass Nevil eines Tages von ihr weggehen würde, genau wie es sein Vater getan hatte. Nevil war siebenundzwanzig Jahre alt und sah seinem Vater nicht nur äußerlich ähnlich.

»Verdammt!«, brach es heftig aus Mrs. James hervor.

Nevil schrieb unbeeindruckt weiter. Er war an das häufig anlasslose Murren seiner Mutter gewöhnt.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Person genügend Verstand besitzt, um Schach zu spielen!« Offensichtlich wollte seine Mutter das leidige Thema nicht fallen lassen. »Versuch es doch mal mit ›Mensch Ärgere Dich Nicht‹! Darin müsste sie eigentlich ganz gut sein.«

»Ehrlich gesagt ist sie auch im Schach ziemlich gut. Sie hat eine natürliche Begabung für das Spiel.«

Mrs. James hatte ihre eigenen Vorstellungen davon, worin Rachel Constantines natürliche Begabungen lagen, doch sie verzichtete darauf, sie laut zu verkünden.

»Vergiss die Hunde nicht!« Sie brüllte fast.

»Sobald ich hiermit fertig bin, Ma.«

Sie wandte sich schroff ab und stapfte nach draußen. Nevil wurde zunehmend starrköpfig – und rebellisch! Alles nur wegen dieses elenden Weibsstücks, dieses aufgedonnerten Stücks Meterware, das um Lynstone herumscharwenzelte, sich anzog wie ein Model und sich jeden Mann nahm, der ihren Weg kreuzte und nur die leisesten Annäherungsversuche machte.

»Wie eine läufige Hure!«, schimpfte Mrs. James und funkelte böse durch die Bäume hindurch zu einem fernen Schornstein. Möge Gott Malefis Abbey verrotten lassen, und ganz besonders Rachel Constantine! Nevil, der arme Tropf, besaß nicht genug Verstand, um zu erkennen, welches Spiel sie mit ihm spielte und dass er nur verlieren konnte, was im Übrigen das Schlimmste daran war! Eine Frau wie Rachel würde nicht ihre Ehe riskieren, indem sie ernsthaft eine Liebschaft einging, gewiss nicht mit jemandem wie Nevil, jemandem, der kein Geld hatte. Sobald ihr Mann die ersten Anzeichen von Nervosität zeigte, würde sie Nevil die Tür weisen. Und er würde die ganze Rechnung bezahlen. Vielleicht würde er Lynstone sogar verlassen und von hier weggehen, um zu vergessen oder sonst irgendeinen weinerlichen Unsinn anstellen.

»Verdammt!«, brüllte Mrs. James erneut die Bäume an.

»Was ist denn, Molly?«, antwortete eine Stimme.

Ein großes, nicht besonders hübsches Mädchen in Jeans, Gummistiefeln und einem alten Pullover tauchte auf. In den Händen hielt sie einen Eimer und eine Bürste.

»Nichts!«, fauchte Mrs. James. »Bist du bald fertig mit diesen Katzen?«

»Noch nicht ganz. Die rote hat mich wieder gekratzt. Wann kommt der Besitzer wieder?«

»Nächste Woche.« Mrs. James blickte Gillian mürrisch an, doch es war keine Antipathie. Das Mädchen arbeitete gut und bedeutete keine Gefahr, was Nevil anging. Männer würden sich niemals mit Gillian abgeben. In Mrs. James’ Augen war das in mehr als einer Hinsicht ein Vorteil. Gillian würde nicht ihre Sachen packen und verschwinden. Sie liebte Tiere und war Menschen gegenüber scheu. Und wenn das Mädchen es auch vielleicht nicht wusste, sie hatte eine Menge Glück, dass sie so ein unscheinbares Pflänzchen war. Weil Männer, wenn man einen von ihnen denn in sein Leben ließ, einen selbst und besagtes Leben völlig zugrunde richteten.

Widerwillig sah sich Mrs. James – im Licht kürzlich gemachter Erfahrungen – gezwungen einzuräumen, dass Frauen bei Männern ebenfalls ziemlich gründliche Arbeit zu leisten vermochten. Tatsache war, dass jeder zwischenmenschliche Kontakt die Gefahr von Täuschung, Verrat und Herzschmerz mit sich brachte. »Ich würde jeden halbwegs anständig ausgebildeten Jagdhund vorziehen«, murmelte Mrs. James vor sich hin, während sie in ihren japanischen Allrad-Wagen kletterte, der neben einem heruntergekommenen alten Escort parkte. Sie heizte den Fahrweg hinunter und bog mit quietschenden Reifen und in eine Staubwolke gehüllt in die Durchfahrtsstraße an dessen Ende ein.

Ein Radfahrer radelte unvorsichtigerweise am Straßenrand entlang. Er begann unsicher zu schwanken, als Mrs. James heranraste, während er einen ängstlichen Blick über die Schulter warf.

»Los, aus dem Weg!«, brüllte Mrs. James und gestikulierte durch die Windschutzscheibe.

Der Radfahrer entschied sich, auf Nummer sicher zu gehen, und sprang seitwärts von seinem Gefährt. Er rappelte sich eben wieder aus dem Straßengraben auf, als Mrs. James um die Ecke verschwand.

Mrs. James raste weiter, die Hände um das Steuer geklammert, die Schultern nach vorn gezogen, das Gesicht wutverzerrt. Sie würde etwas wegen Nevil und Rachel Constantine unternehmen müssen. Falls nötig, würde sie Rachel auf drastische Weise aus dem Weg räumen. Sie war noch nicht sicher, wie sie es anstellen würde, doch ihr würde schon etwas einfallen.

Die Gehilfin der Tierpension, Gillian Hardy, beendete ihre Arbeit und stellte Schaufel, Besen und Eimer mit einem Seufzer der Erleichterung weg. Anschließend ging sie zum Haus hinüber. Hinter ihr bellten die Hunde, denn es war die Zeit am Morgen, zu der üblicherweise irgendjemand sie ausführte. Auf der hinteren Veranda entledigte sich Gillian mit Hilfe eines hölzernen Stiefelknechts ihrer Arbeitsschuhe und betrat das Haus auf Socken. Die Küche war leer.

Gillian tappte über den steingefliesten Boden in den Waschraum. Dort fanden sich die üblichen abgetrennten Toiletten und ein Waschbecken. Sie wusch ihre Hände gründlich und trocknete sie sorgfältig ab, während sie die Straßenkleidung betrachtete, die an einer Reihe von Haken hing. Ein Kleidungsstück, eine Damentweedjacke, die zwar alt, aber ein Markenartikel von ausgezeichneter Qualität war – die Sorte, die man auf dem Land auf Flohmärkten fand –, schien sie ganz besonders zu faszinieren. Sie schluckte laut, ihr Hals war trocken, nur zum Teil weil sie Tierstreu eingeatmet hatte, zum anderen Teil war es die Aufregung, die ihr Schauer über den Rücken jagte. Ihr Magen zog sich zu einer pulsierenden Masse irgendwo in ihrer Leibesmitte zusammen.

Schließlich ging sie mit eckigen Bewegungen an der Jacke vorbei, als könnten die wollenen Arme plötzlich vorschnellen und nach ihr greifen. Zurück in der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein, legte zwei Biskuits auf einen Teller, nahm zwei Becher herunter und die Milch aus dem Kühlschrank. Die ganze Zeit über lauschte sie mit geneigtem Kopf – fast wie einer ihrer Hundeschützlinge – nach einem Geräusch aus dem angrenzenden Zimmer, wo sie Nevil über den Büchern wusste.

Schließlich nahm sie den Teller mit den Biskuits sowie einen Becher Kaffee und ging damit ins andere Zimmer, wo er saß und konzentriert arbeitete.

»Danke«, murmelte er ohne aufzublicken, als sie ihm Teller und Becher hinstellte.

Sie zögerte und wollte sich bereits abwenden, als er plötzlich fragte: »Diese Frau, die sich nach einem Platz für ihren Corgi für die Dauer von zwei Wochen erkundigt hat – hat sie sich noch einmal gemeldet und die Reservierung bestätigt?«

»Ich glaube nicht. Molly hat jedenfalls nichts gesagt.«

»Die hat Nerven. Wahrscheinlich wird sie einfach hier auftauchen und erwarten, dass alles für ihren Hund vorbereitet ist. Besser, du machst einen Zwinger fertig, Gillian.«

»In Ordnung. Ich mache es gleich, bevor ich nach Hause fahre.«

»Nein, mach es morgen Früh. So eilig ist es auch wieder nicht.«

Sein Tonfall sagte ihr, dass sie damit entlassen war. Sie kehrte in die Küche zurück und setzte sich mit ihrem eigenen Becher Kaffee an den Tisch, wo sie auch sich selbst ein Biskuit aus der Dose nahm. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick immer wieder zur Tür des Waschraums glitt. Sie setzte sich der Tür gegenüber, tauchte ihren Biskuit ein und trank das inzwischen nur noch lauwarme Gebräu in großen Schlucken.

Als sie in das andere Zimmer zurückkehrte, um nachzusehen, ob Nevil fertig war, arbeitete er noch immer. Er blickte nicht auf.

Unbeholfen fragte sie: »Du hast so viel zu tun, möchtest du, dass ich die Hunde ausführe, bevor ich gehe?«

Er unterbrach seine Arbeit, und sie wurde mit einem Blick belohnt. Schon freundlicher sagte er: »Schon gut, Gill. Ich gehe mit ihnen, sobald ich hier fertig bin.«

»Es macht mir nichts aus.« Eifer klang in ihren Worten.

»Ich weiß es zu schätzen, Gill. Aber du hast Feierabend. Das ist heute dein freier Nachmittag. Schade, dass du nicht schon mit Ma in die Stadt fahren konntest.«

Sie wusch Tassen und Teller ab, und die Erregung, die sie bisher verspürt hatte, wich einem leichten Gefühl von Niedergeschlagenheit. Doch als sie in den Waschraum ging, um ihre Siebensachen zu holen, kehrte die Aufregung zurück. Jetzt würden sie und die Jacke wieder zusammenkommen, oder besser, das, was die Jacke enthielt … Sie schlüpfte eilig hinein, und das raue Gewebe kratzte an ihren Fingern. Dann bückte sie sich, um ihre normalen Schuhe anzuziehen, die ordentlich in einer Ecke standen.

»Ich gehe jetzt!«, rief sie.

Nevil antwortete mit einem gerade noch vernehmbaren Grunzen.

Trotz der wenig ermutigenden Reaktion fuhr sie fort: »Auf Wiedersehen! Überarbeite dich nicht!«

Sie ließ ihre Gummistiefel für den nächsten Tag hinten auf der Veranda stehen und fuhr in ihrem ältlichen Escort nach Hause. Wann immer sie den linken Arm bewegte, knisterte etwas in der Innentasche ihrer Jacke. Es war, als stünde die Tasche in Flammen, und ihre Nerven waren so überspannt, dass der alte Wagen jedes Mal einen Satz machte wie ein Formel-1-Bolide, wenn ihr Fuß das Gaspedal berührte.

Gillians Mutter erwartete die Tochter bereits im Mantel, die abgenutzte Lederhandtasche auf dem Tisch. In der Küche roch es nach Konserventomaten und Abwaschwasser.

»Oh, Gillian«, sagte Mrs. Hardy. »Ich bin ja so froh, dass du heute nicht so spät bist. Du wirst doch den Nachmittag zu Hause bleiben, oder? Ich weiß, es ist dein freier Nachmittag, aber ich würde gerne Mrs. Freeman besuchen, und du weißt ja, dass ich Dad nicht gerne alleine lasse.«

Eigentlich hätte sie sagen müssen: »Dad mag es nicht, allein gelassen zu werden«, doch obwohl die Haushaltsführung in jeder Hinsicht Mr. Hardys Bedürfnissen Rechnung trug, gab es eine Art Verschwörung zwischen Mutter und Tochter, um diese Tatsache zu verschleiern. Gillian und Mrs. Hardy trugen die Folgen jeder Entscheidung, wohingegen Mr. Hardy derjenige war, der die eigentlichen Entscheidungen traf.

»In Ordnung«, sagte Gillian. »Vielleicht bringe ich den Garten in Ordnung.«

»Dad und ich haben uns eine Dose Suppe zum Mittagessen geteilt. Falls du etwas essen möchtest, im Kühlschrank ist Käse …«

»Ich hab in der Tierpension gegessen.« Was nicht der Wahrheit entsprach. Bis auf den Kaffee und das Biskuit hatte sie nichts zu sich genommen, doch das konnte Mrs. Hardy schließlich nicht ahnen. »Ich hab Würstchen zum Tee«, sagte sie und nahm ihre Handtasche auf. »Dad liest in seinem Buch aus der Leihbücherei. Das Bild trocknet wohl noch oder so, daher glaube ich nicht, dass er ins Atelier geht. Er sollte dir nicht zur … er sollte eigentlich alles haben, was er braucht.«

Als Mrs. Hardy gegangen war, betrat Gillian das winzige Wohnzimmer mit der niedrigen Decke und den Eichenbalken. Ihr Vater saß in seinem Rollstuhl beim Fenster, von wo aus er die Straße übersehen und das Fox Pub gegenüber beobachten konnte. Er las in einem Thriller und starrte ungläubig auf die Seiten des Buches. Als seine Tochter eintrat, blickte er auf und kam ohne Begrüßung zur Sache.

»Die Bücherei in Chippy hat heute Abend lange auf. Nach dem Tee springst du ins Auto und fährst kurz vorbei, um meine Bücher umzutauschen. Das hier kenne ich schon. Sieh nur!« Er hielt es hoch. »Dort ist meine Markierung, auf der Rückseite! Ich hab es deiner Mutter schon ein Dutzend Mal gesagt, achte auf meine Markierungen! Aber sie vergisst es immer wieder!«

»Gut. Ich gehe nur eben auf mein Zimmer und ziehe mich um.«

Er war bereits wieder mit mürrischem Gesicht in sein Buch versunken und antwortete nicht. Gillian ging nach oben in ihr winziges Zimmer unterm Dach und zog ihre Arbeitskleidung aus. Sie schlüpfte in eine andere Jeans und einen sauberen Pullover, nahm die Tweedjacke und trat damit zu ihrem Bett.

Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Tagesdecke, schob eine Hand in die Innentasche der Jacke und nahm einen zerknitterten Umschlag aus Manilapapier heraus. Es war kühl in dem kleinen Zimmer, das niemals geheizt wurde, doch Gillian schwitzte.

Ihre Finger betasteten den Umschlag. Das flaue Gefühl in der Magengegend war zurückgekehrt und steigerte sich noch, als sie die beiden zerknitterten Fotografien herauszog, um sie anschließend vorsichtig flach auf der Patchwork-Tagesdecke glatt zu streichen.

Es waren Schwarzweißfotos, relativ große Abzüge, dreizehn mal achtzehn. Das eine Foto zeigte Mrs. James mit einer Katze, das andere Mrs. James mit einem Hund. Der Hund hechelte munter, und die Katze, frisch gebürstet wie ein Fellball, sah mit einem Blick in die Kamera, der Bände sprach. Beide Fotografien waren im Vorjahr entstanden, für eine Broschüre über die Tierpension, um das Geschäft zu beleben. Die glänzenden Originale hatten seither offensichtlich eine raue Behandlung erfahren. Doch die eigentliche Beschädigung war nicht Folge gewöhnlichen Betrachtens.

Auf beiden war das Gesicht von Mrs. James vorsätzlich und entschlossen mit einer Rasierklinge bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten. Das freche Grinsen des Hundes und der gebürstete Katzenkopf waren unberührt, was die Zerstörung des menschlichen Gesichts umso stärker hervorhob. Die Verstümmelung ließ ein System erkennen. Eine Linie war über die Augen gezogen, eine weitere entlang der Nase. Beide Ohren waren durch die Schnitte vom Kopf abgetrennt. Der Mund wurde von einem diagonalen Kreuz überzogen, das aussah wie ein Multiplikationszeichen, und die Kehle war durchschnitten.

Gillian kaute auf ihrer Unterlippe, doch sonst blieb ihr Gesicht emotionslos. Das Magenflattern hatte aufgehört, nachdem die Fotos tatsächlich vor ihr lagen.

Nach einer Weile schob sie die grässlichen Bilder zurück in den Umschlag, stand vom Bett auf und ging zu einem schmalen, eingebauten Schrank in der Ecke, der als Garderobe diente. Nichts an diesem alten Haus war gerade; es gab nicht einen einzigen rechten Winkel. Zwischen der Seite des Garderobenschranks und dem gewölbten Putz der Wand gab es einen Spalt, der breit genug war, um den Umschlag aufzunehmen. Gillian schob ihn gerade so weit hinein, dass nur noch eine winzige Ecke hervorsah, damit sie ihn später wieder würde herausziehen können. Doch Mrs. Hardy würde ihn, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie Gillians Zimmer betrat, gewiss nicht bemerken. Mrs. Hardy war voll und ganz mit der Sorge um Mr. Hardy beschäftigt. Sie überließ es Gillian, Ordnung in ihrem Zimmer zu halten und es zu putzen sowie ihre Wäsche selbst zu waschen.

Also waren die Fotografien einstweilen sicher, während Gillian in Ruhe darüber nachdenken konnte, was sie damit anfangen würde. Gillian war ein vorsichtiges Mädchen. Sie zog es vor, Dinge im Voraus zu planen.

 KAPITEL 2 

Wie es das Pech wollte, sah Meredith Mitchell sie zuerst. Hätte Alan Markby sie als Erster gesehen, hätte er alles unternommen, um ihr nicht zu begegnen, wie er später freimütig gestand. Sie wären nicht in die Geschichte hineingezogen worden. Sie hätten in den Zeitungen darüber gelesen und ihrem Entsetzen Ausdruck gegeben, und damit wäre alles erledigt gewesen. Das Schicksal hatte es jedoch anders gewollt.

Es war schwierig genug, am vorletzten Tag im überfüllten Hauptzelt der Chelsea Flower Show irgendjemand Bestimmtes in der brodelnden Menge zu entdecken. Es war später Nachmittag, und die Müdigkeit forderte ihren Tribut. Es war sehr heiß, und obwohl alle weiterhin freundlich lächelten und die Begeisterung ungebrochen schien, begann die zuvor überall spürbare gute Laune merklich nachzulassen.

Hobbygärtner sind im Allgemeinen friedfertige Naturen. Doch sie waren alle durch die zahlreichen Ausstellungszelte gestapft, hatten die Modellgärten besichtigt, die verschiedenen Stände besucht ebenso wie die Gartenmöbelausstellungen und die Verkaufsveranstaltungen, auf denen Gartenzubehör aller Art feilgeboten wurde. Sie hatten die Bücherstände inspiziert und die Buden, die getrocknete Kräuter aller Art anboten. Sie hatten unter den Bäumen im Gras gesessen und dem Spiel der Grenadier Guards gelauscht, während sie ihre Sandwichs gegessen hatten. Sie hatten sich an einem Getränkestand in eine lange Schlange eingereiht und warmes Pimms getrunken. So war es nicht verwunderlich, dass, als Meredith und Alan endlich bis zum großen Hauptzelt vorgedrungen waren, die Stimmung ringsum bereits spürbar Anspannung verriet.

Hier drin, dachte Meredith düster, fühlt man sich ungefähr so, als sei man ein Teilnehmer der Schlacht von Waterloo. Viele der Besucher waren ältere Menschen, und von diesen waren nicht wenige behindert, was ihrer Entschlossenheit jedoch in keiner Weise Abbruch tat. Meredith war von allen Seiten angerempelt worden. Jeder Versuch, stehen zu bleiben und einen bestimmten Stand anzusehen, wurde von anderen erschwert, die das Gleiche vorhatten. Das galt natürlich nur für den Fall, dass sie überhaupt imstande war, sich einem Stand zu nähern. Die Zeltbesucher mit Gehstöcken waren die Schlimmsten. Sie benutzten diese als Bajonette.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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