Blutbahn - Harald Schneider - E-Book

Blutbahn E-Book

Harald Schneider

4,9

Beschreibung

Fastnachtszeit. Im Hbf Schifferstadt wird in einer S-Bahn ein Toter mit einem Dreizack in der Brust gefunden. Das Opfer Willibald Teufelsreute arbeitete in einer S-Bahn-Werkstatt in Ludwigshafen. Kommissar Reiner Palzki erfährt dort, dass mehrere Personen ein Tatmotiv gehabt hätten, da Teufelsreute äußerst streitsüchtig war. Doch dann wird in Mannheim eine weitere Leiche gefunden, ermordet auf die gleiche Weise, wieder in einer S-Bahn. Die tote Frau trägt den Mädchennamen Teufelsreute, jedoch scheint es zunächst keinerlei Verbindungen zu dem ersten Opfer zu geben …

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Harald Schneider

Blutbahn

Palzkis sechster Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2012

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Black7 / photocase.com

Mensch, verspotte nicht den Teufel,

Kurz ist ja die Lebensbahn,

Und die ewige Verdammnis

Ist kein bloßer Pöbelwahn.

Mensch, bezahle deine Schulden,

Lang ist ja die Lebensbahn,

Und du musst noch manchmal borgen,

1 Teufeleien

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich nach oben. Verdammt, was war das? Mein Puls erhöhte sich rekordverdächtig von 80 auf beinahe 200 Schläge. Die Szene, die sich gerade vor mir abspielte, verstand ich nicht einmal ansatzweise. War ich in der Hölle angekommen, und wenn ja, warum? Das grelle Licht blendete mich, ich konnte nur die Umrisse des Satans erkennen. Seine schrecklich verzerrte Stimme ließ mir einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Ich versuchte mich aufzusetzen, was mein Gleichgewichtssinn mit einem heftigen Schwindel beantwortete. Warum lag ich überhaupt hier? Wo war ich? Eine zweite teuflische Gestalt kam in mein Blickfeld. Sie schien etwas größer zu sein und ihre ebenfalls verzerrte Stimme klang noch angsteinflößender. Beide redeten gleichzeitig auf mich ein, ich konnte nicht einmal ausmachen, um welche Sprache es sich handelte, geschweige denn, ob sie irdischer Natur war. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das helle Licht und auf einmal erkannte ich, wo ich mich befand. Sah so das Ende aus? Aus statistischer Sicht starben die meisten Menschen zuhause in ihrem Bett und genau da lag ich auch. Seltsam, dass mich der Höllenchef persönlich im eigenen Schlafzimmer begrüßte. Mein Adrenalinspiegel, der das Maximum erreicht hatte, behinderte nach wie vor mein Denkvermögen. Erfreulicherweise konnte ich nun aus einiger Entfernung eine weibliche Stimme vernehmen, die in deutscher Sprache rief: »Paul, Melanie! Ich habe zwar gesagt, dass Ihr euren Vater wecken sollt, aber nicht auf diese Art und Weise!«

Die beiden Teufel fingen an zu lachen. Paul, mein achtjähriger Sohn, zog seine Maske ab und sprang mit einem Hechtsprung zu mir ins Bett. »Papa, schau mal, was Mama uns Geiles gekauft hat!«

»Paul!«, hörte ich Stefanies Stimme aus dem Off. »Lass bitte diese Ausdrücke sein.«

Während die drei Jahre ältere Melanie das Schlafzimmer wieder verlassen hatte, kuschelte sich der zum Mensch gewordene Teufel unter mein Federbett.

»Da, Papa«, forderte er meine Aufmerksamkeit, indem er mir einen kleinen Kasten, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel, zeigte. »Das ist ein Stimmenverzerrer. Meine Lehrer werden sich nächste Woche ganz schön wundern.« Er steckte den Kasten ein Stück weit in den Mund und ich hörte wieder die außerirdisch klingenden Töne.

»Wo habt ihr das her? Gestern Abend hattet ihr das noch nicht!«

Ich bemerkte, dass meine Frau im Türrahmen stand.

»Dann schau mal auf die Uhr, du Langschläfer!« Sie klang belustigt. »Komm zum Frühstück, sonst wird der Kaffee kalt.«

Ein Blick auf den Wecker offenbarte mir die in Bälde einbrechende Mittagszeit. »Ihr spielt mir doch einen Streich! Ihr habt die Uhr vorgestellt, stimmt’s?«

»Reiner, ich war mit den Kindern mehr als zwei Stunden lang einkaufen. Ich hatte gar nicht in Erinnerung, dass du so ein Faultier bist.«

Wie wahr. Stefanie lebte mit den Kindern seit über zwei Jahren von mir getrennt. Jetzt endlich wollten wir einen Neuanfang wagen. Es war Anfang Februar, die Kinder hatten gerade ihre Halbjahreszeugnisse bekommen, also ein guter Zeitpunkt, um die Schule zu wechseln. Seit Tagen fuhr ich abends nach Dienstschluss mit meinem Kollegen Gerhard Steinbeißer nach Ludwigshafen, um Stefanies Hausrat nach Schifferstadt zu transportieren. Gestern waren Waschmaschine und Wäschetrockner an der Reihe. Nach diesem Kraftakt, man war ja schließlich nicht mehr der Jüngste, gingen wir noch auf ein Pils in die Kanne, einem alten Schifferstadter Gasthaus mit angeschlossenem Hotel. Bei einem Pils blieb es nicht, aber an einem Freitagabend störte mich das nicht sonderlich.

Am heutigen Samstag waren die Kinderzimmer an der Reihe. Auch diesmal hatte sich Gerhard bereiterklärt, mir zu helfen. Da er mal wieder eine kurze Solozeit zu überbrücken hatte, machte es ihm nichts aus. Gerhard genoss sein Leben und gestaltete es sehr abwechslungsreich. Ich selbst war wesentlich konservativer eingestellt, ich liebte meine Frau nach wie vor wie am ersten Tag. Und seit ich wusste, dass unsere Familie nochmals Nachwuchs bekommen würde, noch viel mehr. In drei Monaten war es soweit, Stefanie schob bereits ein kleines Bäuchlein durch die Gegend. Mein Heimbüro hatte ich längst ausgeräumt und mit einer Benjamin-Blümchen-Tapete tapeziert. Stefanie rümpfte darüber zwar die Nase, sagte aber nichts. Ich war mir sicher, hätte ich eine Star-Wars-Tapete genommen, wäre es ihr ebenfalls nicht recht gewesen.

Ich stand auf und schlurfte ins Bad. Dieses Mal klappte alles. Kein akuter Mordfall, der meine Anwesenheit auf der Schifferstadter Kriminalinspektion notwendig machte.

Glücklicherweise konnte ich der vor einer Woche aufgefundenen, nicht unter natürlichen Umständen verblichenen Dame mittleren Alters und Aussehens noch so etwas wie eine verspätete Genugtuung zukommen lassen, indem ich ihren Mörder festnahm: Die Sterblichkeit, die ihr zum Verhängnis wurde, hatte ihr Vermieter brutal ausgenutzt. Ob es sich hierbei um eine neue Form der Eigenbedarfskündigung handelte, würden die weiteren Ermittlungen ergeben. Der Eigenbedarf war nach der erfolgreichen Aufklärung des Kapitalverbrechens natürlich nicht mehr gegeben: Sowohl die tote Mieterin als auch der tötende Vermieter waren bereits mit jeweils unterschiedlich fremder Hilfe ausgezogen.

Auch wenn solche Verbrechen meinen Arbeitsplatz sicherten und daher in meinen Augen unentbehrlich waren, so hatte ich sie heute rigoros ausgeblendet. Der Umzug musste vollendet werden. Und für heute Abend hatte ich Paul und Melanie versprochen, sie zur Fastnachtsparty für junge Leute ins Pfarrzentrum St. Jakobus zu fahren. Na ja, sollten sie ihren Spaß haben. Noch rund eineinhalb Wochen, dann war das Thema Fastnacht wieder vergessen. Auch die Kollegen von der Schutzpolizei würden wieder aufatmen, nachdem sie während der fünften Jahreszeit wie jedes Jahr an dem Berg einkassierter Führerscheine zu ersticken drohten.

Mit inzwischen deutlich gesenktem Puls ging ich nach einem Badbesuch in die Küche. Melanie futterte einen Muffin. Keine Ahnung, wie sie das bei ihrer Mutter durchsetzen konnte. Paul pulte gelangweilt in einem Käsebrot.

»Komm, setz dich, Reiner«, forderte mich Stefanie auf und stellte mir eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Im Vergleich zu dem Kaffee, den Gerhard immer auf der Dienststelle braute, beziehungsweise buk, überwog hier der Wasseranteil deutlich gegenüber dem Kaffeepulver.

»Möchtest du einen leckeren Vollkornmuffin?«

Melanie presste diese Frage mit solch einem sarkastischen Unterton heraus, dass ich sofort wusste, dass sie dieses Teil nicht freiwillig aß. Um meine beiden Kinder bei Laune zu halten, plante ich spontan, vor der Fastnachtsparty am Imbiss Caravella vorbeizufahren.

»Danke, Melanie. Ich habe im Moment noch keinen Hunger.«

»Ich auch nicht mehr«, maulte meine Tochter und knallte den angebissenen Muffin auf den Teller.

Stefanie überging diese Szene und äußerte stattdessen ihren Missmut über meinen Jogginganzug. »Den hattest du schon getragen, da waren wir noch nicht verheiratet. Meinst du nicht, dass es mal an der Zeit für einen neuen wäre?«

Ich erschrak. So fing es immer an, wenn meine Frau mit mir eine längere Tour durch sämtliche Bekleidungsgeschäfte der Region plante. Ich setzte zu meiner selten erfolgreichen Abwehrtaktik an. »Warum denn? Der ist doch noch gut. Er hat nur ein paar glänzende Stellen, ich zieh ihn ja nur daheim an.«

»Und zum Umzug, du hast ihn die ganze Woche angehabt.«

»Na und? Soll ich einen Anzug und Krawatte anziehen, wenn ich deine Waschmaschine transportiere?«

»Das nicht gerade. Erinnerst du dich, wo du mit Gerhard gestern noch hingegangen bist? Die Leute in der Wirtschaft haben bestimmt ganz blöd geschaut. Außerdem muss dich der Hosenbund inzwischen in der Taille ziemlich schneiden.«

Ich prüfte den Sitz mit meinem Daumen. »Die Hose ist bei der Wäsche etwas eingegangen.«

»Oder du etwas aufgegangen«, konterte sie bissig aber dennoch freundlich.

Stefanie hatte ja recht. In der Kanne war ich tatsächlich etwas aufgefallen. Zumal dort gerade eine feine Gesellschaft tafelte. Und den viel zu lauten Satz einer Dame vom Nachbartisch hatte ich nur zu gut verstanden: »Schau mal da rüber, Berti, der da drüben hat einen Schockinganzug an.«

Der Kaffee tat gut, wie bei einem frischen Pils. Der erste Schluck war der beste. Es klingelte an der Haustür.

»Ich geh schon«, meinte Stefanie, ohne zu wissen, was sie damit lostrat. Wenn sie Pech hatte, war es unsere Nachbarin, die ewig vor sich hinschnatternde Ackermann. Dann käme sie unter zehntausend Wörtern nicht davon. Ich hatte einmal mit einem vorgetäuschten Herzanfall versucht, ihren Oralorgien zu entgehen. Doch das half nur für Minuten. Dann stand sie mit einem Stapel Gesundheitszeitschriften und einem prall mit Medikamenten gefüllten Schuhkarton vor meiner Tür.

Es war nicht Frau Ackermann.

»Guten Morgen, allerseits«, grüßte Gerhard in die Runde.

»Kann es sein, dass du zwei Stunden zu früh bist?«, wunderte ich mich. »Oder habt ihr die Uhr zurückgestellt?«, wandte ich mich fragend an meine Kinder. Jetzt erst bemerkte ich die ernsten Gesichter von Gerhard und Stefanie. »Was ist los mit euch? Komm Gerhard, setz dich und nimm dir einen dieser köstlichen Muffins!«

Dieser schüttelte den Kopf. »Danke, mir ist der Appetit vergangen.«

»Was? Bist du lebensmüde? Diese leckeren Vollkorndinger hat Stefanie selbst gebacken!«

»Nein, nein«, entschuldigte sich mein Kollege sofort, »ich meine nicht die Muffins. Komm, Junge, wir müssen los.«

»Darf ich wenigstens meinen Kaffee austrinken? Bei unserem Umzug kommt es schließlich auf eine Minute mehr oder weniger nicht an.«

»Es geht keineswegs um den Umzug, Reiner, sondern um einen Regionalzug. Genauer gesagt, um eine S-Bahn.«

Ich verstand immer noch nicht. »Der Bahnhof ist mindestens zwei Kilometer entfernt, für einen Umzug ist das nicht praktikabel. Für was haben wir unsere Dienstwagen? Da passt alles rein.«

»Mensch, Reiner, stehst du heute mal wieder auf den Gleisen.« Gerhard schüttelte den Kopf. »Wir haben einen Einsatz! Also los, erhebe dich.«

Ziemlich verdattert stand ich auf. »Und da sollen wir mit dem Zug hinfahren?«

Jetzt lachte mein Kollege kurz auf. »Jetzt versteh ich, was du meinst. Ne, du bist auf dem falschen Dampfer. Wir fahren zum Zug, nicht mit dem Zug. Es gibt eine Leiche in der Bahn.« Und zu Stefanie sagte er: »Sobald es möglich ist, kommen wir zurück, das mit dem Umzug kriegen wir heute bestimmt noch in die Reihe.«

Die Stimmung meiner Frau war alles anders als euphorisch. »Dann macht mal, dass ihr fortkommt.«

Ich bemerkte, wie sie mich stirnrunzelnd fixierte, als ich ihr zum Abschied einen Kuss gab. Dass sie damit meinen verwaschenen, lilafarbenen Glanzsportanzug meinte, darauf kam ich erst später.

Melanie rief mir etwas nach, was ziemlich wütend klang: »Wenn du uns heute nicht zur Party fährst, ziehe ich morgen wieder nach Ludwigshafen.«

Ohne jegliche Konfrontation mit meiner Nachbarin konnte ich in Gerhards Wagen steigen. Auch er musterte mich eindringlich.

»Willst du dich noch schnell umziehen? Oder zumindest einen Mantel drüberziehen? Die Minute hole ich wieder rein.«

»Fahr los«, entgegnete ich. »Es ist zwar Februar, aber wir haben fast zwölf Grad, da brauche ich keinen Mantel. Und bitte, keine Geschwindigkeitsrekorde brechen. Das macht die Leiche auch nicht wieder lebendig. Was ist überhaupt passiert?«

»Keine Ahnung. Ich war nur kurz auf der Dienststelle, weil ich gestern in meinem Büro das Handy liegengelassen habe. Und ausgerechnet in diesen wenigen Minuten kam der Notruf rein. Tote Person in der S-Bahn im Hauptbahnhof Schifferstadt.«

»Na ja«, entgegnete ich. »Das kann alles bedeuten. Vielleicht hat nur jemand einen Herzinfarkt bekommen. Hast du KPD informiert?«

KPD war die Abkürzung für Kriminaloberrat Klaus P. Diefenbach, seines Zeichens Dienststellenleiter unserer Kriminalinspektion. Wegen einiger Verfehlungen war er vor vier Monaten vom Präsidium in Ludwigshafen nach Schifferstadt aufs Land strafversetzt worden. Seit er das Regiment führte, hatte sich unser dienstliches Leben drastisch verändert.

»Versucht habe ich es«, meinte Gerhard. »Aber seine Frau meinte, er wäre auf einem Zigarrenkongress in Harsewinkel. Keine Ahnung, wo das liegt.«

Mein Kollege fuhr in diesem Moment auf den Bahnhofsvorplatz und ich erschrak. Nicht wegen seiner Fahrweise oder der großzügigen Absperrung und den vielen Gaffern, sondern wegen eines Reisemobils, das direkt auf dem Taxifeld stand. ›Mobile Gesundheitsberatung und Prophylaxe – Doktor Metzger‹ stand in blutroter Schrift auf der Seite. Etwas kleiner las ich ›Homöopathie nach Art des Hauses‹.

Gerhard parkte direkt vor Metzgers Wagen und meinte: »Dieser Not-Notarzt riecht seine Opfer meilenweit. Wie schafft er es nur, immer als Erstes vor Ort zu sein?«

Ich wusste, dass der Doktor, der seine Kassenzulassung längst zurückgegeben hatte und nur noch in seiner Freizeit manchmal Notarztwagen fuhr, regelmäßig den Polizeifunk abhörte. Bei unserem vorletzten Abenteuer kurz vor Weihnachten erfuhren wir, dass er sich mit einer mobilen Gesundheitsberatung selbstständig gemacht hatte und die gesetzlichen Regelungen recht individuell auslegte. Solange es Metzger gab, würde ich mir in seinem Einzugsgebiet keinen Organspenderausweis zulegen.

Ich schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, während mein Kollege, der regelmäßig Marathon lief, lässig und ohne Anlauf oben drübersprang. Auf Gleis 1, direkt neben dem Hauptgebäude des Bahnhofs, stand eine rote S-Bahn in Fahrtrichtung Ludwigshafen. Am Ende des Zuges herrschte ziemlicher Trubel. Ein weiterer Wegweiser für uns war der Zinksarg, der an dieser Stelle auf dem Bahnsteig stand. Just als wir auf der Höhe der hintersten Tür der Bahn angelangt waren, kam er heraus. Nein, nicht mein Lieblingsfeind Staatsanwalt Borgia, der mich stets zu provozieren wusste, sondern Doktor Matthias Metzger. Wie immer trug er einen schmutziggrauen Arztkittel, aus dessen Seitentasche eine angegammelte Bananenschale herausspitzelte. Seine langen feuerroten und zum Mittelscheitel gekämmten Haare wehten in ihrer fettigen Substanz wirr um seinen Hinterkopf. Zusammen mit seinem nervösen Tic, ein zuckender Mundwinkel, wirkte er wie Klaus Kinski des 21. Jahrhunderts. Sein bellendes, abgehacktes Lachen ließ mich an der Evolutionstheorie zweifeln. Sein Blick wanderte langsam von meinem Kopf zu meinen Füßen.

»Alaaf, Herr Palzki, willkommen im Narrenzug. Sie haben ja bereits die passende Kleidung an. Setzen Sie sich besser eine Pappnase auf, drinnen riecht es etwas streng.« Er zeigte auf das Innere des Zuges und verfiel wieder in sein unmenschliches Lachen.

»In dieser Region sagt man Ahoi, Herr Dr. Metzger«, klärte ich ihn auf. »Hat der oder die Tote noch unter den Lebenden geweilt, als Sie am Tatort ankamen?«

Metzger stutzte. »Ich bitte Sie, ich bin nicht Gevatter Tod! Das Geschäft boomt, die meisten meiner Kunden empfehlen mich weiter. Vor allem die, die es noch können.« Wieder musste ich mir sein Gelächter anhören.

»Ich kann Sie und Ihren Kollegen beruhigen, Herr Palzki. Der Kerl war mausetot, als ich ankam. Teuflisch, teuflisch, kann ich da nur sagen. Kommen Sie rein, schauen Sie selbst.«

Er trat beiseite und Gerhard und ich betraten die S-Bahn. Es stank bestialisch, Metzger hatte nicht zu viel versprochen. Der Tote saß gleich auf der ersten Vierersitzgruppe. Ich schätzte ihn auf Mitte 60, ein Altersrentner am Beginn seines Return on Investment. Egal, wie viel er in die Rentenkasse eingezahlt haben mag, es war für ihn umsonst gewesen. Seine seriöse Erscheinung, er trug einen Anzug mit gedeckter Krawatte und eine sicherlich wertvolle Brille, wurde durch ein Objekt empfindlich gestört: In seiner Brust steckte ein Dreizack.

»Tag, die Herren«, sprach uns eine fremde uniformierte Kollegin an. »Grün, Donna, ist mein Name, ich bin von der Bundespolizei. In welcher Funktion sind Sie anwesend?« Sie musterte naserümpfend meine Bekleidung.

Beinahe hätte ich die Dame mit dem österlichen Namen gefragt, wo sie ihren Kollegen Karl Frei gelassen hatte, doch ich wollte der Dame von der Bundespolizei, wie der Bundesgrenzschutz neuerdings hieß, nicht wegen ihres Namens zu nahe treten.

»Kriminalpolizei Schifferstadt. Mein Kollege Steinbeißer –«, ich zeigte auf Gerhard, »und ich bin Kriminalhauptkommissar Reiner Palzki. Können Sie mir Näheres berichten? Warum ist der Tote bekleidet? Ich dachte, die erste Leichenschau wurde längst durchgeführt?«

Dr. Metzger drängelte sich von hinten in die Unterhaltung. »Ich bitte Sie, Palzki, warum soll ich den Kerl ausziehen? Auch wenn es eine noch so wichtige Vorschrift ist, der Kerl ist tot. Erstochen, mit diesem Dreizack, das sieht ein Blinder. Da brauch ich nicht zu schauen, ob er seine Pockenimpfung erhalten oder eingewachsene Zehennägel hat.«

So kam ich nicht weiter, ich wandte mich mit einem erneuten Versuch an die Frau mit dem vorösterlichen Namen. »Gibt es Zeugen? Warum stinkt es so erbärmlich nach faulen Eiern?«

Frau Grün deutete auf einen Fleck und winzige Glasscherben unterhalb der Sitzbank, auf der der Tote saß. »Die letzte Frage kann ich Ihnen sofort beantworten. Da unten liegt eine Stinkbombe.«

»Schülerstreich?«

»Mit tödlichem Ausgang?« Die Beamtin schüttelte energisch den Kopf. »Allerdings kennen wir seinen Beruf noch nicht. Aber selbst wenn er Lehrer war, dürfte der Dreizack eher nicht auf einen Schülerstreich schließen lassen.«

»Das habe ich auch nicht gemeint«, rechtfertigte ich mich. »Das eine kann von dem anderen unabhängig sein.«

Metzger setzte sich neben die Leiche und zog eine weit über das Mindesthaltbarkeitsdatum gereifte Banane aus seinem Kittel, schälte sie, biss hinein und begann schmatzend zu reden.

»Palzki, Sie müssen die Symbolik verstehen. Schauen Sie sich die Waffe einmal genauer an.«

Angewidert wandte ich mich von Metzger in Richtung Leiche, was genauso unangenehm war. Das Blut, welches aus den Wunden bis auf die Hose gelaufen war, war noch frisch. Der Dreizack bestand aus einer gabelförmigen Spitze mit drei Schneiden unterschiedlicher Länge. Am anderen Ende war ein etwa 50 Zentimeter langer hölzerner Stab befestigt.

Dem Notarzt dauerte meine Untersuchung zu lange. »Der Dreizack ist rot und schwarz. Er soll ein Werkzeug des Teufels symbolisieren.«

»Teufel?«, fragte ich fassungslos und mir fiel die Weckaktion meiner Kinder ein.

»Ja, Teufel. Und der Sage nach stinkt es wie die Hölle, wenn der Teufel persönlich anwesend war.«

Ich blickte nach unten zur zerbrochenen Stinkbombe.

»Sie meinen –«

Metzger nickte.

Frau Grün zeigte auf den Dreizack. »Das Gerät ist eine selbstgebaute Sonderanfertigung. Oberflächlich betrachtet wirkt es wie ein billiger Fastnachtsartikel aus Plastik, in Wirklichkeit sind die Schneiden messerscharf. Und zusätzlich sind sie beweglich gelagert. Das heißt, wenn eine oder mehrere Schneiden beim Zustechen auf eine Rippe stoßen, rutschen sie ab und das Ergebnis sehen Sie ja.«

»Alle drei Stiche waren höchstwahrscheinlich jeweils für sich allein gesehen tödlich«, ergänzte Metzger.

»Wir haben noch etwas herausgefunden, das für die These dieses angeblichen Arztes spricht«, meinte die Bundesbeamtin mit einem höchst herablassenden Blick auf den Doktor. »Der Mann hieß Willibald Teufelsreute.«

2 Teuflische Stimmung

Gerhard hatte sich in den letzten Minuten im Fahrgastraum umgesehen. »Hat das niemand mitgekriegt?«, fragte er. »Das ist hier ja alles offen, wie auf einem freien Platz. Da müssen doch mehr als zwei Personen in dem Abteil gewesen sein.«

Donna Grün nickte. »Samstag vormittags sind die S-Bahnen meist gut gefüllt. Eine Idee, wie das passieren konnte, haben wir bisher nicht. Ein Kollege meinte, dass es direkt am Bahnhof passiert sein könnte. Während Leute ausgestiegen sind, könnte der Mörder schnell zugestochen und sich dann unter die aussteigenden Menschen gemischt haben. Diese These finde ich allerdings sehr gewagt.«

Während Gerhard ein paar Notizen machte, hakte ich nach. »Wann wurde der Tote gefunden?«

»Direkt hier am Bahnhof während des planmäßigen Halts. Die Frau, die die Sache entdeckte, sitzt mit einem leichten Schock in der Bahnhofskneipe.«

Metzger schluckte das letzte Stück Banane runter. »Mit der können Sie ruhig plaudern, Palzki. Die sah sehr robust aus. Außerdem gibt es medizinisch gesehen keinen leichten Schock, das sind alles Simulanten, die sich nicht im Griff haben. Ich bekomme ja auch keinen Schock, wenn’s mal bei einer Operation nicht so läuft, wie es soll.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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