Tote Beete - Harald Schneider - E-Book

Tote Beete E-Book

Harald Schneider

4,4

Beschreibung

Hauptkommissar Reiner Palzki besucht mit seiner Familie nicht ganz freiwillig die Landesgartenschau in Landau, als plötzlich eine gewaltige Explosion das Gelände erschüttert. Ein Besucher ist tot, ein Gärtnermeister verletzt. Bei seinen Ermittlungen stößt Palzki auf dubiose Vorgänge, in die der Gärtner verwickelt war. Aber auch der bekannte Salathersteller, bei dem der Tote als Prokurist arbeitete, hat mehr als ein finsteres Geheimnis …

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Harald Schneider

Tote Beete

Palzkis zehnter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © yamix – Fotolia.com und

© Anyka – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4370-1

Zitat

»Um einen guten Salat anzurichten, braucht man vier Charaktere: einen Verschwender für das Öl, einen Geizhals für den Essig, einen Weisen für das Salz, einen Narren für den Pfeffer.«

Francois Coppee (1842 – 1908), frz. Dichter

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Rotes Grünzeug

Kapitel 2 Dieffenbachia Klausis

Kapitel 3 Start in die Arbeitswoche

Kapitel 4 Eine seltsame Zeugin

Kapitel 5 Ist der Gärtner immer der Mörder?

Kapitel 6 Brühler Erkenntnisse

Kapitel 7 Alles Salat oder was?

Kapitel 8 Das Geheimnis der Nafa

Kapitel 9 Auf der Flucht

Kapitel 10 Der nächste Tote

Kapitel 11 Feuchte Luft

Kapitel 12 Wotan, der Eremit

Kapitel 13 Supermarkt mal anders

Kapitel 14 Neuigkeiten im Büro

Kapitel 15 Ein fast nächtlicher Einsatz

Kapitel 16 Mahlzeit

Kapitel 17 Grumbeerelager

Kapitel 18 Neue Fahndungen

Kapitel 19 Mannheimer Spekulanten

Kapitel 20 Dr. Faust

Kapitel 21 Letzte Vorbereitungen

Kapitel 22 Lockruf nach Schifferstadt

Kapitel 23 Alles voller Blasen

Epilog

Danksagung

Extra Bonus 1: Palzki und die Räuberpistole

Extra Bonus 2: Palzki Classic 2006 – Todsicher kalkuliert

Extra Bonus 3: Von einem, der auszog, es allen recht zu machen

Glossar

Vorwort

Nun ist es wieder so weit: Sie halten den inzwischen zehnten Band der Palzki-Reihe in den Händen. Dieses Mal führten mich die meist sehr aufwendigen Recherchetouren nicht in irgendwelche Gruften oder unterirdischen Gänge und Gewölbe, auch nicht in schwindelerregende Höhen wie auf der Geforce Achterbahn oder auf der Kuppel des Mannheimer Capitols. Dieses Mal blieb ich auf dem Teppich, oder vielmehr auf dem Erdboden. Man könnte diesen Palzki durchaus als Naturpalzki oder noch besser, als Salatpalzki bezeichnen. Alles hat irgendwie mit Pflanzen zu tun, essbaren und weniger essbaren.

Essbare Pflanzen spielen eine tragende Rolle. Zumindest die, die man als Feinkostsalat genießen kann. Antivegetarier Palzki und Salate - dieser Gegensatz steigert sich ins Extreme, wenn es nicht nur um Kartoffelsalat mit viel Speck oder Russische Eier geht, sondern um »schreckliche« Dinge wie Rote Bete-Salat oder Rosenkohlsalat. Wenn ein Vorderpfälzer an Salate denkt, fällt ihm natürlich als erstes die Salatmanufaktur Nafa in Neuhofen ein. Die Nafa stellte mir die komplette Produktionsanlage als Spielort für Tote Beete zur Verfügung, was ich gnadenlos ausnutzte. Was niemand vorhersehen konnte: Während einer wilden Verfolgungsjagd entdeckte Reiner Palzki (den scheint es wirklich zu geben, habe ich langsam den Eindruck) zufällig die Rezeptur eines genial schmeckenden Salates. Diese Weltneuheit wird ab sofort exklusiv von der Nafa als Palzki-Salat angeboten. Ich finde, das Schreiben hat sich mal wieder richtig gelohnt, sogar unserem Kommissar schmeckt seine eigene Kreation. Aus Dankbarkeit hat die Nafa nicht nur an Reiner Palzki gedacht, sondern auch an Sie. Lassen Sie sich überraschen!

Ein Teil des Romans spielt auf der Landesgartenschau in Landau. Halt!, werden jetzt einige aufschreien, die Gartenschau wurde doch auf 2015 verlegt. Dies ist mir natürlich nicht verborgen geblieben, doch wie zumindest die Stammleser unter Ihnen wissen, ist unser allseits beliebter Kommissar Reiner Palzki öfters seiner Zeit weit voraus. Dass meine Fantasie bei der Beschreibung der Örtlichkeiten manchmal eine Nuance übertrieben hat, mögen Sie mir bitte verzeihen.

Und jetzt überlasse ich Sie in ein paar spannende und zugleich entspannende Stunden in das Palzkiversum. Schalten Sie Telefon und Fernseher ab, schicken Sie Ihre Familie auf Verwandtenbesuch oder reichen Sie die Scheidung ein, vergessen Sie nicht die Krankmeldung an Ihren Arbeitgeber, und schon kann es losgehen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.

Harald Schneider

Kapitel 1: Rotes Grünzeug

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Vor einer Stunde hatte ich geduscht, davon war weder etwas zu sehen noch zu riechen. Seit Tagen wusste ich, was an diesem schicksalshaften Sonntag auf mich zukommen würde, doch die geistige Verdrängung daran brachte den Lauf der Zeit leider nicht zum Stoppen. Ich war verloren. Wenn ich bei meiner Geburt bereits geahnt hätte, welche Qualen das Leben bereiten konnte, meine Mutter wäre jetzt im 550. Schwangerschaftsmonat und auf der Titelseite vom ›Buch der Rekorde‹.

Bevor man mir Feigheit vorwerfen konnte, versuchte ich, allerdings vergeblich, mit einer simulierten Magen-Darm-Attacke dem drohenden Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Wie konnte man sich nur freiwillig in solch eine von Menschen gemachte Hölle begeben? Unter der Woche hatte ich mit meinem Vorgesetzten Klaus P. Diefenbach genügend Ärger und Scherereien auszuhalten. Musste dies nun auch am Wochenende, dazu in extrem gesteigerter Form, fortgesetzt werden? Ich würde ein Vermögen ausgeben, das ich leider nicht besaß, für einen zehnstündigen Zeitsprung in die Zukunft. Mit flehendem Blick winselte ich meine Frau Stefanie an: »Müssen wir wirklich? Bei dem Wetter? Wir haben draußen beinahe 25 Grad, wenn da mal unsere Zwillinge keinen Sonnenstich kriegen!«

Das könnte funktionieren, dachte ich mit einem letzten allerallerletzten Hoffnungsschimmer. Mit Lars und Lisa, unserem erst wenigen Wochen alten Nachwuchs, war Stefanie besonders fürsorglich. Mit solchen Argumenten konnte man jede Frau leicht beeinflussen. Bevor der Aufschrei losgeht: natürlich nur im positiven Sinn und zum langfristigen Vorteil der Frau. Frauen denken in vielen Dingen ja eher kurzfristig. Zum Glück gibt es aber uns Männer, die die strategische Ausrichtung eines gemeinsamen Familienlebens zielsicher planen und ausführen können. Diesen Bonus hat Mann aber nur in den ersten Lebensjahren des Nachwuchses, wie ich aus leidiger Erfahrung wusste.

Leider reagierte Stefanie ausnahmsweise nicht so, wie ich spekulierte. Stattdessen schüttelte sie verärgert den Kopf.

»Mein lieber Mann. Tu nicht so, als wäre heute Weltuntergang. Wir machen selbstverständlich genügend Pausen, ich weiß ja, wie es um deine Fitness bestellt ist.«

Sie unterbrach ihre Rede und schaute provozierend auf meine Taille.

»Und eine Krawatte brauchst du auch nicht anzuziehen. Also, wo liegt dein Problem?«

Ich grummelte ein paar unverständliche Worte in mich hinein. Wie sollte ich ihr die Sache nur erklären und dazu noch frei von Emotionen? Hier ging es nicht um Argumente für und wider, hier ging es um die nackte Existenz!

Stefanie zeigte lächelnd auf eine prall gefüllte Tasche. »Ich habe uns leckere Vollkornbrote mit dicken Käsescheiben belegt. Dazu gibt es Rooibos-Tee aus der Kanne.«

Während mein Magen reflexartig aus dem Körper zu fliehen versuchte, sah ich in die leichenblassen Gesichter von Paul und Melanie, die gerade in die Küche gekommen waren. Die beiden standen, genauso wie ich, der gesunden und vegetarischen Küche Stefanies eher skeptisch und stark zurückhaltend gegenüber.

»Mama«, stotterte die Zwölfjährige. »Muss ich wirklich mit? Mir ist gerade eingefallen, dass ich für die Englischarbeit am Montag lernen muss.«

Ihre Mutter durchschaute den Trick sofort. »Dann nimmst du dein Englischbuch mit, und unterwegs höre ich dich die Vokabeln ab.«

Melanie, die sich über ihr Eigentor sichtbar ärgerte, verkrümelte sich.

Der zwei Jahre jüngere Paul schien etwas falsch verstanden zu haben. Neugierig musterte er die Tasche mit dem schrecklichen Inhalt. »Geil, äh, Klasse, damit füttere ich die Affen. Die fressen alles, was man denen hinwirft.«

Während Stefanie pikiert dreinschaute, klärte ich ihn auf: »Das ist für uns, Paul, nicht für die Affen. Außerdem gibt es dort, wo wir hinfahren, keine Affen.«

»Wir fahren nicht in den Zoo?« Er stampfte mit seinem Fuß auf. »Dann bleib ich daheim. Herr Ackermann will mir zeigen, wie man eine Tomatenschleuder baut.«

Der Name Ackermann sorgte für zusätzliche Pein. Solche Nachbarn, wie wir sie hatten, waren einmalig. Da kann mir erzählen, wer will: Schlimmer als Ackermanns ging es nicht. Frau Ackermann war eine akustische Extremsportlerin, und ihr Mann versuchte ständig, meinem Sohn angeblich harmlose Streiche beizubringen. Immer wenn auf unserer Dienststelle außergewöhnliche und unerklärliche Dinge gemeldet wurden, kontrollierten ein paar Beamte der Schutzpolizei sofort das Alibi von Herrn Ackermann. In fast allen bisherigen Fällen führte das zu einem schnellen Fahndungserfolg. Bisher gelang es mir erfreulicherweise immer, die Rolle Pauls aus der Akte wegen Geringfügigkeit zu tilgen.

»Du gehst mit!« Stefanies Stimme überschlug sich fast.

Bevor meine liebe Frau noch ungehaltener wurde, stellte ich, nicht ohne Hintergedanken, weitere Befreiungsversuche ein. Jetzt galt es, den Einsatz des Doppel-Jokers abzuwarten. Zielsicher hatte dieser in den letzten Wochen sämtliche Termine unserer Familie heftig durcheinandergewirbelt. Selbst ein klitzekleiner Besuch beim Discounter mutierte zur Tagesaufgabe. Lisa und Lars verstanden es, zwei Erwachsene 24 Stunden am Tag auf Trab zu halten, von der Nacht ganz zu schweigen.

Heute versagte der Twin-Joker aus unbekannten Gründen. Beide lagen friedlich schlafend in ihren Babykörbchen und dachten nicht daran, neue Lautstärkerekorde und anderes zu brechen. Auch ein, natürlich nur zufälliges, Anrempeln an Lars’ Körbchen weckte ihn nicht auf.

Eine Viertelstunde später saß die komplette Familie Palzki im Wagen und fuhr in Richtung Landau.

»Papa«, rief Melanie, die eine Broschüre in der Hand hielt, aus dem Fond nach vorn. »Ist das wirklich so groß? Kann man da mit dem Auto durchfahren?«

Stefanie beugte sich nach hinten und antwortete an meiner statt. »Eine Landesgartenschau ist etwas ganz Besonderes. Da wird gezeigt, was die Pflanzenwelt zu bieten hat. Ich hoffe, dass wir ein paar Anregungen für unseren eigenen Garten entdecken. Der ist ja nicht gerade ein Highlight in unserem Neubaugebiet.« Schelmisch grinste sie mich an.

»Beton bekommt man in jedem Baumarkt«, antwortete ich. Die Retourkutsche hatte sie sich verdient.

»Ich weiß, du würdest am liebsten den kompletten Garten zubetonieren.«

Ich nickte. »Aber mit einem Gefälle zur Straße hin. Pflegeleichter geht’s wirklich nicht. Ich denke halt bereits ans Alter, wenn wir nicht mehr so beweglich sind.«

Frauen können ganz schön gemein sein. Erneut starrte sie mir auf die Taille.

Während ich nach einer fast ereignislosen Fahrt einen Parkplatz ansteuerte, versuchte ich ein paar Weichen für den weiteren Verlauf des Tages zu stellen. »Denkt daran, dass wir gleich am Eingang einen Bildband über die Landesgartenschau kaufen. Falls sich von uns jemand rein zufällig den Knöchel verknackst und wir wieder heimfahren müssen, können wir uns das Zeug, äh, die Ausstellung von der Couch aus betrachten.«

Stefanie kommentierte meinen Vorschlag nicht. Nach dem Aussteigen drückte sie mir die gefühlt zentnerschwere Tasche mit den Broten und dem Tee in die Hand. »Zeig mal, dass du ein richtiger Kerl bist!«

Mit letztem Resthumor entgegnete ich: »Was? Hier vor den Kindern?« Ich stellte die Tasche wieder in den Kofferraum. »Auf dem Gelände gibt es bestimmt Verpflegungsstationen und Cafés. Da müssen wir das Affenfutter wirklich nicht mitschleppen.«

»Oh doch!« Damit war das letzte Wort gesprochen. Jeder Mann weiß, wann dies der Fall ist und man die Klappe halten muss.

Nachdem ich die Eintrittskarten gekauft hatte, ging der Ärger los.

»Da gibt’s Pommes«, schrie Paul und zeigte nach rechts.

»Ich will da hin«, rief Melanie und zeigte nach links zu dem Pavillon eines Radiosenders.

Während Stefanie mit dem Zwillingskinderwagen ratlos dastand, schleppte ich mich mit der Tasche zu einer Sitzbank. »Das sind doch lauter tolle Ideen«, sagte ich mit meinem ersten zaghaften Lächeln an diesem Tag. »Paul und Melanie haben einen Plan und du kannst dir mit Lisa und Lars das Grünzeug anschauen. In zwei Stunden treffen wir uns alle wieder hier bei mir an der Bank.«

Stefanie zeigte sich von meinem Einfallsreichtum wenig beeindruckt. »Wir sind eine Familie. Und deshalb gehen wir gemeinsam über die Gartenschau.« Sie öffnete einen Faltplan des Geländes, auf dem sie zu Hause unüberschaubar viele Kreuze eingezeichnet hatte.

In die Opferrolle gedrängt, gaben wir nach und folgten unserer Führerin. Die Gurte der Tasche schnitten erbarmungslos in die Schultern. Das Zeug zu essen, um das Gewicht zu verringern, war keine brauchbare Alternative.

Melanie wagte einen erneuten Anlauf: »Können wir eine Pause machen, Mama? Meine Füße tun schon ganz arg weh, so weit, wie wir gelaufen sind.« Ich nickte ihr heimlich zu, das Argument wollte ich gerade selbst vortragen.

Stefanie war mit ihrer Geduld am Ende. »Jetzt reißt euch endlich mal zusammen.« Sie zeigte auf das Kassenhäuschen. »Wir sind bisher höchstens 50 Meter gelaufen.«

Schicksalsergeben trotteten wir als Kleingruppe durch das Gelände. Es war verrückt, was sich Mutter Natur alles hat einfallen lassen. Mein Vokabular beschränkte sich diesbezüglich auf das Nötigste: Baum, Busch, Blume, Gras, Unkraut. Mit diesen fünf Wörtern konnte man die Pflanzenwelt genügend detailliert beschreiben. Wozu sollte ich mich mit dem Unterschied zwischen einer Fichte und einer Tanne befassen? Es gab Bäume mit Blättern und welche mit Nadeln, basta.

Auf dem Gelände gab es unzählige Variationen, und mehr als einmal war ich mir unsicher, zu welcher meiner fünf Gattungen das Gesehene wohl zählte. Eben liefen wir noch durch eine Blumenhalle, kurz danach sah es aus wie auf dem Obst- und Gemüsemarkt. Und zwischendurch immer wieder Blumen. Blumen in allen Größen und Farben, mal als Bild angeordnet und mal als farbengeschwängerte Wiese. Stefanie fotografierte wie wild und machte sich eifrig in ihrem mitgebrachten Heft Notizen. Paul musste ich ständig zurückpfeifen, weil er ohne Rücksicht auf Verluste querfeldein gehen wollte. Melanie war pflegeleichter, sie hatte lediglich ihr typisches Pubertätsgesicht und einen Kopfhörer aufgezogen.

»Da müssen wir unbedingt hin.« Meine Frau hatte eine neue Sehenswürdigkeit entdeckt und zeigte auf irgendetwas Großes, das entfernt nach einem Tabakfeld aussah. Da ihr Ziel in Sichtweite lag und sich direkt neben mir eine Sitzbank befand, beschloss ich, eine kleine Pause einzulegen. »Ich komme gleich nach«, rief ich meiner Familie hinterher und setzte mit einem erleichterten Seufzer die Tasche ab.

So gut es ging, versuchte ich Hunger und Durst im Zaum zu halten. Mein Sitzplatz befand sich am Rand eines Beetes, das farbenintensiver nicht hätte sein können. Die farbliche Vielfalt hielt sich hingegen in engen Grenzen: Alles war ausgeprägt rot. Waren es Blumen oder Büsche? Ich vermutete eine Kreuzung zwischen beiden. Das Rot war so knallig, dass sämtliche Besucher, die an diesem Beet vorbeikamen, ihre Augen nicht abwenden konnten. Ich dagegen schon, das Zeug befand sich schließlich hinter meinem Rücken.

Ich genoss die Ruhe und schloss meine Augen bis auf einen kleinen Spalt. Jetzt ein kaltes Weizenbier und ein kleiner bis mittelgroßer nichtvegetarischer Imbiss, das wär’s. Und zum Abschluss ein Taxi, das mich wieder heimfuhr. Die Realität sah anders aus, das wusste ich. Dennoch, von einer besseren Welt zu träumen war auch in Landau vermutlich legitim. Müdigkeit überfiel mich, ich war kurz davor, in einen erholsamen Schlaf zu sinken.

Die Explosion verhinderte dies.

Das Knallgeräusch und die Echos, die von den in der Nähe befindlichen Gebäuden zurückgeworfen wurden, schmerzten mir in den Ohren. Eine gigantische Staubwolke überflutete die direkte Umgebung. Kleinere Steinchen spritzten mir an den Hinterkopf, es regnete Pflanzenteile. Im Affekt ließ ich mich auf die Sitzfläche der Bank fallen. Das Zentrum der Explosion musste direkt hinter mir gelegen haben. Ich vernahm vielstimmige Schreie, die Schlimmes befürchten ließen. Was war geschehen? Ich wagte, über die Lehne der Bank zu schauen, doch das knallrote Beet lag in einer dichten Staubwolke.

Fassungslos standen einige Besucher auf dem Weg, nicht wenige schrien hysterisch um die Wette. Als geschulter Polizeibeamter war ich in der Lage, gefährliche und plötzlich auftretende Situationen schneller als Otto-Normal-Opfer zu bewerten. Da ich nicht wusste, was die Explosion ausgelöst hatte, konnte ich eine weitere nicht ausschließen.

Dennoch, ich musste reagieren. Ich war zwar nur ein Knallzeuge, vermutlich gab es aber Verletzte, die dringend auf Erste Hilfe angewiesen waren. Während ich vorsichtig aufstand, bekam ich einen Hustenanfall. Kein Wunder, bei der immensen Staubbelastung, die momentan herrschte. Nach einigen Sekunden der Orientierung konnte ich, zunächst schemenhaft, den Ort der Explosion erahnen. Etwa zehn Meter hinter meiner Sitzbank musste sich gegenüber dem lang gezogenen Beet eine weitere Bank befunden haben. Nur zwei Stummel streckten sich aus dem Bodenpflaster hervor, die Sitzgelegenheit selbst lag mehrere Meter entfernt im Blumenmeer. Ohne Rücksicht auf das gepflanzte Arrangement zu nehmen, eilte ich querfeldein zum Ort des Geschehens. Ein Mann lag auf dem Boden und schrie sich die Seele aus dem Leib. Zwei anscheinend unverletzte Frauen kümmerten sich um ihn. Wie ich wusste, wurden Verletzte, die laut schrien, von Sanitätern nicht mit erster Priorität versorgt. Zuerst kamen die dran, die keine Kraft mehr zum Schreien hatten. Und dies traf auf die zweite Person zu, die sich in unmittelbarer Nähe des Explosionsherdes aufgehalten haben musste. Der Mann schrie nicht, weil er keine Kraft mehr hatte, sondern weil er tot war. Alles andere war nach einer optischen Erstbeurteilung ausgeschlossen. Ich trat einen Meter näher und wurde dafür mit einer spontanen Magenentleerung belohnt, die sich wie eine Sturzflut in das rote Blumenmeer ergoss.

Einen verbeulten Blechhaufen, der neben ihm lag, konnte ich zunächst nicht zuordnen. Erst bei näherem Hinsehen erkannte ich in dem Metallschrott einen Schubkarren.

Aus der Ferne hörte ich Sirenen. Ich schaute mich um: Der Staub hatte sich weitgehend gelegt. Ein paar allzu neugierige Gaffer wollten gerade näherkommen, doch ich ging ihnen entgegen und versperrte den Weg.

»Polizei, bitte treten Sie zurück.« Blass nickten sie und ich ergänzte: »Bitte sorgen Sie dafür, dass niemand diesen Weg benutzt. Meine Kollegen werden gleich hier sein.«

Mangels mehrerer nicht tödlich Verletzter kümmerten sich die Sanitäter sofort um den Mann, der immer noch schreiend auf dem Boden lag. Einer wollte mich wegschicken, deswegen gab ich mich als Polizeibeamter zu erkennen. Weitere hinzukommende Sanitäter bat ich, den Platz zu sperren. Außerdem zeigte ich ihnen den Toten, der von der momentanen Perspektive etwas versteckt hinter dem ehemaligen Schubkarren lag. Ein schmächtiger Sanitäter mit einem ungepflegten Schnäuzer ging zu ihm und rief in meine Richtung: »Bei dem do kenne mer nix mehr mache. Der is hin.«

»Papa!« Ich blickte mich um und sah gegenüber dem Beet meine Familie bei der Verpflegungstasche stehen. Ich ging zu Ihnen, und bevor ich etwas sagen konnte, fiel mir Paul ins Wort: »Mich hast du vorhin angemotzt, weil ich eine Abkürzung durch die Pflanzen nehmen wollte. Jetzt machst du es selbst.«

Für ein pädagogisches Vater-Sohn Gespräch hatte ich momentan keine Nerven. Ich überhörte meinen Sohn und klärte Stefanie über das Geschehnis auf. »Am besten ist, ihr geht da vorn in das Café. Ich werde wohl noch eine Weile hier bleiben müssen, bis die Landauer Kollegen die Sache übernommen haben.«

Meine Frau nickte eingeschüchtert. »Stell dir mal vor, du hättest auf der gegenüberliegenden Bank gesessen.«

Stimmt, das hatte ich noch gar nicht bedacht. Es schüttelte mich und ich antwortete: »Da siehst du mal, wie gefährlich ein Besuch auf der Landesgartenschau sein kann. Sobald ich fertig bin, hole ich euch im Café ab und wir fahren heim. Sicher ist sicher.«

Ich wartete, bis meine Familie vor dem Café angekommen war, dann ging ich wieder zum Tatort zurück. Zum Glück passierte das im Einzugsgebiet der Landauer Polizei. Dieser Kelch ging an mir vorbei. Wie sehr ich mich täuschte, wusste ich bereits kurze Zeit später.

Kapitel 2: Dieffenbachia Klausis

Die ersten Beamten der hiesigen Polizei trafen ein. Auch ihnen stellte ich mich als Kollege vor, der die Explosion aus unmittelbarer Nähe erlebt hatte. Das erste Resümee ergab, dass es neben dem Toten und dem Verletzten keine weiteren Opfer zu beklagen gab, mit Ausnahme von ein paar Besuchern mit leichtem Schock. Schließlich traf die Spurensicherung ein und sperrte das Gelände großzügig ab. Nach einer vorläufigen Information der Parkleitung hatte man sich zunächst entschlossen, das Gelände nicht zu räumen, um keine Panik aufkommen zu lassen.

Ich konnte nichts Weiteres tun, als den Kollegen zuzuschauen, was für mich ungewohnt war. Alles schien daraufhin zu deuten, dass das Zentrum der Explosion in oder um den Schubkarren gelegen haben musste.

»Palzki! Was machen Sie hier? Sind Sie für das ganze Theater verantwortlich? Das hätte ich mir gleich denken können!«

Im ersten Moment hoffte ich, dass ich zu halluzinieren begann. Die Reibeisenstimme mit den beleidigenden Äußerungen hatte ich sofort erkannt: Sie gehörte zu KPD, wie wir unseren Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach nannten. Aber was machte dieser in Landau? Ich drehte mich um, und mir fiel der Kinnladen herunter. KPD stapfte in feinstem Zwirn auf mich zu. Das allein war noch nicht ungewöhnlich, für seine Kleidung gab er stets Unsummen aus. Hinzu kam, dass er wie ein Fasnachtsprinz aussah. KPD war über und über mit Orden behangen, und als er näherkam, sah ich, dass er geschminkt war. Außerdem umflutete ihn eine abartig riechende Parfümwolke.

In seiner Begleitung befanden sich mehrere wichtig aussehende Frauen und Männer. Handelte es sich um eine Hochzeitsgesellschaft? Rüde wurde ich in meinen Gedanken unterbrochen. KPD sprach eine neben ihm stehende Frau an und zeigte dabei auf mich.

»Frauke, das ist mein Untergebener Palzki. Ich hab dir schon von seinen ständigen Kapriolen erzählt. Überall, wo er auftaucht, gibt es Tote, und ich als guter Chef muss jedes Mal die Sache wieder ausbügeln. Das Leben könnte so einfach sein, wenn, ja wenn …«

»Jetzt lass doch deinen Mitarbeiter erst mal erzählen, Klaus«, unterbrach sie ihn. »Vielleicht war es ganz anders, als du vermutest.«

»Niemals!«, fiel ihr KPD ins Wort. »Palzki hat das nur gemacht, um mich zu ärgern. Er wusste garantiert, dass wir gerade die wichtigste Attraktion der Landesgartenschau einweihen wollten. Wenn es Schwierigkeiten gibt, ist immer Palzki daran schuld, das ist ein Naturgesetz. Wenn du willst, leihe ich ihn dir gern mal für ein paar Wochen, ach, was heißt Wochen, für ein paar Jahre aus.«

Auch wenn ich es gewohnt war, dass mein Chef wirr redete, ich verstand kein Wort. Was es wohl mit dieser Ausleihe auf sich hatte? Ich bin doch kein Buch.

Zwei Polizeibeamte kamen hinzu und sprachen KPDs Duzfreundin Frauke an.

»Frau Dr. Dammheim, nach dem ersten Überblick nehmen wir an, dass in einem Schubkarren eine Rohrbombe explodierte. Ein Besucher wurde getötet und ein Gärtner der Landesgartenschau verletzt. Es wird eine Weile dauern, bis wir konkretere Informationen für Sie haben.«

»Ein Toter?« KPDs Augen blitzten, Dammheim lächelte.

»Tja, mein lieber Klaus, vorhin haben wir über unsere mörderischen Statistiken gesprochen. Mit diesem Fall werden wir Landauer mit der Anzahl der Kapitalverbrechen an euch Schifferstadtern vorbeiziehen. Den Fall werden wir in Nullkommanichts gelöst haben.«

Während ich aus dem Gesagten schloss, dass vor mir die Landauer Kripochefin stand, fuchtelte KPD grobmotorisch mit den Händen, was wie immer sehr kurios aussah.

»Nichts da, Frauke. Das übernehmen wir Schifferstadter. Schließlich war mein Mitarbeiter Reiner Palzki vor deinen Beamten am Tatort. Palzki ist ein Spezialist für Ermittlungen im öffentlichen Sektor. Natürlich nur mit meiner Hilfe«, ergänzte er schnell.

Frau Dr. Dammheim überlegte einen Moment. »Grundsätzlich hätte dein Vorschlag durchaus seinen Charme, da viele meiner Beamten in Urlaub sind. Aber nein, das geht einfach nicht, schließlich sind wir in Landau und nicht in Schifferstadt. Außerdem wäre das schlecht für unsere Statistik. Wir wollen doch dieses Jahr den ausgelobten Preis des Innenministeriums bekommen. Du weißt, die Dienststelle mit den meisten aufgeklärten Todesfalldelikten erhält als Belohnung eine Wochenendreise nach Amsterdam inklusive Nackt-, äh, Nachtprogramm. Das werden sich meine Mitarbeiter nicht entgehen lassen wollen.«

KPD hatte gar nicht richtig hingehört. »Ich kenne sämtliche Ausnahmeparagrafen, Frauke. Wir haben sogar schon erfolgreich im ausländischen Baden-Württemberg ermittelt. Das haben wir als bundeslandübergreifendes Versuchsprojekt betitelt. Bei uns in der Pfalz ist es viel einfacher. Jede Dienststelle darf von dem Regionalitätsprinzip abweichen, wenn es für einen schnellen Fahndungserfolg wichtig erscheint. Und da Palzki ein wertvoller Zeuge ist, passt auch unsere Argumentationskette. Vielleicht hat er den Täter sogar gesehen und kann ihn heute noch festnehmen?«

»A, – ab, – aber«, stotterte die Landauer Kripochefin. »Was ist mit unserer Statistik?«

KPD fühlte sich als Sieger. Er klopfte seiner Freundin auf die Schulter. »Weißt du was? Den Fall teilen wir brüderlich auf. Wir 75% und ihr 25% für die Vorarbeit, die deine Mitarbeiter leisten. Morgen früh kommt Palzki zu euch und übernimmt die Akte, abgemacht?«

Ich stand sprachlos daneben und glaubte, nicht richtig zu hören. Bisher dachte ich, KPD wäre der einzige Chef, zumindest bei der pfälzischen Polizei, der nicht alle Tassen im Schrank hatte. Was ich hier geboten bekam, belehrte mich eines Besseren. Solch ein Geschachere war der gemeine Bürger durchaus von Politikern gewohnt. Dass es dies auch im Polizeiwesen gab, war mir zumindest außerhalb unserer Dienststelle neu.

KPD blickte zur Uhr. »So, jetzt haben wir genug Zeit vertrödelt. Lassen wir uns endlich zur Einweihung schreiten.«

Während er sich gemeinsam mit Frauke und den anderen Personen aus seiner Gruppe herumdrehte, sagte er zu mir: »Herr Palzki, bleiben Sie noch eine Weile hier. Morgen früh übernehmen Sie dann die Akte bei Frau Dr. Dammheim. Und jetzt bitte keine Störungen mehr.«

Nach ein paar Schritten blieb er zögernd stehen, drehte sich um und kam noch einmal zu mir zurück. »Herr Palzki«, flüsterte er, »Sie müssen unbedingt den Fall lösen. Selbstverständlich bekommen Sie ab morgen von mir Unterstützung, sonst würde das ja nicht funktionieren. Denken Sie an Amsterdam!«

Sekunden später war KPD verschwunden. Ich wusste es bereits heute Morgen, dass dies einer der schlimmsten Tage meines Lebens werden würde. Ich war ein Gefangener meiner selbst. Gefangen zwischen den Ansprüchen und Plänen meiner Familie und meines Jobs als Kriminalhauptkommissar.

Um mich etwas wichtig zu machen, versuchte ich, Hintergrundinformationen bei einem der Spurenermittler abzugreifen, der sich gerade das Umfeld des Toten besah.

»Haben Sie bereits erste Erkenntnisse?«

Mit mürrischem Blick schaute er zu mir hoch, legte eine kleine Denkpause ein und motzte: »Er ist tot, reicht Ihnen das?«

»Um das festzustellen, hätte ein Praktikant gereicht«, erwiderte ich angesäuert. Leute wie ihn musste man hart anpacken, sonst wurden sie überheblich.

Er glotzte mich mit einer gigantischen Maulsperre an. »Haben Sie Glück, dass Sie kein Kollege aus Landau sind«, sagte er schließlich. »Bei uns herrschen Zucht und Ordnung. Eskapaden wie an anderen Dienststellen gibt es bei uns nicht. Und jetzt halten Sie sich bitte im Hintergrund, wir haben zu tun. Sie sind schließlich nur ein kleiner, wahrscheinlich unbedeutender Zeuge.«

Fast wäre ich versucht gewesen, ihn darüber aufzuklären, dass ich seit wenigen Minuten der leitende Beamte war, doch ich verkniff es mir. Eine persönliche Eskalation wollte ich mir heute nicht auch noch antun. Ich ließ ihn auf dem Boden sitzen und bemerkte, wie ein Krankenwagen mit Sondersignal davonfuhr. Ich sprach einen der verbliebenen Sanitäter an. Es war der Schnauzbartträger, der als Erster am Tatort angekommen war.

»Ist der Gärtner schwer verletzt?«

Er zeigte auf den wegfahrenden Krankenwagen. »Dem do drin is fascht nix passiert. Ä bissel Blut hot er verlore und ähn Finger, morje kann der widder schaffe gehe. Es is ähn Gärtnermeschter vun dem Gelände do.«

Dieser Punkt war also geklärt. Warum er eine Rohrbombe in seinem Schubkarren spazieren fuhr und wer der Tote war, interessierte mich mindestens ebenso.

»Sind Sie Herr Palzki?«

Der sportliche 40-Jährige wirkte auf mich übernervös. In der Hand hielt er ein Handy.

Ich nickte ihm zu und wartete ab.

»Mein Name ist Hubertus Floralis«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich bin der Geschäftsführer der Betriebsgesellschaft der Landesgartenschau. Frau Dr. Dammheim hat mir eben telefonisch mitgeteilt, dass Sie die Ermittlungen leiten.« Ihm fiel noch etwas ein. »Bitte entschuldigen Sie mein Äußeres. Ich habe heute meinen freien Tag und bin erst vor wenigen Minuten alarmiert worden.«

Ich schaute ihn kurz an. Er war unrasiert, was ich nicht weiter schlimm fand. Vor mir stand also der Geschäftsführer. Klar, dass er nervös war. Die Auswirkungen auf die Schau und die Besucherzahlen waren im Moment nicht abzuschätzen. Doch ich hatte den Eindruck, als trüge er noch mindestens ein weiteres Problem mit sich herum.

»Ich kann Ihnen leider nicht viel über die Sache berichten«, begann ich. »Ein Mitarbeiter von Ihnen wurde verletzt.«

»Ja, ja, der Karl«, fiel er mir ins Wort. »Ein sehr fähiger Gärtnermeister. Befand sich die Bombe wirklich in seinem Schubkarren?«

»Soweit wir bisher wissen. Aber schauen Sie selbst, was von dem Schubkarren übrig geblieben ist.«

Die Leiche war inzwischen zugedeckt worden. Dennoch schüttelte es den Geschäftsführer beim Anblick des Szenarios. »Wissen Sie, wer der Tote ist?«, fragte er vorsichtig.

»Vermutlich ein Besucher, er trug zumindest keine Arbeitskleidung.«

Floralis gab sich damit nicht zufrieden. »Nur die wenigsten Mitarbeiter tragen während der Öffnungszeiten auf dem Gelände einen Blaumann.« Er wand sich. »Es ist nämlich so …«

»Ja?«, fragte ich neugierig.

»Ich kann meinen Pressebeauftragten nicht erreichen. Er muss aber hier sein.« Als intensiv geschulter Beamter bemerkte ich das verstärkte Zittern.

»Wollen Sie mal schauen? Es ist allerdings kein schöner Anblick.«

Er überlegte einen Moment. »Vielleicht kann ich Ihnen damit helfen. Ich hoffe, dass er es nicht ist.«

Wir gingen zu dem Leintuch, und ich hob es kurz an. Floralis wurde bleich und übergab sich in das rote Beet. Da war er nicht der Erste.

Ich reichte ihm ein Päckchen Taschentücher, die man als Erwachsener stets dabei hatte, wenn man mit Kindern unterwegs war. Ich gab ihm zwei Minuten zum physischen und psychischen Erholen.

»Meine Güte«, meinte er schließlich. »Wer macht denn so etwas?« Er schaute mich an. »Ich kenne den Toten nicht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es kein Mitarbeiter von uns.«

Einen Versuch war es wert, dachte ich mir. Trotzdem, irgendetwas stimmte mit diesem Floralis nicht. Leider war meine Datengrundlage noch zu dünn.

»Sollen wir das Gelände für heute schließen?«, weckte mich der Geschäftsführer aus meinen Gedanken. »Ich würde das nur sehr ungern tun.«

Da ich wusste, wie gern mit übertriebenen Maßnahmen auf Kleinigkeiten reagiert wurde – ich dachte an die Räumung der Rheingalerie im letzten Jahr, nur weil jemand seine Einkaufstasche in einem Café vergessen hatte – winkte ich ab. »Ich denke, darauf können wir verzichten. Auf jeden Fall sollten wir die anderen Schubkarren auf dem Gelände untersuchen und den Ort, wo sie beladen werden, beziehungsweise untergestellt sind.«

Meinen guten Einfall setzte ich gleich in die Tat um und beauftragte einen herumlaufenden Polizisten.

»Das wäre noch schöner, wenn die Zeugen anfingen, uns Beamte herumzukommandieren.«

Ich zückte meinen Ausweis, gab ihm den Hinweis, seine Chefin anzurufen und stellte mich als Verantwortlicher vor. »Und jetzt lassen Sie sich bitte von Herrn Floralis die Stelle zeigen, wo die Schubkarren stehen. Auch bei uns in Schifferstadt herrschen Zucht und Ordnung.«

Da er darauf nichts erwiderte, vermutete ich einen neuen und unerfahrenen Kollegen, der bisher nichts von dem Chaos in Schifferstadt mitbekommen hatte, das die Spatzen längst von den Dächern pfiffen.

Bevor Herr Floralis mit dem Polizisten verschwinden konnte, bat ich ihn um eine weitere Information. »Wären Sie so nett, uns die Personalakte von diesem Karl …«

»Käfer«, unterbrach mich der Geschäftsführer. »Karl Käfer.«

»… zu geben. Wir müssen in alle Richtungen ermitteln.«

Ich sah eine Weile den Beamten bei ihrer Arbeit zu. Dass sich daraus große Erkenntnisse gewinnen lassen sollten, davon ging ich nicht aus. Die wichtigste Frage lief darauf hinaus, wie die Bombe in den Schubkarren kam. Und wer sie dort deponiert hatte. Und warum sie gerade an dieser Stelle auslöste. Und ob der Getötete ein Zufallsopfer war. Ich bemerkte, dass es doch mehr als eine Frage war, die es zu beantworten galt.

Bereits nach wenigen Minuten kam Hubertus Floralis zurück. »Ich habe dem Beamten alles gezeigt. Auf den ersten Blick konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen.«

»Die Landauer Kollegen werden das im Detail überprüfen«, klärte ich ihn auf. »Ein Sprengstoffsuchhund dürfte ebenfalls unterwegs sein.«

Floralis druckste herum. »Herr Palzki, eben hat mich Frau Dr. Dammheim aus der Ferne entdeckt und mir zugewinkt. Eigentlich habe ich mir heute freigenommen, damit ich mir das nicht antun muss. Jetzt ist es aber so, dass ich kraft meines Amtes verpflichtet bin, an dieser blöden Sache teilzunehmen. Haben Sie noch Fragen an mich? Gern stehe ich Ihnen selbstverständlich morgen wieder zur Verfügung.«

Auch wenn es nichts mit der Explosion zu tun hatte, war ich mehr als neugierig. Zumal KPD in der Sache mit drinzuhängen schien.

»Wissen Sie was? Ich begleite Sie. Dann kann ich noch ein paar persönliche Worte mit Dr. Dammheim wechseln, die für die Ermittlungen wichtig sind. Eigenarten der hiesigen Bevölkerung und so weiter.«

Während wir einem Ziel zustrebten, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte, was mich dort erwartete, erzählte der Geschäftsführer.

»Es gibt immer ein paar wichtige Personen, meist sind es Personen, die nur denken, dass sie wichtig sind, die durch ihre Beziehungen immer etwas mehr hofiert werden als das normalsterbliche Volk. Ich kann dies auf den Tod nicht ausstehen, daher habe ich mir für heute freigenommen. Diese Typen gehen immer davon aus, dass sie mit ihren Ideen in den Geschichtsbüchern landen, dabei sind es meist kleine, unbedeutende Dinge, die niemanden interessieren.«

Aufmerksam hörte ich zu.

»Das übliche Portfolio kennen wir ja: Für 100 Euro einen Doktortitel honoris causa kaufen, für noch weniger Geld einen Quadratmeter Gelände auf dem Mond oder einen der 100 Milliarden Sterne in unserer Milchstraße, der nach einem persönlich benannt wird. Fürs eigene Ego findet man immer etwas, das wenig Geld kostet und man als Urkunde ins Wohnzimmer über die Couch hängen kann. Obwohl man außer der Zahlung einer Gebühr keinerlei Leistung erbringt und schon zehnmal keine, die die Menschheit weiterbringt.«

»Und was hat das mit der Landesgartenschau zu tun?«

Floralis lachte. »Herr Palzki, Sie wissen wahrscheinlich, wie viele verschiedene Pflanzenarten es gibt. So ungefähr, wenigstens.«

Ich nickte, ohne rot zu werden.

»Von vielen Pflanzen werden ständig neue Kreuzungen gezüchtet. Ein Mekka für alle, die auf der Suche nach etwas Besonderem sind. Und heute ist es besonders schlimm. Ein Bekannter der hiesigen Chefin der Kriminalpolizei, Sie hatten bereits das Vergnügen mit Dr. Dammheim, weiht heute eine neue Pflanzensorte ein, die nach ihm benannt wird.«

»KPD?«, rutschte mir heraus.

Floralis schaute mich verdattert an und schüttelte den Kopf. »Keine Parteienwerbung, Herr Palzki. Das machen wir grundsätzlich nicht. Es geht um die Selbstbeweihräucherung einer einzelnen Person. Hier sehen Sie, wir sind da.«

Wir hatten KPD, seine Landauer Kollegin und den Rest der gestylten Gesellschaft erreicht. Mit Sektkelchen in den Händen blickten sie mit glasigen Augen auf ein Beet mit grünen Pflanzen, die ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen würde. Die lang gezogenen Blätter erinnerten mich vage an die Ungeheuerpflanze, die ich zu Ostern im Speyerer Peregrinus Verlag bei den Ermittlungen im Dom kennengelernt hatte.

KPD bemerkte mich. Er machte auf mich den Eindruck, als ob er nicht das erste Glas Sekt in der Hand hielt. Hoffentlich bot er mir in seinem Delirium nicht das ›Du‹ an.

»Hohoho, Herr Palzki«, begann mein Vorgesetzter mit alkoholgeschwängerter und überlauter Stimme. »Haben Sie die Lage endlich im Griff? Keine weiteren Explosionen? Schauen Sie, was halten Sie davon?« Stolz drückte er seinen Brustkorb nach vorn und zeigte auf das Grünzeug. »Spektakulär, oder?«

»Kein Problem, Herr Diefenbach«, erwiderte ich. »Mit einem Sitzrasenmäher hat man das Unkraut in zehn Minuten beseitigt. Es ist wirklich ein toller Standort für einen zusätzlichen Kinderspielplatz. Wird auch eine Wippe aufgestellt?«

KPD und Frauke Dammheim glaubten, sich verhört zu haben. Allerdings schien der Alkohol ihre Reaktionsfähigkeit gedämpft zu haben. Der Geschäftsführer Floralis verkniff sich ein Lachen. Helfend sprang er mir zur Seite. Ob er sich inzwischen zusammengereimt hatte, dass KPD mein Vorgesetzter war?

»Herr Palzki, bei dieser wunderbaren und einmaligen Staude handelt es sich um eine neue Züchtung, die zu Ehren von Herrn Diefenbach auf den Namen Dieffenbachia Klausis getauft wurde. Nicht jeder Voll-, äh, volksnahe Beamte kommt zu der Ehre, dass eine Pflanze nach ihm benannt wird.«

KPD strahlte wie die Schauspieler in den 70er Jahren in in der Strahler-70-Zahnpastawerbung der Firma Blendax.

»Da staunen Sie, Palzki, was?« Jetzt fing mein Chef auch noch an zu sabbern.

Ohne darauf zu antworten, griff ich mir das einzige mit gekochtem Schinken belegte Brötchen, das ich auf dem obligatorischen Buffet entdeckte. Hier lag so viel Zeug, damit konnte man sämtliche Besucher der Gartenschau beköstigen. Hungrig, wie ich war, biss ich ab und nickte. Mit dieser Geste gab sich KPD zufrieden. Hätte ich stattdessen verbal geantwortet, wäre es mit Sicherheit zum Eklat gekommen. Manchmal muss man sich halt beherrschen können. Zum Glück besaß ich stets eine Überdosis an Taktgefühl.

Erst jetzt sah ich, dass neben den Brötchenbergen eine Salattheke aufgebaut war. Grundsätzlich war ich Salat nicht abgeneigt. Insbesondere dann, wenn schmackhafte Speckstücke oder Wurstscheiben den Hauptanteil des Salates ausmachten. Hier schien es nur die vegetarischen Varianten zu geben. Wie sollte so etwas schmecken? Angewidert musste ich mich schütteln, als die Landauer Kripochefin mit einem Teller voller Rote Bete auf mich zukam.

»Das sollten Sie auch mal probieren, Herr Palzki«, sprach sie mich an. »Rote Bete fördert die Durchblutung und regt den Kreislauf an. Ideal für Männer in Ihrem Alter.«

»Ich bin genug durchblutet«, antwortete ich. Bevor ich noch mehr in diese dubiose Gesellschaft rund um KPD integriert wurde und vielleicht sogar Visitenkärtchen austauschen musste, leitete ich den Rückzug ein. Ich blickte überdeutlich auf meine Uhr. »Frau Dr. Dammheim, Sie haben es ja mitbekommen, dass ich mit meiner Familie hier bin. Unsere Zwillinge sind erst ein paar Wochen alt, daher muss ich jetzt leider nach Hause. Sie verstehen das, oder?«

Mir war es egal, ob sie es verstand. Sie ging darauf ein.

»Selbstverständlich, Herr Palzki, fahren Sie nur. Meine Mitarbeiter sind Profis. Zudem herrschen bei uns Zucht und Ordnung, Frauen sind eben die besseren Chefs. Schon immer gewesen. Kommen Sie morgen früh, aber bitte nicht zu zeitig, zu mir ins Büro. Dann übergebe ich Ihnen die Akten.«

Ich dankte ihr und verabschiedete mich. Bei KPD ersparte ich mir diese Prozedur, zumal er gerade in seinem nach ihm benannten Grünzeug kniete und es ausgiebig beroch. Na ja, jeder nach seiner Fasson.

Zu guter Letzt ging ich zu dem Geschäftsführer der Landesgartenschau, der sich angeregt mit einem jüngeren Mann unterhielt, dessen Haare taillenlang seinen Rücken bedeckten.

»Herr Palzki, darf ich Ihnen Johannes Ente vorstellen? Er ist der Pressebeauftragte, den ich vorhin gesucht habe.«

Ente schüttelte mir die Hand. »Ich hatte wegen einer wichtigen Besprechung mein Smartphone ausgeschaltet«, erklärte er. »Hubertus hat mir von Opfern erzählt. Sobald ich mich hier loseisen kann, werde ich eine Pressemeldung verschicken. Weiß man schon, wer der tote Besucher ist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es hat sich bisher niemand gemeldet, der ihn vermisst. Vermutlich ist er allein gekommen.«

»Hatte er keine Papiere bei sich?« Ente war ziemlich neugierig.

»Selbst wenn er welche dabei hatte, ist davon vermutlich nichts mehr übrig geblieben. Die Spurensicherung ist allerdings längst nicht fertig mit der Arbeit.«

Es gelang mir, mich nach weiteren drei oder vier Fragen zu verabschieden. Nach meiner vorläufigen Tagesplanung für morgen würde ich nach dem Besuch bei der hiesigen Kripochefin sowieso zu Floralis fahren müssen.

Ich ging zum Tatort zurück und erfuhr, dass es keine wesentlichen Neuigkeiten gab. Gefundene Metallreste verifizierten halbwegs den Anfangsverdacht, dass es sich um eine Rohrbombe gehandelt hatte.

Eine Verabschiedung hielt ich für überflüssig. Ich ging zum wiederholten Mal durch das rote Pflanzenbeet, schnappte mir die Verpflegungstasche und ignorierte trotz Hunger und Durst den Inhalt.

Meine Familie war leicht zu finden. Auf halbem Weg kam Paul angerannt und sprang an mir hoch, was wegen der schweren Tasche für mich äußerst problematisch war. Ich tarierte gerade noch rechtzeitig mein Gleichgewicht aus.

»Papa, sag schon, hast du den Mörder gefangen?«

»Welchen Mörder?«, fragte ich harmlos zurück.

»Da gab es doch 100 Tote, erzählt jeder im Café.«

Ich nahm Paul in den Arm. »Man soll nicht alles glauben, was die Leute erzählen. Zeig mir, wo Mama sitzt.«

Stefanie merkte man die Nervosität an. Am liebsten hätte sie mir 1000 Fragen auf einmal gestellt. Wegen der Kinder hielt sie sich zurück.

»Alles klar?«, fragte sie unsicher.

Ich nickte und wuchtete die schwere Tasche auf den Tisch. »Alles okay. Ich hol mir schnell an der Theke was zu essen und dann fahren wir heim.«

Ohne einen Verweis auf die Tasche ließ mich meine Frau gewähren. Anhand der leeren Pommesschalen und Limoflaschen auf dem Tisch hatte ich längst erkannt, was meine Familie in der Zwischenzeit gegessen und getrunken hatte. Meinen Kindern war es garantiert recht gewesen, dass die Provianttasche bei mir geblieben war.

»Bring uns noch ein paar Buddeln Cola mit«, rief mir Melanie nach.

»Du hast genug Limo getrunken«, schalt sie Stefanie.

Angesicht des schweren Tages belohnte ich Paul und Melanie unter dem kritischen Blick ihrer Mutter mit einer Cola. »Heute machen wir mal eine Ausnahme«, erklärte ich die Situation, schließlich hatte ich mir selbst eine Flasche mitgebracht. »Hat mit den Zwillingen alles geklappt?« Ich schaute in den Kinderwagen. Lisa und Lars schlummerten selig vor sich hin.

»Die pennen keine fünf Minuten, Papa«, klärte mich Paul auf. »Warum müssen Babys eigentlich so viel schreien? Das habe ich doch früher auch nicht gemacht.«

Halbwegs gesättigt traten wir den Heimweg an. Was für ein Tag lag hinter uns, obwohl es erst Nachmittag war! Eine weitere Herausforderung, von der ich im Moment nichts ahnte, lag noch vor mir.

Kapitel 3: Start in die Arbeitswoche

Ich weiß nicht, ob ich es bereits erwähnt habe: Unsere Nachbarn, die Ackermanns, sind keine normalen Leute, also so wie Sie und ich, sondern sehr speziell, um es mal vorsichtig auszudrücken. Herr Ackermann, Frührentner von Beruf, ist dabei noch der harmlosere Part. Wenn er nicht in seinem Bett schläft, ruht er sich im Wohnzimmer auf der Couch aus. Nur selten kommt er in die Vertikale. Meist dann, wenn seine Frau ihn um eine Gefälligkeit bittet. Dann steht er allerdings nicht auf, um diese Gefälligkeit zu erledigen, sondern um ihr aus dem Weg zu gehen. Aus dem Weg gehen, das sind überhaupt die Schlüsselworte, die zu seiner Frau passen. Frau Ackermann hat nur eine einzige Angewohnheit. Diese reicht, um als Außenstehender an Suizid zu denken, wenn man ihr ausgesetzt ist. Unsere Nachbarin redet. Ziemlich viel. Nun ja, könnte jetzt der eine oder die andere meinen: Mein Onkel Herbert oder Tante Christine, die reden auch viel, wenn der Tag lang ist. Bei Frau Ackermann ist es anders. Sie redet auch, wenn der Tag kurz ist. Sie redet immer, und zwar ohne einen erkennbaren Punkt zu setzen. Und das in einer Geschwindigkeit, nach der man die Zeit definieren könnte. Ich weiß, das muss ich erklären. In einem schlauen Buch habe ich gelesen, dass die Sekunde definiert ist als das 9.192.631.770-fache der Periodendauer eines Cäsium-Nuklids. Ich bin mir sicher, dass Frau Ackermanns Stimmbänder in der gleichen Frequenz vibrieren, wenn sie spricht. Der Effekt für jeden hörenden Menschen ist, dass man nur jedes dritte oder vierte Wort, das die Wortschleuder von sich wirft, halbwegs verstehen kann.