Ernteopfer - Harald Schneider - E-Book

Ernteopfer E-Book

Harald Schneider

4,4

Beschreibung

Erntezeit im vorderpfälzischen Obst- und Gemüseanbau. Hauptkommissar Reiner Palzkis Träume von einem erholsamen Wochenende mit seinen Kindern zerplatzen jäh, als ein polnischer Erntehelfer mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden wird. Die Spur führt in den Gemüsegroßmarkt "S. R. Siegfried" in Limburgerhof. Während Palzki den undurchsichtigen Inhaber in die Mangel nimmt, wird ein zweiter Toter im Wildschweingehege des Rheingönheimer Tierparks entdeckt. Langsam dämmert dem Kommissar, dass er einem Verbrechen auf der Spur ist, gegen das die dubiosen Machenschaften der Gemüsebranche Kavaliersdelikte sind.

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Harald Schneider

Ernteopfer

KRIMINALROMAN

Zum Buch

TATORT VORDERPFALZ Erntezeit im vorderpfälzischen Obst- und Gemüseanbau. Der Schifferstädter Hauptkommissar Reiner Palzki freut sich auf ein erholsames Wochenende mit seinen Kindern, doch seine Träume zerplatzen jäh, als ein polnischer Erntehelfer mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden wird. Die Spur führt in den Gemüsegroßmarkt »S. R. Siegfried« in Limburgerhof. Während Palzki den undurchsichtigen Inhaber in die Mangel nimmt, wird ein zweiter Toter im Wildschweingehege des Rheingönheimer Tierparks entdeckt. Langsam dämmert dem Kommissar, dass er einem Verbrechen auf der Spur ist, gegen das die dubiosen Machenschaften der Gemüsebranche Kavaliersdelikte sind …

 

Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 23. Fall »Rheingewinn«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.

 

Alle bisherigen Veröffentlichungen von Harald Schneider im Gmeiner-Verlag finden Sie auf unserer Homepage: www.gmeiner-verlag.de.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Kurt Michel / PIXELIO

ISBN 978-3-8392-3074-9

Widmung

Für meine Frau Bianca

Anhang

Hinweis an den geneigten Leser

Glossar – Personen

Glossar – Orte

1. Kapitel

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Ich klappte die leicht vergilbte Sonnenblende meines Dienstwagens nach unten, schaltete das Frischluftgebläse eine Stufe höher und fühlte mich eigentlich recht zufrieden.

Die obligatorische Sommerhitzewelle würde erst in ein paar Wochen die Ebene zwischen dem linksrheinischen Pfälzer Wald und dem rechtsrheinischen Odenwald zum Brutnest aufkochen und die Ozonwerte in die Höhe schnellen lassen. Der meteorologische Sommeranfang lag erst ein paar Tage zurück und die Temperaturen waren rund um die Uhr erstaunlich gut auszuhalten.

Das einzige Ärgernis waren mal wieder die vielrädrigen Blechkolosse, die den rechten Fahrstreifen der vierspurig ausgebauten B 9 zwischen Speyer und Ludwigshafen im Dauerabonnement blockierten. Unter Spediteuren und Kraftfahrern hatte es sich längst herumgesprochen, dass man hier ein gutes Stück der A 61 mautfrei umfahren konnte. Die in der Presse veröffentlichten Zählstatistiken des Lkw-Verkehrs vor und nach der Mauteinführung ergaben zwar keine signifikante Erhöhung des Lastwagenverkehrs, die gefühlte Mehrbelastung sprach aber eine andere Sprache. Auch meine Kollegen von der Kriminaldirektion pflichteten mir bei. Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.

Ich fühlte, dass an diesem schönen Tag noch irgendetwas passieren würde.

Und schon meldete sich das Funkgerät durch ein leichtes Schnattern. Im gleichen Moment leuchtete die rote Empfangsdiode.

»Palzki«, meldete ich mich kurz und bündig.

»Du kannst dir deinen Ausflug nach Ludwigshafen abschminken. Dreh bitte schnellstmöglich um. Wir brauchen dich.«

Ich hatte Peter Kleiner erkannt. Damit fing es immer an. Und natürlich war wieder Freitag, und natürlich bedeutete das wieder Wochenendarbeit.

»Was gibt es so Wichtiges, Peter? Hat mal wieder ein Kollege den Colaautomaten mit einem Stück Draht blockiert und der Kasten hat dir eine Diätlimonade spendiert?«

»Du weißt doch ganz genau, dass du vorhin die letzte beschissene Diätlimonade abbekommen hast«, lästerte mein Kollege und wurde gleich wieder dienstlich. »Außerdem wirst du erwartet. Vor ein paar Minuten wurde uns ein Toter gemeldet, wahrscheinlich Fremdeinwirkung. Der Notarzt ist schon eingetroffen und die Spurensicherung unterwegs. Also wird es Zeit, dass auch du dort auftauchst.«

»Könntest du mir freundlicherweise noch sagen, wo ich genau hin muss?«

»Klar doch, Reiner. Schifferstadt, Mutterstadter Straße, stadtauswärts, linkerhand direkt zwischen den alten Bahngleisen und der neuen ICE-Trasse. Nicht zu verfehlen.«

»Okay, habs verstanden, in ein paar Minuten bin ich dort, Ende.«

Ich nahm die Ausfahrt Limburgerhof und fuhr kurz darauf bei Mutterstadt durchs Gewerbegebiet Fohlenweide in Richtung Schifferstadt zum Tatort.

Dabei trommelte ich wütend mit beiden Fäusten auf dem Lenkrad herum. Verdammte Scheiße, warum musste das gerade heute passieren? Warum können sich die Leute nicht am Montag oder Dienstag ermorden lassen? Wie bringe ich das nun wieder Stefanie bei? Um halb sechs will sie mit den Kindern bei mir sein. Hoch und heilig habe ich ihr versprochen, dass Paul und Melanie bis Sonntagabend bleiben können. Nichts, aber auch gar nichts könne diesmal dazwischenkommen. Am Samstag wollte ich mit meinen beiden Kindern nach Haßloch in den Holiday Park fahren und am Sonntag nach Mutterstadt ins Aquabella zum Schwimmen. Stefanie wollte nach Frankfurt zu ihrer Mutter fahren.

Ich rief mich selbst zur Ruhe. Noch war es erst kurz nach 10 Uhr morgens. Vielleicht handelte es sich ja nur um ein einfaches und offensichtliches Kapitalverbrechen. Überzeugt war ich davon aber nicht.

Fast wäre ich am Kreisel in der Fohlenweide einem VW-Passat in die Flanke gefahren, so sehr war ich in Gedanken versunken. Der schimpfende Passatfahrer zeigte mir den Vogel. Ich strafte ihn mit Nichtachtung.

Die Straße war bereits ab der Schifferstadter Umgehungsstraße komplett gesperrt. Ich wurde von einem Kollegen der Schutzpolizei durchgewunken und fuhr deswegen noch wenige Meter weiter, bis ich unter der neuen, auf einem Damm befindlichen ICE-Trasse durch war. Diese lief hier als Tangente nur etwa 100 Meter parallel zur älteren Bahntrasse und sah aus wie ein Schildbürgerstreich. Tatsächlich ging es aber um Minuten. Drei oder gar vier Minuten, wie ich mich zu erinnern glaubte. Soviel schneller jedenfalls war durch die Umgehung des langsamen Schifferstadter Gleisdreiecks die Strecke Mannheim nach Paris geworden. Dafür hatte auf schätzungsweise fünf Kilometern Länge eine beachtliche Fläche Ackerland dran glauben müssen. Das alles für vielleicht vier Minuten. Mir blieben noch etwas über sieben Stunden. Und der Kühlschrank war zu allem Überfluss auch noch leer.

Ich stellte meinen Wagen in die Parkbucht, die direkt nach der ICE-Brücke auf der rechten Seite angelegt war. Für Ortsunkundige war hier ein Stadtplan von Schifferstadt aufgestellt worden. Das Gelände war mit wilden Müllablagerungen übersät. Man könnte fast annehmen, es gäbe hier keine funktionierende Müllabfuhr. Oder warum kam sonst ein normaler Mensch auf die Idee, seinen Hausmüll hier zu entsorgen? Kopfschüttelnd bemerkte ich unter alldem sogar zwei Bettroste und einen Kühlschrank.

Direkt neben der Parkbucht standen zwei einzelne Häuser, die früher wahrscheinlich als Aussiedlerhöfe für Landwirtschaftszwecke genutzt wurden. Direkt hinter diesen Aussiedlerhöfen kam auch schon die alte Bahnstrecke, dahinter begann die eigentliche Ortsbesiedlung.

Der Landwirtschaftsweg, der von der Mutterstadter Straße zwischen den beiden Höfen in Richtung Westen führte, war mir bekannt. Eine Menschenansammlung fiel mir dort auf.

Zum Glück hatte es in den letzten Tagen nicht geregnet, was die Gemüsebauern allerdings nicht als Vorteil ansahen. Dafür staubte der sandige Landwirtschaftsweg nun umso mehr. Das Gelände war weiträumig mit rot-weißem Absperrband eingezäunt. Während ich darunter durchschlüpfte, fielen mir die exotischen Pflanzen auf dem Feld neben dem Weg auf. Wie ich wusste, handelte es sich dabei um Sudangras, eine afrikanische Hirseart. Dieses mais-ähnliche Gewächs wurde alle paar Jahre zur düngenden Bodenpflege gepflanzt, um so den Boden für die nächste Aussaat aufzubessern.

Den stämmigen und groß gewachsenen Dr. Matthias Metzger mit seinen langen feuerroten Haaren und dem unvorteilhaften Mittelscheitel erkannte ich sofort. Der Doktor der Humanmedizin gehörte zu einem ganz besonderen Menschenschlag. Wenig feinfühlig, ging er unbeirrt durchs Leben. Im 19. Jahrhundert hätte man ihn sich gut als Revolverhelden im Wilden Westen vorstellen können.

Er unterhielt sich gerade mit einem Beamten, der ein weißes Laken in der Hand hielt, um damit den Toten provisorisch abzudecken. Dieser lag noch rücklings verkrümmt in der ungemähten Grasnarbe neben dem Landwirtschaftsweg, nur zwei Schritte neben dem Acker mit dem Sudangras. Die Leiche war vollständig bekleidet.

»Tach, Herr Doktor«, sprach ich Metzger schon aus einigen Metern Entfernung an. Er drehte sich um und wandte sich mir mit einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr zu.

»Tach, Herr Kriminalhauptkommissar, auch schon da?«

Dabei verzog er mehrmals seinen linken Mundwinkel nach hinten. Für Fremde hatte sein nervöser Tick etwas Absonderliches. Ein Arzt mit nervösen Zuckungen, da konnte etwas nicht stimmen. Tatsächlich hatte Metzger seine Zulassung als praktizierender Arzt schon vor Jahren abgegeben und sich ins Privatleben zurückgezogen. Nur aus Langeweile fuhr er vereinzelt noch Touren als Notarzt.

»Wie kommen Sie denn zu der großen Ehre, den Toten als Erster untersuchen zu dürfen? Ich dachte, Sie übersommern in Norwegen, wie jedes Jahr, wenn es Ihnen hier zu heiß wird.«

Metzger lächelte.

»Ich fliege erst in einigen Wochen nach Oslo in mein Sommerquartier. Zufällig war ich mit meinem Wagen gerade in der Nähe. Sie wissen ja, Tote haben mich schon immer fasziniert.«

Er lachte heiser und glucksend vor sich hin. Zusammen mit den nicht enden wollenden Zuckungen erinnerte er mich immer ein wenig an Dr. Frankenstein. Ich schauderte. Wie musste es wohl früher seinen Patienten ergangen sein? Ob er überhaupt Stammpatienten hatte oder ob es sich nur um einmalige Überweisungsfälle von Kollegen handelte? Ich wusste es nicht.

»Okay Meister, und was hat Ihnen der Tote so alles zugeflüstert?«

»Bisher nicht allzu viel. Schauen Sie ihn sich mal an, stumpfe Gewalteinwirkung auf den vorderen Schädelbereich, wahrscheinlich mit einem Hammer oder so was in der Art. Das muss nach ersten Schätzungen so vor ungefähr einer Stunde passiert sein. Genaueres wird wie immer die Obduktion ergeben. Natürlich erledige ich das gerne für Sie, ich habe bis zu meinem Urlaub noch genügend Zeit. Ihr Kollege hier hat übrigens einen Ausweis gefunden. Irgendetwas mit -linski hinten, polnischer Staatsbürger. Auch eine zeitlich beschränkte Arbeitserlaubnis war bei seinen Papieren. Er hat als Erntehelfer bei einem Großmarkt in Limburgerhof gearbeitet. Laut Genehmigungsstempel ist er seit gut vier Wochen in Deutschland.«

Angewidert musste ich mich mit Brechreiz abwenden. Dr. Metzger packte tatsächlich eine schon ziemlich reife Banane aus seinem nicht gerade besonders sauberen Kittel aus, schälte sie und begann langsam schmatzend zu essen.

Ich hatte nun Gelegenheit, mir das Opfer näher anzuschauen. Ein noch recht junger Mann, schätzungsweise Anfang 30. Seine offenen Augen hatten etwas Überraschtes an sich. So, als wäre er bis kurz vor seinem Ende ahnungslos gewesen. Blut war fast keines zu sehen. Der Schlag auf den Schädel musste sofort gewirkt haben. Und doch stimmte hier etwas nicht. Irgendetwas passte nicht zusammen. Ich stand da und überlegte.

»Na, was ist, Palzki. Sie können ihn ruhig anfassen, er ist nicht schmutzig und er wehrt sich auch garantiert nicht mehr.«

Metzgers Späße waren auch schon mal besser gewesen. In diesem Moment kam mir die Erleuchtung.

»Ein Erntehelfer war er, haben Sie vorhin gesagt?«

»Ja, so steht es jedenfalls in seinen Papieren.«

»Was macht so ein Erntehelfer den ganzen Tag?«

»Was weiß ich? Vielleicht bei der Ernte helfen?«

»Sehr kluge Antwort, Herr Doktor. Damit können Sie sich bei Günther Jauch bewerben. Und welchen Monat haben wir im Moment?«

»Also, wenn das die 64.000-Euro-Frage ist, dann bin ich jetzt um einiges reicher. Wir haben Juni.«

»Sie werden immer besser. Jetzt schauen Sie sich die Leiche mal genau an. Dieser Mann, so wie er hier liegt, soll seit vier Wochen als Erntehelfer täglich dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen sein? Er hat so viel Bräune im Gesicht und an den Armen wie Sie nach Ihrem halben Jahr Norwegenurlaub in einer Kellerwohnung.«

Dr. Metzger erstickte fast an einem Stück Banane, das er sich gerade in den Mund gesteckt hatte. Ich schlug ihm ein paar Mal zwischen die Schulterblätter, bis es ihm wieder besser ging.

»Mensch, Palzki, Sie haben recht, das passt nicht zusammen. Erstaunlich, dass Sie darauf gekommen sind, Sie hätten Kriminalist werden sollen.«

Ich lachte pflichtbewusst über diesen dummen Gag und sah ihn an. Klar, Metzger war neidisch, weil ihm das nicht aufgefallen war.

»So, jetzt wollen wir mal versuchen, unsere Vermutung zu verifizieren.«

Ich bückte mich und hob die rechte Hand des Toten hoch. Ich zeigte sie Dr. Metzger.

Metzger steckte die Bananenschale in seinen Kittel und kniete sich nun ebenfalls neben die Leiche.

»Sie haben recht, Palzki. Diese Hände gehören keinem Saisonarbeiter. Es sind äußerst gepflegte Hände und weisen keinerlei Ackerkrume oder Ähnliches unter den Fingernägeln auf. An der ganzen Geschichte ist irgendwas oberfaul. Ich bin mal gespannt, ob das wirklich seine eigenen Papiere sind.«

Das wars nun endgültig mit dem Wochenende und den Kindern. Ich musste unbedingt Stefanie anrufen. Je früher, desto besser. Doch es würde wahrscheinlich sowieso in einem riesigen Desaster enden.

Dr. Metzger hatte inzwischen dem danebenstehenden Beamten das Leintuch abgenommen und über die Leiche gelegt. Bevor das Bestattungsunternehmen an die Reihe kam und die Leiche abtransportieren konnte, musste erst einmal die Spurensicherung fertig sein.

»Wer hat den Toten gefunden?«, wandte ich mich nun an den mir namentlich unbekannten Beamten.

»Hier drüben.«

Er wies mit seiner rechten Hand zu einer vielleicht 12-köpfigen Gruppe, die in 50 Metern Entfernung in Arbeitskleidung neben dem Weg auf dem Boden saß.

»Das ist eine Studentengruppe unter der Leitung von Professor Doktor Otto Müller, die hier in der Gewanne Reuschlache Ausgrabungen macht.«

Ich hatte diese Leute ja schon bemerkt, hatte aber keine vernünftige Erklärung für ihre Anwesenheit auf dem Feld gehabt.

Während ich mich auf den Weg zu den Studenten machte, fiel mir wieder ein, dass direkt gegenüber auf der anderen Seite der ICE-Trasse der Fundort des goldenen Hutes aus der Bronzezeit war. Immerhin war der Hut das Wahrzeichen von Schifferstadt. Vor über 170 Jahren hatte ein Bauer ihn hier aus seinem Acker gezogen, in dem er über 3.000 Jahre gelegen hatte. Das Original habe ich letztes Jahr mit meinen Kindern im Historischen Museum der Pfalz in Speyer bewundert.

Als die Ausgrabungsgruppe mich auf sich zukommen sah, standen die Studenten und ihr Professor erwartungsvoll auf. Sie sahen allesamt recht verstört aus.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Palzki, Kriminalhauptkommissar Reiner Palzki. Ich bin verantwortlich für diesen Fall. Können Sie mir bitte ganz genau erzählen, was sich abgespielt hat?«

Der einzige ältere Mann in der Gruppe trat vor. Er überragte mich um Kopfeslänge. Gut zwei Meter, schätzte ich seine Größe und sein Gewicht jenseits der 120-Kilogrammgrenze. In seinem Blaumann wirkte er keineswegs wie ein Akademiker, sondern eher wie ein Tiefbaumonteur.

»Professor Müller ist mein Name. Erfreut, Sie kennenzulernen.«

Er streckte mir seine Hand hin und schüttelte sie, als hätte er keine Hände, sondern Hydraulikplatten wie in der Autoverwertung. Vermutlich brauchte er außer seinen Händen keine weiteren Grabwerkzeuge. Die Feinmotorik meiner rechten Hand dürfte vorübergehend dem Stand eines Neugeborenen entsprechen. Ich hielt die Luft an und zum Glück gelang es mir, einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Professor Müller redete weiter.

»Wir sind wie jeden Tag gegen 9 Uhr hier angekommen. Unsere Wagen stehen in der Joseph-Haydn-Straße. Von dort führt ein kleiner Fußgängertunnel unter der alten Bahnlinie hindurch. Das ist der kürzeste Weg, um aufs Feld zu kommen. Wir haben dann unser Metallgerätehaus aufgeschlossen und wollten gerade mit unserer Arbeit beginnen, als Dietmar Becker den Toten gefunden hat.«

Er zeigte auf einen seiner Studenten, was aber nicht nötig war, da Becker sich bereits aufgeregt in den Vordergrund gedrängt hatte.

»Guten Tag, Herr Kommissar«, begann er nervös und trat mir erst mal mit voller Wucht auf den Fuß.

»Oh, entschuldigen Sie bitte, das war keine Absicht.«

Er trat einen Schritt zurück und rammte dabei einen seiner Kommilitonen.

»Langsam, langsam«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Wieder einer von der hyperaktiven Sorte, dachte ich mir.

»Ja, ist schon okay. Ich kann Ihnen dazu auch nicht viel sagen. Ich habe geholfen, die Geräte aus dem Schuppen zu tragen. Bevor es dann richtig losgehen sollte, musste ich noch mal pinkeln. Das wollte ich natürlich nicht vor versammelter Mannschaft tun. Deshalb ging ich ein paar Meter den Weg entlang und entdeckte das rote Hemd des Toten. Ich ging bis auf drei oder vier Meter an ihn ran, aber mir war sofort klar, dass da nichts mehr zu machen war. Deshalb lief ich sofort zu den anderen zurück und Professor Müller rief postwendend die Polizei.«

»Hm, das ist nicht gerade viel. So wie es im Moment aussieht, muss die Tat erst unmittelbar vor ihrer Ankunft passiert sein. Haben Sie zufällig noch jemanden gesehen?«, fragte ich in die Runde.

»Nein, hier ist fast nie was los«, entgegnete der Professor. »Doch, da war ein Mann mit Fahrrad und Hund unterwegs. Ich glaube es war ein Schäferhund oder so was in der Richtung.«

»Ah, das ist ja immerhin schon etwas. Haben Sie sehen können, ob der Radfahrer am Fundort der Leiche vorbeigeradelt ist?«

»Da habe ich nicht so drauf geachtet, aber ich glaube, er fuhr eher da drüben entlang.«

Müller deutete dabei in die entgegengesetzte Richtung.

»Na ja, vielleicht hilft uns das trotzdem weiter. Es kommt gleich ein Kollege von mir, der wird noch Ihre Personalien aufnehmen. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen.«

Ich übergab dem Ausgrabungsprofessor meine Visitenkarte.

»Ach, noch was«, ergänzte ich.

»Heute können Sie da leider nicht weitergraben. Ich denke aber, dass die Spurensicherung das Gelände morgen wieder freigibt.«

Ich verabschiedete mich und ging zurück. Diese Studenten hätten doch nur ein paar Minuten früher anfangen müssen, dann wäre der Mörder vermutlich überrascht worden. Oder war diese Gruppe vielleicht sogar selbst in die Sache verstrickt? Nein, das wäre jetzt doch zu weit hergeholt. In einem Krimi von Agatha Christie würden die Studenten wahrscheinlich am Ende des Buches als kollektive Mördergruppe verhaftet werden. Hier handelte es sich aber um die Realität, nicht um eine fantasiereich ausgedachte Geschichte irgendeines Krimiautors. Dennoch nahm ich mir vor, Müller und seine Studenten ausgiebig zu durchleuchten.

Die Leute von der Spurensicherung waren in ihrem Element. Überall krochen sie herum, steckten Schilder in die Erde und fotografierten eifrig.

Für mich gab es hier nichts weiter zu tun. Dr. Metzger war inzwischen verschwunden. Ich lief den Weg zurück zur Mutterstadter Straße und nahm mir das erste Haus vor. Eine Klingel und ein Namensschild suchte ich vergebens. So ging ich in den offenen Hof, der von zahlreichen Nebengebäuden eingegrenzt war. Weder ein Auto noch sonst irgendetwas gab mir einen Hinweis auf hier lebende Personen. Ich rief mehrfach »Hallo, ist hier jemand?« über den Hof, doch es kam keine Reaktion. Nicht einmal ein Hund bellte.

Ich ging weiter zum zweiten Aussiedlerhof. Dort hatte ich mehr Glück. Gerade als ich die fünf oder sechs Stufen der Eingangstreppe erklommen hatte, hielt ein älterer Vollbart auf seinem Rad mit seinem hechelnden Schäferhund im Schlepptau an. Vollbart als Personenbeschreibung war eher verharmlosend, neben seinen langen und wirren Haaren konnte man an seinem Kopf nur die Augen einigermaßen erahnen. Und das auch nur, weil das Pupillengrün und das Haargrau einen intensiven Kontrast ergaben.

»Servus, was tuscht denn du do?«, fragte er mich in tiefstem Pfälzer Dialekt. Ein paar Goldkronen blitzten durch seinen haarigen Urwald. Das war aber das Einzige, was man von seinem Mund sehen konnte, während er sprach.

»Guten Tag. Wohnen Sie hier?«

»Ajo, sunscht wär isch jo net do. Un was willschtn du vun mir? Wer bischt denn du?«

Als gebürtiger Ludwigshafener hatte ich kein Problem mit dem hiesigen Slang. Das, was dieser seltsame Waldkauz von sich gab, war aber schon richtig herb. Ein Norddeutscher könnte den Dialekt genauso gut als Suaheli deuten. Meine Nichtpfälzer Kollegen würden hier ohne Dolmetscher resignieren.

»Mein Name ist Palzki, Kriminalpolizei. Hinter Ihrem Haus, dort auf dem Feld, wurde vor einer Stunde ein Mann ermordet. Ist Ihnen da etwas aufgefallen?«

»Des hot mir der Bolizischt do vorne a schun gesagt, der wu do die Stroß abgeschperrt hot. Weil isch do wohn, hot der misch durchgelosst. Isch hab nix gsehe, isch war do mit meim Hund, dem Zeus, in de Kneip am Bahnhof. Wenn mer allä wohnt, kann ma sisch jo mol ähn Frieschoppe gönne, odder?«

Fast entschuldigend fügte er an:

»Es is jo sunscht nix los in dem Dorf. Außer wenn de Stadtrot mol widder bledes Zeig beschließt.«

Bevor ich mich jetzt in Stammtischdiskussionen über die Kommunalpolitik einließ, versuchte ich, mich schleunigst zu verabschieden.

»Danke für Ihre Aussagen. Es kann sein, dass mir später vielleicht noch ein paar Fragen einfallen. Sind Sie telefonisch erreichbar?«

»Ä Telefon? Ne, so was kummt mer net ins Haus. Wenn du noch was wisse willscht, kummscht am beschte her. Wenn isch net do bin, unner de Matt liegt de Schlissel. Dann kannscht drin uf mich warte. Awer du hoscht recht, vielleicht sollt ich mer so ä Telefon zulege, damit isch die Bolizei arufe kann, wenn des mit denne Pole do morjens iwwerhand nimmt.«

Ich hatte schon mit kleinen, möglichst bemüht unmerklichen Schritten den Rückzug angetreten, als mich seine letzte Bemerkung wie ein Keulenschlag traf. Ich drehte mich um.

»Was für Polen?«

»Ah, des wescht du gar net? Jeden Morje, kurz vor de Neune halt do uff dem Parkplatz ä altes VW-Bussche an und ä ganzi Herd Pole steije aus. Dann kummen annere Autos und halten a noch an, dann gibts Palaver und die Pole steige in die Autos ei. Am Schluss fahrt des Bussche wieder fort. So geht des im Summer jeden Tach.«

»War der Transporter heute da?«

»Ahjo, ich hab dir des doch ewe grad gsagt. Jeden Dag im Summer kummt der do her.«

»Sie wissen nicht zufällig das Kennzeichen des Transporters oder ist Ihnen etwas aufgefallen?«

»Ne, isch weeß bloß, dass der ä RP-Nummernschild hot, der Rest hot misch net interessiert. Nur des Geschrei geht ma als uff die Nerve. Dann loss isch als schun mol mein Hund ä bissel allä naus uff die Stroß, dann is ball widder Ruh.«

Ich verabschiedete mich nun endgültig, nicht ohne dem Vollbart zu sagen, dass er nachher noch von einem Kollegen Besuch bekommen würde. Er winkte bloß ab, stellte sein Rad ab und ging mit seinem Zeus ins Haus. Ich nahm mir vor, ihm einen Kollegen zu schicken, dem der Pfälzer Dialekt fremd war.

2. Kapitel

Mir ging der VW-Transporter nicht aus dem Kopf. Ein örtliches Kennzeichen aus dem Rhein-Pfalz-Kreis. Immerhin hatte ich jetzt eine erste Spur. Die Uhrzeit, es passte einfach alles zusammen. Ich war erst ein paar Meter vom Haus entfernt, da wurde ich auch schon aus meinen Gedanken gerissen. Laut, aber trotzdem undeutlich hörte ich den Vollbart durch ein schräg gestelltes Fenster reden. Dennoch war es kein Dialog, eher ein Monolog mit Pausen. Könnte es sein, dass der Kauz etwa doch telefonierte? Wie auch immer, hier gab es noch reichlich Aufklärungsbedarf.

Ich stieg in meinen Wagen. Mein nächster Weg wäre nun eigentlich die Fahrt zur Kriminalinspektion Schifferstadt gewesen, um dort die nächsten Schritte zu planen und alles Weitere zu organisieren. Normalerweise wäre mein Arbeitsplatz bei der Kriminaldirektion in Ludwigshafen. Doch wegen baulicher Mängel und weil einfach zu wenig Platz vorhanden war, hatte man eine zusätzliche Kriminalinspektion nach Schifferstadt ausgegliedert. Mir kam das persönlich sehr zugute. Wir waren erst vor zwei Jahren nach Schifferstadt ins Neubaugebiet gezogen. Ich war in Schifferstadt aufgewachsen, hatte dort aber über viele Jahre nicht gewohnt. Nun gehörte uns eine schöne Doppelhaushälfte mit fast 140 Quadratmetern Wohnfläche. Paul und Melanie bekamen endlich ihre eigenen Kinderzimmer und für mich wurde der Traum eines kleinen Arbeitszimmers wahr. Die schöne Zeit hielt nur sechs Monate. Dann zog Stefanie mit den Kindern wieder aus. Vielleicht nicht endgültig, wie sie damals sagte. Eineinhalb Jahre war das jetzt her. Eine Scheidung stand zwar noch nicht zur Debatte, doch wenn es dazu kommen sollte, wäre das Haus futsch. Die Darlehen bedienen und gleichzeitig Unterhalt zahlen, das war mit meinem Beamtengehalt nicht möglich.

Automatisch fuhr ich am Wasserturm vorbei, um kurz darauf ins Neubaugebiet abzubiegen. Schließlich hielt ich vor meinem Haus, blieb aber im Wagen sitzen. Ich wusste nicht, ob ich reingehen sollte oder nicht. Selbst die Briefe, die aus dem Briefkasten neben dem Eingang lugten, konnten mich nicht dazu bewegen. Ich atmete tief durch. Die Wertstoffsäcke, die abholbereit auf dem Gehweg lagen, stanken zum Himmel. Es machte für mich keinen Sinn, leere Joghurtbecher auszuspülen.

Ich holte mir mein Privathandy aus dem Handschuhfach und drückte die erste Kurzwahlnummer. Besetzt. Ich wiederholte erfolglos die Prozedur und pfefferte dann das Handy wieder in das Fach.

Stefanie würde mich umbringen. Das war das Mindeste, was mich erwartete. Vielleicht sollte ich doch den Beruf wechseln. Doch es gibt für mich so was wie eine eherne Regel: einmal Polizist, immer Polizist. Wo sollte ich mit meinen 45 Jahren hin? Geldtransporte fahren und bewachen? Mich als Privatdetektiv niederlassen? Nein, das überließ ich lieber Typen wie Thomas Magnum. War der eigentlich verheiratet?

Mir blieb nun nichts anderes übrig, als doch ins Haus zu gehen. Ich musste dringend aufs Klo und zog beim Reingehen zwei Briefe und etwas Werbung aus meinem Posteingangssammelbehälter. Eine Direktbank bot mir mal wieder einen Superzins für mein Sparguthaben, das ich nicht hatte. Die Thüga meldete sich mit der Jahresabrechnung für die Gasbelieferung. Ich öffnete den Brief vorsichtshalber nicht, sondern legte ihn auf den Wohnzimmertisch. Direkt neben die Internetausdrucke vom Holiday Park mit den Wochenendöffnungszeiten und den Eintrittspreisen. Eine Wolke wirbelte auf. Staubwischen wäre mal wieder dringend angesagt. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das das letzte Mal gemacht hatte. Mal schnell mit dem Staubsauger über die freien Flächen gesaugt, das ja. Aber sonst?

Auf dem Küchentisch lagen nur zwei Bananen, die mich sofort an Dr. Metzger erinnerten. Ich ließ sie liegen und trank stattdessen etwas Leitungswasser. Der Kühlschrank war leer, erinnerte ich mich heute nicht zum ersten Mal.

Eine Viertelstunde später war ich auf der Dienststelle im Waldspitzweg. Auf dem Weg ins Obergeschoss zog ich mir noch schnell eine Cola aus dem Automaten. Natürlich polterte wieder eine Diätlimonade heraus. Ein Beamter der Schutzpolizei ging grinsend, aber wortlos an mir vorbei. Ich ließ die Büroklammer, die die Auswahltaste blockierte, stecken.

Gerade als ich dabei war, meine Bürotür am Flurende aufzuschließen, kam mein Kollege Gerhard Steinbeißer vorbei. Er war gut zehn Jahre jünger als ich und eine sportliche Erscheinung. Seit Jahren gehörte er zu den besten 100 Läufern beim Mannheimer Marathonlauf. Sein männlichstes Problem war allerdings der bereits deutlich zurückweichende Haarwuchs, dessen Kranz sich vorne bereits zu öffnen gewagt hatte. Als bekennender Single schien das aber nicht wirklich ein Hindernis bei seinen ständig wechselnden Partnerinnen zu sein. Gerhard genoss sein Leben in vollen Zügen.

Er war einer meiner Lieblingskollegen, seinem Namen wurde er aber auf keinen Fall gerecht. Doch für das, was er mir jetzt sagte, hasste ich ihn, auch wenn er nichts dafür konnte.

»Servus Reiner, man hat dich schon überall gesucht. Das Einsatzteam ist bereits im Sitzungszimmer und wartet auf dich. Ach ja, deine Frau hat vor 20 Minuten angerufen. Sie hats bei dir auf dem Handy probiert, du bist aber nicht drangegangen. Ich soll dir ausrichten, dass sie die Kinder heute eine Stunde früher bringt als ausgemacht. Falls du noch nicht daheim bist, gibt sie Paul und Melanie bei den Nachbarn ab.«

Je weiter der Tag fortschritt, desto tiefer fiel ich in ein Loch. Deswegen war also Stefanies Handy vorhin besetzt gewesen. Wirre Gedanken kreisten mir durch den Kopf. Sollte ich den Fall abgeben oder mich krankmelden? Ne, Krankmelden ist Kacke, dann kann ich mit meinen Kindern nicht weg und zu Hause bleiben war irgendwie blöd.

Gerhard zog mich regelrecht in Richtung Sitzungszimmer. Ich hatte keine Gelegenheit, in meinem Büro vorbeizuschauen. Vielleicht war das besser so.

»Hallo Chef«, begrüßten mich drei weitere Kollegen, als wir im Sitzungszimmer ankamen. Deutlich bemerkte ich ihr unterdrücktes Grinsen, als sie die Limonadenflasche in meiner Hand sahen.

»Hallo«, entgegnete ich knapp, während ich mich setzte. »Wie weit seid ihr?«, wandte ich mich an Jutta.

Jutta Wagner war unsere gute Seele. Sie organisierte den ganzen internen Kram, führte Protokolle und übernahm die Gesprächsleitung der Teamsitzungen. Jedenfalls dann, wenn ich keine Lust dazu hatte. So wie heute.

Mit ihren rot gefärbten Haaren entsprach sie zwar eher dem gängigen Klischee einer Politesse, ihre eindrucksvollen und prägnanten Gesichtszüge sagten aber jedem, dass er sich in Acht nehmen musste. Und das galt nicht nur für Männer. Ihre autoritär geleiteten Sitzungen waren zwar gefürchtet, aber beliebt. Beliebt deshalb, weil sie sachlich und ohne Wiederholungen die zu besprechenden Punkte durchzog, was jedes Mal einen gewaltigen Zeitvorteil mit sich brachte.

»Die Spurensicherung ist noch eine Weile beschäftigt. Ob organische Stoffe dabei sind, die nicht vom Opfer stammen, erfahren wir erst am Montag. Bisher konnte nichts Relevantes gefunden werden. Der Fundort ist übrigens mit dem Tatort identisch, das wurde inzwischen festgestellt. Die Obduktion ist ebenfalls erst für Montag angesetzt. Die Kollegen wollten für uns keine Sonderschicht einlegen und haben auf unser Drängen hin mit der Gewerkschaft gedroht.

Dr. Metzger hat sich zwar angeboten, ich denke aber, dass es ganz in deinem Sinne war, dass wir darauf verzichtet haben. Und das Ausgrabungsteam wird noch heute im Laufe des Tages durchleuchtet, mal sehen, was uns unser Computer über diese Sandbuddler sagt.«

»Danke, Jutta, für diesen Überblick. Überprüft bitte noch die Bewohner der beiden Aussiedlerhöfe. Einen durfte ich bereits kennenlernen. Passt auf, der hat einen Hund. Dann brauchen wir noch eine Auskunft über alle Schnellzüge, die in der fraglichen Zeit am Tatort vorbeigefahren sind und am besten auch noch über die S-Bahnen auf der alten Strecke. Gerhard, mir wurde berichtet, dass auf dem Parkplatz bei den Aussiedlerhöfen morgens täglich gegen 9 Uhr ein Treffen stattfindet, höchstwahrscheinlich sind es Polen. Ein älterer VW-Transporter aus dem Landkreis soll dabei eine bedeutende Rolle spielen. Könntest du das bitte überprüfen? Vielleicht wurde um diese Uhrzeit zufällig eine Satellitenaufnahme gemacht, frag mal beim BKA nach.«

»Klar, Reiner, mach ich. Der Tote heißt übrigens Jakub Schablinski und kommt aus Wroclaw. Vorausgesetzt, Toter und Papiere gehören tatsächlich zusammen. Wir haben inzwischen auch seinen Arbeitgeber ausfindig gemacht, den Gemüsegroßmarkt S. R. Siegfried in Limburgerhof. Wir haben dich schon bei ihm angemeldet. Das war doch so in Ordnung?«

Ich nickte ergeben. Warum komme ich mir nur so fremdbestimmt vor?

»Okay, ich fahre da nachher hin. Für was stehen die Initialen S. R.?«

»Der Inhaber heißt Samuel Siegfried. Ich habe keine Ahnung, was das R. bedeutet. Du kannst ihn ja selbst fragen. Viel Spaß dabei, am Telefon klang er jedenfalls wie ein arrogantes Arschloch.«

Zehn Minuten später war die Versammlung wieder aufgelöst. Das ist der Vorteil eines eingespielten Teams. Große Diskussionen und die Einteilung zu unliebsamen Jobs bleiben einem erspart. Jeder weiß, was zu tun ist. Ich ging in mein Büro. Das Telefon schrillte. Es war meine Nachbarin.

»Guten Tag, Herr Palzki. Ihre Frau hat mich vorhin angerufen und gefragt, ob sie heute Nachmittag eventuell die Kinder für eine Stunde zu uns bringen könnte. Ich habe natürlich sofort zugesagt, ist ja normalerweise kein Problem für uns. Mein Mann hat Urlaub. Wir wollen erst nächste Woche ins Allgäu fahren. Sie wissen ja, die Pension in Rettenberg, wo wir schon letztes Jahr waren.«

Ich nickte und nickte und gab ab und zu wohl dosiert ein ›Ja‹ von mir. Wenn Frau Ackermann anfing zu erzählen, sollte mal jemand vom Guinnessbuch der Rekorde zuhören und mitzählen. Mich wunderte es immer wieder, wie diese Frau es schaffte, den Sommer ohne Sonnenbrand auf der Zunge zu überstehen. Irgendwann schaffte ich es aber, ihren Wortschwall zu stoppen.

»Tut mir leid, Frau Ackermann, dass ich Sie unterbrechen muss. Leider muss ich gerade in eine wichtige Besprechung. Ist was mit den Kindern?«

»Ach so, ja klar. Entschuldigen Sie bitte. Mein Mann, Sie wissen ja, der hats doch so im Kreuz. Das ist jetzt schlimmer geworden, er kann nicht mal mehr alleine Auto fahren.«

»Frau Ackermann, bitte!«

»Ja, ja, er hat jetzt für heute Nachmittag einen Termin beim Arzt bekommen und ich muss ihn dort hinfahren. Ich wollte Ihrer Frau Bescheid sagen, nicht dass sie dann bei uns vor verschlossener Tür steht. Ich konnte sie aber nicht mehr erreichen. Könnten Sie das bitte regeln oder vielleicht ein bisschen früher nach Hause kommen?«

Es war wie verhext. Die Gegenwart rannte immer weiter in die Zukunft und die Zukunft kam immer näher zur Gegenwart. Mir blieben nur noch wenige Stunden.

Ich beendete das Gespräch, ohne zu wissen, ob Frau Ackermann dies überhaupt registriert hatte. Ich stellte mir vor, wie sie immer noch in den Hörer sprach.

Ich ließ den Stapel Akten auf meinem Schreibtisch unberührt, schnappte mir meine Einsatztasche mit den wichtigsten Utensilien und verließ das Büro.

3. Kapitel

Auf dem Weg zu Siegfried nach Limburgerhof überlegte ich mir, ob ich noch schnell den Discounter an der Ecke aufsuchen sollte. Dann erinnerte ich mich, in welchem Schlamassel dies das letzte Mal geendet hatte. Fünf Stunden sollte man wirklich weder Joghurt noch Erdbeeren und erst recht keinen Eiersalat im Kofferraum liegen lassen. Zumindest nicht bei diesen Temperaturen. Kollegen empfahlen mir damals allen Ernstes, dass ich den entstandenen Geruch nur mit ein paar Spritzern Buttersäure wieder neutralisieren könnte.

Beiderseits der Landstraße standen die Felder zur ersten Ernte bereit. Die teils sandigen und teils lehmigen vorderpfälzischen Äcker waren prädestiniert für einen vielfältigen Gemüseanbau. Nur circa 20 Kilometer westlich von hier befand sich zwar eines der größten Weinanbaugebiete Deutschlands, hier in der Mitte der Rheinebene hatten die Weinreben allerdings keine Chance. Gemüse wie Kartoffeln, Spargel und Rettich waren dominierend. Felder, deren Ende man von der Straße nur erahnen konnte, wurden bis zur Ernte an trockenen Tagen bewässert. Die Wasserleitungen lagen wie gelähmte Riesenschlangen zwischen den einzelnen Beeten. Sogar einen eigenen Beregnungsverband hatten die Gemüsebauern gegründet, um der ungeheuren Nachfrage nach dem Oxid des Wasserstoffs Herr zu werden. Nicht immer waren die automatischen Beregner korrekt eingestellt, wie ich aus eigener Erfahrung wusste. Besonders auf Landstraßen konnte man von einer sekundenlangen kalten Dusche durchs offene Fahrerfenster unangenehm überrascht werden. Mit der Zeit hatte ich aber ein Gefühl dafür bekommen und hatte stets ein Augenmerk auf nasse Flecken, um noch rechtzeitig das Fenster schließen zu können.

Fast jede Gemeinde hatte ihr eigenes Gemüsefest entwickelt. Und wenn es keine gemeindetypisch prägende Gemüsesorte gab, so kreierte man halt eine Feier wie das Speyrer Brezelfest oder das Frankenthaler Strohhutfest. Nur die wenigsten wissen, dass die Mehrzahl dieser Feste während des Dritten Reiches aus der Taufe gehoben wurde, um das Nationalbewusstsein der Bevölkerung zu stärken. ›Rettich aus Schifferstadt – Rettich für das Deutsche Volk‹, so oder ähnlich lauteten vermutlich die damaligen Werbesprüche. Als ich durch Limburgerhof fuhr, erinnerte ich mich daran, dass diese Ortsdurchfahrt bis vor gut 30 Jahren zur B 9 gehörte und schon damals der Lärm die Anwohner nervte. Kaum vorzustellen, dass sich heute der gesamte Verkehr durch diesen Ort zwängen müsste. Am Burgunderplatz vorbei bog ich am Kreisel Richtung Mutterstadt ab und fuhr die Bahnbrücke hoch. Zwei Minuten später sah ich bereits außerhalb des Ortes rechts die großen Hallen des Gemüsegroßmarktes S. R. Siegfried im freien Feld stehen. Ein breiter Lkw-tauglicher Zufahrtsweg führte beidseitig um die Hallen herum. Ich zählte vier gleichartige Hallen unterschiedlicher Größe, die durch überdachte Fußwege miteinander verbunden waren. Mehrere offene sowie geschlossene Lastwagen standen rücklings an einer Rampe zur Be- oder Entladung. So genau konnte ich das nicht erkennen. Von der Straße aus, etwas durch die Hallen versteckt, stand im Hintergrund ein zweistöckiger Bürotrakt. Schlicht und funktional, könnte man sagen. Noch weiter hinten, mitten in einem Maisfeld, befand sich eine ganze Reihe von Wohncontainern.

Ich fuhr auf den Parkplatz neben dem Bürogebäude und stellte meinen Wagen neben einem hellblauen VW-Transporter mit RP-Kennzeichen ab. Einen zufällig daherkommenden Arbeiter fragte ich, wo ich Herrn Siegfried finden könnte. Er schaute mich nur mürrisch an und zeigte stumm auf die größte Halle, bevor er grußlos weiterging. Na, da scheint ja ein tolles Betriebsklima zu herrschen, dachte ich mir.