Blutengel - verlassen - Andrea Ego - E-Book
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Blutengel - verlassen E-Book

Andrea Ego

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Beschreibung

Töten oder getötet werden. Vertraue niemandem. Träume nicht. Die unnahbare Aelys hält sich an ihre einfachen Regeln, um ihr eigenes Überleben in den Katakomben von Erming zu sichern, einer unter einer Glaskuppel erbauten Stadt, die die Menschen vor den Gefahren schützen soll, die sie selbst erschaffen haben. Als sie von unbekannten Männern gefangen genommen wird, ist ihr klar: Sie muss fliehen, und zwar schnell, ansonsten schliessen sich die Tore zu ihrem Zuhause für immer. Doch der charismatische Anführer Kaer macht ihr ein verlockendes Angebot, spricht von Freiheit, und Aelys ahnt nicht, wie weit die bereits gesponnenen Fäden seines Plans reichen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Hasenbraten

Flut aus Unwesen

Katzenfutter

Gefangen

Schwerttänzer

Morgenstern

Irgendwie süss

Russ und Rauch

Fundstück

Albpferd

Zweifel

Ein Ziel

Ungewollt

Geheimer Teich

Verdorbener Appetit

Wagnis

Vielleicht

Keine Toten

Verrat

Verzweifelte Rettung

Kerker

Auf der anderen Seite

Dein Fehler

Zerbrochenes Vertrauen

Vernichtung

Am Ende

Epilog

Danksagung

ANDREA EGO

Blutengel

VERLASSEN

© Oktober 2021, Andrea Ego

Lektorat und Korrektorat: LibriMelior – Michael Weyer Cover Design: Giusy Ame / Magicalcover.de

Bildquelle: Depositphoto, Neostock

Andrea Ego c/o Autorenservice Patchwork Schlossweg 6 A-9020 [email protected]

Im Herzen der Schweiz, wo ich herkomme und es leckere Schokolade, gute Messer und unglaublich schöne Berge gibt, läuft vieles ein wenig langsamer und anders. Ich liebe unser Tal und die Berge rundherum, die schrulligen Leute und den Herbstwind.

Wir Schweizer werden ohne „ß“ gross. Weil ich unser Schriftbild schön finde, stolz auf diese Schweizer Eigenheit bin und vor allem die Vielfalt der deutschen Sprache liebe, verwende ich konsequent „ss“.

Ich danke euch allen schon im Voraus für das Verständnis, was die Rechtschreibung angeht, und wünsche trotzdem ein schönes Leseerlebnis.

Prolog

Der Wind trug die über den Feldern herrschende Wärme zu ihm. Er schloss die Augen und sog die Luft tief in seine Lunge. Über dem schwarzen Gestein, das diese Gegend charakterisierte, musste sie flimmern. Er spürte es selbst hier, unter den letzten Bäumen des Waldes, der mit Schatten und kühlem Wasser gesegnet war.

Vor ihm breitete sich die Wüste aus. Entlang des Hügelzugs war es nicht schlimm. Polsterpflanzen wagten sich aus kleinen Ritzen, knorrige Büsche quetschten sich zwischen zwei Felsbrocken, um Wind und Trockenheit trotzen zu können.

Früher, als die Menschen noch keine dicken Mauern und Glaskuppeln gebraucht hatten, um sich vor der Natur zu schützen, hatten sie Tiere umgebracht. Insekten. Die meisten von ihnen waren lästig gewesen, die anderen hatten sie nicht gebraucht. Gleichzeitig hatten sie selbst begonnen, Lebewesen zu erschaffen, indem sie Erbgut veränderten, also den Kern, der ein Lebewesen ausmachte.

Sie hatten Erfolge gefeiert. Die erste Maissorte, die gegen sämtliche Frassfeinde resistent war. Kinder, die nach dem Wunsch ihrer Eltern gestaltet worden waren. Blumen, die nicht nur betörend dufteten, sondern auch kaum Pflege brauchten. Vor rund sechshundert Jahren hatten sie mit dem Quatsch begonnen.

Sie hatten Pflanzen aus dem Süden in den Norden getragen und umgekehrt. Damit diese nicht eingingen, hatten sie diese verändert – und vergessen, sie in den natürlichen Kreislauf einzubinden. Sie gingen nicht mehr zugrunde und wurden nicht gefressen.

Die Menschen hatten auch Insekten gegen die ungeliebten Insekten gezüchtet. Ihre Experimente hatten keine Grenzen gekannt, ihr Grössenwahn wuchs in Höhen, die er sich gar nicht vorstellen wollte.

Viel zu gern malte er sich ihren Schrecken aus, als sie erkannt hatten, welche Zerstörung sie verursacht hatten. Unbemerkt hatten sich die mutierten Lebewesen aus Laboren geschlichen oder waren gar ausgesetzt worden. Sie hatten Artgenossen gefunden und getan, was Artgenossen eben so tun, wenn sie nichts Besseres vorhaben: Sie vermehrten sich.

Seither wurden sie Unwesen genannt und beherrschten die Wälder, die Schluchten und die Felder. Die Berge, die Wiesen und so viel Land, dass die Menschen sich in Städte mit Betonmauern und gläsernen Kuppeln darauf zurückgezogen hatten. Ein rund fünfzehn Meter hoher Kreis, der sie gegen das Leben abschirmte, mit einem Glasdeckel, sodass sie die Sonne dennoch auf ihrer Haut spürten. So prangte auch die Stadt Erming wie eine traurige Trophäe aus der Erde, verloren und allein und potthässlich.

Die Menschen wussten nicht, wie das Leben rund um sie herum pulsierte, wie sich die Natur das zurückgeholt hatte, was sie ihr genommen hatten. Sie alle hatten vergessen, dass es etwas gab, das wichtiger war als Sicherheit: Leben.

In seinen Augen war es eine Schande, was die Menschen der Natur noch immer antaten. Sie versklavten die Erde rund um ihre Städte, um ihr eine Ernte abzuringen, für die der Boden nicht geschaffen war. Sie nutzten aus, was sich nicht wehren konnte. Immer achteten sie nur auf ihren eigenen Vorteil und sahen nicht einmal die Verluste, die sie verursachten.

Doch er würde es ihnen zeigen. Eines Tages würden sie seinen Namen kennen und fürchten.

Er mochte die Unwesen, denn sie waren genauso Lebewesen wie er auch. Sie waren Experimente, die man nicht mehr gebraucht und einfach weggeworfen hatte. Behandelte man die kleineren Unwesen gut, gehorchten sie und würden auch in einen Krieg ziehen. Manchmal glaubte er, zu einer grossen Herde zu gehören, die wie die Familie funktionierte, die er nie gehabt hatte.

Er griff sich an die metallene Haut an der Wange. Für seine Qualen würden die Menschen leiden. Er würde sie einen nach dem anderen aus ihren Löchern rupfen und entzweireissen, wenn es notwendig sein sollte.

»Kaer?« Die Stimme seines Vertrauten riss ihn aus seinen düsteren Gedanken, und er wandte den Blick von der hässlichen Stadt ab.

»Ich komme«, antwortete er geistesabwesend. Nicht mehr lange und er würde ihre Lebensgrundlage vernichten. Unwesen würden die Felder zerstören, der Hunger sie aus den dreckigen Löchern locken.

Und dann war die Rache sein.

Hasenbraten

Das Blut rauschte durch meine Adern, als ich dem Unwesen in einen kleinen Wald folgte. Es reichte mir bis knapp zu den Knien, besass ein flauschiges, grauschwarzes Fell, lange Kaninchenohren und ein Gebiss, das mir das Fleisch von den Knochen reissen konnte.

Augenblicklich wurde die Umgebung dunkler, doch ich hörte sein Schnauben, den aufgeregten Atem. Seine Tritte. Das Unwesen raschelte durch das Unterholz und wirbelte altes Laub auf, tauchte immer tiefer ein, bis es an Ort und Stelle verharrte.

Ein feines Lächeln huschte über meine Lippen, freudlos und fern jeglicher Wärme. Ich wusste, wie es wirkte. Mir wurde oft genug nachgesagt, dass ich zu kalt und hart wäre. Das hatte auch seine Gründe.

Die letzten Schritte bis zum Versteck des Unwesens schlich ich. Nur ein Ton zu nahe an seinem Ohr, und es würde erneut davonhetzen. Je eher wir den Auftrag beendeten, desto schneller konnten wir nach Hause gehen.

Das Laub auf dem Rücken des Unwesens zitterte. Seine Angst war förmlich zu riechen. Klebriger Gestank, der einem nicht nur das Herz rasen liess, sondern auch die Gedanken benebelte.

Ich stach mein Schwert durch den Haufen aus Laub und erschöpftem Unwesen. Erbarmen kannte ich nicht. Auf meinem Weg hätte es mir nicht viel mehr gebracht als den Tod. Mit dem Tod belohnten sie diejenigen, die sich den Befehlen widersetzten oder auf den Jagden nicht so erfolgreich waren, wie sie es sein müssten.

Überleben war eine Kunst. Zu meiner Kunst gehörte es, die Felder von Unwesen zu befreien.

Ich beugte mich über das Unwesen und wischte das Laub zur Seite. Blut floss im Takt seines langsamer werdenden Herzschlags aus der Wunde, die ich ihm durch den Bauch getrieben hatte.

Vorsichtig legte ich die Hand auf die Wange des Tieres. Das weiche Fell kitzelte meine Haut und liess für den Bruchteil eines Wimpernschlags Erinnerungen aufkommen, die ich augenblicklich verdrängte. Ich brauchte keine Gedanken an Wärme und an ein Zuhause. Ich brauchte lediglich etwas zu essen.

Ich zog mein Messer aus dem Gürtel und schnitt dem Tier die Kehle durch. Auch wenn es mein Auftrag war, die Felder vor den Unwesen zu schützen, war ich kein Teufel, der sich am Leid eines Lebewesens labte.

Die schwarzen, blutunterlaufenen Augen wandten sich mir zu, in ihrer Tiefe das Wissen, was ich getan hatte. Ein Schauder kitzelte über meinen Rücken und beschleunigte meinen Herzschlag. Ich hasste diesen Moment, wenn ich ein Leben nahm, obwohl es mein eigenes Überleben sicherte.

Der Puls des Unwesens verlangsamte sich weiter, bis er praktisch verschwunden war. Seine langen Ohren verloren an Spannung. Aus der Nase und dem mit spitzen Zähnen besetzten, viel zu breiten Maul floss schaumiges Blut. Ich sah ihm zu, wie es unter meiner Hand starb, weil ich glaubte, es ihm schuldig zu sein.

Unter seinem letzten Atemzug erzitterte es und schloss die Augen. Das Entweichen sämtlicher Spannung aus einem zitternden Körper hatte ich schon zu oft gesehen, und zu oft hatte es mich innerlich aufgewühlt. Auch diesmal war es nicht anders. Man würde nicht denken, dass ich schon Hunderte, wenn nicht gar Tausende dieser Viecher auf dem Gewissen hatte. Doch in Momenten wie diesen, wenn ich ganz allein war, nahm ich mir die Zeit, um mich zu verabschieden, und auch ein kleines bisschen, um mich zu entschuldigen.

»Es ist nur ein Auftrag«, flüsterte ich und schloss meine schweren Augenlider. Es war mehr als nur ein Auftrag, es war meine Lebensaufgabe.

Ich riss mich von meinen Gefühlen los, schloss sie weit weg und packte das Unwesen an den Hinterläufen, um es mir über die Schulter zu wuchten. Sein Gewicht drückte mich gegen den Boden, ich balancierte aus und setze mich in Bewegung. Meine Gefährten warteten bestimmt schon auf mich.

Ich prüfte den Stand der Sonne. Bald würde sie den Horizont berühren. Wir mussten uns beeilen, um nicht zum Opfer der nächtlichen Jäger zu werden. Sie suchten Leute wie uns heim, wenn sie uns in der Nacht erwischten. Deshalb zogen wir uns in die Katakomben zurück und schlossen die schweren Tore, bis der nächste Tag anbrach.

Mein Blick schweifte über die Landschaft, die sich vor mir ausbreitete. Weite Gemüsefelder mit Kürbissen, Erbsen und Mais, Kartoffeln, Karotten und Pflanzen, die ich nicht kannte, wechselten sich mit Obstbaumplantagen ab. Sie bildeten einen weiten Kreis um meine Heimatstadt Erming. Wie ein dunkles Mahnmal ragten die dicken Mauern in den Himmel. Die darauf liegende Glaskuppel spannte sich über die Stadt. Die Menschen im Inneren schirmten sich vor all den in der Wildnis lauernden Gefahren ab.

Die Menschen hassten Wesen wie uns. Sie nannten uns Gefallene und stiessen uns in ein dunkles Loch hinab, sobald sie unsere Fehlbildung entdeckten. Unter ihren Füssen lebten wir weiter – wir, ihre Töchter und Söhne, deren Gene unrein waren. Einigen wuchsen Teufelshörner aus der Stirn. Andere hatten sechs Finger oder eine geschuppte Haut.

Oft waren es kleine Fehler, die in meinen Augen kaum auffielen. Dennoch sorgten sie dafür, dass es nicht an Gefallenen mangelte. Weil sie in die Dunkelheit fielen, nannte man sie so. Sie waren jene, die die Unwesen und anderen Gefahren von Erming fernhielten.

Ich verstand die Menschen, irgendwie. An ihrer Stelle hätte ich mich auch nicht nach draussen gewagt. Besonders in der Nacht lauerten Bedrohungen hinter jedem Stein und unter jedem Busch. In letzter Zeit hatten uns gehäuft Berichte von anderen Gefallenen erreicht, die auf der Jagd überrumpelt und getötet worden waren. Einmal sollte das sogar einer ganzen Gruppe passiert sein, obwohl uns in unserer Ausbildung immer eingetrichtert worden war, dass so etwas nicht geschehen könnte. Solange wir in der Gruppe jagten, hatten die Unwesen keine Chance. Die Viecher waren klein, die meisten jedenfalls, und stellten keine Bedrohung für drei oder vier Gefallene dar. So jedenfalls die Lehre.

Ich schob die düsteren Gedanken weit von mir und machte mich mit meiner Beute auf den Weg zurück zu meinen Gefährten Tam und Miran. Nächstens würde es eindunkeln und mein Magen knurrte. Einen anderen Grund, das Unwesen mitzuschleppen, gab es nicht.

Der Weg über die Gemüsefelder zog sich in die Länge. Die Sonne hatte den ganzen Tag auf die dunkle Erde gebrannt und die oberste Schicht in das Miniaturbild einer zerklüfteten Landschaft verwandelt. Darunter zirkulierte in dünnen Schläuchen Wasser, das die Pflanzen nährte.

Einmal hatte ich einen solchen Schlauch ausgerissen, weil meine Kehle vor Trockenheit gebrannt hatte. Immerhin schützte ich diese Pflanzen, indem ich die Unwesen beseitigte. Also sollten sie auch gefälligst einen Schluck Wasser mit mir teilen. Es hatte modrig gestunken und war gelblich verfärbt gewesen. Vielleicht setzten sie ihm Substanzen zu, die die Pflanzen schneller oder besser gedeihen liessen.

Ich warf einen Blick nach Norden, wo sich voll behangene Obstbäume in den Himmel reckten. Einen Apfel oder eine Birne hätte ich gern gepflückt, doch ich war im Nordosten eingeteilt, zwischen riesigen Kürbissen und dicken Kartoffeln. Beim besten Willen verstand ich nicht, wie die Dinger den ganzen Boden anheben konnten, und das Jahr für Jahr. Knollen wuchsen, bis kein Platz mehr unter der Erde war und sie sich hob.

Auf der anderen Seite von Erming frass Vieh die nicht verwertbaren Reste der Felder oder rupfte Gras vom festgetrampelten Boden. Jeweils eine Handvoll Gefallene kümmerte sich um die Tiere, damit die Menschen auch mit Milch und Fleisch versorgt werden konnten. Jäger wie wir wurden kaum dort eingesetzt. Offenbar gelüstete es den Unwesen nicht nach frischem Fleisch, und die fleischfressenden Kaninchen taten sich lieber an kleinen, einfacher zu erbeutenden Unwesen gütlich.

In der Ferne erhoben sich die Stadtmauern von Erming. Das Gebilde aus grauem, fast schwarzem Gemäuer und der Glaskuppel wirkte nicht sehr einladend, doch das sollte es auch nicht. Niemand wollte, dass die Unwesen aus der Natur in die Stadt gelangten. Mit ihrem Dreck würden sie das System zum Zusammenbruch bringen.

»Na, endlich bist du da«, rief Tam. Er winkte mich mit seiner dunkelbraunen Hand näher. Miran und er hatten sich im Schatten eines Steinbrockens niedergelassen und genossen die frühabendliche Ruhe.

Erleichtert, dass sie trotz der Gefahren auf mich gewartet hatten, setzte ich mich zu ihnen. Diese kurze Pause gönnte ich mir.

Miran hielt mir einen ledernen Wasserschlauch hin. Das Wasser schmeckte scheusslich, so lau, wie es war, doch ich trank gierig. Auf der Jagd war ich mit leichtem Gepäck unterwegs: Ein Messer und mein Schwert, mehr brauchte ich nicht. Wenn mich ein Unwesen erledigte, sollte es sich abgesehen von mir nicht über weiteres leckeres Essen freuen können.

Miran nahm den deutlich leichteren Wasserschlauch entgegen. »War ein harter Tag«, begann er das Gespräch und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die warme Stadtmauer.

Ich nickte, während mein Blick über die Felder schweifte. Es war ruhig. Nicht einmal ein Windhauch strich über die Rispen und Blätter der Gemüsepflanzen.

»Die Unwesen waren heute erstaunlich zäh.« Damit meinte ich nicht nur das fleischfressende Kaninchen neben mir, sondern das andere Dutzend, das den Tod durch unsere Hand gefunden hatte. »Manchmal frage ich mich, woher sie kommen. Es sind so viele … Als würden sie jeden Tag aufs Neue auferstehen und uns die Hölle heissmachen.«

Tam lachte freudlos auf. »Keine Sorge, dafür ist die Sonne da.«

»Ist auch kein Wunder, bei all diesen schwarzen Brocken, die herumliegen.« Ich machte eine kurze Pause und blickte in die Ferne. Im Dunst des späten Nachmittags erhob sich eine Bergkette in die Höhe: das Adamantmassiv. Es wirkte bedrohlicher und dunkler als alles, was ich mir in der Nähe von Erming vorstellen konnte. »Wart ihr schon einmal dort?«

Miran schüttelte den Kopf. »Wenn die Unwesen von dort kommen, sollen sie auch dort bleiben. Mir reicht es, sie hier zu jagen.«

Da konnte ich ihm nur zustimmen. »Die hätten die Stadtmauern besser um die Felder als um die Häuser gebaut.«

Tam lachte, und Miran stand auf. Lange würden die Tore nicht mehr offen bleiben, und keiner von uns war erpicht darauf, die Nacht auf den Feldern zu verbringen. Zu viele Geschichten und Halbwahrheiten rankten sich um die Dunkelheit, wenn die Sonne unterging. Die Angst stank, so präsent war sie.

Gerade noch rechtzeitig erreichten wir die Treppe, die zu den Toren führte, hinter denen die Katakomben auf uns warteten. Wir eilten die Stufen hinab, das hübsche Häschen auf meinen Schultern, und hörten das Schaben der schweren Steintore, als die Wächter sie zuzogen.

»Warte!«, rief Tam und beschleunigte seine Schritte, sodass die Wächter ihn sehen konnten.

Das Schaben verstummte. »Ihr seid spät dran«, brummte ein Wächter.

Ich hiess die kühle Luft im Gang willkommen, ein Grinsen schlich sich in mein Gesicht. »Dafür haben wir einen zuckersüssen Hasenbraten«, flötete ich, als ich mich mit der Beute durch den schmalen Spalt ins flackernde Licht des Tunnels quetschte.

Wir waren zu Hause.

Einer der Wächter erwiderte mein Grinsen. »Für dich und dein süsses Kaninchen würde ich das Tor auch mitten in der Nacht öffnen«, versprach er. Seine blonden Haare fielen ihm in die Augen, sodass er sie mit einer Kopfbewegung nach hinten warf. Ich kannte ihn schon eine Weile, hatte ihn jedoch nie nach seinem Namen gefragt.

Lachend drehte ich mich um, als wir uns von den Wächtern entfernten. »Solange du es ausnimmst und mir zum Frühstück brätst, bin ich dabei.«

Dabei trank ich lieber einen gezuckerten Kaffee mit einem Schuss Mandelmilch. Doch das Schäkern lenkte mich für einen Moment davon ab, dass wir der Abschaum der Menschen waren – immer sein würden, obwohl diese Gesellschaft ohne uns keine Woche überleben würde. Sie wischten sich ihre fetten Hintern mit weichen Tüchern ab und glaubten, die Welt zu kennen. In Wahrheit sassen sie in einem Gefängnis aus Beton und einer Glaskuppel. Sie spürten keinen Wind auf ihren Wangen, wussten nicht, wie sich ein Sturm anhörte, wie die Weite roch.

Vielleicht würde ich sie bemitleiden, wenn sie Lebewesen wie uns nicht einfach in die Katakomben schicken würden, damit ihre empfindlichen Augen uns nicht sehen mussten.

Wir folgten dem Gang, der in regelmässigen Abständen von einer flackernden Lampe erhellt wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie die Herrschaften an der Oberfläche es schafften, in ihrem sterilen Licht zu überleben. Es schien von überall und nirgends zu kommen. In den Katakomben mussten wir uns mit diesen alten Dingern zufriedengeben. Es wäre ein Leichtes, ihr Beleuchtungssystem auch bei uns einzurichten, jedenfalls glaubte ich das. Doch uns würden sie nichts gönnen, solange es noch etwas Älteres, eine weniger aufwendige Alternative gab. Wir waren der Abschaum, weil wir nicht ihren Vorstellungen von richtig entsprachen.

Ich knurrte bei meinen düsteren Gedanken, die mich schon wieder überkamen.

Tam drehte sich zu mir um und schenkte mir ein schräges Lächeln. Seine dunkelbraune Haut schimmerte im schwachen Licht und betonte die weissen Zähne. »Du solltest nicht zu viel daran denken.«

»Du hast keine Ahnung, woran ich gerade denke«, gab ich mürrisch zurück.

Er lachte, und Miran fiel mit ein. »Wir kennen dich schon eine halbe Ewigkeit. Wenn dein Mund so schmollt, denkst du an die Herrschaften an der Oberfläche, die wieder mal etwas haben, das uns nicht vergönnt ist.«

»Manchmal frage ich mich, wer hier die wahren Feinde sind.« In solchen Momenten konnte ich ihre Fröhlichkeit nicht ausstehen. Im Gegensatz zu mir erinnerten sie sich nicht an Erming und hatten keine Ahnung, wie gut es den Menschen ging, die nichts zu befürchten hatten.

Miran klopfte mir auf die Schulter und schob mich energisch weiter. »Wir sind deine Freunde, junge Frau«, betonte er einmal mehr. Bevor er die eiserne, teilweise mit Rost belegte Tür zu unserem Quartier öffnete, bedachte er mich mit einem intensiven Blick. »Auch wenn du es nicht zugeben willst, du brauchst uns, genauso wie wir dich brauchen. Wir sind ein Team. Ohne einander würden wir nicht überleben – besonders du nicht.«

Ich schluckte und nickte. Mit einem hatte er recht: Ich brauchte sie. Doch sie waren nicht meine Freunde. Auch wenn ich mich gut mit ihnen verstand und froh war, dass sie in meinem Team waren, konnte ich sie nicht als meine Freunde sehen. Nicht als meine wahren Freunde. Mit echten Freunden sprach man auch über nicht offensichtliche Probleme. Man vertraute einander mehr als jedem anderen. Ich hingegen vertraute nur mir selbst.

Nacheinander traten wir in die stickige Luft. Ein alter Ventilator surrte in der Ecke und pumpte viel zu wenig Frischluft in den Raum, in dem knapp fünfzig Gefallene sassen. Sie alle hatten etwas, das sie von Menschen mit reinem Erbgut unterschied: einen Arm zu viel, Hörner auf dem Kopf, eine Nase, die bis zum Kinn reichte. Für uns waren unsere Missbildungen normal. Wir hatten gelernt, damit zu leben.

Tam hatte seine schwarzen Daunenfedern anstelle von Haaren, selbst an seinem Kinn wuchsen sie. Mirans Erscheinung erinnerte an einen Nachfahren des Teufels. Für uns war es ein alltäglicher Anblick, der uns keinen zweiten Blick kostete.

Ein Bursche in hellen, fleckigen Kleidern huschte zu mir, als er mich entdeckte. Seine Augen ruhten auf dem fleischfressenden Kaninchen, das über meiner Schulter baumelte. Ich liess es sinken, sodass er es mitnehmen und für das Abendessen vorbereiten konnte. Wahrscheinlich kochte er es in einer Suppe, damit jeder etwas davon abbekam. Das nächste Mal würde ich meine Beute auf dem Feld braten, damit auch wirklich die etwas davon hatten, die dafür gearbeitet hatten. Mir war nicht entgangen, dass ich mit Abstand am meisten Fleisch nach Hause brachte.

Erschöpft setzte ich mich zwischen Tam und Miran auf eine Bank, die zusammen mit vier anderen in einem Kreis angeordnet war. Im Winter standen Heizkörper in der Mitte, doch bei dieser Hitze draussen war es nicht notwendig. Wir alle trugen die Wärme des Tages noch in uns und morgen würde es sowieso wieder viel zu heiss werden.

»War es bei euch auch so ruhig?«, fragte ein anderer aus der Runde. Ihm wuchs schwarzes, seidig schimmerndes Fell am ganzen Körper. Auch seinen Namen kannte ich nicht. Es reichte, dass ich Miran und Tam an meiner Seite hatte. Wenn diejenigen mit Namen verschwanden, brach es einem das Herz. Und Gefallene wie wir verschwanden oft.

Miran schüttelte den Kopf, den Mund zu einem schwachen Lächeln verzogen. »Nicht wirklich. Die Kürbisse scheinen die Viecher im Moment anzulocken wie das Licht die Motten. Aelys hat noch ein letztes Karnickel erwischt, bevor die Sonne unterging.«

Das war ein bisschen zu dramatisch formuliert, doch ich widersprach ihm nicht. Ich kümmerte mich nicht wirklich um die Leute hier. Nähe bedeutete Gefahr. Mir war es lieber, wenn Miran und Tam von unseren Erlebnissen erzählten und ich mich abschotten konnte.

Der Unbekannte schüttelte den Kopf leicht, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass eine Frau dazu fähig ist.«

Innerlich seufzend, hob ich den Blick und betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Ich war kleiner als die meisten hier. Schwächer. Und um einiges tödlicher. Das wussten sie. Spätestens wenn ich sie ansah, als wollte ich mich im nächsten Moment auf sie stürzen, brach ihnen der Angstschweiss aus. »Ich kann auch einzelne Körperteile entfernen, bevor ich jemandem den Mund stopfe.«

Ich stand auf und begab mich zu den Waschräumen, hatte genug von dem Gerede und den heimlichen Gedanken, die die Männer hegten. Erschöpft blickte ich in den dreckigen Spiegel über dem Waschbecken, auf dessen Rand ich mich abstützte. In diesen Augen, so funkelnd blau sie auch waren und zu meinen Haaren passten, wohnte eine tiefe Dunkelheit. Ich wusste, woher sie kam. Seit wann sie in mir war. Der erste Funke war im Alter von vier Jahren aufgeglüht, der zweite im vergangenen Winter.

Ich breitete meine Flügel aus. Sie waren schwarz wie die Nacht, verschlangen das letzte Licht, das von den beschlagenen Fenstern am oberen Rand der einen Raumseite zu mir drang, und hüllten mich in die Schwärze, die seit Wochen, Monaten in mir Platz gefunden hatte.

Flut aus Unwesen

Die Nacht hatte einen silbernen Schimmer in Form von Tautropfen auf die Felder gezaubert, der unter den ersten Sonnenstrahlen leuchtete. Über dem Adamantmassiv zogen helle Wolken auf, die einen regenreichen Nachmittag versprachen. Ein neuer Tag mit vielen Unwesen begann. Nicht wirklich das, worauf ich mein ganzes Leben gehofft hatte, doch es war besser, als mit zerschlagenem Kopf in einem dunklen Loch zu liegen und zum Frühstück einiger Unwesen zu werden.

Ich würde mich nicht unterkriegen lassen. Ich war stark, war es schon immer gewesen. Ansonsten hätte ich die Ausbildung nicht geschafft und wäre beim Versuch, sie abzuschliessen, gestorben. Ich wäre nicht die einzige Frau unter den Gefallenen, die die Unwesen von den Feldern fernhielten, sondern würde in der Küche oder beim Putzdienst arbeiten.

Ich wagte es, meine Augen wieder zu öffnen. Einzelne Jägergruppen verliessen unsere Unterkunft bereits jetzt, um die ersten Unwesen kurz nach dem Morgengrauen zu erwischen. Sie schäkerten und lachten. Waren glücklich. Manchmal fragte ich mich, wie sie es schafften, bei all der Scheisse so zufrieden zu sein, wenn sie doch wussten, dass andere ein besseres Leben führten. Waren die denn so viel besser als wir? Jedenfalls hatten sie keine Missbildungen, die als Resultat jahrzehntelanger Versuche noch immer verdeckt in unserem Erbgut weitergegeben wurden und bei Einzelnen hervorbrachen.

Ich fragte mich, wer sich schwarze Flügel gewünscht hatte. Sie waren zu gross und unnütz. Ein Vogel konnte wenigstens damit fliegen, doch meine Knochen waren im Gegensatz zu ihren zu schwer.

»Guten Morgen, hübscher Engel«, trällerte Miran, als er an Tams Seite an die Erdoberfläche trat. Er streckte sich, sodass sich die harten Muskeln unter seiner Haut abzeichneten.

Miran war schön, das musste ich ihm lassen. Sein einziger Makel waren die Hörner am Kopf und der Teufelsschwanz. Wie bei einer Katze, die ihre Umgebung mit wachem Blick beobachtete, schwenkte dieser von der einen Seite zur anderen. Seine vollen Lippen deuteten stets ein Lächeln an, die grossen bernsteinfarbenen Augen strahlten den ganzen Tag über, selbst in der Nacht. Und er war gross.

Die Frauen hätten sich nach ihm verzehrt, hätte er nicht diese Abnormitäten, die ihn als Sohn des Teufels erscheinen liessen. Dabei war eigentlich er der Engel, nicht ich.

Ich stand auf, richtete die knappe Rüstung aus Leder und viel zu kleinen Metallplatten, die ihren Namen nicht verdient hatte, und folgte ihnen durch die Felder. »Ist es Ironie des Schicksals, dass ein Engel mit schwarzen Flügeln und ein Teufel mit nicht ganz ausgewachsenen Hörnern gemeinsam jagen?«

Miran lachte, und Tam drehte sich mit einem breiten Grinsen zu mir um. »Begleitet von einem Dämon mit dunkelbrauner Haut und schwarzen Daunenfedern auf dem Kopf – wir sind ein Trio aus der Hölle.«

Der Gedanke gefiel mir. »Und wir rächen uns an allen, die uns wehgetan haben.«

»Ich dachte eher, dass sich ein Höllentrio auf Schmerzen, Pein und Angst konzentriert, nicht darauf, Ungerechtigkeiten zu rächen.«

Ich lachte in mich hinein. Auch wenn ich die beiden nicht als meine Freunde bezeichnete, waren sie mir dennoch nahe und wussten, wie sie mich aufmuntern konnten.

»Dann holen wir eben alle zu uns und lassen sie in der Hölle schmoren.«

Tam nickte. »Unser Leben ist für sie die Hölle – so sehr, dass sie uns vergessen, sobald sie uns nicht mehr sehen.«

Ich wusste genau, was er damit sagen wollte. »Manchmal frage ich mich, was sie sich dabei denken. Irgendwohin müssen wir ja kommen. Einigen von ihnen tut es anscheinend nicht einmal weh, wenn sie sehen, wie sie Menschenleben zerstören«, sinnierte ich. »Sie werfen solche wie uns einfach weg, als wären wir Abfall.«

Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Ob es am leichten Luftzug oder der unerwarteten Stille zwischen uns lag, wusste ich nicht. Es war beides irgendwie unheimlich, auch wenn ich den Wind sonst mochte. Er erinnerte mich daran, dass ich lebte, im Gegensatz zu den Leuten, die ihr ganzes Leben in der Glaskuppel eingeschlossen waren.

»Wir sind Abfall«, sagte Tam leise und liess seinen Blick über die Felder schweifen, die nun zwischen uns und Erming lagen. Bald hatten wir den Rand erreicht. »Sie sehen uns nicht als Menschen.«

Was er mir bestätigte, wusste ich schon lange, doch es schnürte mir die Kehle nach wie vor zu. »Glaubt ihr, dass sie glücklich sind?«

»Nein. Sie glauben es.« In Mirans Stimme schwang eine Überzeugung mit, die ich selbst gern gefühlt hätte. »Sie wissen nicht, wie die Natur riecht, schmeckt, sich anhört. Sie glauben, dass sie leben, doch das Leben findet hier statt. Ansonsten bräuchten sie diese Felder nicht. Wenn sie alles hätten, müssten sie nichts auslagern.«

Seine Sichtweise überraschte mich. Ich hatte nicht erwartet, dass er so über die Gesellschaft dachte und sich insgeheim sogar ein wenig freute, zu den Gefallenen zu gehören, die mehr erlebten als die Menschen im Inneren. Vielleicht war er deshalb stets so gut gelaunt.

Tam nickte. Leichtfüssig schwang er sich auf einen schroffen Felsbrocken, setzte sich in das weiche Gras oben und zog seinen Säbel aus der Scheide. In aller Seelenruhe legte er ihn auf den Schoss, ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie wissen nicht, was sie verpassen. Die Ruhe, die Weite – all das ist ihnen fremd.«

Ich starrte ihn an, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Seit letztem Winter kämpften wir nun Seite an Seite, und dennoch hatte ich ihn und Miran nie solche Sachen gefragt. Wir töteten, um zu überleben. Wir hielten die Unwesen von den Feldern fern, die jene ernährten, die uns in ein dunkles Loch hinabgestossen hatten. Nur so hatten wir ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Die Menschen gaben uns, was wir brauchten, und wir schützten das, was sie brauchten.

Ich setzte mich neben ihn und beobachtete die weiten Felder. Die Sonne hatte den Tau verdunstet, die Pflanzen leuchteten in üppigem Grün, auch wenn rundherum der trockene Boden kaum ein Unkraut aufkommen liess. Ein ruhiger Start in den Tag.

Gegen Mittag schlichen sich die Wolken vom Adamantmassiv über die Felder und Erming, beschatteten die Landschaft und verhüllten Konturen. Ein frischer Wind kam auf, unruhiger als jener am Morgen, der den neuen Tag begrüsst hatte. Dieser Luftzug war eine Warnung, wovor auch immer.

Mein Blick schweifte nach rechts in Richtung der Berge. Düster lagen sie da, verschwammen mit den Wolken, die die höchsten Gipfel einhüllten, als würden sie eine Armee verstecken, damit diese unbemerkt angreifen konnte. Ein erstes Donnergrollen liess die Luft erzittern. Gleichzeitig ertönte ein Kreischen aus Hunderten, wenn nicht Tausenden von Kehlen. Tief in meinem Inneren erzitterte ich, als ich nach meinem Schwert griff. So riefen die Unwesen nach Hilfe, wenn sie verzweifelt genug waren. Doch noch nie hatte ich so viele auf einmal gehört. Es klang, als würden sie sich vereint gegen die Gefallenen stellen.

»Das kann nicht sein«, flüsterte Miran. Er stand auf und blickte ebenfalls nach Nordwesten. »Haben sie sich etwa verbündet, um uns eins auszuwischen?«

Tam lachte, doch es klang bei Weitem nicht so fröhlich wie gewohnt. Eher überfordert, verunsichert. »Der Sommer ist viel zu trocken bisher. Vielleicht treibt sie einfach der Hunger, weil sie in freier Wildbahn nicht mehr genug finden.«

»Oder ein Unwesen vertreibt sie aus ihrer Heimat«, warf ich ein, die Kehle eng. Was auch immer dieses Kreischen zu bedeuten hatte, das die Luft erfüllte und gar den nächsten Donner übertönte, ich wollte es nicht erfahren. Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt, doch mittags liessen sie niemanden ein. Um unser Heim zu behalten, mussten wir unsere Pflicht erfüllen.

Tam sprang vom Felsblock hinab, kam federnd auf und ging einige Schritte in Richtung Norden. Miran folgte ihm. Aus Mangel an Alternativen tat ich es ihnen gleich. Als Jägergruppe liessen wir einander nicht im Stich.

»Es kommt von Norden.« Obwohl die Sonne nicht schien, hielt sich Miran die Hand über die Augen, als müsste er sie vor grellem Licht schützen. »Wir sollten nachsehen, was dort geschieht.«

»Und wenn es nur ein Ablenkungsmanöver ist? Vielleicht wollen sie uns alle dorthin locken, damit sie hier plündern können«, warf ich ein. Ich wusste nicht, ob mein Einwand von der Angst her rührte, die ich tief in meinem Bauch verspürte, oder von meinem Verstand. Zwei andere Jagdgruppen eilten zwischen den Kürbissen hindurch auf das Kreischen zu. Falls die Unwesen wirklich geplant hatten, uns zu täuschen, hatten sie Erfolg.

»Dumm sind sie jedenfalls nicht«, stimmte Tam mir zu. Hin und wieder wünschte ich mir, er fände Einwände, um meine Befürchtungen zu entkräften.

Miran drehte sich zu uns um. »Was sollen wir tun?« Seinem Gesicht war anzusehen, wie hin- und hergerissen er war.

Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. »Am besten warten wir ab, bis …« Die Worte blieben mir im Hals stecken.

Im Norden wirbelte dunkler Staub auf, vermischte sich mit dem Regen, der sich sintflutartig über die Landschaft ergoss, als wollte er sie ertränken. Wie eine lebendige Walze aus unzähligen Leibern näherten sich die Unwesen, ein Kreischen vor sich hertreibend, das mich in den Grundfesten erschütterte. Es dröhnte nicht nur in den Ohren, es brachte auch das Herz zum Erzittern.

Ich machte einen Schritt zurück, dann einen zweiten. Ein Jägertrio wurde von den heranpreschenden Unwesen erfasst und überrumpelt. Nach wenigen Augenblicken konnte ich nicht einmal mehr erkennen, wo die drei gestanden hatten.

Mit eisernen Fesseln griff die Panik nach mir, mein Brustkorb wurde eng. Ich schluckte gegen die Angst an, doch sie rauschte durch meine Gedanken und legte sie lahm, als wäre ich ein unbedeutendes Staubkorn inmitten eines Wirbelsturms. Meine Hand zitterte, als sie sich fester um das Heft des schlanken Schwertes krallte.

So etwas hatte ich noch nie gesehen. Seit Jahren jagte ich Unwesen, die aus den Wäldern und Bergen kamen, um unsere Ernte zu vertilgen. Meine anfänglichen Ängste hatten sich schon vor langer Zeit gelegt. Doch was hier geschah, passte in keiner Weise zu dem, was ich in der Ausbildung und seit meinen ersten Jagden gelernt hatte. Unwesen bildeten kleine Gruppen, mehr als zwanzig entdeckte man selten auf einem Haufen. Sie verfolgten keine Strategie. Sie wollten nur fressen.

Ich schluckte, als eine zweite Gruppe von vier Jägern überrannt wurde. Sie hatten keine Chance, sich der Übermacht zu stellen.

»Wir müssen zurück!«, rief ich und drehte mich zum Felsbrocken um. Der war zu unwirtlich, um als Futter angesehen zu werden. Mit etwas Glück rannten die Unwesen an uns vorbei, ohne uns zu zerfleischen. Was mit den Kürbissen war, ging mir am Allerwertesten vorbei. Sollten sie uns dennoch angreifen, könnten wir uns von der erhöhten Position gut verteidigen und einander den Rücken decken.

Miran packte mich am Arm. »Wir müssen den anderen helfen. Wir können uns nicht einfach verkriechen.«

Und ob ich das konnte! »Wir werden sterben!«

Die Worte in meinen Ohren zu hören, sie selbst laut auszusprechen und damit meine Angst offenzulegen, liess mich zu einem kleinen Kind werden, das den Schutz seiner Eltern suchte. All die Jahre hatte ich versucht zu überleben. Die Ausbildung war kein Zuckerschlecken gewesen. Niemand hatte darauf Rücksicht genommen, dass meine Flügel mich langsam machten, dass ein Mädchen eben doch anders war als Jungs.

Statt aufzugeben, hatte ich gekämpft. Mein Freund Roban hatte mir beigebracht, wie ich meine eigenen Vorteile nutzen und die Stärke der Gegner gegen sie verwenden konnte. Wusste man wie, war es gar nicht schwer.

Ich riss mich los und schüttelte den Kopf. Über Mirans Schulter erkannte ich die ersten verzerrten Fratzen der Unwesen. Aus ihren Mäulern spritzte Schaum, manchmal weiss, hin und wieder rosa. Oder rot.

Sie waren auf der Jagd. Vielleicht wollten sie sich für all die Leben rächen, die wir ihnen Jahr für Jahr nahmen. Hatten Unwesen auch Gefühle, oder waren es Lebewesen, die einfach nur da waren, um zu fressen und uns das Leben schwer zu machen?

Tam trat an meine Seite. »Sie hat recht, wir werden nicht …«

Ein Unwesen riss sich aus der vordersten Reihe los, beschleunigte und sprang mit einem kraftvollen Satz auf Mirans Rücken. Unter der Last taumelte er, knickte ein und ging mit einem Bein zu Boden.

Wie ein blauer Blitz schoss mein Schwert nach vorn durch das Auge des Unwesens. Sein Schmerzensschrei erschütterte mich im Innersten. Ich riss die Waffe heraus und trat zurück.

Das Unwesen krallte sich noch tiefer in Mirans Schulter, auch wenn aus seiner Wunde Blut strömte und das graubraune Fell in ein dunkles, klebriges Durcheinander verwandelte.

Mein Gefährte schrie auf. Mit blossen Händen griff er die Krallen des Unwesens, um sie aus seinem Körper zu ziehen, doch das Tier hielt ihn zu stark fest. Es ruckelte an seinem Opfer, vergrösserte die Wunde. Sein rechter Arm hing leblos an seiner Seite hinab. Erst Mirans tiefer Schrei riss mich aus meiner Trance.

Tam packte mich an der Schulter und zerrte mich mit sich, als er zum Felsbrocken zurückkehrte. Er kletterte hinauf, die Augen vor Schreck geweitet. Mit Mirans letzten Sekunden in meinen Gedanken folgte ich Tam und hoffte, dass kein Viech meine Flügel erwischte.

Atemlos setzte ich mich neben meinen Gefährten und suchte die Stelle, an der wir eben noch Miran verteidigt hatten. Das Unwesen riss ein Stück Fleisch um das andere heraus. Bald erhielt es Gesellschaft. Grössere Unwesen folgten. Eines glich einem viel zu grossen Schaf, das zusätzlich zu seinen vier Beinen zwei klauenbewehrte Hände besass. Mit diesen riss es Stücke aus Miran und schob sie sich in aller Ruhe in den Mund. In meinen schlimmsten Albträumen hatte ich mir nie so etwas ausgemalt.

Die Augen fest geschlossen, wandte ich mich ab, während der Lärm um uns herum zu einem unerträglichen Rauschen anschwoll.

Schon wieder hatte ich einen Menschen verloren. Es zerriss mich innerlich, auch wenn ich mir nichts anmerken liess. Der Verlust meines besten Freundes wog viel schwerer, nun nahm mich auch Mirans Tod mit. Dabei hatte ich mir geschworen, dass ich niemals wieder so trauern würde.

Ich schluckte, wischte mir unwirsch über die Augen. Blutspritzer zierten meine Hand. War es seines oder das eines Unwesens?

Die Unwesen nahmen uns nicht wahr. In ihrem Rausch brandeten sie über die Felder hinweg und zertrampelten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Ginge es ihnen um die Beute, würden sie sich über das Gemüse und die Früchte hermachen. Doch die Ratten mit ihren viel zu fetten Schwänzen traten auf dem Gemüse herum, als wäre es ihnen egal.

Ich kauerte mich zu Tam und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid.« Miran war sein bester Freund gewesen. Ich wusste, wie er sich fühlte, hatte ich doch diesen Verlust auch schon erlitten.

Er reagierte nicht. Wie erstarrt sass er auf dem Felsbrocken und betrachtete tief im Schmerz versunken die Gewalt, die unsere Felder zerstörte.

Mechanisch stiess ich mich vom Gestein ab. Im Norden schienen die Unwesen weniger dicht nachzurücken, als würde ihre Zahl doch noch abnehmen. Mir war bewusst, dass die tief hängenden Wolken und die hohe Luftfeuchtigkeit Tiere verbergen könnten, wo ich nur niedergetrampelte Obstbäume sah. Dennoch keimte Hoffnung in mir auf.

Eine Bewegung aus den Augenwinkeln gewann meine Aufmerksamkeit. Ich wirbelte herum, das Schwert fest in der Hand. Es prallte gegen einen schweren Körper, fiel mir beinahe aus der Hand. Ein Unwesen hatte uns entdeckt! Ich taumelte, schrie. Die freie Hand griff nach einem Felsvorsprung – vergebens. Ich fiel.

Meine Schreie machten weitere Unwesen auf mich aufmerksam. Sie änderten ihre Richtung, sprangen mich an. Zum Kampf bereit, landete ich auf dem harten Boden. An Flucht war nicht mehr zu denken, schon viel zu nah waren sie. Wie ein tödlicher Blitz zuckte mein Schwert zwischen ihnen und mir, nahm ein Leben nach dem anderen. Ein kleines Tier, vielleicht so gross wie ein Kaninchen, biss sich in meiner Wade fest. Ich schlug das Bein gegen den schroffen Felsen. Mit einem Quieken liess es los.

Ich stützte mich gegen das Gestein. Die Wunde würde sich entzünden, so wie fast alle durch die Unwesen verursachten Bisswunden. Im Moment war das jedoch mein geringstes Problem. Ein Unwesen nach dem anderen stürzte sich auf mich. Umgeben von braunen und grauen Fellen, schmutzigen Körpern und stinkenden Schuppen kämpfte ich um mein eigenes Leben.

---ENDE DER LESEPROBE---