Der Wintergöttin gefrorenes Herz - Andrea Ego - E-Book

Der Wintergöttin gefrorenes Herz E-Book

Andrea Ego

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Beschreibung

Rani hat ihre Träume von Abenteuern und einem Ende des Ewigen Winters längst unter der dicken Schneedecke ihrer Heimat begraben. Als ein Barde auftaucht und sie auf sein bislang grösstes Abenteuer einlädt, entfacht ihre Sehnsucht nach Freiheit neu. Gemeinsam mit ihr will er dem Ewigen Winter ein Ende bereiten, und das Verschwinden eines geliebten Menschen zwingt sie dazu, ihm zu vertrauen und sich ihm anzuschliessen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Atem des Winters

Fremde Abenteuer

Alte Jungfer

Verlockendes Angebot

Bärenpranke

Geheimnisse

Höhle der Wunder

Frühlingszauber

Brynjas Vorhut

Vertraut

Eiseskälte

Eispalast

Verraten

Eiskaltes Gefängnis

Geschmolzenes Eis

Gefroren

Wintersturm

Verrat und Vertrauen

Erkaltet

Frühlingszauber

Ruf des Frühlings

Aufbruch

Epilog

Danksagung

Andrea Ego

Der Wintergöttin gefrorenes Herz

Fantasy

ANDREA EGO

Der Wintergöttin gefrorenes Herz

© Januar 2022, Andrea Ego

Andrea Ego

c/o Autorenservice Patchwork

Schlossweg 6

A-9020 Klagenfurt

andrea.ego@outlook.com

Lektorat und Korrektorat: LibriMelior – Michael Weyer Cover Design: Giusy Ame / Magicalcover

Bildquellen: Depositphoto

Im Herzen der Schweiz, wo ich herkomme und es leckere Schokolade, gute Messer und unglaublich schöne Berge gibt, läuft vieles ein wenig langsamer und anders. Ich liebe unser Tal und die Berge rundherum, die schrulligen Leute und den Herbstwind.

Wir Schweizer werden ohne »ß« gross. Weil ich unser Schriftbild schön finde, stolz auf diese Schweizer Eigenheit bin und vor allem die Vielfalt der deutschen Sprache liebe, verwende ich konsequent »ss«.

Ich danke euch allen schon im Voraus für das Verständnis, was die Rechtschreibung angeht, und wünsche trotzdem ein schönes Leseerlebnis.

Prolog

Die Stadt lag ruhig da. Nur aus zwei Fenstern drang schwaches Kerzenlicht auf die Strassen und erhellte die sternenklare und doch dunkle Nacht. Sie liebte Neumondnächte, denn sie verkörperten die vollständige Abwesenheit der Sonne und ihrer Wärme. Obwohl der weisse Schnee jeden Funken Licht reflektierte, hatte die Dunkelheit diesen Teil der Welt vollkommen im Griff.

Sie stand auf einem Hügel und überblickte den Ort, von dem eine andere Wärme strahlte. Eine, die niemals gedeihen, sondern für immer aus den Eisenbergen verschwinden sollte.

Als sie sich in Bewegung setzte, berührten ihre Füsse den Schnee, hinterliessen jedoch keine Abdrücke. Lautlos schwebte sie über die weiche Decke auf die schlafende Stadt zu, hin zu dem Quell, der ihr Vermächtnis bedrohte.

Die Strassen waren wie ausgestorben, doch das überraschte sie nicht. Nicht mehr. Seit jeher mochten die Menschen diese durchdringende Kälte nicht, die die Luft erfrischte und den Lebensgeistern neuen Schwung gab. Sie jagten sie davon, indem sie Feuer entzündeten und sich unter Decken verkrochen.

Wie armselig sie waren. So schwach.

Zögerlich schwebte sie über den festgetretenen Schnee. Er fühlte sich unnatürlich an, als wäre er in eine Form gepresst worden, die ihm nicht behagte. Die verwirrenden Gedanken abstreifend, konzentrierte sie sich auf ihr Ziel, ein Kind in seinem Bett.

Die Suche kostete sie nur wenige Augenblicke. Das Mädchen war warm wie die anderen Bewohner auch, doch es strahlte etwas anderes aus – etwas, von dem sie noch nicht sicher war, was es bedeutete. Doch Wärme könnte sie bedrohen, also musste sie sie vernichten, bevor sie ihr wirklich gefährlich werden konnte.

Beim Haus angekommen, horchte sie in die Stille. Noch immer regte sich nichts, doch wer sollte sie denn auch entdecken. Sie war Kälte. Sie war Winter. Sie war Eis.

Sie trat zur Eingangstür und fror das Schloss ein. Nur einen Moment später gab das alte Eisen unter ihrem Druck nach und die Tür schwang auf. Warme, muffige Luft schlug ihr entgegen. Nur mit Mühe widerstand sie dem Verlangen, die Armbeuge vor das Gesicht zu halten und den Gestank daran zu hindern, in ihre Lunge zu dringen.

Sie nahm sich keine Zeit, das Haus zu betrachten. Es interessierte sie schlicht nicht, abgesehen davon kannte sie ihr Ziel: das Kind im oberen Stock. Sie sollte nicht zögern, sich dem Leben der Menschen nicht annehmen, so faszinierend es auch sein mochte.

Ohne ein Geräusch zu verursachen, fand sie die Treppe und betrat sie. Bei einer Stufe knarrte das Holz, sie hielt den Atem an, doch im Haus regte sich nichts. Eilig schlich sie weiter und betrat das Zimmer des Kindes.

In einem karg eingerichteten Raum standen ein Bett, eine Kommode und ein Schrank. Unter einer dicken Decke schlief das Mädchen, das so voll Wärme glühte, dass es in ihrem Bewusstsein beinahe schon schmerzte.

Vorsichtig trat sie näher. Tatsächlich, in der Brust brannte etwas, das sie bisher noch nirgends sonst gesehen hatte, doch sie konnte es nicht benennen, noch nicht einmal einordnen. Ausser, dass es warm war. Und kräftig.

Sie hob ihre Hand über den schmächtigen Oberkörper des Mädchens und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Beinahe roch sie die Kraft des Kindes, die von dessen Brust ausging, so intensiv strahlte sie nach aussen.

Normalerweise wartete sie vor den Stadttoren, sandte den Traum von Frühling und Wärme hinein und liess die von ihr auserwählten Mädchen den Weg bis zu ihr allein gehen. Diesmal war sie zu neugierig gewesen. Sie hatte ergründen wollen, was diese Wärme verursachte, obwohl doch nur Kälte existieren dürfte, damit niemand verletzt werden konnte. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte das von dem Mädchen ausgehende Gefühl weder erfassen noch ergreifen. Die Magie war da und doch nicht.

Dennoch, es gab eine Quelle in dem Mädchen, etwas, das sie bisher nicht für möglich gehalten hatte. Sie musste versuchen, sie für sich zu gewinnen. Endlich könnte es gelingen, eine Nachfolgerin zu lehren, jemanden zu finden, der das Leben an ihrer Seite verbringen würde, ohne dabei zu weinen oder zugrunde zu gehen.

Vorsichtig und mit vor Vorfreude aufgeregt klopfendem Herzen wob sie das Versprechen des Frühlings, legte Hoffnung hinein – ihre eigene – und sandte sie zu dem Kind. Es atmete tief ein, blieb einen Augenblick regungslos liegen, dann hustete es. Unruhig drehte es sich von der einen Seite auf die andere, murmelte unverständliche Worte. Gleichzeitig wurde ihre Magie zurückgeschickt, als wäre es lediglich ein Lichtstrahl, der auf einen gefrorenen See traf.

Sie taumelte zurück, starrte das Mädchen an. Es hatte sich beruhigt, auf seinen Lippen glaubte sie, ein feines Lächeln zu sehen.

Unmöglich! Kein Kind konnte sich einfach so vor ihrer Magie schützen, erst recht kein schlafendes. Doch die Verlockung, die sie ihm gesandt hatte, rieselte zu ihr zurück und schien ihr zu sagen, dass das Kind schon längst eigene Träume hatte.

Das Mädchen könnte ihr gefährlich werden.

Sie trat einige Schritte zurück, verliess das Zimmer, ohne einen Plan zu haben, wie sie ein Kind aus dem Weg räumen konnte. Einerseits wusste sie, dass sie keine Wahl hatte, andererseits konnte sie ihre einzige Hoffnung auf eine Nachfolgerin nicht ohne Weiteres zunichtemachen.

Verwirrt und überfordert eilte sie hinaus, verliess die Stadt, betrat ihr Reich. Ein Kind, das ihrer würdig sein könnte. Eine Frau, die ihre Magie erlernen und sie ebenso vielfältig einsetzen könnte wie sie.

Oder eine Gegnerin, die sie zu vernichten drohte.

Egal, sie musste und würde einen Weg finden, die Gefahr unschädlich zu machen. Doch erst musste sie das Kind in ihr Reich locken. Ihr einen Handel anbieten. Sie testen. Dann konnte sie weiter entscheiden. Ja, das klang nach einem guten Plan.

Mit dem Zurückschicken ihrer Magie hatte das Mädchen ihr etwas geschenkt, von dem sie nie zu träumen gewagt hatte: Hoffnung.

Der Atem des Winters

In kaltem Weiss und Gelb glitzerte der viele Schnee unter der Mittagssonne, die es nur knapp über die Scherspitze schaffte. Ich schätzte den Verlauf flüchtig ab, wandte mich jedoch gleich wieder meiner Freundin Lianna und deren Nichte Hilda zu. Dick in unsere Mäntel, Schals und Mützen gehüllt, entfernten wir uns von Eisentor. Eisiger Wind blies uns entgegen, als wollte er uns verhöhnen und fragen, was genau wir hier taten. Als hätte der Winterbär höchstpersönlich ihn beauftragt, uns zu vertreiben. Doch ich wusste es, ohne jemanden zu fragen: Eisentor würde bleiben. Keine Stadt dieser Welt konnte so stur sein wie unsere Heimat.

»Wenn du so tief in Gedanken versunken bist, bilden sich Falten auf deiner Stirn«, unterbrach Lianna lachend meine Vorstellung einer von Menschen leer gefegten Stadt.

Ich rieb mir über die Stirn und schob dabei die wollene, mit Schaffell zusätzlich gefütterte Mütze hin und her. »Solange es so kalt ist, kann ich faltig werden, wie ich will. Sieht sowieso niemand.« Ich grinste breit, doch auch das konnte sie höchstens an meinen Wangen erahnen, denn den Mund hatte ich im hochgeschlagenen Kragen meines Mantels versteckt.

»Tante Lianna?« Hilda hüpfte ein paar Schritte voraus und warf ihrer Tante einen hoffnungsvollen Blick aus grossen Augen zu. »Wirfst du mich in den Schnee?«

Das Mädchen war der heimliche Schatz meiner besten Freundin und so etwas wie eine Tochter für sie. Hin und wieder machten wir einen Ausflug mit ihr, was in Eisentor bedeutete, dass wir uns vor die Stadtmauern wagten, ein paar Sonnenstrahlen auf fast komplett verhüllten Gesichtern genossen und wieder zurückkehrten.

Lianna tat, als wäre sie entsetzt, und riss die Augen auf. »Was, in den Schnee? Aber da finden wir dich doch niemals wieder!«

Die Kleine kicherte. »Ich schreie dann.«

»Na gut«, lenkte Lianna scheinbar schweren Herzens ein und schüttelte die Arme, als müsste sie sich bereit machen. »Also, ich kommeeeeee!«

Noch bevor Lianna auch nur den ersten Schritt getan hatte, flitzte Hilda kreischend davon, lachte, kreischte erneut und rannte. Unwillkürlich fragte ich mich, wann sie dazu noch atmete, doch sie eilte immer weiter die Strasse entlang. Meine Freundin hetzte ihr hinterher, liess sich zwischendurch zurückfallen und holte dann wieder auf, um ihrer Nichte ein weiteres, glockenhelles Lachen zu entlocken. Ich beeilte mich, zu ihnen aufzuschliessen. Gerade als ich die beiden eingeholt hatte, packte Lianna das Mädchen und hob es in die Luft. Das Kreischen gellte durch das Tal, dass sich eine Lawine lösen und zu Tal donnern müsste. Doch nichts regte sich.

Hilda zappelte wie verrückt, um sich aus dem Griff zu befreien, als ich meiner Freundin zu Hilfe eilte und die Kleine an den Schuhen packte. Ein Blick zu Lianna genügte, und gemeinsam zählten wir: »Eins … zwei … drei!«

In hohem Bogen warfen wir Hilda in den tiefen Schnee, lachten und freuten uns über das bisschen Freiheit, das wir ergattert hatten, über den Moment, der nur uns gehörte, allein zwischen den tief verschneiten Bergen und einem Winter, der nicht enden würde.

»Tante Lianna? Wieso gibt es den Winterbären?« Hilda schien meine Gedanken erraten zu haben, oder sie war mit den Blicken den meinen gefolgt, um sie zu deuten, obwohl sie noch im Pulverschnee lag.

Lianna packte ihre Hand, zog sie aus dem Schnee und klopfte sie frei, so gut es ging. »Weil die Männer nach der Arbeit gerne ein kühles Bier oder einen warmen Eintopf haben.«

Als Hilda kicherte, leuchteten ihre Augen auf. »Nein, nicht der Winterbär. Der richtige!«

»Das ist doch der richtige«, antwortete Lianna und richtete sich grinsend auf. »Aber wenn du etwas über den Winterbären erfahren willst, solltest du Tante Rani fragen.«

Obwohl ich nicht ihre wirkliche Tante war, nannte sie mich so. Meistens sah sie mich nur zusammen mit Lianna, und da wir gleich alt waren, hatte sich die Ansprache einfach eingeschlichen. Mich störte es nicht, nur meine Mutter rügte mich zwischendurch, dass man so etwas doch nicht machte und das Kind nur verwirrt sein würde.

Über mein Gesicht huschte ein Schmunzeln, das ich mir nicht komplett verwehren konnte. Ich hasste den Winterbären, weil er mich in dieses langweilige, von Schnee und Kälte bestimmte Leben gezwungen hatte, gleichzeitig aber sog ich jede Information auf, die ich über ihn nur finden konnte.

»Der Winterbär ist ein grosses Geheimnis«, begann ich leise, den Blick über die Bergspitzen schweifen lassend. »Einige Erzählungen berichten, dass er sich die Macht der Eisenberge zunutze machen will, um die gesamte Welt zu erobern. Ausserdem soll er wütend sein, weil niemand mehr zu ihm betet. Als Gott des Winters und der Kälte kann ich ihn verstehen, das heisst aber nicht, dass ich ihn deswegen mag.«

»Und wieso nicht?«

»Weil das hier kein Leben ist«, antwortete ich leise.

Es war keine Antwort, die man einem Kind gab. Doch in diesem Moment hatte ich nicht überlegt, hatte einfach gesagt, was mir durch den Kopf geschossen war, und vergessen, mit wem ich sprach.

Mit in den Nacken gelegtem Kopf drehte sich Hilda um die eigene Achse. »Ich mag es. Wir haben immer Schnee und können am Feuer zusammensitzen, um uns zu wärmen. Gesellschaft ist gut für die Seele«, schob sie hinterher. Ihrem ernsten, auf mich gerichteten Blick war anzusehen, wie oft sie diese Worte von Erwachsenen gehört hatte.

Erwachsene, die ihre Träume schon vor Jahren begraben hatten. Niemand hier hoffte noch auf Besserung. Am Morgen standen wir auf, legten Holz ins noch schwelende Feuer, nahmen einen warmen Haferbrei zum Frühstück ein, gingen arbeiten, kamen zurück und feuerten unsere Öfen erneut ein. Jeder Tag glich dem anderen, jahrein, jahraus. Nicht einmal die Jahreszeiten erfreuten uns, denn hier war immer Winter.

Leise seufzte ich. »Der Winterbär tut nichts Gutes. Er nimmt uns nur die, die wir lieben.« Mein Blick glitt zur Stadt, die sich hinter wuchtigen Mauern verbarg, obwohl dies nicht nötig gewesen wäre. Die wenigen Menschen, die sich hierherverirrten, freuten sich auf eine scharfe Suppe und ein warmes Bett und würden uns sicher nicht angreifen. Wozu auch? Das Eisen allein wäre kein Grund, uns das Leben zur Hölle zu machen, denn wenn jemand Eisentor eroberte, würde dieser Jemand hier leben müssen. Eine schlimmere Strafe konnte ich mir nicht vorstellen.

Doch, eine schon. »Weisst du, dass der Winterbär manchmal kommt, um ein kleines Mädchen aus unserer Mitte zu reissen?«, fragte ich in die ungewohnte Stille. Normalerweise plapperte Hilda wie der Wind, der den Bergspitzen aufregende Abenteuer aus der Ferne erzählte.

Sie schüttelte den Kopf, sodass die noch etwas zu grosse Mütze beinahe von ihrem Kopf flog.

»Meine Tante, die kleine Schwester meines Papas, wurde entführt, als sie etwa so alt war wie du.« Ich sah der Kleinen fest in die Augen, erkannte die Furcht darin, das Wissen darum, dass es jederzeit wieder geschehen konnte.

»Das reicht«, unterbrach mich Lianna mit fester Stimme. »Wir müssen nach Hause.«

Ich wusste genau, dass die Zeit noch nicht so weit fortgeschritten war, doch vermutlich hatte ich mich zu sehr von meiner Abneigung gegen den Winter treiben lassen, und Lianna wollte ihre Nichte vor mir schützen.

»Jetzt schon?« Hilda verzog das Gesicht zu einer missmutigen Grimasse.

Halbherzig lächelte ich und streckte die Hand aus. »Komm, ich zeige dir ein paar Blumen.«

Am Rand des Weges kniete ich mich in das festgetrampelte Weiss, froh darum, dass all die dicken Stoffe, die mich vor der Kälte schützten, auch verhindern würden, dass meine Beine nass wurden. Mit den Händen malte ich einen Kelch in den Pulverschnee.

»Das ist eine Tulpe«, erklärte ich leise. »Tulpen sind die Blumen, die im Frühling fast als erste aus dem Boden schiessen und die Wiesen mit bunten Tupfen sprenkeln.«

Mit ihren grossen blauen Augen starrte Hilda erst die in den Schnee gezeichnete Blume, dann mich an. »Hast du schon eine Tulpe gesehen?«, fragte sie. »In echt?«

Ob ihrem Staunen musste ich lachen, obwohl mir nicht danach war. »Nein.« Als mich die Sehnsucht mit ungeahnter Wucht traf, seufzte ich. »Nein, ich habe noch keine Blume in echt gesehen.«

»Tante Rani verbringt eben viel Zeit in der Bibliothek«, kam Lianna mir zu Hilfe.

Als ich aufstand, lachte ich leise in mich hinein. »Das war früher einmal. Doch es gibt keine Bücher mehr, die mich interessieren.«

Auch wenn es unmöglich sein konnte, wurden Hildas Augen noch grösser. »Du hast die alle gelesen?«

»Nein, nicht alle.« Abermals lachte ich leise.

Ich hatte alle gelesen, die etwas über Blumen oder den Winter zu berichten hatten. Alle, die mir nur einen kleinen Hinweis darauf geben konnten, wie ich hier wegkam oder dem Winter ein Ende bereiten konnte.

Beides war unmöglich.

Fremde Abenteuer

Ich liess den Blick über die Gäste schweifen, nachdem ich zwei Männern ihr gewünschtes Bier gebracht hatte. Kerzen schenkten zusammen mit dem prasselnden Feuer behagliche Wärme und Licht, gleichzeitig machten sie die Luft stickiger, als sie sowieso schon war. Viele der Männer sassen allein oder zu zweit an einem Tisch, ohne miteinander zu sprechen. In Eisentor waren die Tage hart und kurz. Nur wenige fanden am Abend die Kraft, sich auszutauschen, wenn die Dunkelheit zwei Drittel des Tages verschlang und die Berge rundherum in Schatten hüllte.

Sie erinnerten mich ein wenig an mich. Zwar war ich abends nicht ausgelaugt, sondern konnte mich gut mit ihnen in ein Gespräch vertiefen, wenn ich wollte, doch in mir herrschte dieselbe Hoffnungslosigkeit.

Ich seufzte, beugte mich über die Theke und legte den Kopf in die Hand. »Heute ist es ruhig.« Ich mochte Abende, an denen viel los war. Wenn ein Fremder das Gasthaus besuchte, um seine Geschichten zu erzählen, und ich von einem anderen Teil der Welt träumen konnte.

Lianna lachte in sich hinein, als sie sich zu mir umdrehte. »Na, so werden wir wenigstens nicht gestresst«, erwiderte sie. »Ausserdem mag ich es nicht, wenn die Männer uns begrapschen. Wenn es zu viele sind, brauchen sie nur einen Arm ausstrecken, um mir an den Hintern zu fassen. Und ich kann nicht weg, weil es so eng ist.«

Als ich mich umdrehte, erhaschte ich gerade noch den letzten Teil ihres Augenrollens. Ich hatte nicht so viel Mühe mit den Männern. Mein Hintern war weniger auffällig, der Busen nicht so gross wie der der anderen Schankmägde. So entging ich vielen gierigen Blicken und aufdringlichen Männern. Ich war die graue Maus, die ihnen unauffällig ihr Bier brachte.

»Ich mag es, den Geschichten zu lauschen. Wenn sich mir eine ganz neue Welt auftut.« Abermals betrachtete ich die wenigen Gäste, die trotz der fortgeschrittenen Stunde noch hier sassen. »Sie sind so ohne Hoffnung. Wenn jemand kommt, neue Kleider bringt und uns erzählt, was ausserhalb der Eisenberge geschieht, herrscht eine ganz andere Stimmung.«

»Ja, mit der Hoffnung auf eine schnelle Nummer an irgendeiner kalten Wand draussen«, entgegnete Lianna und schüttelte den Kopf. »Du kannst dir deine Männer wenigstens aussuchen.«

Manchmal wünschte ich mir, auch einmal die Aufmerksamkeit auf mich ziehen zu können. Nicht, weil ich begrapscht werden, sondern weil ich mich attraktiv fühlen wollte. Ich wusste genau, wie unangenehm die Hände eines Fremden sein konnten. Nur einmal auffallen, nicht mehr. Nicht nur die graue Maus im Winterbär sein.

»Es ist aber schon lange her, seit jemand Fremdes hier aufgetaucht ist, findest du nicht?«, fragte ich, noch immer nicht ganz aus meinen Gedanken zurückgekehrt.

Lianna nickte, ein leises Seufzen kam über ihre Lippen. »Die letzte Gruppe blieb im Dunklen Tunnel, weil dort die Schankmägde aufgeschlossener seien.« Sie verdrehte die Augen. »Kein Wunder, wenn Korina dort ist. Sie macht für jeden …«

Ein Knall schoss durch den Schankraum. Ich fuhr zusammen und hob den Blick, die Hand bereits am Dolch, der zwischen den Falten meines Kleides versteckt war. Die Tür war gegen die Steinmauer geprallt, als der Wind sie dem Neuankömmling aus der Hand gerissen hatte. Schneeflocken und eisige, frische Luft strömten herein, zerrissen Liannas restliche Worte, kurz nachdem sie den Mund verlassen hatten. Doch das Gerede interessierte mich nicht mehr.

Eine in einen dicken Mantel gehüllte Gestalt trat ein. Selbst das Gesicht war von Stoffschichten verdeckt, nur ein schmaler Spalt ermöglichte es dem Fremden, überhaupt zu sehen. Er brachte den Geruch nach Abenteuer mit, nach Weite und Schnee.

Allein die Gewandung machte mich neugierig. Seine Kleidung erzählte Geschichten, von denen ich nicht einmal zu träumen wagte. Ich wollte sie alle hören, würde sie aufsaugen und mein tristes Leben dank ihnen ein Stück farbiger machen.

Einen Moment verharrte die Gestalt im Türrahmen, ehe sie eintrat und den Winter nach draussen verbannte. Sämtliche Augen richteten sich auf den Fremden, der kurz stehen blieb und den Blick durch den Raum schweifen liess. Dann setzte er sich an einen freien Tisch in einer Ecke, von der aus er den Schankraum überblicken konnte. Dort würde er sogar die Gespräche zwischen Lianna und mir mithören, doch das war mir egal. Vielleicht entlockte ich ihm so die eine oder andere Geschichte von ausserhalb.

Lianna drehte dem Fremden den Rücken zu und bohrte ihren Blick in meinen. »Ich überlasse ihn dir. Jammere aber nicht, wenn er dir zu aufdringlich wird.« Die Blondine zwinkerte und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Küche.

Vermutlich machte sie dem jungen Koch wieder schöne Augen. Der Mann hatte erst vor wenigen Wochen hier angefangen, doch sein Braten und die Kartoffelsuppe waren schon in aller Munde – wortwörtlich. Ich mochte sie auch, den Koch jedoch nicht. In meinen Augen ging er nicht sorgsam mit Lianna um. Immerhin war sie meine Freundin, da durfte ich auch ein Auge auf die Leute werfen, die ihr nahestanden.

Der Fremde schälte sich aus seinen unzähligen Lagen aus Stoff und Fellen, die ihn vor der Kälte und dem nie endenden Wind schützten. Ich beobachtete ihn unverhohlen. Selbst die anderen Gäste, an ihren eigenen Leben wenig interessiert, warfen ihm hin und wieder einen Blick zu.

Wie ich an den breiten Schultern und seiner Grösse bereits erahnt hatte, erschien unter den ganzen Stoffen ein Mann. Seine dunkelbraunen Haare zeigten an den Schläfen erste graue Strähnen, die hellen Augen verpassten nichts, was in seiner Nähe geschah. Wahrscheinlich wusste er auch, dass ich ihn beobachtete.

Als unter einer besonders dicken Jacke ein Kettenhemd zum Vorschein kam, hielt ich den Atem an. Ein Mann mit Kettenhemd in Eisentor? War ein Krieg ausgebrochen? Ein Deserteur? Ein Vorbote, der die jungen Männer sammelte, um sie zu Soldaten auszubilden? In meinem Kopf schossen Tausende Bilder hin und her, eines merkwürdiger als das andere.

Seine Augen blieben an mir hängen, als er sich setzte, ohne das Kettenhemd auszuziehen. Auf seinen schmalen Lippen zeichnete sich ein belustigtes Lächeln ab.

Ich blickte mich um, doch ich konnte keine von den Gästen oder mir ausgehende Gefahr erkennen. Das Kettenhemd wirkte nicht sehr bequem. Doch wer war ich, mir darüber ein Urteil zu erlauben. Ich war eine einfache Schankmagd in Eisentor und bediente die Männer, die tagsüber in den Minen arbeiteten. Wenn sie sich im Rausch unter meinen Rock kämpfen wollten, konnte ich mich wehren. Wenn ein Krieger im Kettenhemd essen und trinken wollte, dann sollte er das tun.

Ich trat an seinen Tisch, erwiderte sein Lächeln. »Seid gegrüsst, mein Herr. Was darf ich Euch bringen?«

Er nahm sich einen Moment, um mich zu mustern, ohne dass ich mich bedrängt fühlte. »Etwas Wärmendes wäre gut.« Bei jedem Wort tanzten die Lachfalten in seinem Gesicht.

»Na, wir hätten Enzianschnaps. Er ist zwar nicht zum Geniessen, aber er wärmt ganz schön«, bot ich gespielt unschuldig an. Innerlich lachte ich. Enzianschnaps war neben dem Eisen das einzige Gut, das in Eisentor zur Genüge vorhanden war. Im Gegensatz zum Metall lag es nicht daran, dass es den Schnaps in rauen Mengen gab, sondern weil ihn kaum jemand trank.

Er blinzelte, dann schlich sich ein Grinsen in seine Züge. »Klingt interessant. Darf ich Euch zu einem Gläschen einladen?«

Ich lachte. Ganz bestimmt würde ich keinen Enzianschnaps trinken. Die meisten probierten das Gesöff einmal und liessen dann die Finger davon. »Hättet Ihr mich zum Abendessen eingeladen, wenn ich Euch den Braten vorgeschlagen hätte?«

Er legte den Kopf leicht schief, der Blick wanderte über meinen Körper und schlich sich wieder hoch zu meinem Gesicht. Dabei fühlte ich mich im Gegensatz zu anderen Musterungen nicht unwohl. »Nun, vertragen könntet Ihr es.«

Wieder lachte ich, unsicher, ob das ein Kompliment war oder eher unterschwellige Kritik. Nicht alle mochten dünne Frauen, viele bevorzugten mehr Fülle. Ich nicht. Ich mochte mich. Obwohl die weiblichen Kurven etwas ausgebildeter hätten sein dürfen. Wer mich nicht schön fand, musste mich nicht ansehen.

»Also, Braten oder Schnaps?«, holte ich mich aus meinen eigenen Gedanken zurück in die Gegenwart.

»Beides?«

Bei Schnee und Eiswind, wollte er die Brühe wirklich probieren? »Wenn Ihr Euch das mit dem Schnaps nicht ausreden lasst, dann geht auch beides.« Ich seufzte übertrieben, verdrehte die Augen und wandte mich ab, nicht ohne mich über das leise Lachen hinter mir zu freuen.

Mit einem breiten Lächeln gab ich die Bestellung an die Küche weiter, dann machte ich den Schnaps und einen Krug Wein bereit. Wenn er mich weiterhin so gut unterhielt, ging der aufs Haus. Männer zeigten sich redseliger, wenn sie Wein oder Bier getrunken hatten.

Als ich an seinen Tisch trat, beugte er sich über eine alte Karte mit ausgefransten Rändern. Das Papier wies gelbe Flecken auf, als wäre es schon unzählige Male auseinandergefaltet worden, um von Neuem betrachtet zu werden. An einigen Stellen hatte jemand Markierungen angefügt, die ich nicht entziffern konnte. Ich streckte mich etwas, um besser sehen zu können.

Der Fremde schreckte auf, betrachtete mich überrascht und faltete die Karte zusammen, als wäre sie unwichtig. Seine Augen trafen auf das kleine Glas mit dem Schnaps. »Ich dachte, Ihr trinkt einen mit mir.« In seine Züge trat die bisherige Fröhlichkeit, die einen faszinierenden Kontrast zu seiner Ausrüstung bildete. Vielleicht trug er in seinem Packen sogar ein Schwert mit sich.

Unauffällig musterte ich den Haufen neben ihm. Ich glaubte, den Wirbelkasten und den oberen Hals einer Laute zu entdecken, doch das Heft oder die Scheide eines Schwertes suchte ich vergeblich. Wenn er ein Lautenspieler war, dann war er ein verrückter Lautenspieler, der im Kettenhemd durch die Gegend rannte.

»Nein, das werde ich nicht«, lehnte ich seine Einladung zu einem Enzianschnaps ab.

»Was muss ich dafür tun, dass Ihr Euch mit einem zu mir setzt?« Seine Augen blitzten fröhlich auf.

Ich stutzte. Wieso wollte er, dass ich mich zu ihm setzte? War er vielleicht einer dieser durchtriebenen Männer, die einer Frau schöne Augen machten, sobald sich ihnen die Gelegenheit bot? Bisher hatte er mir diesen Eindruck zwar nicht vermittelt, doch ich konnte mich auch täuschen.

»Erzählt mir eine Geschichte von ausserhalb der Eisenberge«, hörte ich mich selbst sagen und hätte mir im selben Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen. Ich brachte mich nur unnötig in Gefahr, das hatte Lianna mir schon oft genug gesagt. Bei einem Mann in Kettenhemd, mit Laute und einem Packen, der Waffen verstecken konnte, hatte sie vermutlich recht.

Zudem war Enzianschnaps wirklich nichts, das man genoss.

Doch für eine Geschichte aus einem unbekannten Land würde ich fast alles tun. Selbst wenn er sich erhoffte, sich heute Nacht an mir zu wärmen, würde er nicht einfach so unter meinen Rock gelangen. Das war das Gasthaus Winterbär, nicht der Dunkle Tunnel. Kaspar, der Wirt, achtete auf seine Schankmägde und die Gäste. Wenn sich Letztere nicht benahmen, flogen sie raus.

Der Gast hob eine Hand und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. Er wartete, bis ich mich mit dem ungeliebten Enzianschnaps gesetzt hatte, dann lehnte er sich nach hinten und musterte den Schankraum mit den Gästen, als hätte er alle Zeit der Welt.

Voller Vorfreude beugte ich mich nach vorn. Ich wollte kein Wort, kein Augenzwinkern, keinen Hinweis verpassen, der mich dem Geheimnis der Geschichte näher brachte. Dafür nahm ich auch den grässlichen Schnaps in Kauf.

Er ass wie ein Barde, gesittet und langsam, kostete jeden Bissen, aber er kleidete sich wie ein Krieger.

Eisentor war weder bekannt für seine starken Männer noch für begeisterte Zuhörer. Er musste verrückt sein. Entweder ein verrückter Barde oder ein verrückter Krieger. Wieder linste ich zu dem Packen, aber ein Schwert oder eine andere Waffe konnte ich nach wie vor nicht ausmachen.

»Was vermisst Ihr?«, unterbrach er meine Gedanken.

Ich sah ihn an, blinzelte.

Er zuckte mit den Schultern, eine Geste, die so gar nicht zu seinem Lächeln passte. Ohne auf seine Hände zu schauen, wischte er mit einem Stück Brot den letzten Saft vom Teller. »Na, Ihr schaut immer wieder zu meinen Sachen. Habt Ihr Angst, dass ich mein Essen nicht bezahlen kann?«

Leicht schüttelte ich den Kopf, senkte den Blick. »Nein, nicht wirklich.« Ob jemand bezahlen konnte, war auch nicht mein Problem, sondern Kaspars.

»Ich verrate Euch ein Geheimnis.« Er beugte sich nach vorn und wartete, bis ich seinen Blick erwiderte. Ein aufgeregtes Funkeln beherrschte seine Augen und nahm mich gefangen. Voller Erwartung lauschte ich, hoffte auf ein Abenteuer, wenn auch nur durch die Augen eines anderen erlebt. »Ich werde sogar hier nächtigen und es bezahlen können.«

Enttäuscht lehnte ich mich zurück und konnte gerade noch ein Seufzen verhindern.

Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. Eindeutig die Geste eines Kriegers – oder eines einfachen Arbeiters, der seinen Tag in den dunklen Minen verbrachte. »So schlimm? Ich muss ein unglaublich langweiliger Gast sein, wenn ich Euch mit der Aussicht, ein Zimmer zu vergeben, nicht erfreuen kann.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht könntet Ihr Euch ein wenig interessanter machen, indem Ihr mir die versprochene Geschichte erzählt.«

»Ich könnte sie auch singen.« Er streckte seine Hand nach der Laute aus und berührte den Hals beinahe schon zärtlich.

»Könntet Ihr«, stimmte ich zu. »Vielleicht solltet Ihr mit Eurem Gesang bis morgen Abend warten, wenn mehr Männer und Frauen ihm lauschen können. Eure Bezahlung würde sicherlich grösser ausfallen.«

Sein Blick bohrte sich sanft und gleichzeitig bestimmt in meinen, ohne das Strahlen in seinem Gesicht zu mindern. »Ich singe nicht nur für Gold und Mahlzeiten. Ich singe, um Freude zu bereiten, von fernen Landen zu erzählen und schönen Frauen ein Lächeln zu entlocken.« Er näherte sich noch ein Stück. Wir waren uns so nah, dass ich glaubte, in seinen Augen versinken zu können. »Es ist meine Leidenschaft«, flüsterte er und sandte ein angenehmes Kribbeln über meinen Rücken. Wie warmer Regen auf meiner Haut.

Ich zweifelte keinen Augenblick, dass dieser Mann voller Leidenschaft war – und voller Widersprüche. »Dann tut Euch keinen Zwang an, kriegerischer Barde.«

Von meinen Worten überrascht, hielt er einen Moment inne. Er sammelte sich, setzte sich entspannt hin und holte seine Laute hervor. Jede Bewegung erzählte von seiner Liebe zu dem Instrument, zu den Legenden, die sie gemeinsam zum Leben zu erwecken vermochten. Er stand auf, um sich auf die Tischkante zu setzen, wo ihn nicht nur ich, sondern die letzten verbliebenen Gäste beobachten konnten.

Er zupfte zwei Saiten und liess die Töne den Raum einnehmen und wieder loslassen. »Zu so später Stunde ist es ungewöhnlich, dass ein Barde seine interessanteste Geschichte zum Besten gibt. Aber ich bin kein gewöhnlicher Barde. Diese holde Jungfer hier« – er deutete auf mich – »nannte mich einen kriegerischen Barden.«

»Ihr seid verrückt.« Ich kicherte.

Die beiden Männer aus Eisentor schmunzelten müde. In einer kleinen Stadt wie der unseren wussten alle alles voneinander. So überraschte es sie auch nicht, dass ich ihn verrückt und kriegerisch nannte und am liebsten all seine Reisen selbst erlebt hätte.

Lianna lachte hinter meinem Rücken. Überrascht drehte ich mich zu ihr um. Ich hatte nicht erwartet, dass ihr Treffen mit dem Koch so schnell vorüber sein würde und sie schon wieder bei den Gästen weilte. Sie schenkte mir ein kurzes Zwinkern, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Barden.

Er entlockte seiner Laute eine kurze Abfolge wilder, wirbelnder Töne. Eine fremde Melodie, die mich in ihren Bann zog, kaum hatte sie mein Herz erreicht. Die Melodie klang nach Frühling und Sommer, nach unbeschwertem Lachen und nach Abenteuern in der Ferne.

Der Fremde nahm mich mit seinem Blick gefangen, als er weitersprach: »Aber so einer bin ich nicht. Ich führe ein Schwert, um mich zu verteidigen. Meine wahre Leidenschaft gilt der Musik und den Legenden dieser Welt. Heldentaten, Mythen, Geschichten, die den Kern eines jeden Traumes ausmachen.« Wieder klang diese Melodie durch den Schankraum, die Energie schenkte, wo keine mehr war.

Gebannt lauschte ich den Tönen, die hüpfend durch mich hindurchdrangen, mich innerlich tanzen liessen, und doch blieb ich auf meinem Stuhl sitzen, um ihn nicht zu unterbrechen. Ich wollte nichts verpassen, wollte träumen und mit ihm reisen.

Der Fremde senkte den Blick auf seine Laute, testete eine neue Melodie und schloss die Augen.

Ein gefrorenes Herz, gewärmt nur von Liebe.

Ein gefrorenes Herz träumte einst von Frieden.

Wild und frei tanzte es sich aus dem Schnee,

flog über Bergtal, Wald und See.

Es fand einen Prachtkerl von einem Mann,

einer, der fast alles kann.

Seine Augen hingen an ihrer schönen Gestalt,

seine Hände machten bei ihren Kleidern nicht Halt.

Die Strophe entlockte den anderen beiden Gästen ein Lachen, doch mir blieb die Freude im Halse stecken. Alles an der Erzählung schien fröhlich, die Stimme des Fremden, die Melodie, der Text. Dennoch bannte mich etwas, das tiefer lag, versteckt, als wollte es sich hinter einem Schleier verbergen. Ich wollte danach suchen, ohne zu unterbrechen, was sich mir eröffnete.

Das Lied war traurig. Wie musste sich jemand fühlen, der ein gefrorenes Herz in der Brust trug, vielleicht enttäuscht von Menschen, der Welt oder sich selbst? Über jemanden mit erkaltetem Herzen sollte man nicht lachen. Schicksale waren hart. Trug man es nicht selbst, hatte man kein Recht, darüber zu urteilen oder zu lachen.

In meiner Brust setzte sich eine Schwere fest, die ich am liebsten mit einem entschlossenen Griff herausgerissen hätte, doch sie verteilte sich so subtil, so feingliedrig, dass ich mich unweigerlich selbst verletzt hätte.

Der Fremde sang mit seiner rauen, melodiösen Stimme weiter, die den Schankraum erfüllte und nicht nur mich in ihren Bann zog. Mit jedem Wort glaubte ich mich weiter in der Ferne, an einem Ort, an dem auch Frühling herrschte. Ich wollte nicht über die Worte nachdenken, sondern die Geschichte geniessen. Für einen Moment frei sein.

So ward dereinst ein Junge geboren,

mit schrägen Augen und grossen Ohren.

Die Mutter mit dem gefrorenen Herz

ertrug nicht einen kleinen Scherz.

So floh der Mann aus ihrem Haus,

ging fort, schlich wie eine Maus,

in seinem Arm sein Kind von ihr,

das nicht mehr wert war als ein Tier.

Das Kind wurde zum gut aussehenden Manne,

vor ihm zerflossen die Frauen in Wonne.

Doch in seiner Brust ist nur Platz für eine Frau,

für das gefrorene Herz, das seine Liebe klaut.

Er wandert, sucht, hofft und findet,

sodass der Winter endlich schwindet.

Für die Frau mit dem gefrorenen Herz.

Für ihre Liebe und gegen ihren Schmerz.

Die Stimme des Fremden verstummte, wenige Augenblicke später folgte seine Laute. Das Lied hatte Lianna Tränen in die Augen getrieben. Das zurückhaltende Schniefen verriet es mir, ohne dass ich sie ansehen musste. Selbst mir war die Kehle eng, und wenn ich die Blicke der beiden anderen Gäste richtig deutete, erging es ihnen nicht anders. Die Darbietung des Mannes hatte uns alle mitten im Herzen berührt.

Er liess seinen Blick durch den beinahe leeren Raum schweifen, verharrte einen Moment an einem Zuhörer, ehe er aufstand und sich übertrieben verbeugte. »Und hier stehe ich, ein Junge mit grossen Ohren.« Er lachte verhalten, um die bedrückende Stimmung zu lösen.

Lianna kicherte, einer der beiden anderen Männer grinste. »Schönes Lied. Danke.« Er stand auf, sein Kumpan tat es ihm gleich, um sich auf den Weg zu ihren Frauen zu machen. Kurze Zeit später waren Lianna und ich allein mit dem Fremden im Schankraum.

Meine Freundin näherte sich uns, legte mir eine Hand auf die Schulter. Als sie sprach, klang sie freundlich, aber bestimmt: »Es ist schon spät. Ich werde Euch Euer Zimmer zeigen.«

Während der Fremde seine Sachen schulterte, bedeutete sie mir mit einem Kopfnicken, zu gehen. Nur schwer konnte ich mich von ihm und dem Versprechen lösen, das seine merkwürdige Aufmachung gab. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass mich Lianna schützen wollte. Ich war viel zu anfällig für Fremde, die singen und Geschichten erzählen konnten. Zu schade, dass nur so wenige Barden den Weg nach Eisentor einschlugen.

Alte Jungfer

Als ich am nächsten Morgen an der Seite meiner Eltern und meiner Schwester Krimhild durch die Stadt eilte, hallte die Geschichte des Fremden noch immer in mir nach.

---ENDE DER LESEPROBE---


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