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Hingabe ist das Elixier des Lebens, ohne das das Leben sinnlos ist. Nach dem überraschenden Tod ihres Patenonkels reist Eileen mit einem klaren Ziel nach Schottland: Sie will seine Destillerie in gute Hände verkaufen. Der hochnäsige Ninian Kerr ist dafür sicher nicht geeignet, obwohl er mit jedem Tag die Liebe zur Brennerei mehr in ihr weckt. Doch eins kann Eileen nicht: bleiben. Für die Anerkennung seines Vaters würde Ninian alles tun. Als die verwöhnte Nichte seines verstorbenen Freundes dessen Whiskybrennerei erbt, leitet er alles in die Wege, um sie gleich wieder loszuwerden. Doch sie macht ihn sprachlos – wortwörtlich. Und er weiss: Von seinem Verrat darf sie nie erfahren.
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Inhaltsverzeichnis
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Ninian
Eileen
Epilog
Danksagung
Andrea Ego
Whiskyliebe
in den
Highlands
Impressum
© September 2022, Andrea Ego
Andrea Ego c/o Autorenservice Patchwork Schlossweg 6 A-9020 [email protected]
Lektorat und Korrektorat: LibriMelior – Michael Weyer Cover Design: Giusy Ame / Magicalcover
Bildquelle: Depositphoto, Freepik
Im Herzen der Schweiz, wo ich herkomme und es leckere Schokolade, gute Messer und unglaublich schöne Berge gibt, läuft vieles ein wenig langsamer und anders. Ich liebe unser Tal und die Berge rundherum, die schrulligen Leute und den Herbstwind.
Wir Schweizer werden ohne »ß« gross. Weil ich unser Schriftbild schön finde, stolz auf diese Schweizer Eigenheit bin und vor allem die Vielfalt der deutschen Sprache liebe, verwende ich konsequent »ss«.
Ich danke euch allen schon im Voraus für das Verständnis, was die Rechtschreibung angeht, und wünsche trotzdem ein schönes Leseerlebnis.
Eileen parkte vor Onkel Sams Haus – nein, vor ihrem Haus. Noch wagte sie es nicht, aus dem Auto zu steigen und das Grundstück zu betreten. Stattdessen betrachtete sie das schnuckelige Häuschen. Kleine Fenster durchbrachen das Grau der Mauersteine, die Tür führte in den ansehnlichen Garten davor, in dem knorrige Apfelbäume wuchsen, als wären sie verzaubert.
Der Schlüsselbund klimperte, als sie ihn von der einen in die andere Hand gab. Früher hatte sie sich vorgestellt, dass sie sich freuen würde, wenn sie die Schlüssel zu einem eigenen Haus in den Händen hielt. Doch sie freute sich nicht. Um der Wahrheit noch einen Moment länger nicht in die Augen blicken zu müssen, musterte sie den Schlüsselbund. Ein Schlüssel war für ihre Wohnung, einer für die ihrer Eltern, einer für das Büro, in dem sie arbeitete, einer für den Mietwagen und einer für dieses Haus.
Sie atmete tief durch und sah nach draussen, doch nicht mehr zum Garten oder zum Haus, sondern einfach weg. Weg, weil es nicht so schwierig war wie alles andere. Weggehen war einfach. Wenn man blieb, gab es früher oder später Probleme mit denen, die da gewesen waren, bevor man selbst angekommen war. Am Anfang ertrugen Menschen einander, später sprangen sie sich gegenseitig an die Kehle. Deshalb würde sie so früh wie möglich wieder abreisen, damit sie diese Enge in der Brust nicht aushalten musste.
Eileen gab sich einen Ruck und stieg aus dem Mietwagen. Das gemauerte Haus duckte sich unter dem tiefen Dach. Büsche und bunt durcheinandergewürfelte Blumen rahmten den Klinkerweg bis zur Tür ein, obwohl der Herbst seinen kühlen Wind über die schottischen Hügel schickte. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Zehn, zwölf Jahre? Es sah aus wie damals, nur dass die Bäume ein kleines Stück grösser wirkten, obwohl das raue Klima dies zu verhindern versuchte.
Schweren Herzens öffnete sie das weiss gestrichene, kniehohe Gartentor und hielt auf das Haus zu, mit dem sie so viele Kindheitserinnerungen verband: Lachen, Freiheit und ganz viel Wind. Sie liebte ihn, doch nun wünschte sie sich ihn weit weg, genau wie das Haus und das, was die Leere darin bedeutete. Als sie die Haustür aufschloss, liess sie ihre Gefühle draussen, verbannte sie in die Kälte. Zwei Wochen, das würde sie aushalten. Nur zwei Wochen. Danach konnte sie fliehen.
Abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Kein Wunder, nachdem seit Wochen niemand mehr gelüftet hatte. Soweit sie erfahren hatte, kam Sams Haushälterin nur sporadisch hierher, um das Nötigste zu erledigen. Auf dem kleinen Tisch neben der Garderobe lagen zwei Stapel Briefe, Werbeprospekte und Informationsbroschüren.
Ohne sich um die Post zu kümmern, schlüpfte Eileen aus den Schuhen und liess den Blick durch das Erdgeschoss schweifen. In der düsteren Werkstatt, in der ihr Patenonkel die meisten Reparaturen selbst erledigt hatte, herrschte absolute Ordnung. Sie hätte mit einem Massband überprüfen können, dass er seine Werkzeuge in perfektem Abstand zueinander aufbewahrte. Und wehe, die Inbusschlüssel lagen nicht der Grösse nach geordnet nebeneinander! Das hatte ihn zur Weissglut getrieben.
Ein schwaches Lächeln huschte über Eileens Wangen, und sie öffnete die Tür zu ihrer Rechten. Der Technikraum mit Heizung, Waschmaschine und Stromkasten erinnerte sie an ihre Ferien, wenn ein Gewitter über sie hinweggefegt war. Manchmal hatten sich Sicherungen willkürlich ausgeschaltet. Sam hatte finsteren Wesen die Schuld gegeben, den Fae, wie er sie genannt hatte. Eileen hatte nur gelacht und ihm erklärt, dass solche Dinge bei einem Sturm nun einmal passierten.
Um die Erinnerungen nicht zu detailliert vor sich zu sehen, biss sie sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte, und zog die Tür ins Schloss. Sobald sie das Haus und die Brennerei verkauft hatte, war sie frei, dorthin zu reisen, wohin auch immer ihre Gedanken sie führten. Nur ein paar Tage.
Sie nahm die Treppe in den oberen Stock, der sich in düsterem Dämmerlicht präsentierte. Durch die zugezogenen Vorhänge drang ein wenig Licht, der Wohnbereich wirkte finster und verlassen. Was er ja auch war. Seit fast zwei Monaten war nur der gröbste Staub entfernt und die Post hereingebracht worden. Zwei Monate war es schon her, seit Sam verstorben war.
Den Gedanken verdrängend, liess Eileen den schweren Koffer stehen und riss die Fenster im Wohnzimmer, in der Küche, den beiden Schlafzimmern und im grosszügigen Bad auf. Der kühle Wind beruhigte nicht nur ihren Kopf, sondern auch die Trauer in ihr. Sie hatte Sam gemocht, und das nicht nur, weil er ihr Patenonkel gewesen war, sondern auch wegen seines Humors. Dennoch … Was sie im Moment mit ihm in Verbindung brachte, war die Ruhe, die er stets ausgestrahlt hatte.
Jedes Möbelstück rief neue Bilder in ihr wach. In der Küche entdeckte sie den kleinen Topf, in dem er Wasser für seinen geliebten Tee gekocht hatte. Er hatte alle Teesorten geliebt: schwarz, grün, fruchtig, würzig, exotisch. Für jeden Geschmack hatte er ein schwärmerisches Lob gefunden.
Abermals schlich sich ein trauriges Lächeln auf ihre Lippen, als sie den Tee mit Brombeer- und Rosmaringeschmack im Regal fand. Kurz entschlossen füllte sie ein Tee-Ei mit der Mischung und den Topf mit Wasser, um es auf der Platte zu erhitzen. Onkel Sam hatte ihr immer Tee gemacht, selbst wenn sie getobt und geschrien hatte. Das war aber nicht oft vorgekommen. Manchmal hatte er ihr sogar morgens um fünf, wenn sie nicht mehr hatte schlafen können, eine dampfende Tasse auf den Tisch gestellt.
Eileen brachte den Koffer ins kleinere Schlafzimmer und setzte sich mit dem Tee in den wildromantischen, heimeligen Garten. In der Ecke beim Erker zog der Wind nicht so stark, sodass eine Decke um ihre Schultern reichte, um die Kälte abzuhalten. In wenigen Wochen würde das Land in kräftigen Rot- und Gelbtönen erstrahlen, wenn die Herbstsonne nach einem Regenschauer hinter dunkelgrauen Wolken hervorblickte.
Noch immer fiel es Eileen schwer, von ihrem Haus zu denken. Sam hatte es ihr vererbt, ebenso die Brennerei zwei Strassen weiter. Hier bedeuteten zwei Strassen eine zehnminütige Fahrt mit dem Rad.
Eileen nippte an ihrem Tee, schlang die Finger um die warme Tasse und schloss die Augen. In einem trägen Takt pumpte ihr Herz Blut durch den Körper. Es weinte noch immer, selbst wenn ihre Augen längst trocken waren. Sam war nicht mehr der Jüngste gewesen, und besonders in den letzten Jahren hatten ihn gesundheitliche Probleme geplagt. Das Herz hatte nicht mehr mitgespielt, Diabetes war hinzugekommen, und irgendwann war er eingeschlafen. Jedenfalls war es das, was man ihr erzählt hatte und was sie hoffte.
Seinen Besitz zu verkaufen fiel ihr unheimlich schwer. Mit keinem einzigen Wort hatte er angedeutet, dass er ihr diese Bürde auferlegen würde. Sie hatte nicht damit gerechnet, vor allem nicht, weil sie ihn schon so lange nicht mehr besucht hatte. Das Haus kannte sie noch, den weitläufigen Garten mit den verwunschenen Ecken und den gepflegten Rosen, den wilden Blumen und hohen Bäumen. Wie hatte sie es geliebt, barfuss durch das regennasse Gras zu springen!
Eileen schlug die Augen auf. Heute Morgen hatte es auf dem Weg hierher geregnet. Ohne zu überlegen, schlüpfte sie aus Schuhen und Socken, grub ihre Zehen in den Rasen. Prickelnd kühl wanderte ein Schauder von ihren Füssen bis zum Rücken, wo er explodierte und in alle Richtungen zerstob. Eileens Lächeln verbreiterte sich, als sie durch das Gras spazierte, die Zehen kalt und doch so voller Leben, wie sie sich seit Monaten nicht mehr gefühlt hatte.
Miss Brodie erschien hinter dem Apfelbaum, der als Einziger keine Früchte trug. Ihren vom Wind umspielten, hellblauen Filzhut hielt sie mit der einen Hand fest, während sie Eileens Mietwagen neugierig musterte.
Um die Dame nicht zu erschrecken, unterdrückte Eileen ein Lachen. Stattdessen hielt sie auf den weissen Zaun zu. »Guten Tag, Miss Brodie.«
Miss Brodie musste uralt sein. Schon als Eileen noch ein Kind gewesen war, hatte sie ihren Gehstock täglich ausgeführt. Manchmal hatte sie Apple Pie mitgebracht, wenn Onkel Sam ihr einen Korb voller Äpfel vor die Tür gestellt hatte. Wie schon damals trug sie ihre weissen Haare zu einer Dauerwelle frisiert.
Die betagte Dame blieb stehen und wandte Eileen den Blick zu. Ihre Augenbrauen wanderten näher zusammen, und sie streckte den Hals, um die junge Frau um einen Apfelbaum herum besser sehen zu können. Schliesslich schüttelte sie den Kopf. »Was haben Sie bei Sam zu suchen? Möge seine Seele in Frieden ruhen.« Sie schlug ein Kreuz in die Luft.
Leise lachte Eileen. »Erkennen Sie mich nicht? Ich bin es, Eileen. Als Kind war ich ab und zu hier im Urlaub. Manchmal haben Sie uns leckeren Apple Pie vorbeigebracht.«
Die grauen Zellen der alten Frau schufteten, bis sich ein erfreutes Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete. »Was für eine Freude, Eileen! Wie gross du geworden bist. Oder soll ich nun Miss Riach sagen?« Mit einem warmen Blick musterte Miss Brodie sie von oben bis unten und wieder zurück. »Gut, dass du da bist. Es freut mich, dass Sams Erbe nicht dem Zahn der Zeit zum Opfer fällt. Wir beide können uns zum Tee treffen«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Solange Sie Apple Pie vorbeibringen, dürfen Sie mich gerne besuchen kommen.« Mit einem breiten Lächeln zwinkerte Eileen der alten Dame zu, was dieser einen noch wärmeren Blick entlockte. »Ich heisse Keller, nicht Riach. Meine Mutter ist ja Sams Schwester und hat geheiratet. Aber bitte bleiben Sie bei Eileen.« Mit dem erfreuten Hüpfen ihres Herzens, das ihre Brust erfüllte, weil Miss Brodie sich noch an sie erinnerte, hatte sie nicht gerechnet. Wenigstens etwas, das sich seit ihrem letzten Besuch nicht geändert hatte.
»Sam war mir immer ein ehrlicher und zuverlässiger Freund. Natürlich bringe ich dir Apple Pie vorbei.« Sie hielt einen Moment inne, als müsste sie erst verarbeiten, dass Onkel Sams Haus nicht mehr leer stand. »Ach, ich freue mich ja so!«
Eileen musterte die vorbeifliegenden Wolken, als würde ihr das Wetter eine versteckte Botschaft senden. »Ich werde nicht bleiben.« Sie hatte keinen Schimmer, wieso das schlechte Gewissen sie mit einem Faustschlag in der Magengrube traf. Bis auf ein paar Erinnerungen band sie nichts an diesen Ort. Hier hatte sie keine Familie, keine Freunde und keine Arbeit. Dennoch sandte der Gedanke an den Verkauf einen bohrenden Wurm in ihren Bauch, der sich schmerzhaft durch ihre Eingeweide frass.
Miss Brodie entfuhr ein Laut zwischen Lachen und Stöhnen, sie legte die Hand auf ihren Brustkorb. »Eileen, aber du kannst doch nicht einfach … Was würde der liebe Sam dazu sagen?«
Das wusste sie doch nicht. Wenn sie erfahren könnte, was er sich mit dem Vermächtnis von Haus und Brennerei an sie überlegt hatte, hätte sie vielleicht eher gewusst, was sie tun sollte. Nun war ein Verkauf die einzige Alternative.
Eileen seufzte und klammerte ihre Finger um den Zaun. »Mein Leben ist nicht in Schottland. Ich kann noch nicht einmal Whisky brennen.« Die Verzweiflung, die sie in den letzten Wochen verdrängt hatte, suchte sich einen Weg an die Oberfläche. Energisch schob sie sie zurück. »Wie also soll ich Onkel Sams Erbe antreten? Ehe ich anfange, kracht der gesamte Laden gegen die Wand. Das haben weder Sam noch sein Lebenswerk verdient. Es ist besser, wenn ich verkaufe und jemand mit Ahnung das Geschäft übernimmt.« Trotz aller Argumente und logischer Gedanken glühte der Schmerz in ihrer Brust erneut auf.
»Sam hat sich jemanden gewünscht, der sich nach seinem Ableben um seine Brennerei kümmert.« Nun betrachtete Miss Brodie die Wolken. Sie sagte es so nebensächlich, dass es gerade deswegen ein Hieb mit dem Zaunpfahl war. Kein Wink, sondern ein richtiger Treffer, der das Opfer taumeln liess.
Eileen schluckte das schlechte Gewissen hinunter. Es war ihr Leben, nicht Miss Brodies. »Und genau so jemanden werde ich finden. Einen, der Whisky brennen kann, der Sams Vermächtnis mit Herz und Seele übernimmt. Machen Sie sich darum keine Sorgen.« Sorgen machte sich Eileen genug, die ältere Dame konnte sich getrost zurücklehnen.
Nachdenklich nickte Miss Brodie, schenkte ihr ein letztes, halbherziges Lächeln, ehe sie in Richtung Dorf deutete. Nach einem Abschiedsgruss machte sie sich auf den Weg zu ihrer besten Freundin, um sich bei Tee und Keksen über den neuesten Tratsch auszutauschen. Eileen gehörte mit Sicherheit dazu.
Sie sah der Dame hinterher. Der Stachel sass tief in der Brust und sandte schmerzhafte Wellen aus. Eigentlich wollte sie Sams Erbe nicht verkaufen, doch ihr blieb keine Wahl, wenn sie es retten wollte. Für einen Moment schloss sie die Augen, konzentrierte sich nur auf den Wind und ihre Haare, die er in ihr Gesicht peitschte.
Als Kind war Eileen selten in der Brennerei gewesen. Onkel Sam hatte immer Urlaub genommen, wenn sie zu Besuch gewesen war. Dennoch erinnerte sie sich an den herben Geruch, die riesigen Eichenfässer und die glänzenden Kessel. Bis auf die unheimliche Stille fühlte es sich an, als könnte Sam jeden Moment zur Tür hereinkommen, sie an die frische Luft locken und irgendwelchen Unsinn anstellen.
Eileen schluckte heftig gegen den Schmerz und den Kloss, doch beides wurde sie nicht so ganz los.
Die Tür ging auf, liess helles Tageslicht auf den Steinboden fallen. Mit einem unterdrückten Schrei sprang Eileen herum. Ihr Herz klopfte so laut, dass es bestimmt bis zur Tür zu hören war. Dort stand ein Mann, einzig seine Konturen waren erkennbar.
Sam?
Nein, das war unmöglich. Selbst wenn es Geister geben sollte, warfen sie keine Schatten, sondern waren durchscheinend.
Eileen schluckte und ignorierte ihr polterndes Herz. »Wer ist da?«
Der Mann trat ungefragt ein und lachte leise. »Ninian.«
Als würde das alles erklären. Nun bereute es Eileen, die Namen der Angestellten der Brennerei nicht auswendig gelernt zu haben. Viele waren es nicht, doch so selbstsicher, wie er hier eintrat, konnte er nur ein Mitarbeiter sein. Aus den Schatten schälten sich braune Haare und Grübchen, die noch mehr als die grünen Augen von der Leichtigkeit in seinem Leben erzählten.
Eileen straffte ihre Schultern. »Ich bin Eileen, die neue Besitzerin.«
Lächelnd nickte er. »Das weiss ich. Deshalb bin ich auch hier. Ich wollte dir ein Angebot machen, weil ich die Destillerie gerne erwerben möchte. Vielleicht können wir es direkt besprechen.« Sein Lachen klang warm, doch ihr stach jeder Ton wie eine glühende Nadel unter dem Herzen. Er wollte ihr Erbe, Sams Vermächtnis, und verhandelte, als wäre es ein einfacher Laden und kein Ort, an dem Erinnerungen hingen. »Ich war gut mit Sam befreundet.«
Überrumpelt schluckte Eileen und rief sich zur Vernunft. Offenbar verbreitete sich der Dorfklatsch hier schnell. Je weiter die Distanzen, desto schneller die Neuigkeiten, so schien es. Wenn er Interesse hatte, die Destillerie zu einem vernünftigen Preis zu kaufen, konnte sie bald verschwinden.
Sie setzte ein Lächeln auf, das ihr schwerer fiel, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Oder zugeben würde. »Nun gut. Ja. Gerne.«
Ninian schlenderte auf sie zu und strich mit dem Finger über einen Brennkessel. »Ich habe die Zahlen studiert«, offenbarte er ihr wie nebenbei. »Sie sind schlecht. Das Geschäft wird frühestens in vier, fünf Jahren wieder Gewinn abwerfen. Deshalb habe ich an einen eher tiefen Preis gedacht.«
Unfähig, etwas zu sagen, schüttelte Eileen den Kopf. Nur wenig Gewinn? Tiefer Preis? Das war nicht das, was sie sich für Sams Vermächtnis vorgestellt hatte.
Seine Lippen deuteten ein Lächeln an. »Nichts.«
Für all die Erinnerungen, das Herzblut, das Sam hineingesteckt hatte? »Nein!«
Aufmerksam richteten sich seine leuchtend grünen Augen auf sie und musterten sie aufmerksam, bis sie an ihrer Narbe über der rechten Augenbraue hängen blieben. Am liebsten hätte sie sie verborgen, mit Make-up überdeckt – einfach irgendetwas, damit er sie nicht sah. Nur mit Mühe kehrte sein Blick zu ihrem zurück und hielt ihm stand. Diese Augen … Eileen schauderte. Die unglaublich intensive Farbe drohte sie von ihrem Standpunkt abzubringen.
Ninian rührte sich keinen Fingerbreit. Ihm schien es mit seinem Angebot todernst. Doch das konnte sie nicht. Oder? Sie konnte nicht einfach Sams Erbe für nichts weggeben. Wenn ihr Patenonkel nichts mehr in seinem Betrieb gesehen hätte, dann hätte er ihn ihr nicht vermacht. Oder er hätte sie zumindest gewarnt, das Erbe anzutreten. Ausserdem, wenn dieser Mann wirklich so gut mit ihrem Onkel befreundet gewesen war, hätte er die Brennerei direkt an ihn vererbt.
Ninian schmunzelte. »Glaubst du wirklich, eine Dahergelaufene kann eine marode Brennerei gewinnbringend weiterführen? Unmöglich, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung vom Prozess selbst, der Auswahl der Zutaten, Qualitätskontrolle und ohne Kontakte zu Abnehmern und Lieferanten zu haben.« Ninian machte eine kurze Pause. »Vergiss das ganz schnell, ehe deine Träume zerplatzen wie Seifenblasen im Regen.«
Wie ein vor sich hin schwelendes Feuer frass sich die Wut durch ihren Bauch. Noch ein falsches Wort und lodernde Flammen würden nach ihm greifen. »Diese Brennerei steht nicht zum Verkauf, ganz besonders nicht für dich. Also sieh zu, dass du von meinem Grundstück verschwindest!«
Wieder lachte Ninian. Dabei traten seine Grübchen hervor, die seine harten Worte vergessen machen wollten. Verdammte Grübchen-Liebe. Manchmal könnte sich Eileen für ihre Schwächen verfluchen, besonders in solchen Momenten, wenn ein Schnösel vor ihr stand und sie als Dahergelaufene bezeichnete. Sie musste sich auf das Gespräch konzentrieren, nicht auf seine Grübchen.
Ninian drehte sich um, legte Zeige- und Mittelfinger zum Gruss an die Stirn und verliess ohne ein weiteres Wort die Brennerei. Wenigstens mit dem Wegschicken schien sie Erfolg zu haben.
Erschöpft lehnte sich Eileen gegen einen Stützbalken und betrachtete die Landschaft, die sich vor der Tür auftat. Ein Kiesweg, ein niederer Gartenzaun und ganz viel Freiheit. Sie würde Schottland vermissen, wenn sie dem Land endgültig den Rücken kehrte. Es würde kein Abschied für immer. Sie würde Urlaube in Schottland verbringen, Kurztrips und Städtereisen, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch es wurde Zeit, sich Stück für Stück von einem Zuhause zu lösen.
Leise seufzte sie. »Es ist ja nicht das erste Mal.«
Verdammt! Er hatte es völlig verkackt.
Ninian schaltete den Motor aus und lehnte sich im Sitz zurück. Noch fand er die Kraft nicht, auszusteigen und seinem Vater von seinem Treffen mit Sams Nichte zu erzählen. Schon jetzt wusste er, dass Logan alles andere als begeistert sein würde.
Mit zusammengepressten Lippen stieg Ninian aus. Ihm blieb nichts anderes übrig, als von seinem Misserfolg zu berichten. Also konnte er sich genauso gut auch direkt in die Hölle begeben. Dann war er wenigstens schneller damit durch. Ausserdem musste er nicht so lange leiden, falls ihm sein Vater den Kopf abreissen und er sterben würde.
Er gab sich Mühe, mit federnden Schritten über den Hof zu gehen und die Büroräumlichkeiten seines Vaters aufzusuchen. Die Brennerei war weitläufig, die Lagerhallen riesig und die Augen der Angestellten überall. Ninian durfte sich keine Fehler erlauben, wenn er dereinst die Destillerie übernehmen und führen wollte.
Auf dem Weg kam ihm Kate entgegen und schenkte ihm eines ihrer zurückhaltenden Lächeln. Er erwiderte es, vergass für einen Moment sein Dilemma. »Hey, Kate, was machst du denn hier?« Er warf einen Blick zum Bürogebäude, aus dem sie getreten war, dann fing er ihren Blick erneut mit seinem ein.
Ihre Augen strahlten. »Hallo, Ninian. Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«
Beschissen, aber das würde er ihr bestimmt nicht unter die Nase reiben. Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu. »Ich habe gerade ein Verkaufsgespräch hinter mir. Es lief nicht so schlecht.« Das war die Übertreibung des Jahrtausends. Eileen hatte ihn rausgeschmissen und war entschlossen, die Destillerie nicht an ihn zu verkaufen.
Doch Kate ahnte nichts davon, denn ihre Zurückhaltung wandelte sich in Begeisterung. »Oh, wirklich? Wie toll! Ich wette, dein Vater ist stolz auf dich.«
Ob sie wusste, dass es um die Destillerie ging, in der sie arbeitete? Offenbar fürchtete sie nicht um ihren Job. »Ja, ganz sicher.« Obwohl es sich alles andere als natürlich anfühlte, zwang er sich zu einem Lächeln. Woher wollte immer alle Welt wissen, wie stolz sein Vater auf ihn war? Wieso kamen sie überhaupt auf die Idee, dass er es war? In seinem ganzen Leben hatte Ninian ihn noch nie stolz oder erfüllt erlebt, nicht einmal zufrieden.
Leise lachte sie. »Das sollten wir feiern.«
Am liebsten hätte er den Kopf geschüttelt, doch er zuckte lediglich mit den Schultern. »Tut mir leid, ich habe keine Zeit.«
Als hätte er sie vor den Kopf gestossen, erstarb ihr Lächeln. »Oh.« Sie wandte den Blick ab und strich sich die feinen, dunklen Haare hinter ihr Ohr. Augenblicklich kämpfte sich die Strähne wieder in ihr Gesicht. »Morgen?«
Nun schüttelte er doch den Kopf, legte ihn leicht schief, um möglichst bedauernd zu wirken. »Ich weiss wirklich nicht, wann ich wieder Zeit habe. Die Arbeit ruft. Gerade ist einiges im Tun.«
»Ich verstehe.« Sie schluckte, lächelte flüchtig. »Dann bis ein andermal.«
Ninian nickte und diesmal war sein Bedauern ehrlich. Er mochte es nicht, jemanden zu enttäuschen, doch kleine Enttäuschungen waren besser als eine grosse. »Ja, ein andermal bestimmt«, murmelte er und sah ihr hinterher, als sie sich zu den Parkplätzen aufmachte und in ihren kleinen, roten Wagen stieg.
Der Schwatz mit Kate hatte ihn für einige Augenblicke von seinen Sorgen abgelenkt. Er kannte sie, seit er denken konnte, und schätzte ihre einfache, ehrliche Art. Sie war eine gute Freundin.
Mit neuem Mut suchte Ninian seinen Vater auf, der in der Glasbox in seinem modernen Büro sass und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. In seiner Hand hielt er eine Zigarre. Damit der Rauch nicht sein wertvolles Leder zerstörte und das Büro mit seinem Gestank füllte, hatte sich Logan eine Glasbox mit Abzug bauen lassen. Ein wenig war es wie an einem Flughafen, wenn die Raucher ihre letzte Kippe anzündeten, weil sie es danach für ein paar Stunden nicht mehr konnten. Mit dem Unterschied, dass sein Vater nur ein paar Schritte gehen müsste, um an der frischen Luft eine anzuzünden.
Ninian rollte mit den Augen. Er hasste diesen Kasten, weil er im Rauch sitzen und mit seinem Vater diskutieren musste. Wenn Logan so aus dem Fenster schaute, war er schlecht gelaunt. Kurz entschlossen drehte sich Ninian zur Seite, um zu fliehen. Er konnte morgen berichten, einen besseren Zeitpunkt abwarten.
Zu spät. Sein Vater hatte ihn entdeckt und winkte ihn zu sich. Folgsam trat er durch die gläserne Tür und schloss sie direkt wieder, ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Aber damit lebte und arbeitete er Tag für Tag. Er würde es aushalten.
»Ninian. Wie schön, dass du zurück bist.« Ein falsches Lächeln huschte über Logans Lippen, eines, das er seinen Geschäftskunden zeigte, wenn er einen besonders profitablen Deal ausgehandelt hatte. »Wie ist es dir bei der Kleinen ergangen?«
Für einen Wimpernschlag presste Ninian die Lippen zusammen und schindete mit einem Blick nach draussen Zeit, um seine Gedanken zu beruhigen. Er durfte nichts Unbedachtes sagen, sonst würde ihn sein Vater mit einer anderen Aufgabe betrauen.
Er wollte diesen Deal.
Er wollte Sam Riachs Destillerie.
Er wollte dieses eine Mal beweisen, dass er es wert war.
Sein Vater unterbrach seine Gedanken, indem er auf den freien Sessel ihm gegenüber deutete. »Setz dich, mein Sohn.«
Nur mit Mühe unterdrückte Ninian ein Naserümpfen, das ihn immer in diesem Kasten überkam. Er fühlte sich wie ein gefangenes Reh, das zur Schau gestellt werden sollte, damit man es vor aller Augen räuchern konnte. Rauchwurst mal anders. Dennoch tat er seinem Vater den Gefallen und liess sich auf das glänzende Kunstleder fallen. »Sie ist nicht klein.« Was in Teufels Namen fiel ihm ein? Sie ist nicht klein. War er noch ganz bei Trost? Hier ging es nicht um Eileen und wie sein Vater sie nannte, sondern um den Kauf der Brennerei.
Über der langen, geraden Nase seines Vaters bildete sich eine tiefe Falte, deren Schatten der Schwärze der Augenbrauen Konkurrenz machte. »Wie bitte?«
Nun gab es kein Zurück mehr. »Die Destillerie. Sie ist nicht klein.« Hoffentlich fiel seinem Vater der Schwindel nicht auf.
Logan wedelte mit der Hand, als würde er eine Qualmwolke vertreiben – oder einen Einwand, der es nicht wert war, beachtet zu werden. »Sie ist eine konkurrenzierende Brennerei, die wir schlucken oder aus dem Weg schaffen müssen.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und?«
Ninian warf einen langen Blick zum Fenster hinaus. »Ich habe sie nicht getroffen«, log er. »Damit die Belegschaft keinen Verdacht schöpft, bin ich zurückgekommen.«
Abfällig schüttelte sein Vater den Kopf, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ninian glaubte gar, dass er einen Mundwinkel nach unten zog, jedoch so, dass man es nicht wirklich sah, sondern eher vermutete. Wie eine Wolke, die eine Spur dunkler war als die davor. »Kümmere dich um die Kleine und nicht um die Belegschaft. Oder um Nachwuchs. Den könnte mein Vermächtnis auch brauchen.«
»Hör doch auf mit dem Quatsch! Ich bin nicht dein einziges Kind, und Cailin …«
»Cailin wird den Namen Kerr nicht weitervererben«, herrschte sein Vater ihn an. Unter den buschigen Augenbrauen funkelten zornige Augen und forderten bedingungslosen Gehorsam. »Wir sind eine Familie, die ihre Traditionen ehrt und weiterführt. Wir sind nicht so weit gekommen, um nun an einem unreifen Jungen zu scheitern.«
»Genau deshalb ist Mom abgehauen«, murmelte Ninian. Er hatte genug von diesem Gespräch, von seinem Vater, der noch nie ein gutes Wort für ihn gefunden hatte.
»Was hast du gesagt?« Die Stimme seines Vaters klang ruhig, doch unter der oberflächlichen Freundlichkeit schwelte eine Drohung, die er nur zu gut verstand. Schon immer hatte er sie verstanden, ansonsten wäre er nicht mehr hier.
»Nichts.« Auch Ninian konnte anderen Menschen etwas vorspielen, wenn es sein musste. Er war nicht mehr der kleine Junge, der sich von einem Mann einschüchtern liess, und doch konnte er sich nicht ganz von seinem Vater lösen.
Dieser warf ihm einen kaum zu deutenden Blick zu. »Kate wäre eine gute Partie.«
»Willst du mich an die Meistbietende verschachern? Sind wir im Mittelalter?« Wie konnte sein Vater es wagen, sich in sein Leben einzumischen? Er war ein erwachsener Mann, der selbst entscheiden konnte, ob und mit welcher Frau er zusammenleben wollte. »Eine gute Partie. Ich würde es begrüssen, eigene Fehler machen zu dürfen.«
Die Ruhe, mit der Logan ihn betrachtete, sandte ihm einen eiskalten Hagelschauer in den Magen, die seine Eingeweide zerschlug. »Du bist mein Sohn. Du wirst tun, was ich dir sage. So ist es, so war es, und so wird es immer bleiben. Merk dir das.«
Entschlossen stand Ninian auf. Er musste raus, und zwar sofort. »Ich habe zu tun.«
Logan brummte. »Ohne den Zuschlag für die nicht so kleine Brennerei musst du gar nicht zurückkommen.«
Als wüsste er das nicht längst. »Klar.« Idiot. Ohne Logan eines weiteren Blickes zu würdigen, stand er auf und verliess den Schaukasten, wie er die Raucherbox seines Vaters insgeheim nannte.
Ninian rannte. Weiter. Weg. Den Kopf lüften, die Beine vertreten. Ein Schritt nach dem anderen, in seinen Ohren das Dröhnen der Musik, die seinen Puls weiter beschleunigte. Bam-bam-bam.
Ninian sprang über einen umgefallenen Baumstamm, der seit dem letzten grossen Sturm vor drei Jahren vor sich hin moderte, umrundete einen Felsbrocken und rannte durch eine matschbraune Pfütze.
Immer weiter.
Die Metalband sang irgendeinen Scheiss, doch wenigstens liessen sie ihren Frust raus. Er selbst frass ihn in sich hinein, schluckte ihn und hielt ihn beisammen. Ansonsten hätte seine Umgebung nicht überlebt, viele würden zugrunde gehen und sich von ihm abwenden. Deshalb hielt er das alles aus, kämpfte weiter, rannte, obwohl er nicht wusste, ob er floh oder ein Ziel suchte.
Vielleicht beides.
Oder nichts.
Der Wald spuckte ihn aus, und er folgte dem breiten Pfad auf dem lang gezogenen Hügel. In seinen Haaren mischte sich der Laufwind mit dem Wind, den Schottland immer und überall zu bieten hatte. Ninian liebte die Freiheit, die er dabei spürte, wenn all die Zwänge von ihm abgefallen waren. Noch nie hatte er sich gewünscht, seine Heimat wäre turbulenter. Während seiner Aufenthalte im Ausland hatte er die Frische und die Wildheit und die Ruhe vermisst.
Sein Weg führte ihn zu einer kleineren Strasse, die nur ein paar einzelne Häuser miteinander und mit der Strasse verband. Als er sich Sams Haus näherte, trat der schwere Klumpen in seinen Bauch, den er immer dann fühlte, wenn er an den gutherzigen Mann dachte. Er war ihm mehr ein Vater gewesen als Logan. Als dieser noch mit Sam befreundet gewesen war, hatte seine Familie oft Ausflüge mit ihm unternommen. Schon damals hatte Ninian eine Verbundenheit gespürt, und er hatte ihn nach dem Streit mehr oder weniger heimlich getroffen.
Ein Stechen fuhr durch seine Brust. Wieso hatte Sam ihm das Ding nicht einfach vermachen können? Dann hätte er jetzt das, was er brauchte, um bei seinem Vater endlich die Anerkennung zu erhalten, die er sich seit Jahren wünschte. Doch er gab die Destillerie seiner Nichte, die nichts, aber auch gar nichts mit Schottland verband. Sie hatte ihn nicht mehr besucht, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, und null Ahnung von Whisky. Die knallte das Ding doch gegen die Wand! Umso besser, dann musste er sich um seinen Vater keine Gedanken mehr machen, denn ein Konkurs zählte ja auch. Hauptsache, die Konkurrenz war keine mehr. Für einen Moment beruhigte ihn der Gedanke.
Doch dann tauchte sie auf. Eileen stand auf einer Stehleiter und streckte sich nach den beiden Äpfeln, die in der Krone wuchsen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, wackelte und zog sich zurück, um es noch einmal zu versuchen. Dieses Mal klappte es.
Ihm huschte ein Lächeln über die Lippen, als er neben dem weissen Gartenzaun stehen blieb. Vielleicht war sie nicht klein, aber gross war sie auch nicht. »Er hat die Apfelbäume geliebt«, hörte er sich sagen. Schon wieder so ein unbedachter Satz! Und wieso stand er überhaupt hier, obwohl er hatte vergessen wollen, in welcher Scheisse er steckte?
Mit vom Wind geröteten Wangen drehte sie sich zu ihm um, in ihren Augen funkelte das Glück, das er bei Sam immer gesehen hatte. Das anfängliche Lächeln schwand, als sie ihn erkannte und die Lippen bewegte, ohne dass er auch nur ein Wort verstand.
Verdammt, die Kopfhörer! Ungeduldig riss er sie aus seinen Ohren. »Entschuldige, ich habe dich nicht verstanden.«
Einen Moment zu lange blieb ihr Blick an den Stöpseln hängen, dann suchte sie den seinen. In ihren Augen schienen sich die Wolken des Himmels zu spiegeln. Dabei hätte er schwören können, dass eben noch die Sonne in ihnen geschienen hatte. »Was willst du?«
Nur knapp konnte er ein Seufzen zurückhalten, stattdessen lächelte er entschuldigend, wie er es bei seinem Vater gelernt hatte. »Nichts. Ich bin per Zufall vorbeigekommen und …« Ja, was? Er hatte sie gesehen und war einfach stehen geblieben, verschwitzt und wütend, wie er war. Obwohl, die Wut hatte sich im Nichts aufgelöst.
Nach einem weiteren prüfenden Blick stieg sie von der Leiter und legte die Äpfel in einen Korb neben dem Baumstamm. War es wirklich der Wind, der ihre Wangen gerötet hatte, oder trug die Aufregung dazu bei? Ärger? Als sie auf ihn zukam, traf das unverhohlene Misstrauen in ihren Augen auf sein betont lockeres Lächeln. »Ich glaube dir nicht.«
Ninian lachte. Glaubte er nur, so unsicher zu klingen, oder hörte sie das auch? »Vielleicht solltest du mir glauben.«
»Wieso?«
Heute fielen ihm auch nur Sackgassen-Sprüche ein. »Es tut mir leid wegen heute Morgen. Ich wollte dich nicht bedrängen oder verletzen.«
Eine Augenbraue wanderte in die Höhe und verwandelte ihre misstrauische Miene in eine noch misstrauischere. »Das erklärt aber nicht, wieso ich dir glauben sollte.«
Das tat es nicht. »Normalerweise fallen die Frauen darauf herein«, gab er leise zu, lachte abermals. Wieso hatte sie ihn so schnell durchschaut? Bei ihr musste er sich in Acht nehmen, nichts Falsches zu sagen, sonst würde sie ihm schneller auf die Schliche kommen, als er zusehen konnte.
Die Augenbraue näherte sich ihrem angestammten Platz, und in ihrem Blick glaubte er so etwas wie Belustigung zu erkennen. »Nur die Frauen? Was machst du denn bei den Männern anders, dass die nicht auf dich hereinfallen?«
»Mein Charme scheint bei ihnen nicht so zu wirken wie bei Frauen.« Er machte eine entschuldigende Handbewegung, die zeigen sollte, wie unwissend er selbst in dieser Angelegenheit war.
Nun war es ganz sicher ein Schmunzeln, das sich auf ihren Lippen zeigte und die gesprenkelten Wangen betonte. »Welcher Charme?«
Ninian wollte etwas sagen, machte den Mund auf, doch sein Hirn schickte keine Worte zu seiner Zunge. Keine einzige Silbe! Wie konnte es das wagen? Nein: Wie konnte es Eileen wagen, ihm mangelnden Charme zu unterstellen?
Ihr fröhliches Lachen unterbrach seine Gedanken, riss seine Aufmerksamkeit auf sich, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie jemanden lachen gehört. Es erinnerte ihn an längst vergangene Zeiten, drohte etwas in ihm zu wecken, das er lieber im Tiefschlaf wissen wollte.
Um sich zu sammeln, warf er einen Blick in die Richtung, in der seine Wohnung lag. »Ich muss weiter. Habe noch zu tun.« Es war abrupt, und er hasste es. Zu gern hätte er noch mit ihr gesprochen, um mehr von dieser Leichtigkeit zu erleben, doch es war besser, wenn die Geister der Vergangenheit nicht erwachten. »Ich könnte mich erkälten.«
»Natürlich.« Ihre Blicke verrieten ihre Gedanken mehr, als sie vermutlich wollte. Sie glaubte, ihm fehlte eine Antwort, ein frecher Spruch, der dem ihren nicht nachstand.
So war es auch, doch da war mehr. Noch keine Antwort hatte ihn in Verlegenheit gebracht, und so war es auch heute nicht. Er war ein abgebrühter Geschäftsmann, wie sein Vater, der seine Mitmenschen lesen und lenken konnte. Ninian liess sich nicht von einem einfach dahingesagten Spruch aus der Reserve locken.
Er war ein Kerr, und Kerrs waren Sieger.
Als hätte sie alle Zeit der Welt, lag die Uhr auf dem Schreibtisch und zählte Sekunde für Sekunde, füllte die Minuten und Stunden. Das Design war einer Vintage-Taschenuhr nachempfunden, und so tickten die golden glänzenden Zeiger über das weisse Ziffernblatt. Egal, wie stürmisch die Zeiten waren, die Uhr ging nicht schneller oder langsamer. Manchmal fühlte es sich nur so an.
Eileen riss sich von dem Anblick los und starrte durch die Tür des Büros in den Flur. Sams engste Mitarbeiter, Ben und Kate, müssten jeden Moment ankommen, sie hatte einen Termin mit ihnen ausgemacht. Noch konnte sie keine Stimme, keine Schritte vernehmen. Dabei hatte sie die Tür absichtlich offen gelassen. Sie wollte nicht als unnahbare Inhaberin auftreten, sondern als die Frau, die das Beste für die Destillerie wollte – und das war zweifellos der Verkauf.
Endlich erahnte sie ein leises Gespräch, nur wenige Augenblicke später trat ein leicht untersetzter Mann mit Sommersprossen und rotblonden Haaren ein. Als er sie entdeckte, deutete er ein freundliches Nicken an, durch das seine Brille fast bis zum Ende der Nase rutschte. Eilig schob er sie zurück. »Guten Tag, Miss Keller. Es freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.«
Die höfliche Anrede entlockte Eileen ein Schmunzeln. »Bitte, nenn mich Eileen. Und du bist Ben?« Sie brachte die Distanz zu ihm hinter sich und schüttelte ihm die Hand. »Es freut mich ebenfalls.«
Ben trat einen Schritt zur Seite und liess den Blick auf eine schwarzhaarige Schönheit frei. »Das ist Kate. Sie ist für das Marketing und den Vertrieb zuständig.«
Eileen begrüsste Kate ebenfalls. Diese musterte sie wohlwollend und nickte dann in Richtung der gemütlichen Lounge. »Es gibt viel zu tun. Intensive Diskussionen pflegte Sam dort zu führen. Und ich kann mir vorstellen, dass das hier intensiv wird.« Sie tippte auf die dicke schwarze Mappe, die sie bei sich trug.
In diesem Punkt konnte Eileen ihr nur beipflichten, auch wenn sie sich nicht sonderlich auf das Gespräch freute. Wie würden die beiden reagieren, wenn sie ihnen die Wahrheit erzählte? Bestimmt erwarteten sie, dass sie die Brennerei übernehmen würde, damit diese in der Familie blieb und die Angestellten ihre Stellen behalten konnten. Doch das konnte sie nicht. Sie würde den Laden schneller in den Ruin treiben, als ein Verkauf möglich war.
Kerzengerade setzte sich Kate auf das eine Sofa, Ben nahm auf dem anderen Platz. So blieb ihr nur der durchgesessene Sessel. Vermutlich hatte auch ihr Patenonkel diesen immer genutzt, und die Plätze seiner beiden Angestellten waren klar gewesen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen liess sie sich tiefer in das braune Leder sinken. Wenigstens bequem war es. Um ihren aufgeregten Herzschlag zu beruhigen, nahm sie sich einen Augenblick Zeit und besann sich auf ihre Aufgabe: die Destillerie zu verkaufen. Erst richtete sie den Blick auf Kate, dann auf Ben. »Aus den Unterlagen weiss ich, dass ihr beide meinem Onkel viele Lasten von den Schultern genommen habt. Die letzten beiden Monate waren sicherlich nicht einfach.«
Ben senkte den Blick auf seine Hände, deren Finger sich gegenseitig kneteten. »Ehrlich gesagt war es schwer. Sam war nicht nur der Inhaber der Brennerei, sondern brachte auch Herzblut mit. Er konnte die Mitarbeiter begeistern und hat bei all seinen Ansprüchen die Menschen nicht aus den Augen verloren. Seit er nicht mehr hier ist … Keine Ahnung. Irgendwie ging der Geist der Brennerei verloren.«
Die Augen auf Ben gerichtet, nickte Kate nachdenklich. »Ich erlebe es ähnlich. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Nachfolge nicht geklärt war. Wochenlang schwebten wir im Ungewissen, wussten nicht, wer den Betrieb übernimmt, und haben von Tag zu Tag gebangt.« Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern, als gäbe es etwas, das Eileen ihr verzeihen müsste.
Es gab sie also wirklich, diese Menschen, die ihre Arbeit liebten und den Weg zum Büro jeden Tag gern in Angriff nahmen. Unwillkürlich wünschte sich Eileen einen Tee herbei, der vor ihr auf dem niedrigen Tisch dampfte und Wärme und Geborgenheit verbreitete. Sie gehörte nicht zu diesen Arbeitswütigen. Zudem hing sie im Ungewissen, nicht nur, weil sie die Brennerei in gute Hände verkaufen wollte, sondern auch, weil sie keinen Schimmer hatte. Zwar war sie Buchhalterin, doch wenn sie in ihrer Ausbildung etwas gelernt hatte, dann, dass man die Branche kennen musste.
Ein Seufzen schlich sich über ihre Lippen. »Wie war denn der Betrieb, als Sam noch gelebt hat?« Obwohl ihr die Frage unglaublich schwerfiel, musste sie sie stellen. Wenn sie nicht wusste, woran sie war, konnte sie auch nicht verhandeln. Die Banken zeigten sich aufgeschlossener, wenn ein Betrieb für ein paar Monate aus ersichtlichem Grund ins Schlingern gekommen war, als bei einem maroden Unternehmen ohne Aussicht auf Gewinn.
Ben wechselte einen Blick mit Kate und ergriff das Wort: »Eigentlich lief es ganz gut. Sam pflegte den persönlichen Kontakt, hat mit den Lieferanten Gespräche geführt und gewusst, wie er das Beste aus der Situation herausholen konnte. Das klingt jetzt ein wenig nach knallhartem Geschäftsmann, aber das war er nicht.« Ein weiches Lächeln zeichnete sich auf den breiten Lippen ab. »Ganz im Gegenteil, bei ihm kamen immer erst die Menschen, dann das Geschäft. Deshalb hat er es geschafft, so viele unterschiedliche Ideen und Leute in seiner Firma zu einem Team zu formen. Stell dir vor, er hat den alten Kerr sogar so weit bekommen, dass er die Bestellungen mit ihm zusammen tätigen kann, um von der Grossmenge profitieren zu können.« Leise lachte er, sein Blick wanderte durch das mit getrockneten Regentropfen verschmutzte Fenster.
Nachdenklich nickte Kate. Sie schlug ein schlankes Bein über das andere und zeigte für einen Moment einen Schmollmund, ehe sie Eileen ansah. »Er war wirklich der perfekte Mensch für diese Arbeit.«
Mit jedem Wort nahm die Last auf Eileens Schultern ein Stück zu. Sie wusste, dass die Arbeiter ihren Onkel für seine aufrichtige, zielstrebige und doch menschliche Art geliebt hatten. Ihr war es nicht anders ergangen. Doch wie sollte sie unter diesen Voraussetzungen einen würdigen Nachfolger finden?
»Und dann?« Ihre Stimme kratzte wie einer von Omas Wollpullovern auf nackter Haut. Sie räusperte sich.
»Was meinst du?«, hakte Ben nach.
»Ich habe einen jungen Mann getroffen, Ninian. Er meinte, die Destillerie laufe nicht sehr gut, und er tue mir einen Gefallen, wenn er sie als Geschenk annehme.« Eileen versuchte, sich an mehr zu erinnern, doch bis auf die Grübchen und die strahlenden Augen konnte sie nichts sagen. Wenn sie davon erzählte, würden die beiden sie als unfähige, naive Frau abstempeln. »Wie sind die Zahlen? Wie steht es mit Lieferungen, der Arbeit selbst, den Mitarbeitern? Ihr sagtet, es war seit Sams Tod schwieriger. Was genau? Wo kann ich helfen?« Bevor sie sich die letzten Worte überlegt hatte, hingen sie im Raum. Eileen erschrak, sah erst Ben an, dann Kate, doch beide reagierten nicht darauf.
Heimlich atmete Eileen aus, schaffte der Erleichterung nicht zu viel Raum. Sie wollte nicht, dass jemand mitbekam, wie dringend sie die Brennerei verkaufen wollte. Musste. Noch nie war sie lange glücklich an einem Ort gewesen, und auch von hier wollte sie so schnell wie möglich weg. Es war das Beste für alle Beteiligten.
Mit einem gequält wirkenden Lächeln zuckte Ben mit den Schultern. »Die Arbeit geht weiter, noch kommen Bestellungen rein. Allerdings zeigen sich die Lieferanten schwieriger bei Besprechungen, seit Sam nicht mehr mit ihnen verhandelt. Zudem steht ein Gespräch mit einem weiteren Exporteur an, das wir nicht verpassen sollten.«
Eileens Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wir exportieren?«
Unter dem zurückhaltenden Lachen erstrahlte Kates Gesicht. »Natürlich exportieren wir. Im Ausland ist schottischer Whisky sehr beliebt.«
Als Ben nickte, leuchteten seine Augen stolz auf. »Rund die Hälfte unseres Umsatzes machen wir über den Exporteur.«
»Das Treffen scheint also wichtig«, murmelte Eileen. Wenn es so weiterging, wünschte sie sich irgendwann Ninian herbei, der ihr noch einmal anbot, die Brennerei zu übernehmen. Ein weiteres Mal würde sie nicht ablehnen. Sie sank tiefer in den Sessel, lehnte sich zurück.
Als könnte Kate ihre Gedanken erraten, beugte sie sich nach vorn und bedachte sie mit einem warmen, verständnisvollen Blick. »Niemand erwartet von dir, dass du aus dem kleinen Betrieb eine Goldgrube machst. Es reicht, wenn wir jemanden haben, dem wir vertrauen können. Jemanden mit Erfahrung.«
Bens hartes und dennoch leises Lachen drang durch den Raum. »Wie etwa Ninian?«
Die Vertriebs- und Marketingleiterin schob die Unterlippe vor. »Er hat Ahnung von Whisky, kennt das Geschäft und die Gegend. Ausserdem war er für Sam wie ein Sohn.«
Eileen zog die Augenbrauen zusammen, während Sams Angestellte weiter miteinander diskutierten. Wenn jemand mit solchen Qualifikationen wie Ninian ein Freund ihres Onkels gewesen war, weshalb hatte er die Brennerei nicht ihm vermacht? Oder gab es ein Gesetz in Schottland, dass man sein Eigentum nur an Familienangehörige vererben konnte? Ausserdem wünschte sich zumindest Kate, die in ihrer Destillerie angestellt war, die Konkurrenz als Chef. War das normal? Oder waren sie gar keine Konkurrenten? Irgendeine Erklärung musste es für ihr merkwürdiges Verhalten geben, denn Ben schien alles andere als überzeugt.
Nach einer Weile verabschiedeten sich Ben und Kate mit der Begründung, noch viel zu tun zu haben. Eileen glaubte ihnen. Auf keinen Fall würde sie ihnen unterstellen, die Arbeit nur vorzuschieben. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie es war, ohne Vorgesetzten zu arbeiten, besonders wenn man Sam als Chef gehabt hatte.
Ihr schwirrte der Kopf, als sie sich an den Schreibtisch setzte und sich auf den Stuhl fallen liess. Er rollte ein Stück rückwärts, blieb stehen. Erschlagen von den Ereignissen und den neuen Informationen atmete sie mit geschlossenen Augen, lauschte den entfernten Geräuschen.
Schliesslich gab sie sich einen Ruck und stand mit einem Seufzen auf. Bisher hatte sie noch keinen Weg gefunden, Sams Vermächtnis angemessen weiterzuverkaufen. Einzig Ninians Angebot stand im Raum: der ganze Betrieb für nichts. Obwohl sie alles andere als zufrieden war, hatte sie bisher keinen höheren Preis gehört. Selbst Kate und Ben hatten keine Interessenten nennen können. Ob es sinnvoll war, eine Annonce aufzugeben? Vielleicht sollte sie einfach einen Geschäftsführer suchen, damit sie den Verkauf in Ruhe abwickeln konnte.
Der Gedanke an Ninian liess die Erinnerung an das gestrige Zusammentreffen vor Sams Haus aufleben. Es war überraschend gewesen. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, schlich sich ein unerwünschtes Lächeln in ihr Gesicht, um dort zu verharren. So auch jetzt. Doch er hatte einfach zu witzig ausgesehen, wie er mit offenem Mund nach einer Antwort gesucht hatte. Offensichtlich gab es zu wenige Frauen, die ihm die Stirn boten – oder er hatte nur die um sich geschart, die seinem Charme erlegen waren.
Wie auch immer sie es anstellte, sie würde es tunlichst vermeiden, seinen intensiven Blicken und diesen Grübchen zum Opfer zu fallen. Sie wollte so schnell wie möglich verschwinden, um ihr Leben in ihrer Heimat zu ordnen, wie es ihre Eltern verlangten. Bei dem Gedanken daran verschwand die Leichtigkeit, die die Erinnerung an Ninian und seinen verdatterten Ausdruck hervorgezaubert hatte. Wie hatte es Sam nur so lange an einem einzigen Ort ausgehalten? Sie konnte es sich nicht vorstellen, an einem Ort Fuss zu fassen, zu bleiben und glücklich zu sein. Hatte er gewusst, was er alles verpasst hatte? All die schönen Orte, die interessanten Menschen. Stumm schüttelte sie den Kopf. All die Erfahrungen wollte sie nicht missen.
Ihr Blick fiel auf eine Vitrine mit Whiskygläsern in verschiedensten Formen und Grössen. Einige konnten ihrem Patenonkel nur aus Jux geschenkt worden sein, andere hätte sie an seiner Stelle oft gebraucht, um Geschäftskunden und Besucher zu einem Drink einzuladen.
Eileen erinnerte sich an einen Ausflug, bei dem Sam ihr ein mit Namen versehenes Whiskyglas geschenkt hatte. Er hatte gesagt, er würde es in seine Vitrine stellen und in Ehren halten, damit sie dereinst gemeinsam die besten Brände degustieren konnten, wenn sie wieder einmal zu Besuch kommen würde.
Sie hatten es nie geschafft.
Mit einem schweren Klumpen im Bauch starrte sie den schmalen Schrank an. Das dunkle Holz setzte Staub an, ohne die Aussicht, nächstens davon befreit zu werden. Wie gebannt trat Eileen darauf zu und suchte ihr Glas. Da, beinahe zuhinterst, aber im Gegensatz zu den anderen wirkte es weniger verstaubt, als wäre es eben erst noch poliert worden. Ein wehmütiges Lächeln eroberte ihre Lippen und wollte sie daran erinnern, was sie alles verloren hatte, doch sie drängte es zurück.
Unter dem Glas entdeckte sie etwas, das wie ein Umschlag aussah. Was sollte das? Das Papier wirkte vergilbt, der Umschlag alt. Dennoch konnte sie den Blick nicht davon lösen. Wie gebannt ging sie darauf zu, öffnete die Vitrine und zog den Umschlag zusammen mit ihrem Glas vorsichtig hervor. Er war etwa so dick wie ihre Hand und wog deutlich mehr, als sie erwartet hatte. Auf dem leicht gemusterten Papier stand in kleinen, schnörkellosen Buchstaben ihr Name.
Sie erbleichte. Die dicke Nachricht in ihrer Hand zitterte, als sie sich Halt suchend gegen die nächste Wand sinken liess. Sie fühlte sich kraftlos, leer, als hätte jemand all ihre Energie aus ihr herausgesogen. Sie erkannte Sams Handschrift. Ein letzter Brief von ihm an sie. Sie musste ihn öffnen. Seine letzten Worte würden sie und die Brennerei vor dem Aus retten, sodass sie sie gewinnbringend verkaufen und wieder nach Hause gehen konnte. Es musste so sein. Andernfalls ergab weder ein Brief noch dass er sie zur Nachfolgerin ernannt hatte Sinn.
Dennoch zögerte sie. Was, wenn es kein Rezept zur Lösung all ihrer Schottland-Probleme war, sondern nur weitere Rechnungen und Verpflichtungen, denen sein Betrieb nicht mehr nachkommen konnte? Es war dämlich, sich jetzt Hoffnungen zu machen, die sie in wenigen Minuten auf dem Boden zerschmettern konnten. Wenn ihr Onkel einen Ausweg gesehen hätte, hätte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn einzuschlagen. Ausserdem hätte er ihr den Laden nicht vermacht, wenn er nicht wollte, dass sie ihn übernahm. Wenn er ihn hätte verkaufen wollen, hätte er es vor seinem Ableben machen können. Immerhin hatte er auch Zeit gefunden, ihr einen fetten Brief zu schreiben.
Doch all ihre Bedenken waren kein Grund, nichts zu unternehmen und sich stattdessen dem Schicksal und der schlechten Ausgangslage zu ergeben. Oder? Dieser Brief war an sie gerichtet, und sie wollte ihn öffnen. Sollte. Musste. Mit zitternden Händen löste sie die Lasche vom Papier, atmete tief durch und zog die Seiten auseinander. Es befanden sich einige weitere Briefe darin, einer davon war rot. Sie griff danach. Eine dicke Eins war darauf geschrieben, mehr nicht. Ihr Patenonkel hatte sich sichtlich Mühe gegeben, gross und gut sichtbar zu schreiben. Sonst hatte er immer so klein geschrieben, dass sie als Kind lange Zeit Mühe gehabt hatte, seine Worte zu entziffern. Neugierig öffnete sie den Brief und nahm die zwei Bogen blütenweisses Papier heraus.
Liebste Eileen,
dies wird mein letztes und wahrscheinlich persönlichstes Geschenk an dich, wenn du es denn als solches sehen willst. Vielleicht ist es auch nur die Spinnerei eines alten Mannes, der dem Tod näher ist als dem Leben. Ich spüre die Schwäche in meinen Knochen, und manchmal, da vergesse ich sogar, welchen Tee ich nicht mehr vorrätig habe, wenn ich zum Einkaufen in der Stadt bin. Du weisst, wie schlimm das für mich ist.
Sowieso, du bist die, die am meisten weiss. Vor einem Jahr musste ich mir übrigens einen Vortrag von deiner Mutter anhören, dass du meinetwegen zu viel Whisky trinken würdest. Dabei habe ich dir nie gesagt, dass du ihn trinken sollst. Ich habe dir nur gezeigt, wie man ihn brennt, wie man seine Essenz aus den Rohstoffen herausholt und dieses goldene Funkeln der Natur zum Strahlen bringt.
Tränen sammelten sich in Eileens Augen, sodass die Schrift verschwamm. Sie lachte auf, schniefte. Sam kannte sie zu gut. Vor ihrem inneren Auge konnte sie sein verschmitztes Lächeln sehen, das von seiner Freude erzählte, dass sie Whisky so sehr mochte wie er.
Gemocht hatte.
Die Erinnerung riss ihr Herz entzwei, drohte die beiden Teile in weitere Stücke zu rupfen und sie in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen. Doch sie hielt es beisammen, verbot sich Tränen und Trauer und Schmerz. Sie stopfte ihr Herz in eine Kiste, schloss diese mit einem wuchtigen Schloss und warf den Schlüssel in einen tiefen See. Jeder musste irgendwann gehen, so auch die Menschen, die man aus tiefstem Herzen liebte. Es war der Lauf der Natur. Kein Grund, der Schwäche nachzugeben, die in ihrem Inneren tobte und ihr sämtliche Energie zu klauen versuchte.
Sam hatte recht gehabt, es war ein Geschenk. Wenn sie seine Zeilen las, war es, als würde er neben ihr sitzen und ihr mit seiner rauen Stimme und dem Leuchten in seinen Augen davon erzählen. Als würde er nebenbei die Geschichte seines Lebens vor ihr ausbreiten, den Blick jedoch auf seine Pfeife gerichtet halten, um sie zu stopfen und dann anzuzünden. Er würde eine Pause machen, den Tabak geniessen und kurz die Augen schliessen, um dann fortzufahren.
Immer wieder blinzelte sie, um die nächsten Worte zu entziffern.
Was ich damit verbinde, ist meine Heimat Schottland. Hier wachsen diese Zutaten, reifen heran, sodass wir das Beste aus ihnen herausholen können. Sieh dich um. Blicke zum Fenster hinaus und schau dir die Natur an. Sie ist rau und wild, und dennoch bringt sie etwas hervor, aus dem wir ein edles Getränk wie Whisky herstellen können.
Es ist mein Erbe, Eileen.
Ein schwerer Klumpen formte sich in ihrem Hals. Es war sein Erbe, und sie war drauf und dran, es zu verhökern, falls es jemand nehmen würde. Sie hatte sogar Ninian in Betracht gezogen, nur damit sie am Ende nicht auf einem Schuldenberg sass, den sie nicht bewältigen konnte. Ihr schlechtes Gewissen stiess ihr einen Dolch in den Magen und liess ihn sich drehen. Sie war so eine schlechte Nichte.
Aber keine Sorge. Ich erwarte nicht von dir, dass du dein Glück für meine Destillerie aufs Spiel setzt. Ich habe sie dir überlassen, weil du die Einzige in meiner Familie bist, deren Herz auch für Schottland schlägt. Niemand sonst sieht die Schönheit in der Weite, die ich so liebe. Die Freiheit, allein zu sein.
Du sollst wissen, dass du alle Freiheiten hast, mit der Brennerei zu tun und zu lassen, was du willst. Es ist dein Leben, also lebe es. Verkaufe sie, verschenke sie, führe sie weiter, schliesse den Betrieb. Wobei mich eine Schliessung schon reuen würde, besonders weil ich ganz viele Fans habe, die keinen Whisky so gern trinken wie meinen.
Die anderen Umschläge sind ebenfalls für dich. Ich möchte, dass wenigstens du weisst, was mir an Schottland so gefällt, und möchte dir meine geheimen Orte zeigen. Manchmal sind es auch nur verwirrte Gedanken, die ich niedergeschrieben habe. Sieh es mir nach. Es sind noch acht Briefe. Acht Orte und Geheimnisse, nur für dich.
Natürlich, wenn jemand an deiner Seite steht, der dich begleiten möchte, ist er (oder sie) herzlich eingeladen. Aber ich habe sie für dich gewählt, das zumindest sollst du wissen.
Teile die Briefe auf. Es gibt keine Reihenfolge, die du einhalten musst. Es ist eine kleine Abschiedsrunde von Schottland und mir, und ich würde mich freuen, wenn du es machen würdest.
Ich liebe dich, Eileen.
Lebe dein Leben, wie du es für richtig hältst. Du hast nur dieses eine. Meines geht zu Ende, doch du steckst mittendrin.
In Liebe
dein Patenonkel Sam
Schluchzend las Eileen die letzten Zeilen noch einmal und noch einmal. Immer wieder, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen, als würde der Regen sie verwischen. Doch es waren ihre Tränen, die ungehindert auf das Papier tropften.
Sie würden den Brief zerstören!
Eilig faltete sie den ersten Brief zusammen und steckte ihn in den roten Umschlag, um ihn im grossen Kuvert zu versorgen. Noch einen Moment blieb sie im Büro stehen, dann packte sie es in ihre Tasche und eilte hinaus.
Erst auf der Wiese zwischen dem Wasserrad und dem plätschernden Bach hielt sie inne. Der Wind spielte mit ihren Haaren, als wären sie wie die Büsche, die ihm rund um die Brennerei herum trotzten. Es war ein idyllischer Ort, und dennoch hätte sie am liebsten ihre Wut in die Welt hinausgeschrien. Über Onkel Sams Tod, über ihr Erbe, ihr Unvermögen, seinen Betrieb zu retten, und die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Doch sie blieb ganz still, zwang sich zur Ruhe. Der Schmerz in ihrer Brust überraschte sie selbst. Der Brief hatte die Wunde, die Sams Tod in ihr Leben gerissen hatte, erneut aufgebrochen. Vielleicht hatte er auch nur den Verband abgezogen, den sie darübergelegt hatte, damit niemand sie sah.
Sie hasste es, verletzt zu sein. Verletzlich.
Und sie mochte es nicht, wie Sam ihr die Erlaubnis gab, mit der Brennerei zu machen, was sie wollte. Sie sollte sie verkaufen? Selbst der Gedanke fühlte sich so falsch an, nachdem sie die wenigen Zeilen gelesen hatte, die sie so tief berührt hatten, wie es nur sein Tod zuvor geschafft hatte. Dabei war sie nur für den Verkauf nach Schottland gereist.
Wieso konnte sie nicht einfach loslassen?
Diesen Weg hätte Ninian niemals auf sich nehmen sollen. Nie. Erstens war es die reinste Hölle, über Stock und Stein zu rasen. Zweitens musste er rasen, um nicht den ganzen Tag durch die Gegend zu bummeln. Und drittens war es ihr Untergang.
Vergebens hatte er versucht, Eileens triumphierendes Funkeln aus seiner Erinnerung beiseitezuschieben, doch immer, wenn er nicht aufpasste, drängte es sich wieder in den Vordergrund. Doch nun war es zu spät. Er konnte ja schlecht zu Eileen gehen und ihr sagen, dass er noch immer mehr Charme besass als sie. Zu seiner Schande war ihm auch diese Antwort erst spät am Abend eingefallen.
Er stieg aus seiner alten, robusten Karre und streckte sich, um die Fahrt aus den Knochen zu vertreiben. Sie knacksten. Zweieinhalb Stunden Fahrt waren einfach zu viel für ein simples Gespräch, selbst wenn es ein wichtiger Lieferant war.
Ninian nahm sich die Zeit, das unscheinbare Gebäude am Stadtrand von Edinburgh zu betrachten. An einigen Stellen bröckelte der teilweise gelbliche Putz ab. Die Fenster reflektierten das diffuse Licht des bewölkten Tages kein bisschen. Hier also befand sich die Niederlassung des Lieferanten, der ihnen und Sam die Gerste verkaufte.
Vorsichtig sah er sich um. Vielleicht hatte er sich in der Strasse oder der Nummer geirrt, doch weit und breit gab es kein Haus, in dem Büros untergebracht sein könnten.
Bisher hatte sein Vater ihn nie zu den Gesprächen mitgenommen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er deswegen auch keine einzige Träne vergossen. Obwohl er in die Fussstapfen seines Vaters treten würde, hatte er sich nie für das Bauchpinseln interessiert, das man unter Geschäftsmännern pflegte. Er pinselte sich lieber seinen eigenen Bauch. Ninian wollte nur Whisky brennen, einige goldene Schätze produzieren und eines Tages so bekannt sein wie Logan Kerr. Sein Vater hatte recht: Er war der männliche Nachkomme und dazu ausersehen, das Erbe seiner Familie anzutreten.
Entschlossen richtete er die Krawatte neu, schloss den Wagen ab und schritt auf das Gebäude zu. Als er eintrat, empfing ihn dunkle, muffige Luft, und für einen Moment zweifelte er doch daran, das richtige Haus gefunden zu haben. Dann entdeckte er das Schild mit dem Logo des Lieferanten.
Er räusperte sich, streckte den Rücken und prüfte seine Krawatte erneut. Wenn er hier vorstellig wurde, wollte er einen guten, bleibenden Eindruck hinterlassen. Immerhin würden die Herren Craig und Sinclair in Zukunft mit ihm verhandeln. Nur ein Deal stand zwischen ihm und mehr Verantwortung in der Brennerei seines Vaters. Sobald er Eileen dazu gebracht hatte, Sams Laden an ihn zu verkaufen, konnte er endlich den stolzen Blick seines Vaters auf seinem Gesicht spüren. Wenn er die Brennerei zudem günstig bekam, würde vielleicht noch ein Extra herausspringen. Ein Lob zum Beispiel.
Es war Sams Brennerei, die er zu manipulieren gedachte.
Als hätte ein Blitz ihn zu einem verdorrten Gerippe erstarren lassen, verharrte seine Hand vor der Klingel. Sam, der ihm wie ein Vater gewesen war, der ihn verstanden und geschätzt hatte.
Entschlossen schüttelte Ninian den Kopf und drückte auf den kleinen Knopf. All seine Träume würden in Erfüllung gehen, wenn er Sams Brennerei sein Eigen nennen konnte.