Rachefürst - vergessen - Andrea Ego - E-Book

Rachefürst - vergessen E-Book

Andrea Ego

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Beschreibung

Lasse niemanden an dich heran. Hoffe nicht. Sei dir selbst die Nächste. Aelys hat ihre Prinzipien verraten – und wurde auf den Boden der Tatsachen geschmettert. Nie wieder will sie einen solchen Fehler begehen. Sie führt die wenigen Überlebenden des Angriffs in die nächste Stadt, doch diese versinkt im Chaos. Zu allem Unglück geraten die Experimente in Gefahr, und Aelys steht erneut vor der Entscheidung, Kaer zu vertrauen oder für sich selbst zu kämpfen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Aufbruch

Neu entfachtes Feuer

Unmenschlich

Wartezeit

Nur ein Spiel

Gefangen

Verzweifelte Hiebe

Stille Trauer

Ein schlechter Plan

Leilas Quartier

Vertrauen

Hilferuf

Vereinbarung

Glühende Augen

Cocktail

Brutus

Ruhige Momente

Ein Hoffnungsschimmer

Schicksal

Schauspielkunst

Ein neuer Weg

Engel

Ein neues Leben

Versprechen

Epilog

Danksagung

ANDREA EGO

Blutengel

VERLASSEN

© November 2021, Andrea Ego

Lektorat und Korrektorat: LibriMelior – Michael Weyer Cover Design: Giusy Ame / Magicalcover.de

Bildquelle: Depositphoto, Neostock

Andrea Ego c/o Autorenservice Patchwork Schlossweg 6 A-9020 [email protected]

Im Herzen der Schweiz, wo ich herkomme und es leckere Schokolade, gute Messer und unglaublich schöne Berge gibt, läuft vieles ein wenig langsamer und anders. Ich liebe unser Tal und die Berge rundherum, die schrulligen Leute und den Herbstwind.

Wir Schweizer werden ohne „ß“ gross. Weil ich unser Schriftbild schön finde, stolz auf diese Schweizer Eigenheit bin und vor allem die Vielfalt der deutschen Sprache liebe, verwende ich konsequent „ss“.

Ich danke euch allen schon im Voraus für das Verständnis, was die Rechtschreibung angeht, und wünsche trotzdem ein schönes Leseerlebnis.

Prolog

Kaer schlich sich von seiner Gruppe weg, um sich am Waldrand nach möglichen Lebenszeichen umzusehen. Bei jedem Angriff gab es Überlebende, und das war auch gut so, denn sie würden erzählen, was er angerichtet hatte.

Eine Welle aus Stolz rollte durch ihn hindurch, doch der Schmerz folgte ihr – und blieb.

Als er den gestrigen Angriff mit seinen Mitstreitern geplant hatte, hatte er gehofft, jedes einzelne Herz in Erming zum Stillstand zu bringen. Stunden-, wenn nicht gar tagelang hatten sie die ideale Anordnung der Bomben diskutiert, sich überlegt, welche Trupps wann wo sein mussten, um den Rückzug zu sichern und jeden Widerstand niederzukämpfen.

Die Planung begründete nicht nur ihren durchschlagenden Erfolg, den sie in Erming verbucht hatten, sondern würde ihnen bei zukünftigen Anschlägen helfen. Sämtliche Städte waren ähnlich aufgebaut, sie mussten nur bei jedem Ort jemanden finden, der ihnen Einlass gewährte.

Sie brauchten einen weiteren Blutengel, um Zugang zu den anderen Städten zu erhalten, sagten seine Mitstreiter.

Ihm stiess das Wort sauer auf. Aelys war kein Blutengel, sondern ein unglaublich faszinierendes Wesen, das sein Herz erobert hatte wie er Erming.

Kaer presste die Lippen aufeinander, als er auf einen Stein kletterte, um über die Ebene zu blicken. Noch war es dunkel. Falls jemand ein Feuer gemacht hatte, würde er es unweigerlich sehen. Trotz der frühen Stunde fühlte er sich ausgeruht. Die nächtlichen Albträume, die ihm das Albpferd sonst immer geschickt hatte, waren ausgeblieben, als wäre es zu weit entfernt oder hätte sich ein neues Opfer gesucht. Manchmal schätzte es die Abwechslung, andere Mahlzeiten zu geniessen.

Wie er hoffte, dass sie überlebt hatte. Der Gedanke, für ihren Tod verantwortlich zu sein, zerstörte ihn innerlich. Wie dumm war er gewesen zu denken, dass sie umschwenken würde? Er war ihr nicht so wichtig wie sie ihm.

Kaer senkte den Blick auf seine Hände, schloss die Augen. Brion hatte recht, er musste mit ihr sprechen. Er wollte sich ihr erklären, ihr von seiner Sicht erzählen. Sich entschuldigen.

Doch was sollte er tun, wenn sie unter Ermings Trümmern begraben lag? Seine Schuld würde er nie tilgen können.

Mit einem schweren Atemzug erhob sich Kaer. Wenn er sie finden wollte, musste er sie suchen.

Langsame Schritte brachten ihn näher an die Stadt heran, näher an die Leute, die alles dafür tun würden, ihn zu erdrosseln, zu vierteilen oder ihn auf eine andere brutale Art dem Sterben näher zu bringen. Nur das Albpferd war in der Nähe, er spürte seine Anwesenheit am Rande seines Bewusstseins. Langsam kam es auf ihn zu. Noch hatte er nicht herausgefunden, wie die Verbindung genau funktionierte, doch sie war da. Deshalb sprach er auch von seinem Albpferd.

Ein entfernter Schrei hallte durch die Luft, und er blieb stehen. Hatte er sich das eingebildet? Er hätte schwören können, dass das Aelys gewesen war, die Hilfe brauchte. Sein Herz raste, als hätte er einen anstrengenden Kampf hinter sich.

Einen Kampf gegen sie.

In seinem Brustkorb zog sich alles zusammen. Einbildung. Er bildete sich das nur ein. Er durfte sich von seinem Ziel nicht abbringen lassen, nur weil er dachte, dass Aelys noch am Leben war. Am besten löste er sich von ihr und all dem, was ihn mit ihr verband. Selbst wenn sie nicht gestorben war, würde sie ihn jagen, bis er elendig verblutet vor ihr am Boden lag.

Lieber ich als sie.

Was für eine Scheisse dachte er denn da? Er schüttelte den Kopf und beschleunigte seine Schritte. Nicht nur die Gedanken, auch seine Gefühle musste er hinter sich lassen. In einer Welt wie der seinen hatten sie nichts zu suchen, sondern standen nur im Weg.

Ein Schnauben half ihm, aus der eigenen Dunkelheit zu finden. Mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen drehte er sich zum Albpferd um und strich ihm von den Nüstern über die Stirn, um dann seinen Kopf gegen den des mächtigen Unwesens zu lehnen.

»Wie hat es nur so weit kommen können?«, fragte er leise.

Das Albpferd schnaubte, schubste ihn.

Obwohl Kaer nicht danach war, brach ein leises Lachen aus ihm hervor. »Was soll ich denn da?«

Wieder schubste das Pferd ihn. Stirnrunzelnd drehte er sich in die Richtung, in die es ihn wies. Er konnte sich nicht erinnern, dass es schon einmal solch ein Verhalten gezeigt hatte.

Da sah er sie: die Flügel. Wie dunkle Vorboten eines nahenden Gewitters hoben sie sich gegen die Umgebung ab, die im Licht des nahenden Morgens heller war als die Schwingen.

Sein Herz machte einen Satz und sackte dann in die Hose.

Sie lebte!

Sie lebte.

Aufbruch

Eine schwarze Klaue bohrte sich in meinen Rücken durch meine Brust. Die Spitze drang durch meine Haut, teilte die Rippen. Zuvorderst pochte mein aufgespiesstes Herz. Blut floss heraus, zuerst viel, dann immer weniger, bis die Schläge erstarben. Meine Lunge versuchte zu atmen, doch ohne das Herz, das den lebensnotwendigen Sauerstoff durch meinen Körper pumpte, konnte sie sich nicht bewegen. Ich schaffte es nicht einmal, meine Augen abzuwenden, obwohl ich nichts lieber getan hätte.

Kälte. Und Schwärze. Sie mischten sich zu einem undurchdringlichen Chaos, wirbelten umeinander herum und füllten mich ganz aus. Ich wusste nicht mehr, wo ich begann und wo die Nacht endete, und umgekehrt. Ich verschmolz mit der Dunkelheit, wurde zu ihr.

Blutengel.

Ich schrak auf. Ein Schrei hallte in einer fernen Ecke meines Bewusstseins nach. War ich das gewesen?

Während ich noch nach Luft rang und die Angst in meinem Herzen einzuordnen versuchte, fuhr ich mit der Hand über meine Brust. Die Rippen schienen alle noch heil, wenigstens, soweit man sie nach so vielen alten Brüchen noch heil nennen konnte.

Ich rappelte mich auf und sah mich um. Auf einer freien Fläche hatten wir unser Lager aufgeschlagen. Eine Gruppe von fünfzehn Menschen und knapp doppelt so vielen Gefallenen, die sie in der Hoffnung auf ein neues Zuhause mit Rechten in die nächste Stadt begleiteten.

Mein Schrei schien einige geweckt zu haben, denn im fahlen Mondlicht erkannte ich das eine oder andere Augenpaar, das mich verfolgte, als ich meine schwarzen Flügel ausbreitete und mich vom Lager entfernte. Ich brauchte Abstand, um nachzudenken.

Meine Schritte führten mich zu einem Stein, der sich einsam aus der Ebene erhob. Ich setzte mich darauf, sodass ich Erming und die Überlebenden des heutigen Kampfes im Blick hatte. Das Lager konnte ich in der Dunkelheit erahnen. Sollte jemand angreifen, wäre ich sofort dort.

Ich seufzte leise. Niemand würde angreifen, nicht einmal Kaer und sein Gefolge. Sie rechneten nicht damit, dass jemand überlebt hatte, so, wie sie die Bomben platziert hatten.

Erming war eine blühende Stadt gewesen, die so nicht hätte untergehen müssen, wäre ich nicht gewesen.

Ich stiess den Gedanken weit von mir, griff einen Kiesel auf dem Stein und warf ihn wütend in die Leere der Nacht. »Verdammte Scheisse!«

Ein Schnauben riss mich zurück in die Gegenwart. Ich wirbelte herum, noch in der Drehung zog ich mein Schwert. Als ich das Albpferd erkannte, entspannte ich mich. »Ach, du bist es nur.« Mir gelang sogar ein Lächeln.

Dabei war ich mir nicht so sicher, ob es nur das Albpferd war. Es gehörte Kaer, von dessen Albträumen es sich ernährte. Ein Wesen der Nacht, das die Menschen gezüchtet hatten.

»Hat dir die Ration geschmeckt, mein Guter?« Ich hatte ihm meine Träume versprochen, wenn er mir helfen würde. Das Pferd hatte seine Arbeit getan, nun war ich offenbar an der Reihe. »Das heisst dann wenigstens, dass du mich verstehst. Jedenfalls das, was ich sage.«

Ich strich ihm über die Nüstern. Mit einem weiteren Schnauben schmiegte es sich an meine Hand und stiess mich, als wollte es nicht nur meine Albträume, sondern ein Stück von mir fressen. Oder als wollte es mich begrüssen.

Leise lachte ich auf. »War es so schlecht? Glaub mir, ich fand es beängstigend.« Wenn ich ehrlich war, pochte mir das Herz immer noch bis zum Hals und schnürte mir die Kehle zu.

»Das hat er bei mir auch gemacht.« Die tiefe Stimme fuhr mir durch alle Glieder.

Sofort hielt ich mein Schwert wieder in der Hand. Diesmal würde ich es nicht so einfach wieder zurückstecken.

Kaer hob die Hände seitlich an und zeigte damit, dass er unbewaffnet war. Oder er wollte mich schon wieder in die Irre führen.

»Lauf! Geh weg und komm nie wieder zurück. Noch einmal lasse ich dich nicht entkommen!« Meine Stimme zitterte, doch meine Hand bewegte sich keinen Millimeter. Wenn es ums Töten ging, war ich kein unfähiges Mädchen, das sich von ein paar Blutspritzern abhalten liess. Das sollte auch er endlich erkennen.

Seine Mundwinkel zuckten. Jedenfalls bildete ich es mir in der nächtlichen Dunkelheit ein. »Ich glaube, wir sollten reden.«

»Ich glaube nicht.«

Mit einem leisen Seufzen liess er die Arme sinken. »Wirklich? Ist es das, was du möchtest?«

Ich wusste nicht, was er meinte. Er könnte Erming betrachten, mich oder das Lager. Ich wusste es nicht. Hinter seiner Maske aus warmem Metall erkannte ich selbst bei Sonnenlicht nicht einmal eine Augenfarbe.

»Seit wann interessiert es dich, was ich will?« Ich blinzelte die Tränen weg, als ich an seinen Vertrauensmissbrauch dachte, wie er mich bezirzt und in die Irre geführt hatte. Die Zeit war vorbei. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. »Du hast dein Ziel erreicht. Geh weg. Tritt mir nie wieder unter die Augen. Das ist es, was ich will.«

Von der Härte in meiner Stimme war nicht nur ich überrascht. Er kratzte sich am Nacken, wandte den Kopf ab. »Aber du … Ich … Wir …«

Ich hatte geglaubt, dass es ein Wir geben könnte, doch das hatte er zerstört. »Wenn es dich wirklich kümmert, was ich will, dann verschwindest du augenblicklich. Ich will dich nie mehr wiedersehen.«

Für einen Moment erstarrte er, und ich kaufte ihm seine Überraschung sogar ab. Als er sich wieder in Bewegung setzte, verflog auch das leise Mitgefühl in meinem Bauch. Er hatte den Tod meiner Eltern und vieler Menschen billigend in Kauf genommen, um seine Rache auszuleben.

Und dennoch schmerzte es, ihm zu sagen, dass ich ihn nicht wiedersehen wollte. Dass er für mich gestorben war, so wie meine Eltern. Er hatte mich beleidigt und verletzt, mit meinen Gefühlen für meine Eltern gespielt und sie als Geiseln genommen, um mich herauszufordern, als wäre ich ein Unwesen, das er verarschte, um sich daran zu erfreuen.

So ein verlogener, armseliger Bastard.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, musste ich mir eingestehen, dass mich sein Verhalten tiefer und heftiger traf als der Tod meiner Eltern. Sie hatten mich schon früh verlassen und sich nicht für mich eingesetzt, als ich es am meisten gebraucht hatte. In einer Ecke meines Herzens hatte ich stets gehofft, dass sie mich zurückholen würden. Doch vom ersten Tag an war mir klar gewesen, dass dies nicht passieren würde. Sie hatten ihr Leben über meines gestellt.

Kaer räusperte sich. »Wieso bist du so wütend? Sie wollten dich nicht, weil du anders bist. Sie haben es nicht besser verdient!«

Ich breitete die Flügel aus, sodass sie den grössten Teil des spärlichen Lichts noch schluckten. Mit zwei Sätzen war ich bei Kaer, wirbelte herum. Das Schwert schnitt durch Kleidung und blieb irgendwo hängen. Durch den Schwung wurde er zu Boden gerissen. Schwer atmend kam er auf dem Rücken auf und blickte mich mit schreckgeweitetem Mund an. Diesmal sah ich die Angst in seinem Blick, trotz seiner Maske und des wenigen Lichts. Ich roch sie.

Geschah ihm recht.

Ich zielte mit dem Schwert auf seinen Hals. Der Kehlkopf hüpfte, als er schluckte. Ich war mir sicher, dass er sich in diesem Moment wünschte, mich nie getroffen zu haben.

Langsam breitete er die Arme seitlich aus. Er blieb einfach liegen, sah mich an. »Wenn es dir danach besser geht, dann töte mich.«

Wahrscheinlich kannte er mich gut genug, um zu wissen, dass es mir danach nicht besser gehen würde. Im Gegenteil. Doch das würde ich ihm sicher nicht auf die Nase binden.

Mit einem missmutigen Brummen wandte ich mich ab, steckte das Schwert zurück in die Scheide und liess ihn und das Albpferd hinter mir. Ein weiteres Mal würde ich nicht zögern, ihn zu töten. Das war eine letzte Warnung meinerseits gewesen, und ich glaubte, dass er das begriffen hatte.

Ich stapfte zurück zum Lager, in dem Bertimi mich bereits erwartete. Als er mich entdeckte, zog er die Augenbrauen zusammen und erhob sich, sodass wir etwas abseits der anderen Überlebenden sprechen konnten.

Sein wacher Blick durchbohrte mich. »Was ist los, Aelys?«

Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass alles in Ordnung war, doch ihm konnte ich nichts vormachen. Ich wollte gar nicht zählen, wie oft er mir gesagt hatte, dass ich eine miserable Lügnerin war. Daran hatte sich auch in den letzten Wochen nichts geändert.

Ich zwang mich, seinem besorgten Blick mit einem Lächeln zu begegnen. »Nur ein paar Unwesen, die mich erschreckt haben.« Ich drängte mich an ihm vorbei, um weiteren Fragen auszuweichen, doch er hielt mich am Oberarm zurück.

»Wieso warst du überhaupt allein da draussen? Es ist gefährlich.« Bertimi zog die Augenbrauen noch ein kleines Stück enger zusammen, sodass sie sich in der Mitte beinahe berührten.

»Ich hatte einen Albtraum und musste raus. Abstand.« Ich befreite mich aus seinem Griff und liess ihn stehen.

Obwohl ich wusste, dass er es gut meinte und sich um mich sorgte, brauchte ich im Moment wirklich Abstand. Von der Zerstörung, von Kaer, von meinen Gedanken. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich mich zurück in die Katakomben wünschte, auch wenn ich sie so lange nicht gemocht hatte. Sie hatten mich hart und unnahbar gemacht, eine kalte Kriegerin, die als Blutengel bekannt war.

Die kurze Zeit ausserhalb der Katakomben hatte mich schwach werden lassen. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass ich ein besseres Leben haben könnte. Nun hoffte ich, dass auch die nächste Stadt Katakomben hatte, in die ich mich zurückziehen konnte. Dann hätte ich wieder ein geordnetes Leben und müsste nicht mehr denken, dass ich nur eine Spur der Zerstörung hinter mir herzog.

Wenn wir es in die nächste Stadt schafften, hätte ich Leben gerettet. Obwohl ich die Augen nicht mehr schloss, durchströmte mich bei dem Gedanken eine unbekannte Wärme im Bauch.

Neu entfachtes Feuer

Schweigend brachen wir das Lager ab. Für die paar Decken und die bereits verpackten Vorräte, die eine Handvoll Gefallene gestern noch aus Erming geholt hatten, brauchten wir erstaunlich lange. Den Menschen war anzusehen, wie sehr die Nacht im Freien an ihren Reserven zehrte, ganz abgesehen von den Ereignissen. Nicht nur ihre Liebsten, sondern auch ihr Zuhause hatten sie verloren. Selbst wenn es weitere Überlebende gab, brauchten sie einen Ort zum Leben.

Ich drängte den Gedanken beiseite und half Bertimi, seine Decke zu einer Rolle zu binden und sie sich auf den Rücken zu schnallen. Bei den Kämpfen hatte er sich den rechten Arm verletzt, sodass er nur eingeschränkt mithelfen konnte. Doch es war nichts, das nicht heilen würde. Ich war erleichtert, dass ihm nicht viel geschehen war.

»Wie geht es dir?«, brach er die ungewohnte Stille zwischen uns, die sich seit dem nächtlichen Vorfall eisern hielt.

Ich zuckte mit den Schultern und packte weiter. »Alles in Ordnung.«

»Ich glaube dir nicht.«

»Ich weiss.« Vorsichtig, um meine Flügel nicht zu verletzen, schulterte ich meine eigenen Sachen. Ich wollte nicht schon wieder auf ihre Unterstützung verzichten, sollte es zu einem Kampf kommen – und mein Bauch zweifelte keine Sekunde daran. In den kommenden Tagen würden wir bestimmt auf Unwesen stossen. Ausserdem gab es keine Garantie, dass wir in der nächsten Stadt freundlich aufgenommen würden.

»Du bist wie eine Schnecke. Verkriechst dich in deinem Häuschen, lässt niemanden an dich heran, und wenn man denkt, dich endlich erreicht zu haben, schützt du dich mit einer dicken Schicht Schleim.«

Bertimi seufzte so theatralisch, dass ich ihm lächelnd den Kopf zuwandte. »Wenigstens eine Schnecke und kein Unwesen, sonst müsstest du mir noch den Kopf abhacken.«

Sein Mund verzog sich zu einem verwegenen Grinsen, das mich für einen Moment die Situation und unsere Aufgabe vergessen liess. »Wer weiss. Schnecken waren nicht sehr beliebt, bevor die Unwesen auf sie losgelassen wurden.«

Ich lachte in mich hinein. »Die Geschichte musst du mir einmal erzählen«, verlangte ich.

Er war nicht nur ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, sondern auch ein wunderbarer Erzähler, der die Zuhörer allein mit dem Klang seiner Stimme in den Bann ziehen konnte. Ich hatte ihm immer gern gelauscht, wenn er eine Geschichte zum Besten gegeben hatte. Bei ihm hatte ich mehr über unsere Vergangenheit gelernt als bei Hilmut, dem eigentlichen Geschichtslehrer.

Nach einem kurzen Nicken entfernte ich mich, um zu Gladio zu gehen, der die Karte bei sich trug. Ich wusste nicht, wie man in der heutigen Zeit noch an eine Papierkarte kam. Bisher hatte ich geglaubt, dass nichts mehr auf dem Papier existierte, sondern alles vom System gesteuert wurde.

Ich setzte mich zu dem drahtigen Mann, der mich nur um einen Fingerbreit überragte. Gedankenverloren kaute er auf etwas undefinierbar Braunem herum, das nicht wirklich appetitlich aussah. Aber solange es den Magen füllte, reichte es wohl.

»Guten Morgen.« Ich lächelte, als er mir den Blick zuwandte und erst langsam aus seinen Tagträumen zu erwachen schien. »Du kennst den Weg, habe ich gehört.«

Er nickte. Um ihn nicht wütend anzufunkeln, wandte ich den Kopf ab. Schon gestern Nachmittag hatte mich seine langsame, schweigsame Art genervt, doch heute Morgen war es noch schlimmer. Sollten wir uns verlaufen, würden wir erst in ein paar Tagen ankommen, nicht schon morgen.

Ich zwang mich zu einem freundlichen Ton. »Darf ich einen Blick auf die Karte werfen?«

Er betrachtete mich, als hätte ich ihm eben offenbart, dass schwarze Flügel das neue Schönheitsideal wären. »Wieso?«

Mein Blick huschte in Richtung des Adamantmassivs, das seine dunklen Ausläufer fast bis zu uns schickte. Heute würden wir den äussersten Rand passieren müssen, um zu der Stadt zu gelangen, die Erming am nächsten lag.

Das Bergmassiv hatte auch Roban das Leben gekostet. Damals hatte ich mir geschworen, nie mehr einen Fuss hierher zu setzen, nicht einmal, wenn mein eigenes Leben davon abhing. Doch nicht meines hing davon ab, sondern jenes von fünfzehn Menschen. Beim besten Willen konnte ich mir nicht erklären, warum ich sie über mein eigenes Wohl stellte. Lag es an meinem schlechten Gewissen, weil sie ohne mich noch immer in Erming leben würden?

Ich räusperte mich. »Du erinnerst dich an Roban?«, fragte ich leise. Das Zittern meiner Stimme war nicht gespielt.

Er nickte, riss ein Stück seines Frühstücks ab und stopfte es sich in den Mund. Ich wartete auf eine Gegenfrage, eine Erklärung – vergeblich. Er kaute weiter, als wäre ich gar nicht hier.

Nur mit Mühe unterdrückte ich das schwere Seufzen, das sich meine Kehle emporkämpfte. »Ich möchte nur sehen, ob ich die Stelle finde, an der er …« Darauf hoffend, dass ihm meine raue Stimme und der abgebrochene Satz zeigten, wie sehr mich der Tod meines besten Freundes noch immer mitnahm, beendete ich ihn. Vielleicht kam ich mit ein wenig Mitgefühl weiter.

Abermals zerrte er an seinem Essen, drehte sich weg und kramte in seinem Packen. Vorsichtig, als wäre es aus zerbrechlichem Glas gefertigt, überreichte er mir ein mehrmals zusammengefaltetes Stück Papier. An den Ecken war es teilweise geknickt, die Oberfläche mit verschiedenfarbigen Flecken überzogen.

Am liebsten hätte ich es ihm aus der Hand gerissen. Wie konnte jemand mit so wenig Feuer im Hintern in den Katakomben überlebt haben? Das klang etwa so wahrscheinlich wie ein Mensch, der seinen Wohlstand freiwillig hergab, um die Rechte der Gefallenen zu stärken.

Ich zügelte meine Neugierde. Die Karte war auch in einigen Minuten noch da, damit ich sie betrachten konnte. Mein Blick suchte die Gesichter der Menschen. Sie wirkten blass und ausgemergelt. Eine Frau in meinem Alter wischte sich alle paar Augenblicke die Hände am leichten Sommerkleid ab, das inzwischen mehr Flecken aufwies, als sie Haare hatte. Würden diese Leute, für die wir schon immer unsere Leben riskiert hatten, uns schützen, wenn sie die Möglichkeit hätten?

Das Mädchen, das gestern schon meine Aufmerksamkeit erhascht hatte, erwiderte meinen Blick fest. In ihrem lag nur ein Hauch von Angst um ihre Zukunft, als wüsste sie nicht, was mit ihr geschehen würde. Kaum merklich reckte sie ihr Kinn, als forderte sie mich stumm heraus, und dennoch blieb das Wissen in ihren Augen, das ich mir nicht erklären konnte. Hatte jemand mit den Menschen über unsere Pläne gesprochen, nachdem ihre Heimat zerstört worden war? Oder hatten wir sie einfach so überfahren?

Neben mir räusperte sich Gladio. Mit verengten Augen musterte er mich, als hätte er etwas Weltbewegendes gesagt und ich ihm nicht zugehört. Noch immer streckte er mir die Karte entgegen. Der Typ war mir mehr als unheimlich. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nahm ich den kleinen Schatz an mich.

Sorgsam faltete ich das Papier auseinander. Früher hatte ich hin und wieder eine Karte gesehen, doch nicht oft. Mein Vater hatte mir einmal gezeigt, wie sie zu lesen waren, doch klein, wie ich gewesen war, hatte ich kein Wort verstanden. Nun bereute ich es, ihm nicht besser zugehört zu haben.

Der langsame Gefallene beugte sich ebenfalls über die Karte. »Das ist das Adamantmassiv. Je heller die Farbe, desto höher der Berg.« Er fuhr mit dem Finger über einen Bogen aus Braun- und Beigetönen, die in der Mitte teilweise weiss waren. Sie schnitt sich über das halbe Kartenblatt durch grüne Flächen mit blauen Linien und grauen Punkten.

»Hier liegt Erming«, ergänzte er, als sein Finger bei einem grösseren, dunkelgrauen Kreis stoppte.

Ich drehte den Kopf ein wenig. Radial um die Stadt war eine Fläche in einheitlichem Moosgrün gemalt. Das mussten die Felder sein, die wir bis vorgestern noch geschützt hatten. Weiter weg von Erming lagen unregelmässige, dunklere Flecken. Ich vermutete die ausgedehnten Wälder, die ich bei den Experimenten gesehen hatte, unterbrochen von Wiesen und Flüssen.

Ich drehte die Karte ein wenig. Nach einigem Suchen fand ich die Stelle, an der ich von der Katze angegriffen worden war. Nirgends sonst berührte der Fluss ein Feld vor Erming. Dann der Wald, die wenigen Wiesen … Als ich einen hellgrauen, viel kleineren Punkt als Erming entdeckte, hielt ich für einen Moment die Luft an. Das konnte nicht sein, dass selbst die kleinen Siedlungen ausserhalb eingezeichnet waren.

Ich deutete darauf. »Was ist das?«

Gladio stutzte, als sähe er dieses Detail der Karte zum ersten Mal. Nach einem Räuspern setzte er sich aufrechter hin. »Sieht nach einem Dorf aus.«

Ich nickte. Meine Augen suchten den Rand der Karte nach einem Datum ab. 2185. Ich hielt die Luft an, um den Atem nicht zischend einzuziehen. Die Karte war fast vierhundert Jahre alt. Sie stammte aus der Zeit direkt nach dem Zusammenbruch der Gesellschaft, als sich die Menschen hinter dicken Mauern versteckt hatten, um sich vor dem zu schützen, was sie selbst erschaffen hatten.

Ich lehnte mich nach hinten, stützte mich auf den Händen ab und schloss die Augen. Das war zu viel. Es war von Anfang an geplant gewesen: die Gefallenen, die Experimente, die Städte.

Tief atmete ich durch, versuchte Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Wenn die Menschen beim Bau der abgeschotteten Städte schon gewusst hatten, dass sich Dörfer ausserhalb ihrer Mauern formen würden, dann war das alles Absicht gewesen: Brion und seine Grosseltern, die Experimente, die Gefallenen, die Menschen, Kaer.

Die Tragweite dieser Entdeckung legte sich schwer auf meine Brust und verunmöglichte mir das freie Atmen. Wie in Harz gelegt bewegten sich die Bilder in meinem Kopf, konnten nicht weichen, obwohl ich sie vertrieb.

Es war alles geplant gewesen. Alles. Dass einige ausserhalb leben würden. Dass es Dörfer gab, von denen niemand hinter den Stadtmauern wusste. Wie weit war die Planung der damaligen Menschen gegangen, um sich vor ihren eigenen Fehlern zu schützen? Zumindest jene, die die Karte gezeichnet hatten, hatten von den Lebewesen in den Dörfern gewusst.

Vermutlich hatte nur niemand geglaubt, dass ihre Experimente eines Tages stärker sein würden als sie. Damals hatte auch nicht einer daran gedacht, dass ein System ihr Leben bis ins kleinste Detail bestimmen würde. Das System lebte nicht, es ordnete nur.

Die Erkenntnis ruhte schwer auf meinen Schultern, sank tief in mein Inneres und setzte sich dort fest. Noch hatte ich wohl nicht die ganze Tragweite begriffen, die das alles hier annahm.

Hätte ich diese Zahl nicht gesehen, könnte ich weiter unwissend sein.

»Da müssen wir hin.« Gladios Stimme unterbrach meinen Gedankengang erfolgreicher, als sie die traurige Gewissheit vertrieb.

Mit aller Willenskraft verdrängte ich die Schwere und widmete mich Gladio und seiner Karte. Er zeigte auf einen zweiten, zu Erming identischen Kreis, der sich auf der anderen Seite der Ausläufer des Adamantmassivs und näher an den lang gezogenen Hügeln befand. Die umliegenden Felder deuteten eher ein Oval an, als traute es sich nicht richtig an das Gebirge heran.

Gladio deutete auf eine dunkelbraune Fläche am westlichen Rand des Gebirges. »Hier starb Roban.«

Die gefühllose Stimme traf mich tief in meinem Innersten, knüllte meinen Bauch zusammen und riss meine Eingeweide heraus. Ich keuchte leise auf. Nach all der Zeit nahm mich sein Tod noch immer derart mit, dass mein Kopf wie nach einem Stromschlag für einige Sekunden lahmgelegt war. Ich schnappte nach Luft. Atmen, richtig atmen. Ein, aus. Nur allmählich beruhigte sich mein Herzschlag.

In den ersten Wochen seines Todes hatte ich gelitten wie ein gequältes, verendendes Unwesen. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, irgendwann wieder leben zu können. Doch noch immer überlebte nur, wer tötete. Ich hatte mir diese Worte zu Herzen genommen, um mich selbst nicht zu verlieren. Ich hatte seinen Tod verdrängt. Mich aufs Töten konzentriert, mehr als jemals zuvor.

Ob ich es hätte verhindern können, wenn ich nur schnell genug reagiert und ihn auf den Stein gezogen hätte? Eilig schob ich den Gedanken weg, der mich schon einmal fast mein Leben gekostet hätte. Ich brauchte Abstand, nun mehr denn je. Ablenkung konnten wir uns nicht leisten.

Den Ort des Ablebens meines besten Freundes ignorierend, zwang ich mich, meine Konzentration der Karte zu widmen. »Wie hoch sind die Bergkuppen zwischen uns und der nächsten Stadt?« Ich drehte den Kopf, sodass ich die Buchstaben lesen konnte. »Espera.«

Er zuckte mit den Schultern. »Siehst du ja.«

Ich gab mir keine Mühe mehr, das Augenverdrehen zu unterdrücken. Er ging mir gewaltig auf den Senkel. Mit einem Schnauben stand ich auf und entfernte mich einige Schritte, sodass ich nicht mehr in der Runde dieser niedergeschlagenen Personen sass, die an nichts anderes dachten als daran, wieder in irgendwelche Katakomben zurückzukriechen.

Bertimis Schritte näherten sich mir. Er lachte in sich hinein, als ich zu ihm herumwirbelte. Wie konnte er so fröhlich sein?

»Du hast dich verändert«, stellte er fest, bevor ich etwas sagen konnte.

Er suchte in meinem Blick nach Zustimmung, nach einer Regung, doch ich konnte ihn nur anstarren. Ich sollte mich verändert haben? Wahrscheinlich bot ich einen erbärmlichen Anblick: eine verletzte Nase, Blut im Gesicht, Staub in den Haaren und in der Kleidung, dazu die drohend schwarzen Flügel.

Er hob die Hand und deutete auf die Ebene, die dunkel vor uns lag und uns von unserem zerstörten Zuhause trennte. »Lass uns ein paar Schritte gehen.« Als hätte ich zugestimmt, setzte er sich in Bewegung. Überrumpelt folgte ich ihm. Nach wenigen Metern holte er tief Luft. »Seit du von deinem Ausflug – nennen wir dein tagelanges Verschwinden einmal so – zurückgekehrt bist, bist du anders. Du strahlst eine Energie aus, die ansteckend ist. In deinen Augen liegt Hoffnung.« Mit zusammengezogenen Augenbrauen drehte er mir sein Gesicht zu.

Ich schaffte es gerade noch, seinem Blick auszuweichen. Vielleicht war es Zeit, wenigstens ihm zu erzählen, was ich alles wusste. Wenn ich nicht einmal mehr ihm trauen konnte, dann gab es an meiner Seite niemanden mehr.

»Da war auch Hoffnung«, gab ich leise zu und schluckte. »Ich dachte, dass wir eine Chance hätten. Dass die Gefallenen an der Seite der Experimente um ihre Rechte kämpfen könnten, damit die drei Gruppen friedlich nebeneinander leben können. Klar, es wäre kein einfacher Weg gewesen. Die Menschen lieben ihr sorgenfreies Leben, in dem das System ihnen alles organisiert, was sie brauchen. Zudem glauben sie, frei zu sein. An ihrer Stelle würde ich das auch nicht widerstandslos aufgeben.« Mit der Hand strich ich mir die blauen, viel zu wilden Haare aus dem Gesicht. Es wurde Zeit, dass sie wieder einmal eine Bürste sahen.

Mein ehemaliger Lehrer seufzte. »Aber das sind sie nicht.«

Ich zuckte mit den Schultern. In gewisser Weise waren sie dennoch freier als ich. »Sie werden nicht in einen dunklen Gang gesperrt, in dem sie sich behaupten müssen, um ihn jemals wieder zu verlassen. Das ist schon mehr Freiheit, als ich jemals erlebt habe. Bis auf …« Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu viel zu verraten. Das Reiten auf dem Albpferd war eine meiner schönsten Erinnerungen. Ich hatte mich unendlich frei gefühlt. Auch die Momente mit Kaer, die mir noch immer ein Kribbeln in den Bauch sandten und mir sagten, wie sehr ich ihn vermisste, bedeuteten Freiheit.

Bestimmt wusste Bertimi, wie es mir ging. Wie er schon Dutzende Male gesagt hatte: Ich war eine denkbar schlechte Lügnerin. Vor ihm konnte ich auch nichts verbergen, indem ich es nicht aussprach. Er kannte mich zu gut.

Mein ehemaliger Lehrer legte die Hand auf meinen Unterarm und drückte ihn, als wollte er mich aufmuntern. Ein wenig gelang es ihm, ich fühlte mich nicht mehr so einsam. »Denkst du, es ist Freiheit, wenn jemand nicht wählen kann, mit wem er den Rest seines Lebens verbringen will? Niemals den Wind auf der Haut spüren kann? Kein Regenprasseln auf der Haut? Zu sehen, wie Regentropfen erst einzelne Punkte auf den Boden malen, ihn tränken, bis Rinnsale über die Erde fliessen? Ist man frei, wenn man die Sonne niemals wirklich gesehen hat? Den Geruch von nasser Erde eingesogen, das Rauschen eines wilden Baches gehört hat?« Er verstummte in seiner Aufzählung. Dann seufzte er leise. »Denkst du, ein Mensch ist frei, wenn er hinter so dicken Mauern eingesperrt sein muss? Und nichts von alledem weiss?« Er zeigte auf die Überreste von Erming, die traurig aus der Ebene herausragten, als wollten sie uns warnen, denselben Fehler noch einmal zu begehen.

»Nein, das ist keine Freiheit. Doch man ist auch nicht frei, nur weil man ausserhalb der Mauern lebt.«

»Nein, das ist man nicht. Doch die Chancen, dass man es eines Tages ist, erachte ich als grösser.« Als ich ihm einen überraschten Blick zuwarf, zwinkerte er mir zu und drehte sich zu der Gruppe aus Menschen und Gefallenen um. »Komm, wir müssen los, wenn wir Espera morgen noch erreichen wollen.«

Ich eilte ihm hinterher und staunte, wie schnell er in seinem Alter und all seiner Verletzungen zum Trotz noch war.

Ein wissendes Lächeln huschte über sein faltiges Gesicht. »Und danach kümmern wir uns um unsere Freiheit.«

Seine Zuversicht fachte das unterdrückte Feuer in meinem Inneren neu an. Ich hatte keine Chance, dagegen aufzubegehren. Ich wollte mir ausmalen, wie es sein könnte, wirklich losgelöst zu sein. Obwohl ich mich wehrte, schmeckte ich die Süsse der Freiheit auf der Zunge.

Ich würde alles für meine Freiheit und die der Gefallenen tun, das schwor ich mir hier und jetzt.

Unmenschlich

»Hat es wehgetan?«, brach eine dünne Stimme die Stille, die ich gesucht hatte.

Ich zuckte zusammen. Durch meine abweisende Haltung hatte ich nicht damit gerechnet, dass mir jemand folgen würde. Wenig begeistert drehte ich den Kopf zu der Stimme. Das Mädchen, das nicht älter als fünfzehn Jahre sein konnte und mir schon mehrmals aufgefallen war, stand mit einem unsicheren Lächeln neben mir. Die Sonne versteckte sich hinter dem Horizont, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die Ebene mit Espera in grelles Licht tauchen würde.

Gestern Abend hatten die Menschen im Schutz der Gefallenen ihr Lager errichtet. Nun wachten wir zu viert über sie, ein Kämpfer für jede Himmelsrichtung. Da ich damit gerechnet hatte, ohnehin keinen Schlaf zu finden, hatte ich mich freiwillig für die Morgenwache gemeldet. Bertimi hatte mich davon abhalten wollen. Offenbar machte er sich Sorgen um mich. Doch die Albträume, die mich verfolgten, konnte er nicht vertreiben. Sie brauchten Zeit. Oder ein Albpferd, das sich wieder von seinem Herrn ernährte und nicht von mir.

»Was?« Ich klang harscher als beabsichtigt. Ich wollte sie nicht noch mehr erschrecken. Die letzten Tage hatte sie genug erlebt, um eine ganze Weile daran zu knabbern zu haben. An ihrer Stelle hätte ich die Verluste auch verdrängt, die Erinnerungen an mein ehemaliges Leben. Es war alles zerstört, die Zukunft blieb ungewiss.

Ohne eine Aufforderung setzte sie sich auf einen Stein und folgte meinem Blick über die Ebene. Heute Nachmittag würden wir Espera erreichen. Aus der sich vor uns öffnenden Weite erhoben sich dunkle Mauern, noch nicht mehr als ein Punkt in der Ferne, und zogen mich an wie das Licht kleine geflügelte Unwesen, die sich vor langer Zeit mit Insekten gepaart hatten. Sie bevölkerten die Luft viel zu dicht, wie ich fand. Ich schützte mich, indem ich mich nachts keinen Lichtquellen näherte.

»Die Flügel. Hat es wehgetan, als sie gewachsen sind?«

Ich verzog das Gesicht zu einem Grinsen, fürchtete jedoch, dass sie es als Grimasse abtun würde. »Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich es nicht bewusst miterlebt hätte.« Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie ein geflügeltes Baby zur Welt kommen konnte, doch es hätte mir einiges an Leid erspart – selbst dann, wenn sie mir im Alter von wenigen Monaten gewachsen wären wie die Zähne.

Das Räuspern des Mädchens holte mich aus meinen Gedanken in die Gegenwart zurück. »Wieso hast du uns geholfen?«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen drehte ich ihr den Kopf abermals zu. Sie wirkte viel zu entspannt für das, was sie erlebt hatte und noch immer durchmachte. Vorgestern war ihre Heimat dem Erdboden gleichgemacht worden. Seither marschierten wir durch die meist unwirtliche Natur, bergauf und bergab, an einem Bach vorbei, durch struppige Wälder. Sie hatte vermutlich ihre Eltern verloren, vielleicht Geschwister, Freunde und ihr Zuhause, und war mit Abstand die Jüngste der überlebenden Menschen. Von ihr könnte ich mir eine ganze Scheibe abschneiden.

»Ich kannte sie, meine Eltern. Die meisten Gefallenen können das nicht von sich behaupten.« Mit einem Schlucken kämpfte ich gegen die Tränen an, die bei der Erinnerung an meine Eltern in meinen Augen brannten.

Eine Weile schwiegen wir. »Ich heisse Estelia. Sie nannten mich so, weil sie hofften, eines Tages die Sterne sehen zu können. Richtig, nicht durch eine Glaskuppel hindurch.« Sie hob den Blick Richtung Himmel. Auf tiefschwarzem Grund zwinkerten uns Millionen kleiner Punkte zu, als wollten sie uns Mut machen. Sie seufzte. »Ihr Wunsch ging nie in Erfüllung. Den Menschen ist es untersagt, die Städte zu verlassen.«

»Ich weiss.« Einmal hatte ich meinen Vater gefragt, ob die Stadtmauern das Ende der Welt seien. Nein, nicht das Ende der Welt. Aber die Grenzen von Erming, hatte er geantwortet. Damals hatte ich begriffen, dass Ermings Grenzen das Ende meiner Welt sein würden. »Wie ist es, hinter den Mauern zu leben?«

Estelia zuckte mit den Schultern. »Langweilig trifft es wohl am besten. Viel machen kann man nicht, irgendwann hat man auch die verstecktesten Winkel der Stadt entdeckt. Das System bestimmt alles. Es hält Krankheitserreger von uns fern, indem es kranke Leute isoliert und niemanden einlässt. Es kümmert sich um unser Essen, um unsere Kleidung, um die Einrichtung, um unsere Berufe und um unsere Freunde.«

Das klang trostloser, als ich es mir vorgestellt hatte. Stets hatte ich gedacht, es sei ein Privileg, innerhalb der Stadtmauern zu leben. In Sicherheit. Doch bedeutete Sicherheit auch den Verlust von Freiheit?

»Es scheint geradezu, als würden die Menschen für das System leben«, gab ich meine Gedanken preis.

Sie nickte. »Es könnte uns schon lange vernichtet haben, wenn es wollte.«

»Es wurde von Menschen erschaffen. Sein Sinn ist es, sie am Leben zu erhalten. Es hat keinen eigenen Willen.« Innerlich schüttelte ich den Kopf über so viel Naivität. Ein System, das selbst dachte und entschied, wer sollte denn so einen Schwachsinn erfinden?

Estelia wandte sich mir zu. Ihr intensiv musternder Blick traf mich tiefer, als ich erwartet hatte. Sie war noch fast ein Kind. Woher nahm sie diese Kraft und Zuversicht? »Wieso gibt es dann so viele lebensfähige Mutanten, die wir in die Katakomben werfen? Das System weiss doch, wer defektes Erbgut in sich trägt. Jeder wird kontrolliert.«

Ihre blauen Augen funkelten herausfordernd, als wollte sie sich gegen das System wenden. Doch im Moment forderte sie mich nur auf, meinen eigenen Kopf zu gebrauchen. Schon die Entdeckung des Dorfes auf der uralten Karte hatte mein Weltbild ins Wanken gebracht, und nun sagte sie mir, dass das System die Gefallenen absichtlich züchtete.

---ENDE DER LESEPROBE---