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Jeder braucht hin und wieder Stille, um sich selbst zuhören zu können. Pferdenärrin Arina hat sich ihren Traum von einem eigenen Pferdehof erfüllt. Als sich jedoch Meldungen über angebliche Misshandlungen häufen, muss sie ihn aufgeben und flüchtet nach Island zu ihrer Tante. Dort trifft sie nicht nur auf süsse Islandpferde, sondern auch auf Kjartan, der seine Tiere über alles liebt. Ein Urlaubsflirt verspricht Abwechslung – solange er nichts von den Vorwürfen gegen sie erfährt.
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Inhaltsverzeichnis
Abschied
Überrumpelnder Besuch
Schneewüste
Zuhause
Kaffee auf Isländisch
Die Königin der Elfen
Apfelkuchen
Stalldrang
Das Erbe der Familie
Der perfekte Mord
Vanillekipferl
Ablenkung
Winterzauber
Dumm oder gerissen
Schneeflockenträume
Misstrauen
Typisch Alvar
Warme Augen
Alte Liebe
Familientradition
Freiheit im Schnee
Auszeit
Im Schnee
Ein besonderes Buch
Ingibjörg
Eine dumme Idee
Geständnis im Dunkeln
Weihnachtsbücherflut
Abschied
Auf Isländisch
Epilog
Danksagung
Andrea Ego
Nordlichtzauber und Schneegestöber
Liebesroman
Impressum
© November 2022, Andrea Ego
Andrea Ego c/o Autorenservice Patchwork Schlossweg 6 A-9020 [email protected]
Lektorat und Korrektorat: LibriMelior – Michael Weyer Cover Design: Giusy Ame / Magicalcover
Bildquelle: Depositphoto
Andrea Ego
Nordlichtzauber
&
Schneegestöber
Weitere Bücher der Autorin:
Fantasy
Im Bann des Gedankenlesers
Die Braut des Feenprinzen
Schmiedefeuer: Die Schatten von Mra’Theel 1
Schattenherz: Die Schatten von Mra’Theel 2
Drachentanz: Die Schatten von Mra’Theel 3
Das Schicksal der Seherin
Elyra – von Wasser verzaubert
Der Wintergöttin gefrorenes Herz
Im Bann der Feuerfrau
Dystopie
Blutengel – vergessen
Rachefürst – verlassen
Liebesroman
Herzenstanz in Reykjavík
Wenn wir durch den Regen tanzen
Für eine Nacht und einen Kuss
Frühling im Herzen
Whiskyliebe in den Highlands
Im Herzen der Schweiz, wo ich herkomme und es leckere Schokolade, gute Messer und unglaublich schöne Berge gibt, läuft vieles ein wenig langsamer und anders. Ich liebe unser Tal und die Berge rundherum, die schrulligen Leute und den Herbstwind.
Wir Schweizer werden ohne »ß« gross. Weil ich unser Schriftbild schön finde, stolz auf diese Schweizer Eigenheit bin und vor allem die Vielfalt der deutschen Sprache liebe, verwende ich konsequent »ss«.
Ich danke euch allen schon im Voraus für das Verständnis, was die Rechtschreibung angeht, und wünsche trotzdem ein schönes Leseerlebnis.
Gedankenverloren starrte Arina zum Fenster hinaus, während sie das Handy an ihr Ohr gedrückt hielt. Grauer Novembernebel hüllte die sich davor ausbreitende Landschaft ein, versteckte sie vor ihr. In Arinas Erinnerung war sie immer in warmes Sonnenlicht getaucht gewesen, selbst wenn es wie aus Kübeln gegossen hatte. Nun wich auch der letzte Hoffnungsschimmer aus ihrem Leben.
Sie presste die Lippen aufeinander und umklammerte den Schlüsselbund mit den sechs Schlüsseln, den sie wie ein Kleinod die letzten knapp zweieinhalb Jahre aufbewahrt hatte. Den sie jeden Tag gebraucht hatte. Sich gesorgt hatte, nicht nur um die Schlüssel, sondern um all das, was sie bedeuteten. Sie sorgte sich viel mehr um das, was sie bedeuteten, als um das Metall.
Sowohl die Schlüssel als auch sie waren verloren.
Sie ignorierte den eiskalten Stich in ihrer Brust, der ihr einreden wollte, dass es einfacher war, dem Sturm in ihrem Inneren nachzugeben als ihm die Stirn zu bieten.
»Arina?«
Wie hatte das nur passieren können? Erst war alles wie am Schnürchen gelaufen. Die Kunden hatten an ihre Tür geklopft, waren glücklich gewesen, und wie aus dem Nichts erschienen diese Bilder, die Schlag für Schlag alles zertrümmerten, was sie sich aufgebaut hatte.
»Arina, hörst du mir überhaupt zu?« Katrins besorgte Stimme durchbrach ihr Gedankenkarussell, in dem sie seit Stunden gefangen war. Tagen. Wochen. Vielleicht schon seit einem halben Jahr.
Arina räusperte sich, verlagerte das Gewicht auf das andere Bein. »Ja, klar.«
»Also, was willst du jetzt tun?« In die Worte ihrer Patentante schlich sich eine Wärme, wie sie nur ein Zuhause verströmen konnte. Katrin wusste, was ihr ihr Traum bedeutet hatte und welches Loch der Verlust in ihr Leben riss.
Arina seufzte leise. »Meinst du, was ich tun will oder tun muss?« Sie gab Katrin keine Zeit, eine Antwort zu finden. »Ich will die Schlüssel nicht abgeben, aber ich werde es tun. Weil ich es muss. Mir bleibt keine andere Wahl.« Allein der Gedanke daran, ihren Traum einfach so aufzugeben – mit dem Abgeben von Schlüsseln! – und wegzusperren, drohte ihr Herz in zwei Hälften zu brechen. Sie sagte den aufsteigenden Tränen den Kampf an, indem sie heftig schluckte.
Schwer atmete Katrin aus. »Du wirst es schaffen. Du bist eine starke, bewundernswerte Frau, die alles Glück im Leben verdient hat.«
Die liebevollen Worte vernichteten alle Mühen, die Tränen zurückzuhalten. Die Trauer überwältigte sie wie ein wildgewordener Haufen Welpen. Nur nicht süss, sondern brutal, und ohne Rücksicht zu nehmen. Hilflos schniefte Arina. »Aber warum ist es dann passiert?« Das Zusammenbrechen ihrer Träume und der Verlust ihrer Arbeit gehörten nicht zu allem Glück der Welt.
»Ach, Arina. Manchmal geht das Leben wilde Wege und lässt uns verzweifeln. Vertrau ihm, dass es noch Gutes für dich bereithalten wird. Vielleicht war der Verlust notwendig, damit du einen neuen Weg einschlagen kannst.«
»Ich will keinen neuen Weg einschlagen«, maulte Arina. Früher hatte sie es geliebt, dass Katrin fast nichts aus der Ruhe bringen und verärgern konnte. Doch in diesem Moment wünschte sie sich jemanden an ihrer Seite, der sie in den Arm nahm und mit ihr über die Ungerechtigkeit des Lebens jammerte. Der genau verstand, wie sie sich fühlte, und dass sie auf der ganzen Welt gerade keinen Sonnenstrahl mehr finden konnte.
»Ich weiss, ich weiss.« Katrin seufzte und zögerte die weiteren Worte hinaus, bis sie schliesslich sanft weitersprach: »Du wirst deinen Weg finden und gehen, früher oder später. Solche Rückschläge brauchen Zeit und deshalb … Vielleicht kommst du uns besuchen? Tapetenwechsel sozusagen. Ich vermisse dich wirklich, Arina.«
Arina lauschte den Worten, wollte sie packen und für immer festhalten, denn sie waren ein kleiner Lichtblick in einem Meer aus dunklen Schatten, in dem sie sich gefangen fühlte. Egal, wie sie strampelte und schwamm, früher oder später würde sie untergehen, wenn sie sich nicht an diese verschwindend kleine Hoffnung klammerte.
»Denkst du über meinen Vorschlag nach?«
»Welcher Vorschlag?«, hakte Arina nach.
»Arina!« Allein der Klang von Katrins Stimme beschwor in Arina ihr Bild herauf, wie sie mit in die Hüfte gestemmter Hand dastand, die Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich ihre ansonsten faltenarme Stirn kräuselte. In der Mitte bildete sich eine Furche, die Arina früher ziemlichen Respekt eingeflösst hatte. Bei dem lebendig wirkenden Bild in ihrem Kopf huschte ein schwaches Lächeln über Arinas Gesicht. Schwer seufzte Katrin. »Ich würde mich freuen, wenn du mich besuchen kommst. Ich meine, bald ist Weihnachten, und wir haben uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Sehnsucht packte Arinas Herz und riss es fort, um es zu ihrer Patentante zu locken, und zwar sofort. Einfach zum Flughafen fahren, in den nächsten Flieger nach Island steigen und davondüsen. Dummerweise lebte Katrin auf einem Pferdehof, der Arina Tag für Tag an ihr Scheitern erinnern würde.
Sie rief sich zur Vernunft, stellte sich aufrechter hin. Nein, sie durfte nicht aufgeben und sich verstecken. Sie musste um das kämpfen, was ihr geblieben war. Nur … was war ihr geblieben? Nichts.
»Mal schauen«, antwortete sie ausweichend. In der Ferne erkannte sie den dunkelgrünen Subaru des Vermieters, der in die Zufahrtsstrasse einbog. Nun war es also so weit: Sie musste die Schlüssel zu ihrem Traum abgeben. Arina atmete tief ein. »Ich muss los. Der Vermieter kommt. War schön, mit dir zu plaudern.«
»Du überlegst es dir, ja?«, beeilte sich Katrin zu sagen.
»Ja klar«, versprach sie halbherzig, verabschiedete sich und legte auf. Sie liebte Katrin wie ihre eigene Mutter, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnerte. Allerdings wollte sie sich im Moment einfach nur verkriechen und sich nicht mit den Sorgen anderer herumschlagen. Die Welt für einige Wimpernschläge Welt sein lassen. Mit Katrins Wünschen fühlte sie sich im Moment eher bedrängt, überfordert, selbst wenn sie in Island lebte.
Arinas Blick schweifte durch den Stall. Obwohl kein Pferd mehr in den hellen, grossen Boxen stand, roch es noch immer nach den edlen Tieren. Sie alle waren leer, genau wie sie.
Leer.
Kalt.
Tot.
Schritt für Schritt ging sie den Gang entlang. Da, die Holzbalken, auf denen sie Sattelzeug und Decken, Striegel und Bürsten hingelegt hatte, wenn sie ein Pferd für einen Ausritt vorbereitet hatte.
In einer der Boxen zu ihrer Rechten hatte Neptun, der vorwitzige Hengst mit dem schreckhaften Gemüt, eine Mauerschwalbe zu spät gesehen und ausgeschlagen, sodass eine Kerbe im Holz zurückgeblieben war.
Das kleine Shetlandpony Teddy hatte immer den anderen Pferden das Heu aus den Raufen gezupft, obwohl er selbst immer nur wenig davon gegessen hatte. Ihm waren Hafer und frisches Gras lieber gewesen. Manchmal war Arina den Eindruck nicht losgeworden, dass Teddy die grossen Pferde ärgern wollte.
Mitten im breiten, leeren Gang blieb sie stehen. Sie verband so viele Erinnerungen mit diesem Ort. Was auch immer die Welt und alle Zeitungen über sie sagten und zu wissen glaubten, das Wohl der Tiere hatte ihr immer am Herzen gelegen. Sie hatte sich um sie gekümmert, hatte den Tierarzt auf eigene Kosten bestellt, wenn die Besitzer es nicht tun wollten, und hatte viele Freunde gefunden.
Ein erzwungenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, gleichzeitig verschwamm das Holz der Boxen mit den Türbeschlägen vor ihren Augen.
Es war vorbei.
Arina schluchzte auf, gab dem inneren Druck ihrer Tränen nach. Seit einem halben Jahr tauchten Zeitungsartikel auf, die die angeblich unhaltbaren Zustände auf ihrem Pferdehof dokumentierten. Bilder von ausgemergelten Tieren huschten durch ihre Erinnerungen, blutiges Stroh, kranke Pferde, drei sich bekämpfende Ponys auf einer viel zu kleinen Koppel. Bilder, die sie in echt nie gesehen hatte. Jemand hatte sie gefälscht und ihr damit willentlich geschadet, hatte die Presse und das Veterinäramt getäuscht, bis sie alles verloren hatte. Die Kunden hatten die Verträge gekündigt, neue waren keine mehr gekommen. Erst hatte sie die Aushilfe entlassen, dann sich selbst keinen Lohn mehr ausbezahlt, damit sie ihren Traum behalten konnte. Gereicht hatte es nicht. Nun war es aus. Für immer.
Entschlossen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, blinzelte und schritt aus. Wie Katrin gesagt hatte: Es ging zu Ende, und sie konnte nichts dagegen unternehmen, ausser es möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Als sie das Eingangstor erreichte, stieg Frank, der Vermieter, aus seinem Wagen. Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und drehte sich zum Stall um. Noch ein letzter Blick, einmal noch die Stallluft atmen, die Pferde wiehern hören, auch wenn es nur ihre Erinnerung war.
Etwas in ihr riss. Es war ein unterschwelliges Geräusch, eines, das kaum zu hören war und sich dennoch durch ihr ganzes Sein zog, wie eine verborgene Gletscherspalte. Sie hatte ihren grössten Traum verloren. Gab es nach so einem Rückschlag jemals wieder Hoffnung?
Sie würde ein neues Leben beginnen. Irgendwann. Ein anderes. Es würde nicht schöner werden als das Leben, das sie gelebt hatte. Bis an ihr Lebensende würde sie sich fragen, was sie hätte besser machen können. Ob es einen Weg gegeben hätte, die Katastrophe zu verhindern.
Arina zog die breiten Tore zu, steckte einen der sechs Schlüssel in das Schloss und drehte ihn. Nur einen Wimpernschlag verharrte ihr Blick auf ihren Händen. Die Konturen verschwammen. Unwirsch wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Obwohl sie Frank schätzte, wollte sie nicht vor ihm heulen wie ein kleines Mädchen. Mit einem wenig überzeugenden Lächeln drehte sie sich zu ihm um. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er bei seinem Subaru und lehnte sich gegen die Fahrertür.
Sie hielt auf ihn zu und streckte ihm die Schlüssel entgegen. »Hallo, Frank. Ich hoffe, du findest einen besseren Nachmieter.« Sie wünschte es ihm von Herzen, obwohl sie selbst am liebsten dieser Nachfolger gewesen wäre. Der Pferdehof lag ideal, nicht zu weit von Bern entfernt und doch so, dass die Tiere Weiden und Wälder hatten, um sich auszutoben oder um auszureiten.
Frank nickte, als würde er all den Schmerz verstehen, der in ihr tobte. »Ich kann mir keine bessere Mieterin vorstellen als dich. Und ich weiss, dass du das nicht getan hast. Dass sie Lügen verbreiten.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, als er die Augen leicht verengte. »Nicht leicht, was?«
Sie schniefte. Ihrer eigenen Stimme gegenüber misstrauisch, nickte Arina. Sie wollte so viel sagen und blieb doch stumm. Einerseits, weil es für die Schwärze in ihr keine Worte gab, andererseits, weil sich in ihrem Hals ein dicker Kloss gebildet hatte.
Nach einem tiefen Atemzug stiess Frank die Luft aus seiner Lunge. »An deiner Stelle würde ich ein wenig Abstand suchen. Weg von hier. Wenn du bleibst, wirst du nur an das hier erinnert. Das ist nicht schön.«
Das war es nicht, doch darüber wollte sie nicht sprechen. »Danke, Frank. Für alles.«
Wieder nickte er.
Arina drehte sich um und ging auf ihren Wagen zu. Mechanisch stieg sie ein, startete den Motor und fuhr los. So einfach war es also, seinen grössten Traum hinter sich zu lassen, und gleichzeitig so unendlich schwer.
Mit einem erkalteten Tee in der Hand sass Arina in eine Decke gekuschelt auf der Couch. Irgendeine Liebesschnulze lief im Fernsehen. Sie hatte weder die Nerven noch den Kopf, sich darauf einzulassen, obwohl es besser gewesen wäre, weil sich dann die Leere irgendwie gefüllt hätte. Oder weil sie sie nicht gespürt hätte.
Ihr Handy leuchtete auf und zeigte eine neue Nachricht an. Wenig motiviert entsperrte sie den Bildschirm. Es war ihre beste Freundin Kim.
Kim: Bist du zu Hause?
Offenbar machte sie sich Sorgen um sie. Arina legte das Smartphone weg, da leuchtete es abermals auf. Ergeben seufzte sie und las die Nachricht.
Kim: Du kennst mich. Ich gebe nicht auf. Stehe mit einer grossen Packung Eis vor der Tür.
»O Mann!« Arina stöhnte laut. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Obwohl sie Kim alles anvertraute, brauchte sie eine Pause von allem und jedem. Sie wollte sich in ihrem Selbstmitleid suhlen, bis sie vergessen hatte, warum sie sich überhaupt so beschissen fühlte. Wenn Kim jetzt zu Besuch käme, würde sie in Tränen ausbrechen und sich nicht mehr erholen, bis sie ausgeheult war. Sie fühlte sich nicht stark genug, um sich dem zu stellen.
Kim: Schokoeis.
Als hätte Kim ihre Gedanken erraten, brachte sie das stärkste aller Argumente: Schokoladeneis. Bei Kims letzter Trennung war es Arina gewesen, die ihr eine grosse Box mitgebracht hatte. Kim hatte nicht reden wollen, aber dank der Eiscreme – oder vielleicht dank des Weins – waren die Worte wasserfallartig aus ihr herausgesprudelt.
Würde es Arina heute ebenso gehen?
Arina: In Ordnung. Ich komme gleich.
Arina schaltete den Fernseher aus und schälte sich aus der Decke, um Kim die Tür zu öffnen. Kaum hatte sie den Türöffner betätigt und die Wohnungstür geöffnet, hörte sie die festen Schritte ihrer Freundin im Flur. Wenige Augenblicke später tauchte der blonde Schopf auf.
Ohne Umschweife nahm Kim sie in die Arme, drückte sie fest an den schmächtigen Körper. Ihre Jacke roch nach kalter Winterluft, als hätte sich der Nebel in den Stoff geschlichen, um Arinas Herz zu erreichen. Kalt, neblig, hoffnungslos. Der düstere Abend hätte sich nicht die Mühe machen müssen, sich an die Fersen ihrer Freundin zu heften, um sie zu erreichen. Das hatte er längst, spätestens seitdem klar war, dass es für ihren Pferdehof keine Hoffnung mehr gab.
Mit aller Kraft trennte sich Arina von den niederschmetternden Gedanken und löste sich von Kim. »Komm rein.« Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und liess ihre beste Freundin eintreten. »Wein habe ich leider keinen, aber ich kann dir Bier anbieten.«
Kim befreite sich von ihrem Schal, den sie unzählige Male um ihren Hals gewickelt hatte. »Nur, wenn du mir das Bier wärmst. Draussen ist es arschkalt.«
»Bäh, warmes Bier.« Bei der Vorstellung schüttelte sich Arina und rümpfte die Nase. Ein winziges Stück der Schwere des Tages fiel von ihr ab, und sie schenkte Kim ein weiteres Lächeln. Dieses Mal fiel es ihr sogar ein kleines bisschen leichter. »Wenn du schon jetzt solche Gelüste hast, will ich gar nicht wissen, was du in einer Schwangerschaft zusammenmischst.« Sie ging voran in die enge Küche direkt neben dem Eingangsbereich, um Wasser für einen Tee aufzusetzen.
Als sich Kim ihrer Schuhe und der Jacke entledigt hatte, folgte sie ihr und holte zwei grosse Löffel zum Vorschein. Sie legte sie auf die Packung Schokoladeneis. Wenn sie das Ding heute leer essen wollten, würden sie einen Zuckerschock erleiden. Oder Hirnfrost. »Wieso kann es nicht einfach länger Herbst sein? Oder Sommer. Kaum ist es November, peng, und es frieren alle Finger ab.«
»Du hättest auch was vom Chinesen mitbringen können«, erwiderte Arina mit einem Schmunzeln.
Kim legte den Kopf schief und musterte sie mit gespielt entsetztem Blick. »Als hätte mich ein Hähnchencurry hier reingebracht.«
Augenblicklich klatschte die Erinnerung an die letzten Tage, Wochen und Monate wie eine schallende Ohrfeige gegen Arinas Wange und zwang ihre Schultern noch tiefer hinab. Die wenigen Augenblicke der Leichtigkeit waren vorbei. »Natürlich hätte es das. Ich hätte dich auch ohne irgendwas reingelassen.«
»Das weiss ich doch.« Kim presste die Lippen aufeinander, zog die Mundwinkel nach hinten. »Wie war es?«, fragte sie nach kurzem Zögern, offensichtlich unsicher, wie sie das Thema Pferdehof ansprechen sollte.
Um Zeit zu gewinnen, drehte sich Arina zum Schrank mit den Teebeuteln um. »Welchen Tee möchtest du?« So oft, wie sie gemeinsam beieinandersassen und miteinander quatschten, müsste sie nicht fragen, sie kannte Kims Geschmack: Chai. Aber es war eine gute Variante, Zeit zu schinden, die Stille zum Schweigen zu bringen und nichts zu sagen. Kim abzulenken. Vielleicht konnte sie einen Diskurs über Himbeerblätter beginnen?
»Du hast doch den leckeren Chai.«
Wieso ging das so schnell? Und warum spielte Kim das Spiel nicht mit? Ohne ihrer Freundin in die Augen zu blicken, zog sie die Teebeutel hervor und holte zwei Tassen aus einem anderen Schrank.
»Arina.« Kim klang vorwurfsvoll.
Sie zögerte. »Ja?«
Kim seufzte schwer, hielt einen Moment den Atem an und liess dann die Spannung ziehen. »Ich weiss, dass es dir beschissen geht, aber du hilfst dir selbst am meisten, wenn du darüber sprichst.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Wenn du dich mir nicht anvertrauen willst, kann ich auch Kilian fragen.«
»Um Himmels willen, nein!« Arina warf Kim einen vorwurfsvollen Blick zu. Kilian war der junge Landwirt, der neben dem Pferdehof lebte. Von Anfang an hatte er immer dann zufälligerweise etwas mit Frank zu klären gehabt, wenn sie dort gewesen war. Meistens hatte er sie in ein Gespräch verwickelt, auf das sie keine Lust gehabt hatte. Im Gegensatz zu ihr schien er es in vollen Zügen genossen zu haben. »Mir ist es doch egal, ob Rosi oder Lisa zuerst kalbt. Aber das würde er selbst dann nicht begreifen, wenn ich es ihm genau so sagen würde.«
In Kims Augen blitzte es schüchtern auf, als hätte sie gerade Hoffnung geschöpft, dass es um Arina nicht so schlimm stand wie befürchtet. »Du bist fies.«
»Wieso ich? Du hast ihn ins Spiel gebracht.« Sie konnte sich ein feines Lächeln nicht verkneifen, eines, das erahnen liess, wie breit sie an einem anderen Tag gegrinst hätte. Arina nahm die beiden Tassen und begab sich ins Wohnzimmer, Kim folgte ihr mit dem Schokoladeneis und den Löffeln. Nebeneinander liessen sie sich auf die alte, teilweise durchgesessene Couch fallen. Kim riss den Deckel ab und gönnte sich einen grosszügigen Löffel voll.
Arina tat es ihr gleich, genoss die kalte Süsse auf der Zunge und freute sich gleichzeitig auf den Tee, der ihre vom Winterwind kalten Finger wärmen würde. Obwohl sie seit dem frühen Nachmittag zu Hause war und sich aufzuwärmen versuchte, fühlte sie sich noch immer durchgefroren. Doch wahrscheinlich stammte die Kälte nicht nur von der eisigen Luft, sondern von dem schwarzen Klumpen in ihrem Inneren, der jeden Gedanken schwer werden liess.
»Ich glaube, Frank war auch etwas traurig, dass es nicht länger gut lief«, brach Arina die Stille. »Ich hatte das Gefühl, dass er richtig geknickt war.«
Kim tauchte den Löffel tief in das Eis. »Na, was glaubst du denn? Eine, die sich so aufopferungsvoll um Pferde kümmert, im Stall Ordnung hält und auch die Miete pünktlich bezahlt, wird er so schnell nicht wiederfinden.«
Nachdenklich nickte Arina. »Du bist eine der wenigen, die so denken. Die ganze Welt sieht mich als Pferdehasserin, die nur auf eine Chance gewartet hat, die Tiere zu quälen.« Allein bei dem Gedanken, einem Pferd absichtlich und böswillig wehzutun, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Beim besten Willen konnte sie nicht verstehen, dass jemand so hasserfüllt sein konnte.
»Quatsch!«
»Ist doch so«, murmelte Arina.
Zeitungsberichte, Bilder und immer mehr Meldungen von angeblich Betroffenen hatten sie in den letzten Monaten verfolgt. Die meisten kannte sie nicht einmal. Das Geschehene hatte ihre Existenz, ihren Traum zerstört, als wäre es kein gut durchdachtes Konzept, sondern ein Blatt Seidenpapier im Wind. Mit ihrem Pferdehof verband sie unendlich viele, wunderbare Erinnerungen – und das tiefe Loch in ihrem Inneren. Zitternd zog sie die Luft ein, liess die Sicht schwammig werden. Sie schniefte, fuhr mit dem Handrücken unter der Nase durch. Als sie sich räusperte, traten die Tränen aus ihren Augen und benetzten ihre Wangen. Sie musste neu anfangen. Irgendwann. Irgendwo. Falls es nach all den vernichtenden Bildern überhaupt noch einen Neuanfang für sie gab.
Bebend klammerte sich Arina an den Löffel. »Wenigstens hat der Albtraum endlich ein Ende. Keine unangemeldeten und diskreditierenden Kontrollen mehr, keine Kunden, die jeden Tag ein, zwei Mal nachsehen kommen und sich trotz bester Pferdehaltung weiter verunsichern lassen, keine Fragen von Reportern, womöglich noch auf offener Strasse.« Sie musste das Gute sehen. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig, egal, wie tief die Verletzungen reichten.
»Es tut mir so leid, Arina.« Beruhigend strich Kim ihr über den Rücken.
Arina wandte ihr den Blick zu. Der Damm in ihr brach. All die Trauer um den Verlust, die Ohnmacht, die sie die letzten Monate gelähmt hatte, brachen aus ihr hervor. Die über die Wangen laufenden Tränen fanden kein Halten. Gierig öffnete der Riss in ihrem Inneren seinen Schlund, um sämtliche Freude aus ihrem Leben zu verschlingen. Sie lehnte sich an Kim, schmiegte sich in ihre Umarmung und liess die Gefühle zu. Liess es geschehen, dass sie die Bilder von kranken, vernachlässigten Pferden unter ihrem Namen sah. Liess zu, dass ihr Traum in Fetzen gerissen wurde. Beobachtete die winzigen Stücke, wie sie in der Schwärze verschwanden, verloren bis in alle Ewigkeit. Liess zu, von ihren Gefühlen überrollt zu werden, zu trauern, zu bangen, zu vermissen.
Und weinte.
Die Eiscreme im grossen Becher war teilweise geschmolzen, als sich das letzte Zittern durch Arinas Körper wagte. Vor einer Weile schon waren keine Tränen mehr nachgeflossen, geheult hatte sie trotzdem noch. In jedem einzelnen Augenblick hatte Kim sie gehalten und getröstet.
Arina blickte zu ihr auf. »Danke. Du bist die beste Freundin der Welt«, flüsterte sie mit kratziger Stimme.
»Na, so weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Kim mit einem angedeuteten Grinsen. »Du hast ja auch noch nicht viele getestet.«
»Genug, um es zu wissen.« Sie schlang die Arme um Kim und drückte sie, schon wieder den Tränen nahe. Nur nicht aufsehen, nur nicht aufsehen, sonst würde es gleich wieder losgehen.
Für einen Moment hielt Kim den Atem an und liess ihn langsam ziehen. »Ich weiss, dass es eine schwierige Frage ist, aber du musst an deine Zukunft denken. Was wirst du jetzt tun?«
Ratlos zuckte Arina mit den Schultern. »Einen Job suchen? Weisst du, ohne Geld kann man nur schwer leben.« Mit einem Schniefen und einem Schulterzucken richtete sie sich auf. Job. Ein gutes Thema. Da konnte nicht viel passieren, kein Geheule und kein Trauern. Nur reden.
Kim knuffte sie in die Seite. »Und wo wirst du dich bewerben?«
Arina schluckte. Allein der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. »Wahrscheinlich irgendwo im Gastrogewerbe. Da suchen sie immer genug Leute.«
»Das ist doch nichts für dich. Mit Tieren bist du fantastisch, aber mit Menschen …« Kim machte ein undefinierbares Geräusch, das ihre Zweifel perfekt zum Ausdruck brachte, und drückte ihre Schulter, als wollte sie sie aufmuntern. »Du solltest etwas Abstand gewinnen.«
Das wusste Arina selbst doch auch. Ihr Herz sackte zwei ganze Stockwerke tiefer. Sie wollte draussen arbeiten, am liebsten mit Tieren. Doch nach all den Zeitungsartikeln war diese Zeit nun wohl vorbei.
Obwohl das Ende ihres Pferdehofs seit drei Monaten absehbar war, hatte sie keine Zeit gefunden, nach einer neuen Stelle zu suchen – oder die Zeit nicht finden wollen. Bis heute hatte sie auf die berühmte Rettung in letzter Sekunde gehofft. Sie war nicht gekommen, hatte sie im Stich gelassen.
»Katrin hat mich nach Island eingeladen, um dort Weihnachten zu feiern.«
Kims Mund klappte auf und wurde noch grösser als die Augen. »Das ist eine wundervolle Idee. Du hast sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ausserdem wird dir ein Tapetenwechsel guttun. Hier rauszukommen. Etwas anderes zu sehen. Und wer weiss, vielleicht ergibt sich ein heisser Urlaubsflirt.« Übermütig zwinkerte sie ihr zu.
Arina schüttelte den Kopf. »Dasselbe hat sie auch gesagt. Ausser das mit dem Flirt.« Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich würde sie schon gern sehen, aber ich weiss nicht, ob es eine gute Idee ist. Ich sollte mir eine Stelle suchen und die letzten Dinge für das Liquidationsverfahren erledigen. Ganz abgesehen davon, dass sie auf einem Pferdehof lebt und ich jeden Tag mit meinem Scheitern konfrontiert sein würde.« Es tat weh, daran zu denken. Darüber zu sprechen.
Als hätte sie ihre Gedanken erraten, legte Kim die Hand auf ihren Oberschenkel. »Wenn es sein muss, bezahle ich den Flug und werfe dich eigenhändig ins Flugzeug. Inserate kannst du auch in Island durcharbeiten. Nur eins musst du mir versprechen.« Sie rutschte auf der Couch herum, bis sie Arina direkt ansehen konnte.
»Was?« Bei Kim konnte jedes Versprechen eine Falle sein. Inzwischen war sie vorsichtig genug, zuerst nach den Bedingungen zu fragen, bevor sie einschlug.
Als hätte sie Arinas Gedanken erraten, kicherte sie. »Amüsier dich.«
Bei der Gepäckabgabe wartete Arina auf ihren Koffer. Sie wollte nur noch zu Katrin, in ihre Arme sinken und schlafen. Die Reise hatte sie erschöpft. Seit dem frühen Morgen war sie unterwegs, bis sie in Islands Osten angekommen war.
Schon aus der Luft hatte der Landstrich verschlafen gewirkt – und dunkel. Wenn sie nach draussen blickte, bestätigte sich der Eindruck, obwohl sie im aufregenden Zentrum von Islands Osten gelandet war. Der Flughafen fiel nicht aus dem Rahmen. Kannte sie nur Fliessbänder, die die Koffer in die Wartehalle brachten, gab es hier eine von den Arbeitern bestückte Ablage. Dabei wurden freundliche Worte gewechselt, gelacht und erzählt. Sie verstand kein Wort von dem Kauderwelsch, und die kühle Luft schien noch einen Deut energischer unter ihre Jacke zu drängen.
Als ihr Koffer auf das Band gewuchtet wurde, packte sie ihn und verliess den Flughafen mit grossen Schritten. Eisig kalte Luft schlug ihr entgegen. Während der Reise hatte sie beobachtet, wie rasch die Sonne untergegangen war. Die Dunkelheit hatte Island in Beschlag genommen. Draussen herrschte nächtliche Schwärze, und nur hie und da brannte im scheinbaren Nichts ein Licht.
Natürlich hatte Katrin sie vorgewarnt, doch mit nächtlicher Dunkelheit mitten am Nachmittag hatte sie nicht gerechnet. Zumindest hatte sie es sich nicht vorstellen können. Sie hatte sogar die Uhrzeit kontrolliert, um sicher zu sein, dass sie nicht zu spät dran war.
Obwohl die Kälte auf dem Weg in ihre Lunge kitzelte, sog sie die Luft tief ein. Seit sie heute Morgen eingecheckt hatte, hatte sie fast nur Flugzeug- und Flughafenluft geschnuppert. Dafür war die Aussicht atemberaubend gewesen. In der Dunkelheit hatten sich die Strassen, Reykjavík und einzelne Höfe wie Sterne abgehoben, als wollten sie den Reisenden Mut und Hoffnung schenken. Das konnte Arina gerade gut gebrauchen.
Als sie Katrin neben einem monströsen Wagen erblickte, flutete Wärme ihren Bauch. Sie beschleunigte ihre Schritte, um in die offenen, herzlichen Arme ihrer Patentante zu fallen. Erleichtert verbarg sie das Gesicht an deren Halsbeuge und sog den Duft nach Katrin ein.
»Arina, mein Mädchen.« Katrin lachte, und ihrer Stimme nach zu urteilen traute sie dieser nicht komplett.
Arina löste sich von ihrer Patentante und nahm sich einen Moment, um sie zu betrachten. Als Erstes fiel ihr das Strahlen der grünbraunen Augen auf. Von innen erfüllte sie ein Leuchten, das Arina von ihr nicht kannte. Früher hatte es sich nur in ganz seltenen Augenblicken gezeigt. Katrin wirkte, als hätte sie den Ort gefunden, der sie glücklich machte. Ihre Wangen waren gerötet, das Gesicht dezent geschminkt. Unter der dicken Wollmütze blitzten ein paar blonde Strähnen hervor. Als Arina sie das letzte Mal gesehen hatte, hatten die grauen dominiert. Seit wann färbte sie ihre Haare?
»Du strahlst ja regelrecht!« Und wahrscheinlich strahlte Arina gerade mit ihr um die Wette.
Befreit lachte Katrin auf. »Was soll ich denn sonst tun, wenn du mich endlich beehrst?«
Es lag nicht daran, und das wussten sie beide. Die Zeit in Island hatte Katrin eine Freiheit geschenkt, die sie in ihrem Leben bis dahin nicht gekannt hatte. Nachdem Arinas Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte Katrin sie bei sich aufgenommen. Es waren immer nur sie beide gewesen – ein hartes, entbehrungsreiches Leben, das besonders Katrin viel abverlangt hatte. Sie hatte nicht nur ihre Schwester verloren, sondern ihr Leben umgekrempelt, um ihrer Nichte ein schönes Zuhause zu bieten. Sie hatte keinen Mann kennenlernen können, sondern gearbeitet und sich um Arina gekümmert. Damals hatte Arina von der ganzen Last, die auf den Schultern ihrer Tante gelastet hatte, nichts gespürt. Inzwischen wusste sie um die Entbehrungen und Opfer, die Katrin ihretwegen hingenommen hatte.
»Du siehst fantastisch aus.« Ein breites Lächeln erschien in Arinas Gesicht. Noch einmal drückte sie Katrin an sich, froh, sie endlich wiederzusehen. Obwohl sich Arina anfangs gegen einen Besuch gesträubt hatte, war es eine gute Idee gewesen, ihrem Alltag in der Schweiz zu entfliehen. Es fühlte sich an wie ein halbes Haus, das von ihren Schultern und ihrer Brust fiel.
Katrin lachte. »Ach was. Alt und fett bin ich.« Abermals lachte sie und deutete zum Wagen. »Komm, rein mit dem Koffer, dann fahren wir los.«
Die Aussicht auf ein baldiges Ende ihrer Reise gab Arina neue Kraft, und sie wuchtete ihr Gepäck in das Auto. »Du bist nicht fett und erst recht nicht alt.« Gespielt strafte sie ihre Tante mit ernsten Blicken. »Das nennt man reif und kuschelig.«
Grinsend schüttelte Katrin den Kopf. »Das ist dasselbe, klingt nur schöner.«
Arinas Augen blitzten auf, als sie auf der Beifahrerseite einstieg. »Du hast mir beigebracht, nicht zu lügen.«
»Das stimmt.« Theatralisch seufzte Katrin und startete den Wagen, um in die Dunkelheit hineinzufahren. Nach wenigen Metern tauchten sie in eine Landschaft voller Schnee und Schwärze ein, in der nichts anderes zu existieren schien.
Neugierig musterte Arina die Umgebung. In der Ferne duckten sich niedere Häuser eines Dorfes zwischen riesigen Schneehaufen, die so gross wie sie selbst zu sein schienen. Der Rest versank im Schnee oder in der Dunkelheit. Die Strasse führte sie davon weg, bis sie allein waren. Nur Schnee, eine Spur, die unendliche Weite und die Lichter des Wagens. Tauchte ein Hof hinter einem Hügel auf, so glitzerten seine Lichter wie Sterne, die ihnen den Weg in die warme Stube weisen wollten. Allein die Vorstellung entlockte Arina ein Lächeln.
»Wie war die Reise?«, brach Katrin die Stille.
»Lang«, antwortete Arina ehrlich. »Island ist ja keine Weltreise von zu Hause entfernt, euer Haus ist es aber.«
Erfreut lachte Katrin auf. »Du hast Glück, dass der viele Schnee vorgestern fiel. Ansonsten hätten wir dich in ein Hotel verfrachten und mit Eiríkur mitschicken müssen. Der macht die Strasse bis zur Abzweigung, danach müssen wir uns selbst darum kümmern. Da wir mehr oder weniger allein da draussen sind, sind wir meistens die Letzten mit einer geräumten Strasse. Ausserdem wissen die Dorfbewohner, dass sie jeden Winter ein paar Tage ohne Kontakt zur Aussenwelt sind.« Sie lenkte den Wagen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Noch vor wenigen Jahren hatte sie es vermieden, bei Schnee in ein Auto zu steigen. Der Unfall von Arinas Eltern war im Winter passiert, das hatte Katrin vorsichtig werden lassen.
Wieder liess Arina den Blick über die schwer erkennbare Landschaft schweifen. Wenn die Wolkendecke aufbrach und der Mond einen Berggipfel beschien, erahnte sie die Weite. »Das hört ja nicht mehr auf.«
»Was?«
»Der Schnee.« Arina wandte Katrin den Blick zu, um sie nun ohne Mütze zu mustern. Ein glückliches Lächeln hatte sich auf ihre Lippen geschlichen. »Wie läuft es mit der Pension?«
»Mit Emmas Guesthouse?« Sie bog von der schmalen Strasse auf einen noch dünneren Weg ein. Irgendwie schaffte Katrin es, dass der Toyota nicht zwischen den Schneewänden stecken blieb, obwohl er deutlich breiter sein müsste. »Im Gegensatz zum Sommer haben wir im Winter fast keine Gäste, aber das ist überall so. Für uns stimmt das, denn in dieser Zeit hat Alvar mit den Schafen und den Pferden mehr zu tun als im Sommer, wenn zumindest die Schafe im Hochland sind.«
Bei der Erwähnung der Pferde zog sich Arinas Herz zusammen, der Schmerz zog in feinen Blitzen durch ihren Körper. Obwohl sie gewusst hatte, dass Katrin auf einem Hof mit Pferden wohnte, schmerzte die Erinnerung an ihr Scheitern. Es war Arinas Traum gewesen, ihr Leben. Sie hatte sich um die Tiere gekümmert, hatte sie bewegt, ihnen Liebe entgegengebracht, und irgendjemand hatte ihren Ruf beschmutzt. Einfach so, ohne Grund, bis ihr Geschäft ruiniert gewesen war.
Als ahnte Katrin, dass ihre Nichte Zeit für ihre Gedanken brauchte, schwieg sie einige Atemzüge. »In den nächsten Tagen soll es schöner werden. Vielleicht sehen wir dann Nordlichter.«
»Wirklich? Ich habe noch nie Nordlichter gesehen.« Augenblicklich sah sie wunderbar farbige und lebendige Bilder vor sich, auf denen der Himmel geradezu tanzte. Sie hoffte, dass sie die Gelegenheit erhalten würde, Nordlichter zu beobachten. In all der Zeit, in der ihre Patentante in Island war, hatte sie es nicht geschafft, sie zu besuchen. Nur bei der Hochzeit war sie dabei gewesen. Es war nicht am Willen gescheitert, sondern an ihren Verpflichtungen. »Ich würde mich freuen.«
Überraschend legte Katrin ihr die Hand auf den Oberschenkel. »Glaube mir, du wirst hier viele schöne Momente erleben.«
Daran zweifelte Arina nicht.
Nach einer guten Stunde Fahrt durch den Schnee erreichten sie eine Ansammlung von Gebäuden, die sich unter der schweren Schneelast auf den Dächern duckten. Einzelne Fenster warfen viereckige Lichtflecke auf das Weiss. Bei anderen waren die Vorhänge zugezogen. Zwischen ihnen und den Scheiben erhellten Lampen und Lichterketten die Nacht. Sie durchbrachen das Dunkel wie eine Oase aus Licht und Geborgenheit.
Arina stieg aus und inhalierte die Frische regelrecht. Alles wirkte friedlich, als hätte jemand beim Verlassen der Hauptstrasse sämtliche Uhren abgestellt. Die Ruhe, die dieser Ort verströmte, liess sie unweigerlich ausatmen, die Schultern absenken, die Augen schliessen.
Ruhe. Absolute, vollkommene Stille. Kein Insektensummen, keine fernen Laster, die über die Autobahn bretterten, sondern einfach nächtliche Stille, wie sie es noch nie erlebt hatte. Es war ganz anders als in ihrer Heimat, und zum ersten Mal war sie zuversichtlich, dass sie sich bei ihrer Patentante wirklich erholen konnte.
Unter Katrins Schuhen knirschte der festgetretene Schnee, als sie aus dem Toyota stieg und zum Kofferraum ging. »Herrlich, nicht wahr?«
Langsam nickte Arina und folgte ihrer Ziehmutter, um den Koffer aus dem Auto zu hieven. Ob sie wusste, was ihr durch den Kopf gegangen war? Hatte sie sich so gefühlt, als sie den Hof zum ersten Mal betreten hatte? Verblasste dieser Zauber mit der Zeit, weil man ihn jeden Tag erlebte und es irgendwann als normal betrachtete?
»Du hast dir einen schönen Ort zum Leben ausgesucht«, bestätigte sie, als sie an Katrins Seite auf das Haus zuging, das sie noch von Katrins Hochzeit kannte. »Das letzte Mal war es viel geschäftiger.«
Leise lachte ihre Tante. »Das kommt davon, wenn man meint, in der hofeigenen Kapelle heiraten und alles selbst organisieren zu wollen.« Sie stiess die Haustür auf und rief irgendetwas ins Haus hinein, das klang, als hätte sie einen Becher Sand geschluckt.
Eine ähnliche Abfolge merkwürdiger, ineinander verknoteter Laute aus einer männlichen Kehle antwortete ihr. Kurz darauf schob sich ein breiter Schatten vor die Tür, von der das einzige Licht in den Gang fiel.
Als die Lampe im Flur anging, erkannte Arina Alvar, Katrins Mann, dessen Liebe sie nach Island gelockt hatte. Auf seinen Lippen tanzte ein zurückhaltendes Lächeln, die blonden, schulterlangen Haare hatte er im Nacken zusammengebunden. »Hallo, Arina. Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen«, begrüsste er sie in dialektreichem Englisch mit rollendem R.
Arina sah den Mann an, der sie praktisch nicht kannte und sie mit einer Selbstverständlichkeit bei sich aufnahm, als wäre sie Teil der Familie. Ihre Kehle wurde eng, obwohl ihr Inneres gleichzeitig durchatmete. »Danke, Alvar, ich freue mich auch.« Sie ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
Er ergriff sie und zog sie an sich, um sie in eine herzliche Umarmung zu schliessen. »Du bist Familie«, rechtfertigte er sich, als er sie entliess und sie aufmerksam betrachtete. »Gut siehst du aus.« Er warf einen flüchtigen Seitenblick zu Katrin, die ihm aufmunternd zunickte.
Wärme kroch in Arinas Bauch. Die beiden waren von Herzen bemüht, ihr eine schöne, erholsame Zeit in Island zu ermöglichen. Sie fiel Katrin um den Hals und drückte sie. Dann wandte sie sich um und drückte auch Alvar. »Danke«, flüsterte sie.
Als hätte sie ihn mit einem Schockzauber verhext, rührte er sich nicht.
Mit einem unsicheren Lächeln zog sich Arina zurück, räusperte sich und strich sich eine dunkelbraune Strähne hinter das Ohr. Dass er sich so von ihrer Umarmung aus dem Konzept bringen liess, nachdem er dasselbe mit ihr gemacht hatte, verwirrte sie. Vielleicht hatte sie unbewusst eine Grenze überschritten. Hilfesuchend drehte sie sich zu Katrin um, in ihrem Blick die stumme Bitte, sie aus dieser merkwürdigen Situation zu retten.
»Mach dir keine Gedanken darum«, unterbrach Katrin ihre Gedanken und zwinkerte. Allerdings schweifte ihr Blick von Arina zu Alvar, sodass sie nicht ganz genau wusste, wem das Zwinkern galt. »Einsame Isländer werden manchmal eben auch überrumpelt.«
Alvar brummte etwas Unverständliches, Katrin lachte, und er verschwand wieder in dem beleuchteten Raum.
Mit einem verdächtigen Glitzern in den Augen und einem überwältigten Lächeln auf den Lippen drehte sich Katrin zu ihr um. »Es ist so schön, dass du da bist, Arina.« Sie presste die Lippen aufeinander, wandte den Blick ab. »Komm, ich zeige dir noch rasch dein Zimmer, bevor ich rüber in die Pension muss.« Mit dem Kinn deutete sie zur Treppe und liess Arina vorgehen.
Arina folgte Katrin und Alvar, der den Koffer wortlos hinauftrug, in den oberen Stock. Endlich war sie am Ziel angekommen: ein Bett, ein herzliches Heim und ganz viel Abstand zwischen sich und ihrer Misere. Ihre Tante lotste sie in das hinterste Zimmer und langte an ihr vorbei zum Lichtschalter und betätigte ihn. Arina fand sich in dem Zimmer wieder, in dem sie schon bei der Hochzeit von Katrin und Alvar geschlafen hatte. Es war klein, gemütlich und voller Hingabe eingerichtet.
»Willkommen zu Hause, Liebling.«
Mit einem verschmitzten Grinsen drehte sich Arina zu ihrer Patentante um. »Ist nicht Alvar dein Liebling?«
Katrin schüttelte den Kopf, sodass die losen Strähnen nur so flogen. »Nein. Meine Tochter wird immer mein Liebling bleiben, egal, wie viele Männer da noch kommen.« Sie drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und zwinkerte, auch wenn in ihren Augen Tränen standen. »Sag ihm das einfach nicht«, flüsterte sie.
Katrins Liebe schnürte Arina die Kehle zu, sodass sie ihrer Stimme nicht traute. Sie wusste auch gar nicht, was sie hätte sagen können oder sollen. Sie sah sie wirklich als Tochter, obwohl sie nicht ihre eigene war und in den letzten Monaten auf voller Länge versagt hatte.
Als würde sie das Durcheinander in Arina verstehen, nickte Katrin mit einem nachsichtigen Lächeln. »Lass dir ruhig Zeit. Wenn du fertig bist, kannst du zu Alvar in die Küche gehen. Ich kümmere mich noch um die Gäste in der Pension und komme dann nach.«
Als die Tür hinter Katrin ins Schloss fiel, atmete Arina durch und liess sich auf das Bett fallen. Die letzten Wochen und Monate hatten sie unglaublich viel Kraft gekostet. Sie glaubte, keinen Tropfen Energie mehr in sich zu tragen. Nur der Wille, nicht unterzugehen, hatte sie davon abgehalten, zusammenzubrechen.
Und nun war sie hier, am Ende der Welt, fernab jeglicher Zivilisation, wo die Menschen sie als Katrins Adoptivtochter kennenlernen würden. Sie wussten nichts von den Vorwürfen und den Zeitungsberichten, dachten nicht, dass sie Pferde misshandeln würde.
Arina wandte den Blick zu einem der beiden Fenster. Wenn sie sich nicht täuschte, hatte sie von ihrem Zimmer freien Blick auf die Weide mit den Pferden.
Sie könnte so tun, als wäre nie etwas vorgefallen. Vorgeben, dass alles in Ordnung war. Doch wenn sie daran dachte, zitterte sie innerlich. Sie hatte weder die Reserven noch das Zeug, um gut zu schauspielern. Niemand würde ihr die Lüge abkaufen, dass mit ihrem eigenen Pferdehof alles in Ordnung war. Besser, sie erfand einen guten Grund, wieso sie den Hof nicht mehr hatte. Und wieso sie sich so fern wie möglich von den Pferden halten musste.
Um sich von ihren Gedanken und der drückenden Vergangenheit zu lösen, packte sie ihren Koffer aus und räumte die Habseligkeiten in den Schrank. Sie schrieb Kim eine Nachricht, dass sie gut angekommen war und noch keinen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
Nachdem sie in ihrem Zimmer nichts mehr zu tun hatte und sich die Stille eher drückend als befreiend anfühlte, suchte sie die Küche auf. Ein verführerischer Duft schlich sich in ihre Nase und wies ihr den Weg. Den ganzen Tag über hatte sie nichts Rechtes gegessen, sodass ihr bei all den Gewürzen und dem deftigen Essen das Wasser im Mund zusammenlief.