Blutsgeschwister - Thomas Hesse - E-Book

Blutsgeschwister E-Book

Thomas Hesse

3,9

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein Mädchen verschwindet. Monate später wird ihre Leiche an einer Rheinbrücke gefunden. Ihr bewegendes Schicksal führt Erbenermittler Rainer Mehr und Kommissar Michael Weniger, ein Duo der unkonventionellen Art, auf eine irre Jagd. Doch ein selbstverliebter Landespolitiker legt falsche Fährten, und nichts, was wie Zufall erscheint, ist Zufall. Am Ende geht der Mörder ins Netz – aber ist er auch der wahre Täter?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 459

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,9 (18 Bewertungen)
5
8
3
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der Rheinischen Post am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Berater. Bekannt wurde eru.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Frank van Groen/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-997-4 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

DER FUND

Die Tote wurde am frühen Nachmittag entdeckt. Verfangen im Gebüsch lag sie am Hang neben der Lippebrücke, deren geschwungene Auffahrt direkt auf die Weseler Rheinbrücke führte. Sie war teilweise bekleidet, ihre Beine waren bis auf die Socken nackt. Es waren braune Socken mit blau-gelb-weiß geringeltem Bündchen. Einige Kleidungsstücke hatten sich in Ästen verhakt, andere wirkten wie Schwemmgut am Rande eines kleinen Wiesenstücks. Der Pullover und das T-Shirt mit geknöpftem Ausschnitt und langem Arm waren blutdurchtränkt und von der Nässe aufgeweicht.

Das Wasser, das früher von der kanalisierten Lippemündung geradewegs stramm in den Rhein geflossen und nun künstlich zu einer behäbigen, seenartigen Auenlandschaft aufgestaut war, hatte den Körper des Mädchens wohl bei höherem Wasserstand an einer kaum einsehbaren Stelle abgelegt. Es wirkte, als habe die Natur eine feierliche Zeremonie vollzogen und ein paar angeschwemmte Äste und Blätter um den schmächtigen Körper drapiert. Keiner der zu Tausenden hier vorbeirauschenden Autofahrer hatte von der höher gelegenen Straße die unter dem Gebüsch hervorlugenden Turnschuhe des Mädchens gesehen.

Die beiden Jugendlichen, die vom Brückengeländer aus Steine auf dümpelnde Enten geworfen hatten, waren sofort alarmiert gewesen, als ein fehlgeleitetes Wurfgeschoss das Wasser in Ufernähe aufspritzen ließ. Eine dadurch verursachte kleine Welle war langsam verebbt und an einem weißen, verquer an einem Fuß hängen gebliebenen Schuh mit einem neonfarbenen Zierstreifen ausgelaufen. Die Halbwüchsigen redeten aufgeregt aufeinander ein, rannten um einen Zaun herum zur Böschung am Ende der Lippebrücke und stiegen den Hang hinunter. Einer von ihnen trat bei der atemlosen Aktion auf die Brille des Mädchens, als er sich zu dem Schuh hinunterbeugte und einen Ast des Gebüschs zur Seite drückte. Bei seiner Aussage gegenüber dem beruhigend lächelnden Kommissar hatte er nun mehrfach wiederholt, dass er in diesem Augenblick gecheckt habe, was los sei. Echt und total.

Michael Weniger nickte und schickte die beiden, die in plötzliches Schweigen versanken, zur Aufnahme ihrer Personalien in den Einsatzwagen. Der Kommissar hatte sich diesmal besser im Griff als beim letzten Hinweis in der Vermisstensache Lucia de Bertolli.

Vor drei Wochen, als die Vierzehnjährige verschwunden war, hatte er sofort unter Erfolgsdruck gestanden. Er mochte es nicht, wenn kaum lösbare Aufgaben in sein geordnetes Leben als Kriminalkommissar einbrachen. Er, der Pedant, war lieber für Dienstpläne und Berichtswesen zuständig. Er war geschaffen für den Innendienst. Niederlagen hasste er sowieso, und anders ließen sich die bisher erfolglosen Ermittlungen nicht bewerten. Deshalb war es für ihn ungemütlich geworden in der niederrheinischen Provinz, wo man sich kannte und ein ungewöhnlicher Kriminalfall die Leute ausdauernd beschäftigte.

Beim letzten Fest in Nachbars Garten war ihm das Tuscheln über seine angebliche Untauglichkeit nicht entgangen. Allerdings, das musste er zugeben, hatte ihn der Fall des Mädchens jetzt gepackt. Deshalb versagte Michael Weniger in seinem Bemühen, professionelle Distanz zur Kritik an seiner Person und seiner Arbeit zu schaffen. Beim überraschenden Anruf, dass zwei junge Leute einen Leichnam gefunden hatten, hatte ihn ein seltsames, in gewisser Hinsicht perverses Hochgefühl beschlichen. Er war sich sofort sicher, dass Lucia endlich entdeckt worden war. Er fühlte die Notwendigkeit, das Rätsel ihres Todes zu lösen.

Der Kommissar lud auf seinem Laptop die sorgfältig von ihm selbst archivierten Daten hoch. In seiner eigenen Logik hatte er hier Fakten konzentriert und Anhaltspunkte kombiniert. »Weniger ist mehr«, diese Ansage setzte er schon immer den Kollegen entgegen, die in der Angst, ein Vorgesetzter könnte ihnen einen Fehler vorwerfen, lieber in einer Flut von ungefilterten Informationen untergingen. Man muss sich entscheiden können, dachte er, erinnerte sich aber schmerzlich daran, dass ihn seine mitunter kleinliche Genauigkeit schon an Entschlüssen gehindert hatte.

»Hier ist verzeichnet, was in Lucias Tasche war, die wir kurz nach ihrem Verschwinden gefunden haben. In einem Wäldchen hinter Wesel und der Autobahn3, im Polizeibericht Ortslage am Postweg zwischen Drevenack und Marienthal. Weit draußen auf dem Land weggeworfen vor etwa drei Wochen«, sagte Weniger zu Dr.Reinhold Terheyden, der in den Streifenwagen, einen VW-Bulli, stieg.

»Schülerausweis, ein kleiner Bär als Glücksbringer, ihr Handy in einer pinken Hülle, ein paar Süßigkeiten, klumpiges Papier, dazu Sportsachen. Ich stelle mir die Situation vor. Am Nachmittag des 5.September geht eine fröhliche Vierzehnjährige mit Zahnspange und welligem dunkelblonden Haar in die Rundsporthalle der sechzigtausend Einwohner großen Stadt, um mit anderen Mädchen Badminton zu trainieren. Sie ist gut, ehrgeizig, technisch versiert, sie beherrscht das schnelle Spiel. Andere Mädchen reißen sich darum, mit ihr im Doppel anzutreten. Dann geht es in die Umkleide und unter die Dusche. Es wird viel gekichert und pausenlos geplappert. Irgendjemand macht noch Witzchen über Lucias blau-gelb-weiß geringelte Socken im schrägen Zusammenspiel mit den neonleuchtenden Sportschuhen. Dann geht sie los, erst in einer kleinen Gruppe, später allein. Doch anders als sonst kommt sie nicht zu Hause an. Irgendwo zwischen der Sporthalle und den gerade mal achthundert Metern bis zum Haus ihrer Familie verschwindet Lucia.«

Weniger saß versunken da, als erzählte er sich die Geschichte zum ungezählten Mal selbst. Dr.Reinhold Terheyden blickte auf den Kommissar, der da vornübergebeugt hockte, an sich zweifelte und an einem zermürbenden Fall krankte, und verstand.

Der Tatortspezialist war auch ausgebildeter Rechtsmediziner. Er hatte das Opfer ausgiebig untersucht und sagte: »Hey, Mann, reiß dich zusammen. Wir haben seit heute gute Ansatzpunkte. Ich weiß schon eine Menge. Sie ist durch Messerstiche schwer verletzt, wahrscheinlich auch getötet worden. Vielleicht haben auch die nächtliche Kälte, die am Tag des Verschwindens herrschte, oder das kühle Wasser zum Tod geführt. Ertrunken ist sie nicht, das steht fest.«

»Das…«

»Das wirft Fragen auf. Von ihrem Weg nach Hause wird Lucia kaum einen Abstecher in die zu dieser Dämmerstunde düstere Lippeaue gemacht haben. Andererseits trennt nur ein Bahndamm die Rundsporthalle von den Lippewiesen. Von hier ist es nicht weit bis zur Flussmündung in den Rhein. Zwischen Halle und Aue liegt die Bahnstrecke nach Holland beziehungsweise in die andere Richtung nach Oberhausen. Du weißt, die Strecke, die als Betuwe-Linie gigantisch ausgebaut werden soll. Daneben führt die Bundesstraße8 über Dinslaken und Voerde ins Ruhrgebiet.«

»Das wäre dann die übliche Geschichte«, folgerte Weniger. »Unbekannter lauert jungem Mädel auf, verschleppt und vergewaltigt es. Um seine Tat zu verschleiern, legt er das Opfer so ab, dass es nicht gefunden werden kann. War es zwangsläufig so?«

»Könnte sein. Wobei wir aufgrund der Spuren an der Leiche nun tatsächlich von einer Vergewaltigung ausgehen müssen. Ob ausreichend DNA oder sogar Blutspuren vom Täter vorhanden sind, müssen wir untersuchen. Wir müssen auch schauen, ob sie mit denen übereinstimmen, die wir kurz nach der Tat gefunden haben. Er muss jedenfalls wie von Sinnen gewütet haben, dreißig Messerstiche haben wir gezählt.«

»Das Schwein wollte sie vernichten, sie auslöschen. Wenn der Mörder aus Lucias Umfeld stammt oder zumindest in der Stadt lebt und sein Name bekannt wird, dann wird ihn der Hass treffen. Das wird ein Kesseltreiben. Also halt bloß die Schnauze, erst mal nicht mehr als nötig an deine Spezis von den Medien.«

»Langsam, langsam.« Terheyden war überrascht von diesem Ausbruch. »Wir gehen davon aus, dass das Mädchen nicht im Bereich des Flusses getötet wurde, sondern hierher transportiert wurde. Slip und Leggins haben wir kurz nach ihrem Verschwinden in der Nähe der Niederrheinhalle gefunden. Der Täter hat sie weggeworfen und sich nicht die Mühe gemacht, alle Kleidungsstücke und sonstigen Spuren zu beseitigen. Gefunden haben wir dann ein paar Tage später ihre Tasche. Weit entfernt an der Autobahn.«

»Wir müssen vorankommen. Schnell, bevor der Sturm der vermeintlich Aufrechten gegen die Kriminellen und am Ende gegen uns wieder losbricht.«

»Du hast bisher alles getan in der Vermisstensache. Suchhunde, Hubschraubereinsatz, Großbefragung, DNA-Untersuchung. Jetzt ist endlich die Leiche gefunden worden. Du hast alle Chancen, den Fall zu lösen. Konzentrier dich darauf. Und lass deine Pedanterie sein, rücke die Zusammenhänge in den Vordergrund. Ich rechne mit genügend DNA-Spuren, die gleichen wir ab. Der Ausgangspunkt dürfte gut sein. Wir haben gute Chancen, das Rätsel schnell zu lösen.«

Weniger blickte aus dem Fenster des Streifenwagens, vor dem die Fahnder vor idyllischer Landschaftskulisse herumwuselten. Der Leichenwagen rollte an den Rand der befestigten Straße. Hinter Flatterband hatte sich eine heftig diskutierende Zuschauergruppe eingefunden. Wenigers Magen krampfte sich zusammen, schon wieder spürte er den Druck. Die da hinter der Absperrung würden ihn öffentlich schlachten, wenn er Lucias Mörder nicht schnell überführte. Ein Blick in Facebook oder den örtlichen Lokalkompass im Internet genügte, um zu wissen, dass die Stimmung seit Lucias Verschwinden und erst recht jetzt beim Leichenfund brodelte.

Der Kommissar konnte keinen klaren Gedanken zum Fortgang der Aufklärungsarbeit fassen. Sein Blick ins Leere blieb plötzlich haften. Da stand Rainer Mehr an der Absperrung, sein Mund formte den Ruf: »Hallo, Michael!«

Der hatte gerade noch gefehlt. Schon als Rainer Mehr noch im Kommissariat im Büro nebenan gesessen hatte, waren er und Weniger aneinandergeraten. Obwohl, er war ein guter Polizist gewesen, und er wäre ein noch besserer geworden, wenn er sich an die Regeln gehalten hätte. Rainer Mehr hielt den Beamtenapparat einfach nicht aus. Er hatte das Kommissariat im Streit um nicht im Lehrbuch stehende Fahndungsmethoden verlassen. Ein knappes Jahr war das nun her. Heute war der verknöstert dreinschauende Mann im knittrigen Sakko als Erbenermittler ein sogar international gefragter Rechercheur. Manches Mal hatte er dem alten Kollegen von der Kriminalpolizei mit Informationen ausgeholfen. Weniger aber hatte keine Lust auf Rainer Mehrs schnippische Kommentare, dass es wohl ohne ihn nicht gehe. Mühsam drang ein kurzer Nachtrag von Terheyden in sein Bewusstsein.

»Wir haben in der Tasche von Lucias Hose einen Zettel gefunden. Ziemlich verwaschen durch das Wasser zwar, aber wir haben die Sätze entziffert: ›Wir treffen uns um zwanzig Uhr an der Fusternberger Straße‹, steht da. Weißt du was davon? Wo ist die Straße?«

»Im Weseler Ortsteil Fusternberg, nur wenige Meter von der Sporthalle entfernt. Wir müssen den genauen Treffpunkt herausfinden, die Straße ist lang und unterbrochen von Querstraßen«, flüsterte der Kommissar tonlos.

»Aber ihr wusstet nichts von der Verabredung, oder? Wann war das Training beendet?«

»Nein, wir wussten es nicht, wie auch, dieser Zettel ist neu für uns. Das Badmintonspiel war um neunzehn Uhr beendet.«

»Umziehen und Duschen eingerechnet, war es also bequem zu schaffen, das Rendezvous einzuhalten.«

»Ja, aber wir wissen nicht, ob sich die Notiz auf den Tattag bezieht oder auf einen anderen Zeitpunkt. Wir wissen auch nichts von einem geheimnisvollen Techtelmechtel mit dem großen Unbekannten. Jetzt geht die Ermittlung wieder von vorn los, wir müssen alle Fakten neu bewerten.«

Michael Weniger erbleichte; der Kommissar wusste, dass er an sein Limit kommen würde. Selbstzweifel keimten auf, er wollte nicht wieder irgendeinem Psychopathen hinterherhecheln, der sich als Gott über Leben und Tod aufspielte und jederzeit wieder zuschlagen konnte. Er wollte nicht die Welt vom Bösen befreien und die Gesellschaft gerechter machen, er wollte seine Ruhe.

Sein schweifender Blick blieb erneut für einen Moment an dem Mann am Flatterband haften, der ihn streng, aber dauerhaft aufmunternd anzuschauen schien. Nein, diesmal nicht, diese gescheiterte Existenz würde er nicht um Hilfe bitten.

Die Stimme von Dr.Reinhold Terheyden drang nur gedämpft in sein Hirn. »Noch etwas: Wir haben in Lucias Kleidung auch eine Wuppertaler Fahrkarte gefunden, vielleicht für die Schwebebahn oder einen Bus. Das Stück Papier ist allerdings stark verklumpt und verwaschen. Wir müssen es noch genau untersuchen. Hilft dir das weiter?«

Weniger antwortete nicht. Er wusste, dass er seine Ruhe nicht bekommen würde. Er würde den Schuldigen überführen und auch für sein Wohl den dingfest machen, der sein geordnetes Leben zerstört hatte.

Wo war Rainer Mehr? Er vermisste ihn doch. Ihm fehlten seine Fragen, der Gedankenaustausch, der geeignet war, hinter die Dinge zu schauen. Plötzlich war es ihm nicht so unrecht, dass der Ex-Kommissar auf dem Weg zu sein schien, sich einzumischen. Warum sonst war er an der Absperrung aufgetaucht?

* * *

Das Haus mit dem Charme der fünfziger Jahre war sichtbar keine erste Adresse. Die kleine Nebenstraße zum äußeren Ring, der Wesels Innenstadt verkehrsfreundlich umschlang, war laut und wirkte vergessen. Rechts am Haus mit einer Fassade aus rötlichem Ziegel und durchsetzt von einem Flickenteppich aus längst vergilbtem Putz gammelte ein Anbau mit verstaubten Fenstern vor sich hin. Dahinter hatte einst ein angesehenes Café seine bürgerliche Kundschaft mit Frankfurter Kranz und anderen schweren Köstlichkeiten verwöhnt. Neben dem Anbau war nur noch überwuchertes Fundament erhalten geblieben, auf dem eine verbretterte Garage oder eine Hinterhofwerkstatt gestanden haben mochten. Eine Idee, die Brache zu nutzen, hatte bisher niemand gehabt.

Das kleine Haus, das in diesem abenteuerlich heruntergekommenen Umfeld stand, war bewohnt. Ein holpriger Weg war gepflastert mit alten Platten, die ehemals gerade verlegt gewesen und im Laufe der Jahre durch den abgesackten Untergrund gegeneinandergekippt waren. Der ungepflegte Gehweg führte zu einer kurzen, fast präsidialen Treppe, die von einer schweren hölzernen Eingangstür mit einem abgenutzten Knauf gekrönt war. Das Firmenschild daneben versuchte, gegen den Verfall anzuglänzen. »Erfahren Sie mehr bei Rainer Mehr– Erbenermittler und Biograph« war dort eingraviert.

Michael Weniger, der die abgegriffene Klingel betätigte, sah mürrisch und in sich gekehrt aus. Er hatte eine lederne Aktenmappe in der Hand, deren Reißverschluss er hin und her zog. Der Türöffner summte, und der Mann trat ein in einen Flur mit einer ältlichen Garderobe, die aus Metallstreben und palisanderfarbenem Holz bestand. Dänisches Design, das irgendwo zwischen zeitlos und aus der Zeit gefallen wirkte, wies darauf hin, dass hier einst mit Stil gelebt worden war. Der abgewetzte Bodenbelag und der abgegriffene Handlauf an der Treppe zeigten aber, dass die guten Zeiten dieses Hauses schon lange vorbei waren.

Aus einer offenen Tür dröhnte eine Stimme. »Einfach reinkommen, ich bin gleich für Sie da!«

Der Mann mit dem rundlichen Gesicht, einigen kleinen Falten an Augen und Stirn und in alle Richtungen wachsenden buschigen Augenbrauen saß rückengekrümmt an seinem Schreibtisch. Man konnte seinen matten, aber bei Bedarf aufrechten Oberkörper nur erahnen, ebenso wie die Dynamik, die in ihm steckte und darauf wartete, losbrechen zu können.

Im Gegensatz zu dieser verhaltenen Kraft strahlte Rainer Mehr mit seiner erstaunlich vollen, doch wirren Haarpracht, dem hinter dem Ohr eingeklemmten Stift und dem Holzfällerhemd, das seine besten gebügelten Tage hinter sich hatte, eine gewisse Verschrobenheit aus. Ohne aufzuschauen, nahm er mit einer Lupe die verschlungene Schrift eines historischen Dokuments in Augenschein und wies mit einer unachtsamen Bewegung auf einen Sessel, der mit Schriftstücken und Zeitungsausschnitten überladen war.

Kommissar Weniger schob die Papiere beiseite und entfernte mit einer wedelnden Handbewegung einige Staubflocken vom Polster. Im Wirrwarr des Büros mit herumliegenden Aktenordnern, gestapelten Schriftstücken, einem mehrere Jahre überfälligen, großformatigen Wandkalender und einer Schrankwand aus den Fünfzigern mit Glasvitrine in der Mitte fiel weitere Unordnung nicht ins Gewicht. Er setzte sich und blickte mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck auf den Mann, den er in vielen Jahren hasslieben gelernt hatte, den er aber jetzt brauchte. Zumindest war das seine Meinung.

Sein Gegenüber drückte auf den Knopf einer unmodernen, mit Plastikdeko in Holzmaserungsoptik überzogenen Gegensprechanlage, die kein bisschen mit dem eleganten iPad korrespondierte, das danebenlag.

»Bring doch mal einen schwarzen Kaffee und ein paar von den billigen Keksen, Barbara. Der Weniger ist da. Wie erwartet.«

»Deine herablassende Art kannst du stecken lassen, Rainer. Ich bin nicht freiwillig hier, und was heißt das überhaupt, dass ich ›wie erwartet‹ dein stilvolles Büro beehre? Ich habe mich gequält, hierherzukommen. Das kannst du mir glauben. Außerdem, Erbenermittler, was ist an dieser Beschäftigung Vorzeigbares dran?«

»Aber du bist hier, Herr Kommissar, und du brauchst mich. Fehlt dir vielleicht ein Fahndungserfolg?«

»Ich sag’s dir lieber gleich, bevor ich mir hier eine Staublunge hole: Ja, ich habe ein Problem.«

Rainer Mehr studierte weiter das vor ihm liegende Dokument und antwortete, ohne aufzusehen.

»Da erinnerst du dich an deinen alten Kollegen von der Polizei, weil du ihn als Rechercheur brauchst. Du als beamteter Kommissar mit oft verkündetem Ruhebedürfnis solltest dich schon ein bisschen einschmeichelnder verhalten. Ich erzähle dir, was ich wirklich tue, damit wir auf Augenhöhe reden können. Ich gehöre zu den rund fünfzig freiberuflichen Erbenermittlern in Deutschland, ich werde angefragt, wenn es um den Nachlass von Verstorbenen geht und keine Erben bekannt sind. Bezahlt werde ich anders als du Pensionsberechtigter auf Erfolgsbasis. Das spornt schon an, die richtigen Informationen zu finden, kann ich dir versichern.«

Weniger schwieg, weil er wusste, dass Mehr nun ausholen würde. Der blickte auf und tippte mit dem Zeigefinger auf die Papiere auf dem Schreibtisch.

»Schau hier, das sind uralte Auszüge aus den Kirchenbüchern von St.Peter in Büderich, dem linksrheinischen Dorf, das heute zu Wesel gehört. In den USA ist eine kinderlose Witwe verstorben, direkte Verwandte sind nicht bekannt. Sie hat bestimmt, dass ein Teil ihres Vermögens für ein Heimatmuseum verwendet wird, aber was ist mit dem Rest? Da sich hierzulande niemand an die Frau erinnern kann, bin ich von einem Geschäftspartner in den Staaten gebeten worden, nach Spuren zu suchen. Es sieht so aus, als könnte sich demnächst jemand, der nichts von einer reichen amerikanischen Großtante ahnt, über eine hübsche Zuwendung freuen.«

»Vor allem du, wenn du zwanzig Prozent Anteil einstreichst. Kannst dir dann auch eine Putzfrau leisten und einen Container für den Schrott, den du als Möbel bezeichnest«, ätzte der Kommissar übel gelaunt.

Mehr ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich mache noch mehr. Ich kann Biografien schreiben, Familienstammbäume zusammenstellen, Unternehmen bei der Aufarbeitung ihrer möglichen Nazivergangenheit helfen. Oder Raubkunst beschaffen. Weil ich recherchieren kann, weil ich weiß, wo die passenden Dokumente zu finden sind. Weil ich Menschen so ansprechen kann, dass sie aus ihrer persönlichen Geschichte erzählen. Aus Fakten und Erinnerungen ergibt sich oft ein ganzheitliches Bild der Zusammenhänge, bis die Lebensgeschichten vervollständigt sind. Ich bin ein Forscher und Geschichten-zu-Ende-Erzähler. Weshalb bist du noch einmal hier?«

»Ja, das kann er. Und er recherchiert nicht allein. Übrigens, am liebsten möchte er wieder Kommissar sein, aber ohne eure engen Regeln«, tönte es aus dem Flur, kurz bevor eine junge Frau mit einem Tablett mit Kaffee und Keksen das Büro betrat.

Sie war Mitte oder Ende zwanzig und modisch gekleidet mit einem Hang zur Extravaganz. Ein mintgrünes Halstuch setzte einen gekonnten Akzent auf einer schwarz gefleckten Bluse mit kühnem Ausschnitt und verdeckte teils ein schlangenartiges Getier, das als Tattoo bis zum Halsansatz hochkletterte. Sie wirkte in diesem angestaubten Ambiente wie ein laszives Model in einem plüschigen Alte-Damen-Café und wusste, dass sie ihre Umgebung nur mit Selbstbewusstsein ertragen konnte.

»Herr Kommissar, Sie müssen wissen, dass ich viel Arbeit habe, damit der Herr Mehr die Lorbeeren einheimsen kann. Ich schaffe Kontakte, ich besorge geheime Unterlagen, wenn es nötig ist, ich führe ihn auf neue Wege, wenn kreativ ermittelt werden muss. Immerhin habe ich ihn schon überzeugt, dass es sich bei der Recherche lohnt, eine gewisse Affinität zur digitalen Welt zu entwickeln«, sagte sie und deutete auf das iPad.

Wie selbstverständlich stellte sie sich neben den Erbenermittler und schaltete das auf dem fleckigen Schreibtisch abgelegte Aufnahmegerät ein. Barbara Optenhövel kochte zwar den Kaffee, den sie diesmal mit Kardamom verfeinert hatte, und führte den digital vernetzten Terminkalender, doch die vermeintliche Sekretärin gehörte zum Team. Das demonstrierte sie dem Gast mit ihrer Art, ungefragt einen Platz in der Runde der Fahnder zu besetzen, nur zu deutlich.

Weniger war irritiert und schwieg.

Mehr schaute nur einmal kurz auf und sagte fordernd: »Ich schätze, du brauchst unbedingt Hilfe. Wie schön, dass du weißt, dass ich neugierig werde, wenn eine ungewöhnliche Recherche anliegt. Du kannst mich ausrechnen. Ich bin dein Mann, nur komm mir nicht in die Quere! Handelt es sich um das verschwundene Mädchen, dessen Leiche ihr im Gestrüpp am Lippeufer gefunden habt?«

»Verdammt, ja, was sonst? Dabei sah der Fall anfangs so einfach und schlüssig nach einer Beziehungstat im engen persönlichen Umfeld aus. Das hatten wir jedenfalls erwartet.Wir haben uns getäuscht. Drei Wochen ist es her, dass Lucia de Bertolli auf dem Nachhauseweg verschwand. Zwei Jugendliche haben die Tote an der Lippebrücke gefunden. Erst jetzt. Wir haben die Fahndung mit Volldampf vorangetrieben, wir hatten vielversprechende Spuren. Doch nichts, die Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen zurück– drei vertane Wochen. Wir als Kripo haben im Grunde nur rumgestochert, eine Mordkommission gebildet, weil wir von einer Gewalttat ausgingen, als das Mädchen verschwand. Jetzt, nach dem Fund, holen wir wieder heraus, was die Fahndungsmaschinerie hergibt. Aber ich sehe nicht, wie sich das Rätsel um den Fall lösen lässt.« Weniger verstummte und blickte bitter auf Mehr.

»Erzähl, Weniger, und lass nichts aus.«

Der Kommissar hätte sofort einen Wortschwall produziert, wenn nicht erst eine rumsend aufgerissene Tür, dann ein plötzlicher Luftzug und in dessen Gefolge eine ins Zimmer walzende Figur, umweht von einem geöffneten Burberry-Trenchcoat, den Raum gefüllt hätte. Es erschien ein Mann mit Überbreite, Übergewicht und Überwichtigkeit in einer Kulisse, die geradezu danach rief, von ihm beherrscht zu werden. Er gehörte zu den Typen, die ihr Kommen wie einen Auftritt zelebrierten. Nein, nicht zelebrierten, sein Erscheinen an sich war ein Auftritt. Sein fülliges, fast doppelkinniges Gesicht mit den kleinen, dauernd in Bewegung befindlichen Augen und der energischen Miene ließ keinen Zweifel, dass dieser Mann förmlich erwartete, dass sich alle Augen auf ihn richteten.

Weniger und Barbara Optenhövel blickten stumm und folgsam auf den Eindringling. Rainer Mehr starrte weiter auf das vor ihm liegende Papier und wedelte mit ausgestrecktem Finger Richtung Trenchcoat.

»Setz dich, Ferdi. Hat dich dein Journalisten-Näschen ins Auge des Orkans geführt? Schön für dich, dass die Haustür nur angelehnt war und du mein Büro direkt stürmen konntest. Du bist pünktlich.«

Ferdi Fleischmann war auf Barbaras knappe Aufforderung »Komm!« über WhatsApp wirklich eilends erschienen. Witterte der Mann die Chance, endlich mit einer einzigartigen Story nach ganz vorn zu gelangen, ließ er alles stehen und liegen. Er strich sich über die fast vollendete Glatze mit stoppelkurzem Resthaar und spreizte die kurz geratenen Ärmchen, um seine Antwort vorzubereiten.

Mehr hob erneut die Hand, diesmal energischer, und winkte ab. Wer hier Herr und wer hier Hund sein sollte, war klar. Hauptsache, das Panoptikum kreativer Kräfte war vollständig, man wusste nie, wen man wie brauchen würde, dachte Rainer Mehr. Die Arbeit konnte beginnen.

DREI WOCHEN VORHER

Ein freier Tag ist ein schöner Tag. Kommissar Michael Weniger verbarg sein Gesicht tief im Kopfkissen. Die Nestwärme der Nacht umhüllte ihn, das fand er wohlig und nach einer harten Woche verdient. Sein Bereitschaftshandy hatte er in die Schublade des Nachtschränkchens verbannt, aus dem jetzt die Geräusche eines mitschwingenden, dünnen Holzbodens und einer knallend zufallenden Tür drangen.

Weniger war irritiert. War es schon so weit? Der Pingel in ihm dachte an russische Briefmarken, nicht an tödliche Fälle. Er war fasziniert von einem Hobby, das er von seinem Vater übernommen hatte. Als Philatelist hatte er es sogar zum Bundesprüfer dieser Marken gebracht, was seine Ehefrau, die ihn Zackenzähler nannte, mit Spott und seine Kollegen, die ihn einfach nur für verstaubt hielten, mit Skepsis quittierten. Dabei verdiente er als Prüfer ordentlich durch Gebühren hinzu, seit russische Oligarchen die frühen Wertzeichen ihres Landes als Sammelobjekte und Geldanlage entdeckt hatten. Jedenfalls war er an diesem vielversprechend schönen, weil freien Tag völlig auf Fachgespräche mit anderen Spezialisten einer Arbeitsgruppe Russland-Philatelie fixiert.

Wieder hörte Weniger den eine zuschlagende Tür nachäffenden Klingelton seines Handys, den er extra aufgespielt hatte. Er griff mürrisch in die Schublade und drückte die Empfangstaste.

»Chef, ich weiß, es ist fünf Uhr dreißig. Ich weiß, Sie hassen mich jetzt. Aber hier steht eine völlig aufgelöste Mutter, ihr Mann ist mitgekommen, und er tobt. Sie vermissen ihre Tochter. Wir haben schon alle verfügbaren Kräfte losgeschickt.«

»Und? Ich bin nicht von der Vermisstenstelle. Ich habe frei!«

»Chef, wir haben schon Suchhunde laufen lassen. Der Zufall hat uns geholfen. Eine Einheit von Hundeführern hatte auf private Initiative hin am Abend auf dem Rettungshundeplatz geübt. Sie wissen, nicht weit entfernt, in Hünxe. Die haben da auch übernachtet. Bei der Bitte, in Wesel nach einer gewissen Lucia de Bertolli zu suchen, einer vermissten Vierzehnjährigen, haben sie sofort eingewilligt. Das war für die wie ein verlängerter Übungsabend unter verschärften Bedingungen.«

Weniger stockte, de Bertolli klang italienisch, und nichts passte weniger zu seinem Gemütszustand als temperamentvolle, familienfixierte und tränenerstickte Südländer. Er schwieg, als könnte er damit die Realität ausblenden.

»Chef, das Mädchen ist verschwunden. Seit sie gestern auf dem Heimweg vom Badmintontraining war. Auf dem kurzen Weg von der Sporthalle nach Haus einfach weg. Das klingt übel.«

Sein Schweigen hatte gegen die Wirklichkeit verloren, kein Zackenzählen und keine Expertenrunde über hoch technisierte philatelistische Prüfverfahren.

»Ruft die Hundertschaft, sperrt den möglichen Heimweg ab, wir setzen auch einen Lautsprecherwagen ein, es wird eine Großfahndung werden. Sag dem Kreispolizeidirektor und dem Landrat Bescheid. Die Hunde sollen noch mal laufen. Ich komme.«

Weniger hatte umgeschaltet auf professionelle und strukturierte Aufklärungsarbeit. Das war für ihn ein Kraftakt.

* * *

Das Flatterband, das im Weseler Ortsteil Fusternberg den schmalen Weg von der Rundsporthalle direkt ins dicht bebaute Wohngebiet säumte, hatte wie ein Signal gewirkt. Selbst um sechs Uhr dreißig säumten frühe Brötchenholer die Strecke. Lucias Verschwinden erregte die Menschen, zumal ihre Familie in der Nachbarschaft beliebt war. Ihr Vater war als Trainer ein bekannter Sportler, ihrer Mutter gehörte ein Eiscafé in der Innenstadt. Schon standen die ersten hysterischen, sich in den Armen haltenden Mitschülerinnen der Vierzehnjährigen zusammen.

Wenn sich eine Nachricht verbreitet, dann explosionsartig, dachte Weniger. Er hatte zu tun, fragte detailliert nach den Gewohnheiten des verschwundenen Mädchens, hatte sogar schon die Trainingspartnerinnen der Verschwundenen aufspüren können und von einer feinfühligen Kollegin befragen lassen. Er gab Anweisungen an die Suchkräfte, und das Foto des lebenslustig wirkenden Mädchens mit der Zahnspange wurde verteilt.

»Was sagen die anderen Mädchen?«, fragte er.

»Es ist nicht viel rauszuholen, die sind völlig aufgelöst und schluchzen ständig. Ich weiß, dass Lucia beim Training fröhlich war, fast aufgekratzt. Nein, sie könne der Clique nicht erzählen, warum, sie habe versprochen, das Geheimnis zu wahren. Dann ist sie los, sie ging nach den Aussagen den üblichen Weg nach Hause. Rund achthundert Meter ab der Sporthalle, erst über den Parkplatz, durch eine schmale Gasse und dann über gut einsehbare Straßen«, sagte die Kollegin.

»Kann sie abgebogen sein?«

»Schon. Die Sportlerinnen berichten aber nichts davon. Theoretisch kann Lucia vor der Gasse abgebogen sein in Richtung Niederrheinhalle, das ist die große Veranstaltungshalle unweit der Sporthalle. Dort ist ein kleiner baumbestandener Park, der Weg hindurch führt bis zu einem Kreisverkehr. Aber Hinweise gibt es nicht, dass sie diesen Umweg genommen hat. Die Hunde müssten die Fährte doch aufgenommen haben.«

»Müssten. Es war ein Schnelleinsatz. Sie sollen gezielt die Strecke, die du beschrieben hast, untersuchen. Lass dir von den Eltern ein Kleidungsstück für die Suchhunde geben.«

Der Kommissar reagierte sofort auf den Hinweis, der über Mobilfunk gekommen war, und lief los. Durch den Eingang zum Gelände der Niederrheinhalle, einem verbauten, hübsch-hässlichen Gebäude aus den Sechzigern von unübersehbarer Provinzialität und immer noch der größte Veranstaltungsort weit und breit, rannte er vorbei an der Festwiese und hin zu einem kleinen Wäldchen. Ein Polizist wies ihn dorthin, wo dichtes Buschwerk ein benachbartes Grundstück abgrenzte. Zwei Hundeführer, einer von der Polizei in voller Dienstkleidung, einer vom Rettungshundetrupp in Abenteurer-Outfit, stoppten Weniger.

»Unsere Tiere haben Kleidungsstücke gefunden. Wirken wie ins Gebüsch geschoben, um sie zu verstecken. Wahrscheinlich blutverschmiert, so wie die Hunde anschlagen.«

»Das ist alles?«

»Ein Anfang.«

Der Kommissar ging vorbei an den Einsatzkräften, gelangte zum Fundort und beugte sich vor. Leggins und Slip waren zu vermuten in diesem Knäuel. Er winkte Helfer herbei, ließ den Fund bergen und den Ort sichern. »Zur Untersuchung, pronto. Holt mir die Eltern.«

Michael Weniger verlangsamte seinen Gang, und eine gewisse Missstimmung bemächtigte sich seiner. Er musste nicht nur Lucias Mutter und Vater mit den Fundstücken konfrontieren. Das war Chefsache, eine sensible dazu, und nicht abzuwimmeln. Dass in seinem begrenzten Beamtengehalt aber noch das Zusammentreffen mit der Bürgermeisterin eingeschlossen war, war definitiv nicht das, was er in diesem Moment gebrauchen konnte.

Sie stand mitten im gaffenden Volk am Absperrband, schon einwandfrei geschminkt und wie für einen repräsentativen Auftritt gekleidet. Sobald der erste Pressefotograf auftauchte, würde sie in die Mitte des Bildmotivs springen, ein Automatismus, den man ihr in Parteiseminaren zur medialen Wirkung beigebracht hatte.

Als sie die Eltern entdeckte, die von den vernehmenden Polizisten begleitet und abgeschirmt wurden, eilte sie auf sie zu und umarmte sie mitfühlend. Freie Bahn, die erste Frau der Stadt konnte von nichts und niemandem gebremst werden, und die Polizei ließ sie geradezu ehrfürchtig gewähren.

Ferdi Fleischmann löste seine Kamera aus. Wie immer war er als gut informierter Medienmann dank eines speziellen Informanten bei der Polizeibehörde als Erster zur Stelle. Nun musste er nur noch den journalistischen Schnellschuss online stellen. Tempo zählt. Die Bürgermeisterin sagte noch schnell und zitierfähig zu Lucia de Bertollis Eltern: »Ich teile Ihren Schmerz. Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert. Kann ich Ihnen helfen, melden Sie sich. Meine Bürotür ist immer offen für Sie. Unsere leistungsfähige Polizei wird den Fall klären.«

Abrupt wandte sie sich dann ab und lief auf den Kommissar zu. »Wie kann es sein, dass ich erst durch meine Referentin von diesem Vorfall erfahre und nicht direkt durch Sie? Ich muss wissen, was in meiner Stadt passiert. Bürgernähe, verstehen Sie?«

Weniger zuckte zusammen. Ein Vermisstenfall, erregte Eltern, verstörte Mitschülerinnen und Trainingspartner, wilde Gerüchte und eine insgesamt chaotische Situation– und dieser Frau ging es darum, ihre Bedeutung zu demonstrieren. Verbog das Amt einen wirklich so sehr? Der Kommissar hatte keine Zeit, sich auf diese fordernde Person einzustellen. Er sehnte sich zurück an seinen Schreibtisch.

Statt dort Akten abzuzeichnen und Aufgaben zu delegieren, hörte er sich sagen: »Tut mir leid, es ging Schlag auf Schlag. Ich musste den Einsatz koordinieren, jetzt bringe ich Sie auf den Stand. Lucia de Bertolli, deren Eltern Sie gerade beruhigt haben, ist seit ihrem Training gestern Abend verschwunden. Wir tun alles, Sie sehen das Gewusel hier. Wir haben gerade einen wichtigen Fund gemacht, einige Kleidungsstücke des Mädchens. Ich fürchte, es sind die eines Opfers, wir haben Blutspuren gefunden.« Weniger besann sich. »Natürlich bitten wir Sie, nachher an der Pressekonferenz teilzunehmen.«

Die Bürgermeisterin signalisierte Wohlwollen, war aber schon abgelenkt. Ihr Parteifreund, der Landtagsabgeordnete Fiede Classen, drängte sich durch den Pulk der Gaffer, sie winkte ihm zu, hob das Flatterband hoch und ließ ihn durch, als hätte sie das Kommando bei diesem Einsatz.

Dieser Mann hatte zwar einen norddeutschen Namen, weder niederrheinaffin noch Nordrhein-Westfalen-tauglich, aber er war von den Bürgern als volksnah quasi adoptiert worden. Das war unbezahlbar in einer Gegend, in der die Alteingesessenen schwer von Zugezogenen zu überzeugen waren, selbst wenn diese schon als Kind in die Stadt gekommen waren, und Zugezogene froh waren, einen weltoffenen Politiker von nicht provinzieller Herkunft zu kennen.

Fiede Classen hatte es geschafft, die Brücke zwischen beiden Ansprüchen zu schlagen. Tief im Westen hatte der Mann mit der hohen Stirn, den weichen Gesichtszügen und dem Gemütlichkeit verkündenden Bauchansatz, der bei jedem Lachen mitwackelte, der Bürgermeisterin entscheidend mit dazu verholfen, die angestrebte Karriere zu vollenden. Sie wollte die am längsten regierende Chefin dieser Stadt werden, sie kannte schließlich ihre zu dieser mittelgroßen Kommune passenden Fähigkeiten, die sie lieber nicht an höherer Stelle in einem Düsseldorfer Ministerium ausprobieren wollte. Deshalb brauchte sie die Regierungskontakte des aufstrebenden Abgeordneten, der in seiner Fraktion für Jagd, Angeln, Bauern und ein bisschen Umwelt zuständig war, aber es nicht für immer sein wollte. Er strebte nach Höherem. Je wichtiger er sein würde, desto besser für sie als Parteifreundin.

Doch Fiede Classen hatte seine eigene, seine aktuelle Position im Blick, als er sie knapp grüßte, um sich dann schnell an den Kommissar zu wenden.

»Wir haben eine Wahl vor uns, wie Sie wissen. Ich möchte Sie eindringlich bitten, diesen Fall vorrangig zu behandeln. Unsere Bürger müssen in Sicherheit leben können. Das ist die vornehmste Aufgabe der Politik. Also, was können Sie mir sagen?«

So, so, vornehmste Aufgabe! Bisher haltet ihr mich von der Arbeit ab, ihr Nullen, ich möchte ein Menschenleben retten und eine Spur zu Lucia finden, wenn das überhaupt noch möglich ist, zürnte Weniger in Gedanken.

Wieder hörte er sich etwas komplett anderes sagen. »Selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Die Bürger verlassen sich darauf, dass Sie Ihre gesellschaftspolitische Aufgabe wahrnehmen. Sie können sich meiner Unterstützung vollkommen sicher sein.«

Ob Classen seine Ironie bemerkte? Ironie war immer gefährlich, nicht jeder konnte sie entschlüsseln. Weniger hatte auch nicht erwartet, dass der Abgeordnete tief schürfen wollte.

»Schon gut. Ich kenne die Familie de Bertolli, in ihrem Eiscafé nehme ich immer den großen Erdbeerbecher. Lucia hat mich manchmal bedient, ein süßes Mädel. Ich habe früher in dem Ortsteil gewohnt, aus dem sie stammt. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, alles über den Fall zu erfahren. Ich habe gehört, Sie haben Kleidungsstücke gefunden?«

Ferdi Fleischmann hatte sich mittlerweile irgendwie durch die Flatterbandabsperrung gedrückt und die kleine Runde aus Honoratioren und Polizei erreicht. Er gehörte ja auch dazu, zum Kreis der Mächtigen und Angesehenen dieser kleinen Stadt. Der Journalist hatte die letzten Worte gehört. Sieh mal einer an, der Classen steuert direkt auf die harten Fakten zu, dachte er. Sonst schlich er sich gern über rhetorische Umwege wortreich an Themen und Menschen heran, so musste er nicht spontan reagieren, was ihn unsicher machte.

»Ja, es gibt blutverschmierte Teile. Sie werden untersucht. Der Fundort ist nahe der Niederrheinhalle. Die Hunde suchen weiter«, ließ der Kommissar stakkatoartig verlauten.

Der hat keine Lust, seine Zeit mit Antworten auf Nachfragen zu vergeuden, die warten konnten, wusste Ferdi Fleischmann sofort. Er notierte sich die kargen Sätze.

Der Abgeordnete gab nicht auf. »Da muss doch mehr bekannt sein. Zum Beispiel, wer Lucia zuletzt gesehen hat und mit wem sie vielleicht gesehen worden ist.«

Weniger zuckte nur mit den Augenbrauen und sagte: »Nein.«

Ferdi Fleischmann dokumentierte auch dieses Wortgeplänkel. Mit Ortsangabe und Uhrzeit. Wer wusste schon, wann er die Information über Fiede Classens Verhalten gebrauchen konnte?

Kommissar Weniger hatte inzwischen in der Gaststätte der Bürgerschützen zwischen Sporthalle und Niederrheinhalle Platz genommen. Irgendein dienstbarer Geist hatte ihm ein Kännchen Kaffee hingestellt, aus dem er sich in Gedanken versunken einschenkte. Er musste durchatmen, die angespannte Lage überblicken und sich auf die zugegeben wenigen Fakten konzentrieren.

Die provisorische Einsatzzentrale in dem Gastraum barg die Chance, ein paar Minuten Ruhe zu schöpfen. Er hatte Order gegeben, niemanden hereinzulassen. Es war neun Uhr fünfundvierzig, bald würde die Staatsanwaltschaft aus Duisburg eintreffen. Sie musste entscheiden, ob eine Mordkommission, vielleicht sogar eine erweiterte, eingerichtet würde oder eine Sonderkommission für Vermisste reichte.

Lucia war jedenfalls seit etwa neunzehn Uhr dreißig am Abend zuvor verschwunden, sie war nicht zu Hause angekommen, obwohl der Heimweg nur achthundert Meter betrug. Ein Teil ihrer Kleidungsstücke war nach aufwendiger Suche gefunden worden, die Untersuchungen der Spurensicherung liefen auf Hochtouren. Das war’s, und das würde weder dem Staatsanwalt gefallen noch den sich bürgernah gebenden Politikern. Weniger machte sich daraus nichts, aber die Verzweiflung der Eltern ging ihm ans Herz.

Der Kommissar hatte zum ersten Mal seit Stunden sortiert und ruhig nachgedacht. Plötzlich rumorte es erst an der Tür zur Gaststätte, dann wurde es laut und lauter, eine herbe, zurechtweisende Männerstimme prallte auf eine energische, heller werdende und sich ins Grelle steigernde Frauenstimme. Jemand rüttelte an der Tür, jemand anderes versuchte, einen Eindringling abzudrängen. Ein Türspalt wurde aufgedrückt, und ein eleganter Pump schob sich in den Raum, dann ein Knie, eine schmale, aber durchtrainierte Wade folgte, bis sich das wirklich hübsche Bein samt breitgemustertem Minirock so vorschob, dass die Sperre überwunden war. Weniger reckte sich. Wer wagte es…? Wer sich hier durchgesetzt hatte, erkannte er Sekunden später.

Barbara Optenhövel war dabei, den Auftrag ihres Chefs Rainer Mehr zu erfüllen. Sie sollte nachforschen und den Kommissar schnell kontaktieren. Mehr hatte über seine alten Verbindungen ins Kommissariat von dem Großeinsatz gehört und wollte mehr wissen. Er konnte es nicht sein lassen.

Die Assistentin, nein, Sekretärin eines Ex-Kollegen stand einem verdatterten, wie aus dem gedanklichen Tiefschlaf geholten Kommissar gegenüber. Sie unterbrach die Ermittlungen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Kein Grußwort, kein Hallo, keine Erklärung.

»Hier, der Chef hat mich kurz recherchieren lassen, ich kenne das Umfeld von Lucias Familie. Hatte mal einen Freund aus dem Wohnviertel. Ich hab’s für Sie notiert.«

Die junge Frau legte mittig vor Weniger einen Umschlag auf den Tisch, warf ihr langes dunkelblondes Haar nach hinten, sodass ihr schlangenartiges Halstattoo sichtbar wurde, und wandte sich um. Sie ließ keine Fragen zu und verschwand nach ihrem kurzen, heftigen Auftritt wieder, der wohl besagen sollte: »Mach was draus, Weniger!«

Der Kommissar schwieg verdattert. Er riss den Umschlag ebenso bedächtig wie korrekt mit einem Frühstücksmesser auf, das er aus einem Besteckkasten im Schankraum genommen hatte. Das darin befindliche Papier faltete er auf und studierte es konzentriert. Sein Nicken drückte Zustimmung aus. Was hier stand, war ein Anfang.

* * *

Mit diesem Ergebnis hatte niemand gerechnet. Dr.Reinhard Terheyden referierte über die Untersuchung der Kleidungsstücke von Lucia, die zwar längere Zeit im Unterholz gelegen hatten, dennoch viele Informationen preisgaben. Umso überraschender war, dass sie nicht so recht weiterhalfen, jedenfalls nicht so entscheidend, wie es politisch gewünscht und fahndungsmäßig erhofft worden war.

»Hier haben wir einen Slip des Mädchens und ihre Leggins. Sie wurden in dem kleinen Waldstück–«

»Wissen wir, wir waren dabei.«

Die Fahnder waren ungeduldig und wollten schnell den Kern der Informationen hören. Weniger schützte den Tatortspezialisten, der mit seinem langsamen Gesprächsaufbau auch um mehr Aufmerksamkeit für seine Arbeit rang. »Lasst ihn doch. Sein Bericht darf etwas weitschweifig sein, so lässt er Raum für unsere Intuition. Bei einem Ratata-Erklärstück würden wir keine neuen Gedanken fassen können.«

Protestierendes Rumoren war die Antwort.

»Verstehe schon, die Herrschaften wollen in medias res gestürzt werden«, erwiderte Terheyden. »Ein bisschen Info muss aber sein.«

Wieder war Ungeduld zu spüren.

»Also: Die Qualität der Kleidungsstücke ist sehr gut, da hat jemand beim Kauf darauf geachtet. Dennoch sind sie stark lädiert, die Leggins sind angerissen im oberen Bereich, als hätte man daran gezerrt. Das Gewebe hat im weiteren Verlauf etliche Risse, da hat jemand erhebliche Kräfte besessen und mobilisiert. Es kann sein, dass dieser Jemand die Sachen in Panik entsorgt hat, jedoch geistesgegenwärtig genug war, sie ins Gebüsch zu werfen. Am Slip ist der Gummizug durch, im Stoff klaffen Lücken, die vorher nicht da gewesen sein dürften. Das Material zeigt keine Anzeichen von Verschleiß. Am Stoff gibt es aber die meisten Spuren.«

Erregt sprang einer der Fahnder auf. »Also eine Gewalttat. Wir müssen die Hoffnungen begraben, Lucia lebend wiederzufinden.«

»Aus den bisherigen Informationen lässt sich das nicht ableiten. Aber ich habe noch mehr.«

Terheydens formale Steifheit machte die Spannung nur noch größer, das Ermittlungsteam hielt den Atem an.

»Wir haben Blutspuren gefunden, die von Lucia stammen. Wir haben heute Morgen noch den Hausarzt der Familie erreicht, er hat uns die Blutgruppe bestätigt. Sie ist verletzt worden, der vorgefundenen Blutmenge nach schwer. Anzunehmen ist, dass die Tat relativ bald nach dem Training, also kurz nach dem Verschwinden des Mädchens auf dem Nachhauseweg, geschehen ist. Die erst eingetrockneten, dann von der Nachtfeuchtigkeit wieder aufgeweichten Blutreste legen das nahe.«

»Das ist doch Spekulation, ohne Leiche wirst du keinen Todeszeitpunkt bestimmen können.«

»Ja, kann man einwenden. Die Indizien sind aber stark. Vor allem eins, das ich euch bisher nicht genannt habe.«

»Raus damit!«

»Im Slip habe ich Spuren von Sperma gefunden, wie schon vermutet. Möglicherweise war es eine Vergewaltigung. Zumindest eine versuchte. Immerhin habe ich ausreichend DNA gesichert. Der Datenabgleich ist in die Wege geleitet, das läuft.«

Weniger zuckte zusammen. Er dachte an die Eltern, deren Hoffnungen er zerstören musste. Er spürte Übelkeit aufsteigen. Und Trauer. Wie durch eine Wand hörte er noch die Frage eines Kommissars: »Wann kommt das Ergebnis, damit wir uns diesen Scheißkerl krallen können?«

Statt zu antworten, fischte Terheyden sein klingelndes Smartphone aus der Tasche. Offensichtlich hatte er auf einen Anruf gewartet und es deshalb in der Krisensitzung nicht ausgeschaltet.

»Ja, kann man nichts machen.« Sein enttäuschter Tonfall ließ erahnen, dass das Ergebnis offenbleiben würde.

»Das DNA-Material ist gut. Aber es war kein Treffer in unserer Datei dabei. Der Täter, wahrscheinlich ein Vergewaltiger und Mörder, ist bisher nicht auffällig geworden.«

Weniger teilte die Niedergeschlagenheit, die sich am Ende der Sitzung ausgebreitet hatte. Er würde nun die provisorische Ermittlungsstelle in der Gaststätte auflösen und weitere Zeugenvernehmungen im Kommissariat fortführen. Öffentlich würden Suchaufrufe gestartet, denn die Wahrscheinlichkeit, das Opfer und weitere Kleidungsstücke zu finden, war trotz anstehender Fahndungsaktionen nicht einzuschätzen. Die Polizei würde die große Maschinerie anwerfen.

Die Sporttasche, die Lucia nach dem Badminton bei sich gehabt hatte, blieb zunächst verschwunden. Die Frage war, ob der Täter sie bewusst entsorgt hatte. Aber irgendetwas würde sich tun, war sich der Kommissar sicher. Nur wann und ob ein entscheidender Hinweis dabei wäre, blieb ungewiss. Er sehnte sich nach seinen russischen Briefmarken und der Stille der Kammer, in der er sie prüfen und sichten konnte.

Diese abgeschiedene Welt, in der er Langweiler sein durfte, blieb vorerst Illusion. Lucias Eltern hatte er schon zu sich gebeten, dem Zusammenbruch der Mutter und der Verzweiflung des Vaters hatte er nur beruhigende Worte entgegenzusetzen versucht. Dass sie nicht ihre tote Tochter betrauern konnten, war eine ungeheure Belastung. Weniger musste ein ums andere Mal beschwören, dass er alles tun werde, um Lucias Leiche zu finden.

Dann war der Augenblick gekommen, in dem der Kommissar eine Frage stellen musste, die weder in die deprimierte Stimmung passte, noch die Eltern davon abhalten würde, sie als Angriff zu empfinden. Denn als er seine Aktentasche leeren wollte, förderte Weniger den Umschlag zutage, den er von Barbara Optenhövel überreicht bekommen hatte, aber fast vergessen hätte.

Was trieb diesen Ex-Kommissar und Erbenermittler Rainer Mehr auch dazu, Informationen schriftlich zu übermitteln, statt sie zu mailen oder Dokumente digital zu verschicken? Er will sich in die Ermittlungen einschleichen, dachte Weniger, der die Hilfe des unkonventionellen Ex-Kollegen plötzlich gar nicht so schlecht fand.

Er öffnete das Papier, las den Text flüchtig und fragte sich, woher Rainer Mehr und Barbara Optenhövel wissen konnten, was hier geschrieben stand. Eine Mitspielerin hatte aufgeschnappt, dass Lucia jemanden besonders gern mochte. Sie hatte Nachrichten auf ihrem Handy gesehen. Das wieder gefaltete Blatt legte Weniger auf den Tisch, tippte mit dem Zeigefinger darauf, bedeutete den Eltern, dass er ihre Unterstützung brauche, und wandte sich mit zurückhaltender Stimme an sie.

»Hier ist ein Hinweis niedergeschrieben von einer sehr verlässlichen Quelle, dass Ihre Tochter einen Freund hatte. Oder jemanden, den sie angehimmelt hat. Ihren Freundinnen gegenüber hat sie Andeutungen gemacht, manchmal kamen Nachrichten auf ihr Smartphone, auf die sie heimlich geantwortet hat. Damit keiner zuschauen konnte.«

»Was fällt Ihnen ein? Unsere Tochter doch nicht. Lucia war erst vierzehn, Jungs haben sie nicht interessiert. Sie hat immer abfällig über andere Mädchen gesprochen, wenn die für irgendwelche süßen Typen schwärmten.« Die Mutter war empört, zu ihrer Trauer kam jetzt noch das Gefühl hinzu, ihre Tochter, ihre Kleine, habe Geheimnisse vor ihr gehabt. Der Vater tätschelte beruhigend ihre Hand.

»Nein«, sagte sie, »Lucia war kein verknallter Teenie, das hätte ich gemerkt.«

»Aber du hast viel in der Eisdiele gearbeitet, wir waren beide oft nicht da. Wer weiß, auf welch dumme Gedanken Mädchen in dem Alter kommen«, wandte ihr Mann ein.

Die Frau schaute ihn entgeistert an. Ihr Engel, ihr Mädchen sei anders, offen, ehrlich, unverdorben. Ihr Satz erstarb in Schluchzen. Der Mann schwieg. Weniger wusste, dass keine neue Erkenntnis zu erwarten war. Vielleicht mussten sich die Eltern sammeln und Trauer zulassen, bevor sie sich eingestehen konnten, dass auch Engel irgendwann erwachen und erwachsen werden.

Er konnte sicher sein, dass Rainer Mehr die Informationen gewogen und für gut befunden hatte. Er nahm an, dass Barbara Optenhövel ihre Fühler im Familienumfeld und in der örtlichen Sportszene ausgestreckt hatte und Rainer Mehr die Gelegenheit nutzte, um mit ihrer Hilfe die Ermittlungen zu beobachten und bei Gelegenheit einzugreifen. Barbara Optenhövel war umtriebig und vertrauenswürdig, wenn jemand eine verschlossene Quelle knacken konnte, dann sie. Sie hatte die Verbindung zu einer unbekannten Person aufgespürt. Weniger musste nur noch herausfinden, um wen es sich handelte. Nur noch.

Der Kommissar schreckte auf. Das Telefon schrillte, er hob ab und stöhnte beim ersten Wort leise auf. Fiede Classen wollte ein Update. Er bot ein privates Gespräch und seinen persönlichen Einsatz an. Der Aufruf an Zeugen, sich zu melden, würde durch ihn mehr Gewicht bekommen. Er müsse gleich Ferdi Fleischmann anrufen, den König des Boulevards, der publizistisch jede Tränendrüse bedienen konnte. Das nicht auch noch, dachte Weniger. Dann vernahm er verdattert eine Frage.

»Wie war das Gespräch mit den Eltern? Haben sie etwas gesagt über mögliche Kontaktpersonen ihrer Tochter? Diese jungen Mädchen himmeln ja gern jemanden an. Also, wenn da was ist, sollte ich das wissen und diskret Klarheit schaffen. Gerüchte wollen wir nicht.«

Woher konnte Fiede Classen wissen, worüber er mit den Eltern gesprochen hatte?

* * *

Wenige Tage später walzte Ferdi Fleischmann ins Büro des Kommissars in der Kreispolizeibehörde. Er warf seinen Trench an den Haken, als hätte er sich solche Coolness bei Humphrey Bogart abgeguckt.

Seit einigen Tagen hatte sich die Informationslage um den Fall der vermissten Lucia für seinen Geschmack zu sehr beruhigt. Der Journalist, der sich aus seiner festen Redaktionstätigkeit verabschiedet hatte, weil ihn dieser elende, zugereiste Chef gegängelt hatte, sah seinen selbst erteilten Auftrag gefährdet, die ganz große Story zu schreiben. Er war das Mastermind in der regionalen Medienszene, das Trüffelschwein unter den Journalisten und ein gefragter Autor für viele Gelegenheiten. Neuerdings hielt er sogar Seminare über investigative Recherche ab. So war er auch von Rainer Mehr angefragt worden, als es kürzlich um die Ermittlung eines Erben aus alter niederrheinischer Familie ging. Ferdi Fleischmann hatte seinen Ruf als bissiger Journalist zu verteidigen. Deshalb musste er bald Neues liefern.

»Kommissar, still ruht der See, oder wie hab ich das? Nicht mehr motiviert, der Herr? Ich habe schon mit unserer Bürgermeisterin und unserem Abgeordneten gesprochen. Sie machen sich ernsthafte Sorgen, dass ihnen die Bürger das Thema öffentliche Sicherheit um die Ohren hauen bei der nächsten Wahl. Obwohl, der Classen macht auf norddeutsch trocken und wiegelt ab. Der will die Sache kleinhalten, das passt zu ihm. Die Bürgermeisterin zieht da nicht mit, die ist näher dran an den Leuten. Das riecht nach Konflikt.«

»Ferdi, lass es gut sein. Du möchtest, dass es kracht zwischen den beiden. Wird nichts draus werden. Die sind eingespielte Parteileute, der eine macht den bad guy, der andere den good guy und bei Bedarf umgekehrt. Schön abwechselnd. Eigentlich wollen sie, dass sich nichts bewegt, aber viel nach Bewegung aussieht. Ich glaube, ihr Interesse an dem Fall flaut ab.«

»Sollte aber nicht sein, wie man hört. Wie Ferdilein hört. Ihr habt doch die Spur eines geheimen Freundes oder unbekannten Schwarms von Teenieherzen verfolgt. Ihr seid doch dicht dran, oder?«

»Nein.«

»Nicht so einsilbig, bitte schön.«

»Ich sagte schlicht Nein, und das passt zum bisherigen Ergebnis. Kein Hinweis zu einem großen Unbekannten, nichts, nada.«

»Aber der Classen–«

»Der hat mich direkt nach dem Gespräch mit den Eltern schon danach gefragt. Wieso interessiert das einen Abgeordneten überhaupt, hat der nichts anderes zu tun?«

Ferdi Fleischmann merkte auf. Classen, der manchmal Merkwürdige, sieh mal einer an. Er würde als journalistisches Trüffelschwein hinterherschnüffeln müssen. Grasnarbenjournalismus, direkt und unverfälscht am Mann. Ein Besuch im Landtag in Düsseldorf, ein bisschen Bauchpinseln, bis die Wucht der eigenen Wichtigkeit den Damm brechen ließ. Bis der Redefluss des Abgeordneten freie Fahrt bekam und sich eine unbedachte, verräterische Bemerkung freischwamm. Fleischmann formulierte schon die Schlagzeile, die er in die Umlaufbahn schießen würde. Hochgefühl machte sich breit im runden Gesicht, er streckte sich und blies sich auf, bis er den Büroraum des Kommissars zu füllen schien.

Amüsiert beobachtete Weniger die Verwandlung eines Mannes vom kleinen regionalen Schreiberling zu Mr.Wichtig. Er beschloss, die Situation zu nutzen, um eine Neuigkeit über den Fall Lucia de Bertolli zu streuen, die ohnehin nicht mehr lange geheim bleiben würde.

»Ich habe noch eine Information, exklusiv für dich«, wisperte er. »Vor einer Stunde kam der Anruf eines Spaziergängers aus dem Weselerwald, irgendwo zwischen Marienthal und Drevenack. Er hat eine Sporttasche gefunden. Meine Leute haben sie geholt, die Spurensicherung ist draußen. Für ein Foto vom Fundort. Ich habe den Inhalt gerade prüfen lassen. Schülerausweis, ein kleiner Bär als Glücksbringer, ihr Handy in einer pinken Schale, Sportsachen, na ja, wir suchen noch, ob uns etwas entscheidend voranbringt. Sieht aber nicht so aus. Der Fundort kann beides sein, einfach eine Stelle in der Nähe der Autobahn Hollandlinie, um sich dieser Tasche zu entledigen, oder ein Gebiet, zu dem der Täter eine Beziehung hat. Er ist aber nicht der Tatort.«

Weniger beobachtete zufrieden die folgende Reaktion, die ihm die gewünschte breite Öffentlichkeit und damit wahrscheinlich Zeugenhinweise bescheren würde.

Ferdi Fleischmann sprang so schnell auf, wie man es ihm bei seiner Leibesfülle nicht zugetraut hätte. Die kurzen Beine stampften im Wirbelschritt hinaus. Er formulierte bereits seinen Text. Hast du die Schlagzeile, dann hast du die Geschichte, wusste er.

ÜBER DIE WUPPER

»So weit die Vorgeschichte. Zum aktuellen Stand der Dinge im Fall Lucia de Bertolli bleibt nur nachzutragen, dass wir zwar die Sporttasche hatten, aber nach der Spurenauswertung so gut wie keine Rückschlüsse auf die Tat ziehen konnten. Sie wurde wohl einfach beseitigt. Nun wissen wir von einer geheimen Verabredung, aber mehr auch nicht. Ehrlich gesagt, wir sind ziemlich ratlos. Deshalb möchte ich auch mit euch reden«, schloss Kommissar Weniger seinen Rückblick und sah in die Runde, als erwartete er, dass auf der Stelle ein Ruck durch sie ginge.

»Drei lange Wochen, viel Zeit zum Teetrinken. Mögen Sie auch einen Darjeeling First Flush, Herr Weniger?«, sagte Barbara Optenhövel und erhob sich, um ein Tablett mit Tassen, Kandis und eine gläserne Kanne mit Stövchen zu holen.

Ferdi Fleischmann brummelte etwas von »exklusiv, na ja, aber dann im Westen nix Neues«, und Rainer Mehr fragte nach der Wuppertal-Spur. Schließlich sei die nun in Lucias Hosentasche gefundene Fahrkarte ein möglicher Hinweis. War sie nicht zermatscht und zerknüllt gewesen?

Der Kommissar stutzte. Er wusste, dass sie in der Fülle der Arbeiten diese Spur vernachlässigt hatten. Woher wusste Mehr davon? Man habe sie untersucht und entziffert, könne sich aber keinen Reim darauf machen, druckste Weniger. Man habe auch in Wuppertal um Amtshilfe gebeten, herausgekommen sei noch nichts.

Rainer Mehr bewegte ein historisches Papier von einem Stapel zum nächsten und wieder zurück. Seine Bewegungen wurden vom Mitschwingen des wirren Haarschopfes begleitet, was ihn wie ein verirrtes Wesen aussehen ließ. Ferdi machte eine scheibenwischerartige Geste vor seiner Stirn. Weniger schlürfte den angenehm gesüßten, elegant aromatischen Tee und driftete ab in seine meditative Phase. Es war, als hätten alle die Verantwortung an den Erbenermittler abgegeben und warteten auf dessen Eingebung.

Unbemerkt war Barbara Optenhövel wieder im Haus verschwunden, nachdem sie den Tee gebracht hatte, nun kam sie hörbar impulsiv die alte Holztreppe mit dem wulstigen Handlauf heruntergetrappelt. In der einen Hand hielt sie einen Bildband über Wuppertal nebst einer Straßenkarte, nicht mehr ganz aktuell, aber dank der Größe mit einer guten Übersicht über das lang gestreckte Tal von den Ortsteilen Vohwinkel bis Langerfeld. Mit der Fingerfertigkeit einer jungen Frau, die schon lange gewohnt ist, auf dem Handy Botschaften und Emoticons einzutippen, bearbeitete sie die geschrumpfte Tastatur auf dem Bildschirm im fliegenden Tempo. Sie rief eine Homepage auf, holte mit einem Fingerwisch ein Foto herbei und drehte der Runde das Smartphone zu.

»Bin ich hier am elektronischen Ticketschalter, oder was? Mädel, wenn du was buchen willst, dann für zwei. Wir zwei auf Reisen, das wird ein Erlebnis. Nach des Tages Anstrengung ein charmanter Abend…«, lästerte Ferdilein, der schon immer ein Herz für die groß gewachsene Barbara mit den feinen, mädchenhaften Gesichtszügen hatte.

Die Sekretärin zog eine gequälte Miene. Es sah aus, als schöbe sie ihren Mittelfinger in Richtung des wuchtigen, im Sessel eingeklemmten Journalisten. Doch der Finger landete mitten auf dem Display.

»Das hier ist eine Fahrkarte der Wuppertaler Stadtwerke, gültig für die Schwebebahn. Das weltbekannte Verkehrsmittel bringt die Leute an Schienen über dem Fluss oder über Straßen hängend durch die Stadt.«

Rainer Mehr sprang auf, schob ein paar Akten zur Seite und raffte den Ermittlungsbericht des Kommissars an sich. Er war ein Schnellleser, der die Technik beherrschte, sich in aller Eile Überblicke zu verschaffen, für die andere sehr viel mehr Zeit brauchten. Die Lesebrille auf der Nasenspitze blätterte er, hielt inne und wurde fündig.

»Barbara, du hast richtig kombiniert. Hier ist ein Bild von der Fahrkarte, die Lucia de Bertolli bei sich hatte. Zeichen des Nahverkehrsunternehmens: WSW. Abstempelung: Automat am Döppersberg. Der Druck ist gerade noch zu erkennen, das Datum aber nur fragmenthaft. Die Ortsbezeichnung sagt mir nichts. Kennt sich jemand in dieser Stadt aus?«

Rainer Mehr hielt seine angeschlagene Tasse, in der noch der kalte Morgenkaffee schwappte, in Richtung seiner Sekretärin, die sich triumphierend reckte, sodass die tätowierte Schlange auf ihrem Halsansatz einen Freudensprung zu vollbringen schien.

Ferdi Fleischmann war irritiert. Können Schlangen springen?, fragte er sich, während er den schmalen Hals, die vollen, dezent geschminkten Lippen über dem kleinen, wirklich süßen Grübchen am Kinn musterte. Welch eine Frau, er müsste sie sich bei passender Gelegenheit noch genauer ansehen, fand er. Wie war Rainer Mehrs Frage noch gewesen? Wuppertal, kennen, Döppersberg.

»Liegt mitten in der Stadt, dort ist der zentrale Bus- und Schwebebahnhof. In der Nähe befindet sich der Wuppertaler Hauptbahnhof, in der Talsohle geht es weiter zur Elberfelder Innenstadt, zum alten Rathaus und zum Von-der-Heydt-Museum. Ist ja ein Begriff und absolut sehenswert.«

Ferdi machte eine Kunstpause, schob den in vielen kalorienreichen Jahren erworbenen Spitzbauch nach vorn und frönte seiner Leidenschaft. Eigentlich hatte er nichts zu Barbara Optenhövels kluger Kombination beigesteuert, ließ aber jetzt seine rhetorische Taktik aufblitzen, mit nicht nachgefragten und neben der aktuellen Spur befindlichen Informationen zu glänzen. Bergisches Land, Zoo, Schwebebahn und ein ins Tief der niedrigen Fußball-Ligen abgerutschter Ex-Bundesligist namens WuppertalerSV– er schwadronierte über seine Ortskenntnisse und kündigte an, er müsse wohl auf Reisen gehen.

Auf diese Art schob er sich gern in den Vordergrund. Rainer Mehr kannte das, und oft hatte er sich schon eingeschaltet, um aus vielen unnützen Sätzen die wenigen prägnanten Aussagen zu destillieren. Ferdi Fleischmann versuchte aber immer wieder, sich weitschweifig Schlaumeiers Platz eins zu sichern. Er musste wohl als Einzelkind zu Hause viel Zuwendung erhalten haben, die er nun auch draußen im wahren Leben einforderte.

»Ferdi, keine Nebenkriegsschauplätze besetzen. Bleib bei der Sache. Was hast du überhaupt mit der Hauptstadt im Bergischen Land zu tun?«, rief Mehr ihn zur Ordnung.

»Ich habe dort ein paar Semester studiert, Bergische Universität oben auf dem Grifflenberg. Eine Gesamthochschule, gegründet in Zeiten der Bildungsreform. Halt, stopp, Fleischmann, ich vergaloppiere mich schon wieder. Aber ist doch gut, einen in eurer Mitte zu haben, der sich auskennt, oder? Also, Döppersberg ist mitten in Elberfeld. Das ist der zentrale und wichtigste Stadtteil, soweit ich weiß. Barmen ist der zweite bedeutende Stadtteil, hat aber nachgelassen. Wuppertal ist ja insgesamt keine Boomtown, schwer verschuldet, aber mit einem gewissen angeschlagenen Charme und eigenen kulturellen Besonderheiten. Manchmal bin ich noch da.«

»Und jetzt fährst du wieder hin?«