Die Eule - Thomas Hesse - E-Book

Die Eule E-Book

Thomas Hesse

4,9

Beschreibung

Ein Lkw-Fahrer rast in eine Pilgergruppe. Was nach einem tödlichen Unfall aussieht, entwickelt sich zu einem aufsehenerregenden Mordfall - und was wie die Folgen eines Machtkampfs innerhalb einer Sekte wirkt, hat seinen Ursprung 30 Jahre zuvor in deutsch-deutscher Geschichte und führt Kommissarin Karin Krafft, unterstützt von der klugen "Eule", aus dem tiefen Westen geradewegs ins thüringische Erfurt. Dort verriet einst die Tochter ihren größten Feind an die Stasi - es war ihr eigener Vater. Raffinierte Rache, Verrat am Verräter oder späte Sühne - am Niederrhein zwischen Wesel und Xanten, Kevelaer und Moers, Dinslaken und Hamminkeln findet sich die Lösung eines ebenso bewegenden wie bemerkenswerten Falls.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 370

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



THOMAS HESSE, Jahrgang 1953, ist Redaktionsleiter in Wesel. Im Emons Verlag erschienen von ihm – zusammen mit Thomas Niermann – die Krimis »Der Esel«, »Der Rabe« sowie »Mord vor Ort I und II«. »Die Eule« ist sein neuntes Niederrhein-Krimi-Buch.

www.der-krimi-hesse.de

RENATE WIRTH, Jahrgang 1957, lebt in Xanten und arbeitet als Heilpädagogin und Gestalttherapeutin. Sie veröffentlichte diverse Kurzkrimis in Anthologien.

VON BEIDEN AUTOREN gemeinsam erschienen im Emons Verlag »Das Dorf«, »Die Füchse«, »Die Wölfin« und »Die Elster«. »Die Füchse« erschien auch als Hörbuch.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-009-4 Niederrhein Krimi Originalausgabe

Das größte Gefängnis ist im Kopf des Unwissenden.

Graffiti in Istanbul

Prolog

Am 24. Mai 1960 ging die Sonne um vier Uhr zwölf über Dresden auf. Sie durchbrach den Nebel, der die Wälder und Wiesen des Umlandes zart bedeckte, in weichen Ringen um vier Uhr vierunddreißig. Der wattige orange Farbton, der sich über die Landschaft ergoss und von einer Morgenromanze erzählte, stand im krassen Gegensatz zu den zackigen Befehlstönen, die sich an den Mauern des Hofes der Hinrichtungsstätte brachen.

Die Wachmänner trieben einen kraftlos schlurfenden Mann in grauer Gefangenenkleidung, dessen fahle Hautfarbe es schwer machte, zu schätzen, ob er eher an die vierzig oder fünfzig Jahre alt war, über den Platz. Niemand weiß, was er in diesem Augenblick und in der kaum nachzuspürenden Verlassenheit seiner letzten Stunden zuvor empfand. Hat er sein Leben Revue passieren lassen, hat er seinen Verräter verflucht, der ihn erst in das Stasiuntersuchungsgefängnis in direkter Nachbarschaft des Domplatzes in Erfurt und dann in die Zentralanstalt für Abgeurteilte brachte? War er zu keiner Empfindung mehr fähig und ein lebender Leichnam in der vergangenen Nacht, die schon wie aus Blei war?

Willenlos ließ er sich jedenfalls schieben und ziehen, als ihn die Schergen zwischen Nacht und Morgen auf das Schafott zwangen. Die schräge Schneide der Fallschwertmaschine aus volkseigener Produktion fiel präzise und trennte ihm den Kopf zwischen dem vierten und fünften Wirbel vom Rumpf. Sonst arbeiteten die Antifaschisten in der DDR ungeniert mit den vorhandenen Naziguillotinen, an diesem Morgen aber war der Henker sehr zufrieden mit dem Einsatz der ersten volkseigenen Konstruktion.

Die Richtstätte schwamm im Blut, das sich in pulsierenden Schüben auf den Boden ergoss. »Vollstreckungsdauer: drei Sekunden, besondere Vorkommnisse: keine«, würde später der führende Offizier Dirk Unterhagen im Protokoll verzeichnen.

Die Sonne durchbrach den Morgennebel vollends und tauchte den Gefängnishof in merkwürdig barmherziges Licht, als wolle sie Trost spenden. Doch da waren die ebenso ungläubig wie entsetzt aufgerissenen Augen des an Händen und Füßen gefesselten Opfers. Sein finales Röcheln, seine gebrochenen Pupillen. Der klaffende Schnitt, der qualvolle Blick und über allem dieser unerträgliche Geruch von Angst. Henker Walter Böttcher hatte gelernt, sein Herz durch einen unbewussten Verdrängungsmechanismus kaltzustellen und sich mit der Routine des Scharfrichters an seine Arbeit zu machen. An diesem sonnig-linden Frühlingstag, an dem die Temperatur 19,5 Grad erreichen sollte, verließ der gelernte, ernst dreinblickende Schmied den von unüberwindlich hohen Mauern umschlossenen Hof, um im Erdgeschoss des labyrinthischen Baus zwei weitere Gefangene zu enthaupten.

Als wäre das Entsetzen noch zu steigern, legten die Gehilfen den vom Körper abgetrennten Kopf beim Einsargen zwischen die Beine des getöteten Delinquenten. Für sie war das praktischer und zeitsparender, denn eine spezielle Ofenmannschaft wartete in dem von Kiefern umstandenen Krematorium im nahen Tolkewitz auf den Leib des geköpften Mannes mit der fahlen Gesichtshaut. Die bürokratische Regelung der geheimen Kommandosache verlangte, das »Abköpfen« und Verbrennen binnen Stunden abzuschließen. Offizier Unterhagen zeichnete befriedigt die für den Zeitablauf vorgesehenen Sparten des Protokollbuchs ab und merkte sich vor, eine Zulage nebst extra freiem Tag für den Henker zu beantragen. Der Mann hatte schließlich Familie, und sie alle waren darauf angewiesen, diesen heiklen und geheimen Fall effektiv und ohne Aufsehen zu Ende zu bringen.

Ins Einäscherungsbuch trug man ein, dass der überstellte Leichnam eines in Erfurt verhafteten und in Dresden geköpften Mannes unter der laufenden Nummer 144080 um sieben Uhr fünfundvierzig verbrannt wurde. Mit roter Tinte wurde vermerkt: »Po –Polizeiliche Zuführung«. Am 26. Mai 1960 beurkundete das Standesamt III den »Sterbefall 127/60« mit der Todesursache Myokardinfarkt. Der vorgebliche Herzinfarkt war genauso falsch, wie Alter, Name, Beruf und Adresse im Protokollbuch gefälscht waren. Urne 553 verschwand in Feld IV des anonymen Gräberfeldes.

Die Vertuschungsmaschine lief perfekt, bis Offizier Unterhagen die repräsentative Eingangstür zur Stasizentrale an der Erfurter Andreasstraße durchschritt, sich auswies und umgehend in das Kasino zum Empfang ging, bei dem er für ehrenvolle Verdienste ausgezeichnet wurde. Seine Fähigkeit, schwierige Missionen durchzuführen, wurde besonders erwähnt. Es war verständlich, dass er viele Glückwünsche entgegennehmen und mehrfach anstoßen musste. Als Offizier Unterhagen bemerkte, dass der Alkohol seine Zunge gelöst hatte und er in den wichtigtuerischen Flüsterton der Kennerschaft abdriftete, war es schon zu spät. Da hatte er schon erzählt, dass »Genosse Staatsanwalt Kuhrke« vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Erfurt einen Mann, einen Kollegen »wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der Verfassung der DDR« angeklagt hatte. Der Vorwurf »Spionage, Staatsverbrechen, Fluchthilfe« sei so allgemein gehalten gewesen, dass das gewünschte Urteil – beifälliges, gedrücktes Lachen aus der kleinen Zuhörerschaft pflichtete bei – am Ende herauskommen würde.

Offizier Unterhagen spürte mit der antrainierten Vorsichtigkeit des Staatssicherheitsbeamten, dass er einhalten musste, doch die spontane Aufmerksamkeit der tuschelnden Kollegen spornte ihn an. Der Verurteilte, der fünfundvierzig Jahre alt gewesen sei, habe gezittert, gefleht, geweint, als ihm der Anstaltsleiter bekannt gemacht habe, dass der Vorsitzende des Staatsrats, Walter Ulbricht, sein Gnadengesuch abgelehnt habe, und die Vollstreckung des Todesurteils für den nächsten Morgen verkündete.

»Als er keine Tränen mehr hatte, saß er verbiestert da. Widerspenstig hat er unsere Frage nach letzten Wünschen abgewehrt. Das würde alles rauskommen, was gegen ihn konstruiert worden sei, hat er geschrien. Bis er zurück in die Zelle gebracht wurde zu seiner letzten Nacht«, sagte der Offizier in gewichtigem Tonfall. »Er döste dann irgendwann ein, zwischendurch schreckte er hoch, flüsterte und schrie einen Namen, offenbar eine Frau, an die er dachte, Li, Lilli oder so ähnlich. Da war etwas, was ihn bis zuletzt nicht losgelassen hat.«

Offizier Unterhagen hielt ein, als sei ihm plötzlich bewusst, ein Geheimnis ausgesprochen zu haben, das ihn selbst gefährdete und das er nie hatte verraten wollen. Er bremste seinen Rededrang, und kein Wort über die wahren Hintergründe dieses unseligen Todesfalls kam über seine Lippen. Nie, nie sollten die Verstrickungen aufgedeckt werden können.

»Na ja, dann gab es passende Aktenvermerke, der kam in die Urne, und jetzt wächst wortwörtlich Gras über die Sache«, gab er dröhnend zum Besten, und die Runde reagierte mir schallendem Gelächter auf dies Ablenkungsmanöver.

Offizier Unterhagen konnte nicht ahnen, dass das ordnungsgemäß gewachsene Gras Jahrzehnte später nach der Wende von 1989 verdorrte und die Grasnarbe über zwanzig Jahre danach aufbrach.

EINS

4. Mai 2010

Hauptkommissarin Karin Krafft blinzelte verschlafen in die Morgensonne und rieb sich die Nase. Bleierne Müdigkeit hielt ihren Körper zwischen dem warmen Bettzeug, ein leichter Windhauch bewegte die Gardine vor dem geöffneten Fenster und zeichnete zarte Muster an die gegenüberliegende Wand. Sie war in der Nacht ins Bett gefallen und augenblicklich in einen komatösen Schlaf gesunken. Seit Wochen zum ersten Mal. Die letzte Zeit hatte viel Kraft und Zeit gekostet, von jedem im Kommissariat 1 in Wesel schier Unmögliches gefordert, auch von ihr.

Etwas strich über ihren Arm, den sie flugs wieder unter die Decke zog, ein paar Minuten noch, ein Viertelstündchen. Es hatte Tage gegeben, an denen sie ein Nickerchen am Schreibtisch gehalten hatte, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet, wie ihre Großmutter es am Küchentisch getan hatte. Weitermachen, Lösungen finden, nicht glauben können oder wollen, worauf es hinauslief. Manchmal hatte Karin Krafft sich aus einer fremden Perspektive betrachtet, die Kommissarin mit den gerauften, ungewaschenen Haaren, die seit zwei Tagen dieselbe Bluse trug, dieselbe Jeans, die sich die Zähne provisorisch auf dem Frauenklo mit den Fingern putzte und kritisch im Spiegel die dunklen Ränder unter den Augen anstarrte. Die hagere Frau, die nur noch von Kaffee und belegten Brötchen lebte, die ihre Kollegen antrieb, aufmunterte, bis zur Erschöpfung forderte, sich das Schwinden der eigenen Kräfte nicht eingestehen wollte.

Jetzt zog es am Haar, erst vorsichtig, fast unmerklich, dann wurde Karin einen Deut wacher. Es ziepte unangenehm auf der Kopfhaut. Dieser Geruch, eine Mischung aus Milch, Honig und voller Windel, stieg ihr in die Nase. Lächelnd fand sie in die Welt zurück und blickte unvermittelt in das schelmische Gesicht ihrer kleinen Tochter. Lange Wimpern, ein verklebter, lächelnder Mund, keine zehn Zentimeter von ihr entfernt. Wann hatte sie diese Morgenstimmung zum letzten Mal erlebt?

»Guten Morgen, meine Süße. Na, hat der Papa dich geschickt, damit ich aufstehe?«

Maarten, ihr Lebensgefährte, linste durch den Türspalt, überließ ihr den Moment und fasste seine schulterlangen Haare zu einem Zopf zusammen. Er wollte sich leise zurückziehen, was seiner aufmerksamen kleinen Hannah nicht entging. Eilig wuselte sie sich aus dem großen Bett.

»Papaaaa!«

Karin hatte mit Erstaunen darauf reagiert, dass Hannahs erstes Wort keineswegs »Mama« gewesen war. Mama war eben unzuverlässig anwesend, seit sie wieder arbeitete und Papa den Hausmann gab. Es hatte an ihren mütterlichen Gefühlen gezwackt, dass Töchterchens zweites Wort »Mo« hieß, womit eindeutig ihr großer Bruder Moritz gemeint war. Irgendwann nach einem frustrierenden Arbeitstag hatte sie mit ihrem Kollegen Burmeester auf dem Kornmarkt in Wesel mehrere Bier über den Durst getrunken. Der damalige Fall gewann an fiesen, filigranen Details, proportional dazu erlahmte das Privatleben der beiden. Sie fürchtete den Verlust sozialer Kontakte, und Burmeester schreckte vor seinem Kühlschrank zurück, dessen Inhalt ihm wohl entgegengelaufen käme, wenn er den Mut aufbrächte, ihn zu öffnen. Schon ziemlich beschickert fiel ihnen die kleine Hannah ein und löste einen moralischen Absturz aus, der ihnen den Rest gab. Mit dem zehnten Absacker stießen sie an, Burmeester formulierte mit letzter Aufmerksamkeit einen Trinkspruch.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!