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Ein Krimi mit Witz, echten Charakteren – und einem Fall, der ans Herz geht. In Wesel wird eine ältere Dame tot aufgefunden – zehnmal wurde auf sie eingestochen, doch nur der letzte Stich war tödlich. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: Victor van Beversen, der deutlich jüngere Liebhaber der Frau. Der Verdacht gegen ihn erhärtet sich, als sich herausstellt, dass er ein gewiefter Heiratsschwindler ist. Doch wieso sollte er einer seiner Frauen, die er liebevoll seine »Hasen« nennt, etwas antun? Sie machen doch alles für ihn. Oder liegt gerade hier das Problem?
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Seitenzahl: 419
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Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist. Bekannt wurde er u. a. durch Niederrhein-Krimis zusammen mit Thomas Niermann und Renate Wirth.
Renate Wirth, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeutin, Künstlerin und Autorin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/age fotostock/Ralf Kistowski
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-920-4
Niederrhein Krimi
Originalausgabe
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»Hallo, schöne Frau, du gefällst mir,sende bitte schnell eine Freundschaftsanfrage …«Emoji: rote Rose, rotes Herz
An dem Tatort in der Nähe der Weseler Innenstadt war, wie sich herausstellen würde, nicht nur der Name der Straße außergewöhnlich. Gero von Aha stoppte den Wagen und wies auf das Schild.
»Eine ganze Leiche Am halben Mond. Damit kommt die Stadt in die Schlagzeilen.«
Kriminalhauptkommissarin Karin Krafft konterte. »Besser als in der nächsten Nebenstraße, das wäre der Tod beim Schneemann.«
Bei ihrer Ankunft war die kleine Straße bereits hoffnungslos mit Einsatzfahrzeugen zugeparkt. Kriminalhauptkommissar Gero von Aha parkte hinter der Sperre aus Trassierband. Beide wiesen sich aus, ein Kollege der Streife ließ sie passieren. Ein Pulk Neugieriger drängte nach, wurde zurückgehalten und spähte aus der Ferne zu dem Mehrfamilienhaus, vor dem zwei Uniformierte die Personalien von hartnäckigen Amateurfotografen aufnahmen.
Gero von Aha raunte: »Überall das Gleiche. Rücksichtsloses Gesindel.« Kurz nickte er zwei Lokaljournalisten und Fotografen zu, die von den Redaktionen am Großen Markt und in der Doelenstraße herbeigeeilt waren. Sie waren gut vernetzt und hatten auf die Information schnell reagiert, dass es hier einen aufsehenerregenden Vorfall gegeben hatte, über den die ganze Stadt sprechen würde. Karin Krafft und Gero von Aha kannten das Spiel, es machte sie nicht entspannter.
Sie mussten sich auf den Tatort konzentrieren und betraten das Haus. Schon unten im Treppenhaus wirkte es so, als sei jedes kleinste Detail lustvolle Dekoration, genau am richtigen Platz. Bilderrahmen mit kunstvoll drapierten getrockneten Blumen zierten die Wand, stilvolle Gebinde aus Kunstblumen ragten aus Gefäßen mit Delfter Motiven auf der Fensterbank. Ein »Herzlich willkommen« prallte ihnen von der gepflegten Fußmatte entgegen, die wirkte, als sei noch nie ein Schuhpaar an ihr abgestreift worden. Aus der geöffneten Wohnungstür, an der ein Blütenkranz mit rosa Schleife baumelte, strömte ein ungewöhnlich aromatischer Luftzug, völlig anders, als es das Duo vom Kommissariat 1 von anderen Tatorten gewohnt war. Köstlich und einladend.
»Riechst du das?« Karin Krafft atmete tief ein.
Ihr Kollege Gero von Aha schnupperte, setzte zu einer Antwort an, schüttelte den Kopf, während seine Chefin nickte.
»Frisch aufgebrühter Kaffee. Noch besser als deiner, Gero.«
Er war der heimliche Barista im Kommissariat 1. Für seinen italienischen Kaffee kamen Kollegen in die fünfte Etage und blieben manchmal länger, als zum Erörtern von Fragen oder Abholen von Asservaten nötig war.
»Noch besser?« Er rümpfte die Nase, bevor er ihr mit widerwilligem Unterton zustimmte. »Ich erkenne, was du meinst, aber das geht eigentlich nicht. Was hier in der Luft schwebt, das muss ich mir gleich in der Küche genauer ansehen … Apropos sehen, ist das da vorne wahr, oder träume ich?«
Auf der Fußmatte im Parterre des Hauses stoppte er Karin mit großer Geste und wies in die Wohnung vor ihnen. Geradeaus bot eine geöffnete Tür einen einladenden Anblick ungewöhnlicher Art.
Am Ende eines schmalen, blitzsauberen Flures gab eine offen stehende Tür in Eichenoptik mit Butzenscheiben den Blick in ein Esszimmer frei. Dort stand ein Tisch, den jemand mit viel Liebe und einem Händchen für stimmungsvolle Tischbilder für zwei Personen eingedeckt hatte. Was sich darauf befand, wirkte, im Gegensatz zu ihrem Auftrag, traumhaft.
Gero von Aha betrat mit ehrfürchtiger Vorsicht den Raum. Im Nebenraum links von ihm bemerkte er beiläufig den Kollegen Heierbeck in seinem weißen Schutzanzug, der unzählige Fotos von einem Objekt machte, das aus von Ahas Perspektive noch nicht sichtbar war.
Der Fachmann von der Spurensicherung rief ihnen entgegen: »Sie sind spät, ich habe schon mal angefangen und lasse alles, wie es ist. Nur noch ein paar Fotos.«
Es schien Gero von Aha nicht zu interessieren, ja erreichte ihn überhaupt nicht. Die Augen des Hauptkommissars blieben an dem Mittelpunkt des gedeckten Tisches hängen, der einer Zeitschrift entstammen könnte, die Geschmack und Idylle vermitteln wollte. Homestory in der »Landluft«. Immer auch mit sensationellen Rezepten. Ein opulentes, akkurat verziertes konditorisches Meisterwerk ruhte inmitten von edlem Porzellan und zarten Blumensträußchen auf einer erhöhten Kuchenplatte, bereit für puren Genuss. Das Auge isst mit.
»Das ist ja unglaublich. Weißt du, was das für ein Kuchen ist?«
Karin ging näher an den Tisch heran, nahm mit wissendem Blick die Einzelheiten auf. Das Geschirr war englisches Bone China mit Streublumenmuster und stand auf einer mit ebensolchen Blümchen bestickten Decke. Silberne Kuchengäbelchen lagen fein poliert auf Stoffservietten, zierliche Sektgläser, gefüllt mit rotem Sekt, standen neben den Gedecken. Dem Getränk war das lebhafte Perlen vergangen. Eine silberne Warmhaltekanne, Milchkännchen und Zuckerschale weilten auf einem Beistelltischchen neben dem halbrunden Sofa. In der Mitte des Tisches stand, unverschämt nach Beifall heischend, diese unglaublich appetitliche Torte, die augenblicklich Speichelfluss auslöste. Alles schien unberührt und auf ein festliches Miteinander zu warten. Karin schluckte, bevor sie mit belegter Stimme sagte: »Schwarzwälder Kirschtorte.«
Beide hingen sie mit ihren Oberkörpern über dem Tisch, die Gesichter nah an dem Meisterstück, ein Hauch Kirschwasser gelangte an ihre Geruchsnerven. Fruchtiger, sahniger Duft mischte sich hinein.
»Die ist aber nicht aus dem Tiefkühler vom Supermarkt.«
Karin hauchte die Antwort in den Raum: »Selbst gemacht.«
Gero von Aha wechselte die Perspektive, im Hintergrund war nur das leise Klicken der Kamera zu hören. Der Leiter der Spurensicherung fotografierte diesen eigenartigen, biederen Tatort aus allen möglichen Blickwinkeln.
»Meinst du wirklich, so etwas kann man selber machen? Nee, wenn Marlene Torte macht, dann wird das geschmacklich einwandfrei, aber die Optik lässt zu wünschen übrig. Das ist Individualität, sagt sie immer.«
Karin Krafft schien ihn nicht zu hören, ihre Augen hafteten an der Kaffeetafel. »Perfekt. Schau dir die Kirschen auf den Sahnehäubchen an, die sind total ebenmäßig. Die Tortenstückchen sind gleichmäßig geschnitten, kein Schokoblättchen vom Rand liegt daneben.«
Von Aha stand nun direkt neben ihr. »Ich könnt so …« Sein ausgestreckter Zeigefinger bewegte sich leicht zittrig, aber bestimmt in Richtung Torte, Karin besann sich augenblicklich ihres Auftrages.
»Untersteh dich, davon zu naschen, wir befinden uns schließlich an einem Tatort!«
»Man wird doch wohl mal –«
»Nein. Außerdem werde ich dieses Prachtstück fotografieren. So etwas habe ich nie zustande gebracht, meine Familie will zu diversen Gelegenheiten Waffeln haben. Mutter buk zu allen Anlässen Marmorkuchen, und bei Oma gab es Frankfurter Kranz, mit guter Butter. Gero, das hier ist die perfekteste Schwarzwälder Kirschtorte, die ich je gesehen habe. Und dann die Dekoration rundherum, links und rechts kleine Sträuße aus Frischblumen in den Farben des Porzellans, Hasenfiguren als Kerzenhalter, da, schau, selbst die Servietten sind mit passenden Blümchen bestickt.«
Von Aha blieb vor der Torte stehen, als wartete er auf einen günstigen Moment, um seinem Verlangen doch noch zu folgen. »Hasen gehören zu Ostern, das ist lange vorbei.«
Karin ereiferte sich in Anbetracht des Arrangements. »Das hier hat auch nichts mit Ostern zu tun, das sind Zierhasen.«
Sie blickte auf und fühlte sich mit einem Mal beobachtet. Unzählige Augenpaare schienen auf sie gerichtet zu sein, glotzten sie penetrant und unverschämt offen an. Erst jetzt fiel ihr das Völkchen von Porzellanpuppen und alten Stofftieren der Marke Steiff auf, die die Sofaecken und die hochstehende Lehne des altmodischen Sofas zierten. Nein, sie besetzten dieses brombeerfarbene Sitzmöbel geradezu.
»Schau mal auf das Sofa, wer hier Platz nimmt, hat ständig jemanden im Nacken sitzen.« Karin erschauerte.
Von Ahas Blick löste sich von der Torte, er betrachtete das leblose Panoptikum. »Hier alles geschmackvoll, und da wird es dann doch unsagbar kitschig.«
Heierbeck kam aus dem Nebenraum. »So, Sie können reingehen. Da erwartet Sie ein riesiger Kontrast zu dieser Puppenstube hier.«
Sein Blick blieb ebenfalls an der Tafel hängen. »Ist das eine Weltklasse-Torte, da auf dem Tisch! Man könnte schwach werden.«
Er legte seine Kamera an, knipste drauflos, als wollte er alles festhalten, das Tischbild, den Geruch, der in der Luft lag, den zu erwartenden Geschmack, den diese Sahnetorte versprach.
Während die Hauptkommissare ihre Schutzanzüge überstreiften, füllte sich der Raum mit einer massigen Figur, die sich, ähnlich wie sie es vor ein paar Minuten getan hatten, über den Tisch beugte. Eine sonore Stimme erschallte.
»Was ist denn das? Feinste Konditorware, das Kunstwerk eines Zuckerbäckers, so etwas sieht man selten heutzutage.«
Karin Krafft schaute auf, vielmehr hoch, denn der hünenhafte Staatsanwalt Aaron Nilsson hatte sich aufgerichtet und zeigte auf die Torte. »Gibt es denn in Wesel eine Konditorei, die einem so etwas ins Haus liefert?«
Karin musste lachen. »Nein, aber es gibt durchaus fähige Hände, die so etwas Perfektes herstellen können. Und die Bewohnerin dieser Wohnung hatte anscheinend ebensolche.«
»Die muss ja super schmecken.«
Der Staatsanwalt verwandte immer viel Sorgfalt darauf, die Tatorte bei Gewaltverbrechen selbst in Augenschein zu nehmen. Hier schaute er immer wieder auf den Tisch statt in den Nebenraum, in dem die Hauptkommissare nun verschwanden.
Krasse Gegensätze, hier Am halben Mond.
Der Nebenraum war das Schlafzimmer der Mieterin. Sie lag mit verrenkten Gliedmaßen und angstvoll geöffneten, leblosen Augen blutüberströmt neben dem französischen Bett, auf dem unzählige Kissen auf einer opulent mit Rosenblättern bestreuten Tagesdecke drapiert waren.
Heierbeck rief aus dem Wohnzimmer: »Das ist Beate Heuwels. Sie hatte offenbar andere Pläne für den heutigen Tag.«
Der Spurensicherer hatte sie mit Hilfe ihrer Ausweispapiere identifiziert. Er hatte diese in ihrer Handtasche gefunden, die im Flur auf dem Garderobentischchen stand. So akkurat wie alles in dieser Wohnung. Mit Ausnahme des Schlafzimmers, in dem sich Karin Krafft und Gero von Aha nun umschauten.
Nilsson beugte sich kurz zur Tür herein, kam einige Schritte näher, warf einen Blick auf die übel zugerichtete Tote. »Was für ein Blutbad. Was wissen wir über sie?«
Heierbeck, nebenan noch immer den gedeckten Tisch fixierend, antwortete für alle hörbar. »Das ist die Mieterin dieser Wohnung, zweiundsechzig Jahre alt, Frührentnerin, ehemals Lehrerin an einer Grundschule im Kreis Wesel.«
Nilsson ging wieder Richtung Wohnzimmer. »Was können Sie über die Todesursache sagen?«
»Mehrere Messerstiche in den Thorax, Reihenfolge und genaue Todesursache lassen sich aufgrund der Vielzahl der Stiche – wir haben zehn gezählt – erst feststellen, wenn sie auf dem Tisch liegt.«
Beide Männer schauten auf die Kuchentafel, Heierbeck beeilte sich, einen Nachsatz zu formulieren. »Auf dem Tisch der Gerichtsmedizin. Versteht sich. Dieser Gegensatz ist so krass, hier das Paradies, nebenan die Hölle.«
Nilsson reichte, was er gesehen hatte. »Ihr macht das schon.«
Der Staatsanwalt streifte sich die Schutzhüllen von den Schuhen und verabschiedete sich schnell, während Heierbeck in der Wohnung nach weiteren Spuren suchte.
Karin betrachtete das Opfer. Beate Heuwels lag neben ihrem Bett, auf dem außer den Kissen diverse größere Stofftiere mit großen Knopfaugen lagen. Auch das reglose Augenpaar der Toten starrte sie an, gläsern, ja tot, anklagend. Überall waren Blutspritzer, an den Wänden, auf der sonst makellosen Tagesdecke, am Schrank. Der Täter musste sein Opfer in die Enge getrieben haben.
»Der hat immer wieder zugestochen, wie von Sinnen, während sie rückwärtstaumelte, sich dort neben dem Bett nicht mehr halten konnte.«
Karin nahm Abstand, ging zurück zur Tür, betrachtete die Szene aus der Entfernung, aus der die Frau noch nicht zu sehen war, von wo die dunkelroten Streifen und Sprengsel jedoch Übles erahnen ließen. »Weißt du, was ich noch nicht einordnen kann?«
Von Aha schaute auf. »Nun ja, dies hier ist ein frischer Tatort mit einem Mordopfer, keine Hinweise auf den Täter, da gibt es einiges, das ich ebenso wenig einordnen kann wie du.«
»Komm einfach her, dann siehst du vielleicht, was ich meine.«
Von Aha stellte sich neben sie in den Türrahmen.
»Schau mal auf den Boden, hier im Schlafzimmer, und dann dreh dich um.«
Von Aha sah die letzten Blutspritzer am unteren Türrahmen, bis zu seinem Standort auch Spuren in dem altmodischen, einem Flokati ähnlichen, langflorigen Bettvorleger. Dann drehte er sich auf der Stelle, seine Augen blieben wieder auf dem Tisch haften, Karin stupste ihn unsanft an.
»Du sollst auf den Boden gucken.«
Wie abgeschnitten, eine Szene von der anderen getrennt. Keine Blutspur, kein Tropfen auf dem Boden des Esszimmers. Niemand hätte die Tote auf Anhieb entdeckt, schon gar nicht bei geschlossener Tür. »Da ist nichts.«
Heierbeck bestätigte die Beobachtung. »Nirgends ein Blutströpfchen. Als wäre der Täter hinausgeschwebt. Bei solch einer Tat muss man garantiert unter die Dusche und die Klamotten wechseln. Nichts, nicht einmal verwertbare Fußspuren, da sich auf diesem langhaarigen Teppichgefluse nichts eindeutig abgedrückt hat. Und im Übrigen war Frau Heuwels eine sehr gewissenhafte Hausfrau. Es gibt hier kaum Fingerabdrücke. Egal, wo ich suche, sie hat penibel geputzt.«
»Was ist mit Abwehrspuren, findet sich etwas unter ihren Fingernägeln?«, fragte Karin.
»Ich habe eine erste Probe genommen, garantieren kann ich es nicht. Schaut sie euch an, es ist, als habe sie ihre letzten Minuten mit ausgebreiteten Armen verbracht, und dieser Gesichtsausdruck, ungläubig, ängstlich wahrnehmend, was da mit ihr geschieht.«
Gero von Aha löste sich vom Tatort, nicht ohne sich den Schutzanzug abzustreifen. Er hielt ihn in der Hand, betrachtete den weißen Kunststoff einen Augenblick, reckte ihn in die Höhe. »Als habe der Täter sich gründlich vorbereitet. Vielleicht trug er auch Schutzkleidung.«
»Ja, vielleicht. Auf jeden Fall kannte sie ihn. Sie hat ihn erwartet, zu einer romantischen Kaffeestunde.«
Karin ging noch einmal zurück zu der Toten, rief nach Heierbeck. »Haben Sie die linke Hand fotografiert?«
»Ja, die ist mit dabei, bevor ich ihr eine Hülle übergestülpt habe. Wieso fragen Sie?«
»Es hat den Anschein, als habe man versucht, ihr den Ring vom linken Ringfinger abzustreifen, da schauen Sie, er klemmt aber noch auf dem unteren Fingerglied.«
Gero von Aha schaute zu ihr. »Also ein Raubmord?«
Er sah sich schnell um, nirgends die übliche Unordnung, keine Schranktür offen, nichts durchwühlt.
Karin sah seinen zweifelnden Blick. »Vielleicht fühlte der Täter sich plötzlich verunsichert und hat die Flucht ergriffen.«
Sie pellte sich ebenfalls aus dem Schutzanzug, fragte Heierbeck nach der Handtasche der Toten, ging in den Flur und schüttete den Inhalt auf die Ablage der Garderobe. Das Geräusch und das Durcheinander auf dem Brokatdeckchen schienen fremd in diesen Räumen. Karins Finger suchten flink.
»Alles ist da. Eine Geldbörse mit mehreren Fächern, vierhundertdreiundzwanzig Euro, die Bankkarte und, wie bei vielen Leuten im Seitenfach versteckt, ein Zettel mit einer vierstelligen Nummer. Ich könnte wetten, dass es die PIN für den Bankautomaten ist. Nein, das war kein Raubmord. Und auch kein Einbruch. Sie hat auf jemanden gewartet, hat ihn hereingelassen, und dann geschah etwas völlig Überraschendes, womit sie nicht gerechnet hat.«
Hauptkommissarin Karin Krafft schaute zu der liebevoll gedeckten Kaffeetafel. »Sie hat den Täter gekannt. Gut gekannt.«
Eine Unebenheit, ein fataler Fehler im Gesamtbild, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie näherte sich dem Tisch, beugte sich über die Torte. Eine breite Leerstelle vom Rand aus spitz zur Mitte zulaufend, quer durch ein Sahnehäubchen, auf dem nun die Kirsche fehlte, prangte einem Sakrileg gleich vor ihr. Sie schaute nicht einmal auf und schrie los. »Gero von Aha! Du hast es gewagt, du Schuft!«
Er kam näher, um zu sehen, was seine Vorgesetzte so erzürnte, erkannte den Fingerstreif durch das Meisterwerk, schüttelte den Kopf, hob abwehrend die Hände. »Ich war das nicht, ehrlich.«
Heierbeck verabschiedete sich von der Wohnungstür aus. »Sind Sie so weit, Kollegin Krafft? Kann ich den Bestatter durchlassen?«
Karin schaute auf, innerlich immer noch schnaubend. »Was? Jaja, der kann sie abholen.«
»Mein Bericht kommt so zügig wie möglich.«
Karin stieß von Aha an die Schulter. »Sag mal, war das da ein leichter Sahnestreifen im Mundwinkel von Heierbeck?«
Sie liefen zum Fenster zur Straße und spähten durch die ordentlichen Gardinenfalten. Heierbeck leckte sich die Lippen, verstaute seinen Koffer im Laderaum des Tatort-Fahrzeugs und stieg lächelnd ein.
Von Aha wies mit dem Kinn auf den routinierten Spurensicherer. »Aber erst mal den lieben, völlig unschuldigen Gero verdächtigen.«
»Ich nehme alles zurück.«
Sie drehten sich um, der Bestatter fragte gestenhaft, wo er hingehen solle, während seine Augen auf der Torte ruhten.
»Hinter Ihnen, Nebenraum.«
Der Bestatter grinste die beiden an, wies auf den kleinen, aber sichtbaren Makel im ansonsten perfekten Kuchen. »Da habt ihr euch nicht beherrschen können, na so was.«
Gero von Aha warf beim Hinausgehen einen eher oberflächlichen Blick in die Küche. Heierbeck hatte hier bereits Messer aller Art zum Abgleich und sonstige Spuren gesichert, es ging von Aha auch nicht vorrangig um Tod oder Tatwerkzeug. Er wollte wissen, was in dieser Küche aus den Neunzigern den Duft des Kaffees so aromatisch machte. In der Spüle fand er einen Gegenstad, der das Geheimnis preis gab. Ein Melitta-Filter aus Porzellan.
Auf dem Weg zum Auto klopfte seine Chefin ihm mitfühlend auf die Schulter.
Karin resümierte später im Kommissariat, wie lächerlich es gewirkt haben musste, dass sie und von Aha heftig mit dem Kopf schüttelnd vor der ordentlichen Gardine standen. Wie zwei beim Kirschenklauen erwischte Schulkinder, denen der rote Saft noch vom Kinn tropfte.
Dabei waren sie völlig unschuldig.
***
Karin Krafft fasste die bisherigen Erkenntnisse zusammen, um im Rahmen einer kleinen Lagebesprechung die restlichen Kollegen im K1 zu informieren. Mord Am halben Mond, eine durch zehn Messerstiche getötete ehemalige Grundschullehrerin. Eine Nachbarin aus dem Haus hatte an diesem Morgen verdächtige Geräusche aus der Wohnung gehört und die Polizei informiert.
Gero von Aha widmete sich seinem Smartphone, indem er Fotos vom Tatort auf seinen PC übertrug, um sie auf der Medienwand für alle zu präsentieren. Er lauschte beiläufig und konnte sich eines Kommentars nicht enthalten. »Frühpensioniert und ab jetzt im endgültigen Ruhestand.«
Kein Anhaltspunkt, nur der fürstlich gedeckte Tisch zu einer Uhrzeit, die auch am Niederrhein nicht unbedingt übliche Kaffeezeit war. Karin Krafft schilderte lebhaft die vorgefundene Atmosphäre, die Auffindesituation.
»Wir betraten eine vorbildlich gepflegte Wohnung, ausgestattet mit Plüsch und Rüschen, Stofftieren und Puppen. Das Opfer lag im allerletzten Winkel des Schlafzimmers, als habe sie sich und ihre Ordnung bis zuletzt vor der Katastrophe schützen wollen. Der Täter war umsichtig und hat es vermieden, eine Spur der Gewalttat aus diesem Raum heraus in die übrige saubere Wohnwelt zu tragen.«
Unruhe kam bei den drei Kollegen auf, die gebannt den Aufbau der Fotodokumentation auf der Medienwand verfolgten. Nikolas Burmeester war wie gewohnt in einem exotisch modischen Stil gekleidet, strich sein papageienbuntes T-Shirt glatt, schaute zur Wand, straffte seine Haltung und stützte die Hände mit durchgedrückten Ellenbogen auf die Knie. »Donnerwetter, das war ja ein Ding.«
Sein Kollege Jeremias Patalon, von allen Jerry genannt, konnte sich kaum beherrschen, grinste breit und deutete auf die Folge von Bildern. »Wer das wohl gewesen ist?«
Der grauhaarige, in gedeckten Farbtönen gekleidete Thomas Weber, Tom genannt, bot als strategischer Denker gleich eine mögliche Interpretation an. »Man müsste einen Abstrich zur DNA-Bestimmung machen. Hat aber garantiert gut geschmeckt.«
Erst jetzt unterbrach die Hauptkommissarin ihre Ausführungen und schaute selbst auf die Bilder, die sich hinter ihrem Rücken aufbauten. Sie musste laut lachen. »Gero, schau dich mal um und erkläre den anderen den Schwerpunkt deiner Fotoauswahl.«
Er blickte sich um und erstarrte. Bislang hatte er vier Bilder übertragen, den Eingang zur Wohnung, die Schwarzwälder Kirschtorte vor der schändlichen Attacke und aus zwei verschiedenen Perspektiven danach. »Kollegen, es war ganz anders …«
Karin verschränkte die Arme. »Das ist eine Sache der Interpretation, Gero, in Wirklichkeit haben wir in den ersten Minuten am Tatort das Opfer dem Kollegen Heierbeck überlassen und uns lippenleckend und fast sabbernd dieses perfekte Werk angeschaut. Jeder von uns beiden konnte sich nur schwer beherrschen. Die Spur der Verwüstung stammt aber nicht von uns. Da konnte ein anderer Kollege nicht widerstehen.«
Von Aha löschte die Tortenfotos bis auf eines, auf dem der gesamte Raum mit seiner opulenten Ausstattung zu sehen war.
Karin nickte zufrieden. »So, und jetzt wird es ernst. Gero, als Kontrast zu dieser Puppenstube jetzt bitte die Tatortfotos.«
Die Bilder bauten sich schnell auf. Das Schlafzimmer, die geordnete Reihe von Kissen und Stofftieren auf dem Bett, die Blutspritzer am weißen Schleiflackkleiderschrank, auf dem Boden, an den Wänden, die Tote zwischen Wand und Bett, ungelenk gestürzt, verrenkte Gliedmaßen, der Gesichtsausdruck ein Schrei, ein Arm oberhalb des Kopfes mit gespreizten Fingern, als habe sie den Angriff abgewehrt. Trotz des hohen Blutverlustes war das Trachtenkleid in gedeckten Farben mit dem Blumenmuster ähnlich dem der Tischdecke erkennbar, die weit aufgerissenen Augen, an den Fingern drei schwere goldene Ringe, einer davon halbherzig auf den Knöchel gezogen. Auch um den Hals und an den Ohren war goldener Schmuck unter all dem Blut erkennbar.
Tom Weber äußerte sich als Erster. »Das war ein schreckliches, maßloses Blutbad. Sieht nach Übertötung aus, wie viele Messerstiche?«
»Bislang wurden zehn Einstiche festgestellt, Details folgen aus der Gerichtsmedizin.«
»Und im direkt angrenzenden Wohnzimmer deutete nichts auf die Tat hin? Nicht ein Schuhabdruck? Wie kann es sein, dass jemand so impulsiv zusticht und anschließend darauf achtet, keine Spur auf dem Boden zu hinterlassen?«
Burmeester lehnte sich zurück. »Entweder handelt es sich um eine hochgradig brutale, abgebrühte Tat, oder derjenige hat aus einem Schockzustand heraus gehandelt, in dem das Ratio ausgeblendet wird und die Emotionen in den Vordergrund gestellt werden. Fühlen statt denken. Dir geht alles Mögliche und Unmögliche durch den Sinn, du achtest auf die Fliege am Fenster und erschlägst sie, weil sie dich angeschaut hat. Raubmord ausgeschlossen, oder?«
Karin wirkte skeptisch. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wurde der Täter gestört, ein Telefonanruf, Stimmen im Hausflur, was weiß ich. Dieser halb abgezogene Ring … Gero, vergrößere ihn mal.«
Von Aha zoomte auf die linke Hand der Toten. Zu erkennen war der eindeutige Versuch, den breiten Ring vom Finger zu ziehen. »Hier hat jemand versucht, etwas Gold mitzunehmen.«
Jerry Patalon stand auf und ging zur Medienwand, deutete wortlos auf die anderen Schmuckstücke der Toten. »Wenn es ums Gold gegangen wäre, dann hätte er es mit den anderen Stücken einfacher gehabt. Ein Armband, die Ohrringe, alles ist vorhanden. Ich glaube, dass dieses Schmuckstück eine andere Bedeutung hat. Das wird sich die Spurensicherung genauer anschauen. Vielleicht gibt es ja eine Gravur in dem Ring.«
Karin nickte. »Du bekräftigst meine Theorie, dass es sich nicht um einen Raubmord handelt. Das Opfer hat Besuch erwartet und jemanden in die Wohnung gelassen, den sie kannte. Gut kannte, denn der Tisch war warmherzig für zwei gedeckt. Nichts deutet darauf hin, dass sie in das Schlafzimmer gezerrt wurde.«
Tom winkte ab. »Na ja, man kann sie auch bedroht haben, und sie ist unter Zwang in den Raum gegangen.«
»Aber warum wurde sie nicht sofort in der Diele attackiert? Warum hat dieser Ortswechsel in den anderen Raum stattgefunden? Irgendwas stimmt noch nicht an unseren Theorien.«
Schweigend betrachtete das Team die Fotos. Burmeester meldete sich in diese Nachdenklichkeit hinein. »Eine Tat, durchgeführt von jemandem, den das Opfer kannte. Den sie vielleicht zu dieser Kaffeetafel erwartete. Das hört sich nachvollziehbar an. Sie hat den Sekt schon eingeschenkt, den Kaffee noch nicht. Beate Heuwels wollte mit einer Person anstoßen, die sie eingeladen hat. Es ist nicht zufällig ihr Geburtstag oder so?«
Karin blickte auf, suchte und fand das Foto des Personalausweises, das sie gemacht hatte, bevor Heierbeck ihn mit der Tasche zusammen eingetütet hatte. »Burmeester, du bist genial. Heute ist der zweiundzwanzigste Juni, sie hatte gestern Geburtstag. Das ist eine Kaffeetafel für zwei anlässlich ihres Ehrentages.«
Tom Weber, in seiner ruhigen, bedachten Art, stand auf und deutete auf das Foto mit dem herangezoomten Ring. »Und das war das Geschenk. Wetten?«
Gero von Aha schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Boah, seid ihr jetzt alle in diese Puppenhausszene eingestiegen, oder was? Eine Beziehungstat anlässlich der Feier ihres Geburtstages. Der Täter schenkt ihr einen Ring und will ihn nach dem Mord mitnehmen. Mann, das klingt nach Groschenroman.«
Er stand auf und deutete auf das Bild mit der Kaffeetafel. »So ein Ring als Geschenk wäre doch eingepackt. Seht ihr irgendwo Papier, eine Schleife oder eine Schachtel? So einen Klunker trägt man nicht einfach in der Hosentasche mit sich herum. Da, Schatz, für dich, nimm. Nein, nein, das war ein Raubüberfall, die Frau hat auf jemanden gewartet, richtig. Sie ist jedoch gleich an der Tür vom Täter überwältigt worden, war vielleicht so erschrocken, dass sie sich ins Schlafzimmer geflüchtet hat, da sie sich dort sicher fühlte. Stand da nicht ein Telefon auf dem Nachtschrank?«
Er schaute zu einem anderen Foto. »Da, genau, seht ihr die Ladestation mit dem Telefon? Vielleicht wollte sie von dort die Polizei anrufen und hat es nur nicht rechtzeitig geschafft. Ganz klar, schnelle Tat, unerwartete Störung, noch im letzten Moment daran gedacht, keine großen Spuren zu hinterlassen, und ab durch die Mitte.«
Tom Weber nickte anerkennend. »Sehr gut, Kollege, auch diese Theorie leuchtet ein.«
Jerry Patalon wirkte nachdenklich. »Wenn der Täter gestört wurde, wieso besaß er die Chuzpe, sich ohne Beute, aber auch ohne weitere Spuren aus der Wohnung zu entfernen? Das würde auf ziemlich kaltblütiges Verhalten hinweisen. Ist jemand, der so ein Blutbad anrichtet, aber wirklich zu so einer Denkweise in der Lage?«
Karin wandte ein, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht wüssten, ob etwas anderes aus der Wohnung gestohlen wurde.
Burmeester stimmte ihr zu. »Warten wir doch einfach ab, was die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin uns sagen. Karin, fährst du gleich zu ihnen nach Duisburg?«
»Ja, um fünfzehn Uhr ist die erste Begutachtung, ich fahre mit Aaron. Ihr kümmert euch um das Übliche. Burmeester, du sprichst mit der Frau, die die Polizei gerufen hat. Weitere Nachbarschaftsbefragung, Auswertung von Kommunikationstechnik, Bankverbindung, Angehörige. Müssen wir jemanden informieren?«
Sie wusste genau, dass sie nicht ins Detail gehen musste. Jeder in diesem Team wusste genau, was zu tun war. Ein starkes Team, das K1. Sie seufzte mit einem letzten Blick auf die Medienwand.
Es war schade um diese prachtvolle Schwarzwälder Kirschtorte, die angesichts der herrschenden sommerlichen Temperaturen in der verlassenen Wohnung vor sich hingammelte, ein Meisterwerk, das die Fliegen, die sich über die menschlichen Flüssigkeiten im Nebenzimmer hermachten, bald entdecken würden.
Am Vormittag war Staatsanwalt Aaron Nilsson mit einem lockeren »Ihr macht das schon« vom Tatort verschwunden, nun saß er hinter dem Steuer seines Wagens, und Karin Krafft auf der Beifahrerseite wunderte sich über seine aufgeräumte, ja nahezu fröhliche Stimmung. Schließlich waren sie auf dem Weg zur Gerichtsmedizin nach Duisburg, kein Anlass für blühende Laune.
Im Radio sang Udo Lindenberg: »Ey, willkommen mittendrin …«, und Nilsson klopfte den Takt auf das Lenkrad. Wie ungewöhnlich. Die Hauptkommissarin konnte ihre Neugierde nicht länger als bis zur größten Ampelkreuzung an der Zitadelle in Wesel verbergen. »So gut gelaunt heute? Was ist los?«
Er neigte sich kurz zu ihr, als säße noch jemand im Fond des Volvos, der seine Worte nicht hören sollte, und raunte ihr zu: »Tolle Nacht gehabt. Mit Aussicht auf mehr. Das bleibt unter uns, okay? Ich will nicht zum Stadtgespräch werden.«
Karin lachte. So war das also. Der isländische Riese hatte sich verliebt. »Klar, von mir erfährt niemand etwas. Ich freu mich für dich. Deshalb also warst du so schnell verschwunden. Wenn ich in so einer Stimmung aufgewacht wäre, hätte ich sie mir auch nicht durch eine unappetitliche Leiche verderben lassen.«
Eine Weile glitten sie über die B 8 in Richtung Dinslaken und ließen Udo auf sich wirken. In Höhe von Voerde regelte Nilsson die Lautstärke hinunter. »Wie lange bist du mit deinem Mann zusammen?«
Karin brauchte nicht nachzudenken. »Seit sechzehn Jahren.«
»Ob ich das jemals schaffen werde?« Plötzlich wirkte er nachdenklich.
»Aber mein ganzes Leben lang allein zu bleiben, wie das Opfer von heute, das kann ich mir auch nicht vorstellen. Ich habe nur noch nicht die Richtige gefunden.«
Karin fühlte sich mit einem Mal ausgeliefert. Ob jetzt seine Lebensgeschichte mit Einblick in Philosophie und Wünschen für die Zukunft folgte? Viele Kilometer lang bis zur Duisburger Innenstadt, auf dieser Autobahn, deren Randbewuchs einem Dschungel glich und nur wegen des Fahrtwinds nicht an den Autos entlangstreifte? Was für eine Aussicht.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, lachte er auf. »Keine Sorge, das wird jetzt kein Gejammer. Ich habe vorher lange mit ihr gechattet.«
»Chatten? Du bewegst dich auf Partnerinnensuche im Internet?«
»Jein. Nicht immer. Es macht Spaß, wenn man bestimmte Regeln einhält. Und mein Date gestern war ziemlich real und wird wiederholt.«
»Das kann aber auch anders laufen, oder?«
Nilsson holte aus. »Ich habe die Reportage von einem Mann gelesen, der plötzlich von einer selbst ernannten Schwester von Gaddafi angechattet wurde. Angeblich befand sie sich unerkannt mit begrenzten Möglichkeiten der Kommunikation in einem Flüchtlingscamp. Er fühlte sich sicher, glaubte, für alle Gefahren gewappnet zu sein, und wollte sich einfach auf den Flirt einlassen. Ihm war rational klar, dass dies eine Finte war und nicht stimmen konnte, er wollte aber sein Verhältnis zu einer schönen Frau wie in den Geschichten aus ›Tausendundeiner Nacht‹ eine Weile aufrechterhalten und genießen.«
»Jaja, die Märchen von Scheherazade, von Aladin und der Wunderlampe …«
»Genau, zwei Monate fühlte sich dieser gebildete Mann sehr prächtig, dann brauchte sie Bitcoins zur Behandlung ihres Kindes. Er war hin- und hergerissen, tätigte eine Transaktion und verabschiedete sich von ihr und dem Chatten. Es blieb ihm dieses Gefühl, zwei Monate lang der Freund einer wunderschönen Frau gewesen zu sein.«
»Krass, und dann?«
»Dann hat er diese Reportage geschrieben, ohne Scham, ohne Skrupel, ich fand das gut.« Er lachte herzhaft. »Aber keine Sorge, meine Herzensdame ist real und hat keinerlei Ambitionen, mich finanziell auszunehmen. Und ich habe sie leibhaftig erlebt.«
Mit Blick auf Karin fügte er hinzu: »Sie weiß, wo ich arbeite.«
In Duisburg empfing sie ein neuer Mitarbeiter der Rechtsmedizin, Herr Dr. Justus Pape, ein sehr korrekter junger Mann, der die Anwesenheit der beiden sofort in seinen Bericht einfügte, nicht ohne zu bemängeln, dass niemand von der zuständigen Mordkommission bei der Obduktion anwesend war. Das müsse sich zukünftig ändern.
Der traute sich was, aber schließlich war er ein begehrter Fachmann und wollte Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts und zuständig für den Kreis Wesel, Duisburg und Krefeld werden. Ein Mann, der Ziele hatte.
»Und nun zum Opfer, die Daten sind Ihnen ja bekannt.«
In epischer Breite und mit Unterstützung eines großen Bildschirmes berichtete er von den Einstichen in den Thorax, sprach über Schnittbreiten und -tiefen.
»Es handelt sich um sechs eher oberflächliche Einstiche, die nicht lebensgefährlich waren, zwei Stiche, die nur die Haut verletzten, und zwei mit großer Wucht durchgeführte Stiche, wovon einer in die Lunge eindrang, der andere das Herz letal durchbohrt hat. Ich gehe davon aus, dass die Attacke mit einer Art einschneidigem Küchenmesser verübt wurde, der Tiefe nach mit einer Klinge, die ungefähr zehn Zentimeter lang ist, sich zum Griff hin auf vier Zentimeter verbreitert. Bei dem Stich, der am tiefsten in das Gewebe eindrang, habe ich an den Hauträndern Holzpartikel gesichert, vermutlich vom Messergriff. Die Frau war ansonsten in gutem gesundheitlichen Zustand, für ihr Alter topfit.«
Mit verschränkten Armen umrundete er den Metalltisch, auf dem die Tote lag, deren Unterleib bis zum Bauchnabel mit einem grünen Laken bedeckt war. Pape hob bedeutungsvoll den linken Zeigefinger, während er mit der rechten Hand das Laken fasste. »Eher ungewöhnlich für ihr Alter ist, dass sie ein Brazilian Waxing hatte.« Er lupfte das Laken.
Der Staatsanwalt stutzte: »Ein was?«
»Ihr Schambereich ist erst vor Kurzem völlig enthaart worden, dies geschieht mit Warmwachs oder Zuckermasse, die Haare werden mit einem Ruck samt den Wurzeln herausgezogen, so dauert es eine Zeit lang, bis sie wieder nachwachsen.«
»Aua!« Karin Kraffts Mimik zog sich schmerzverzerrt zusammen, sie verschränkte die Oberschenkel.
»Ja, das ist bestimmt sehr schmerzhaft. Während meiner Ausbildung habe ich zwei Obduktionen von Frauen beigewohnt, die als Sexarbeiterinnen ihr Geld verdienten. In dem Milieu ist das wohl Standard, für Frauen im Alter des Opfers eher ungewöhnlich.«
Er bedeckte den Körper wieder bis zum Bauchnabel und betrachtete das Gesicht.
»Sie hat es eigentlich nicht nötig gehabt, aber schauen Sie, die Augenbrauen sind fein nachtätowiert, sie hat sich bestimmt die Lippenfältchen wegspritzen lassen, und sehen Sie die farbige Linie um den Mund? Die Konturen der Lippen sind ebenfalls korrigiert.«
Dr. Justus Pape hielt für einen Moment inne. »Wenn Sie mich fragen, sie wollte schön sein für jemanden.«
Erstaunt über die Tatsache, stimmte die Hauptkommissarin ihm zu. »Wir sind ja erst am Beginn der Ermittlungen, bestimmt werden wir Hinweise auf einen Partner oder Freund finden.«
Der junge Mediziner schaute Karin erbost an. »Ihre Sichtweise entspringt völlig verkrusteten klassischen Denkmustern. Sie macht sich schön für ihn. Mann und Frau. Suchen Sie doch einfach ohne Vorurteile in ihrem Umfeld nach einer Person, die ihr nahestand.«
Karin nahm die Rüge zu ihrer vorschnell geäußerten Annahme mit Gelassenheit, dachte jedoch gleichzeitig über die Bedeutung von Papes Äußerung nach. »Wem trauen Sie diese Messerstiche zu?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wer kann diese Stiche ausgeführt haben? Eine muskulöse, kräftig gebaute, große Person oder eher eine kleinere, schwächere?« Neutral formuliert. Sie gratulierte sich innerlich und bemerkte bei einem Seitenblick, dass die Mundwinkel von Aaron Nilsson sich bei diesem kleinen verbalen Scharmützel leicht nach oben schoben.
Auf dem großen Monitor rief Pape jeden einzelnen Stich auf und stellte die Bilder nebeneinander. »Schauen Sie, unterschiedliche Höhen und Einstichwinkel, verschiedene Tiefen. Ich werde noch einmal alle Variablen vergleichen und die Deutung überprüfen. Das Opfer muss zunächst gestanden haben und ist dann wohl gefallen, die letzten Stiche trafen sie im Liegen. Ein Stich war anders, brachial, übermenschlich. Da verfügte die ausführende Person über eine ganz andere Wucht. Entweder hat sich jemand in einer Art Blutrausch von Stich zu Stich gesteigert, sich immer sicherer gefühlt, oder alle Stiche wurden mit Kalkül und Vorsatz durchgeführt. Versuchen Sie beim nächsten Bratenstück, das in Ihren Bräter soll, einmal, es mit einem Messer zu durchstechen. Sie werden merken, wie schwer das ist. Und sie hätte ohne diesen Stich überleben können.«
»Was sagen Sie da?«
Mit Blick auf den Monitor legte Pape eine kunstvolle, die Spannung steigernde Pause ein. Der Mediziner, ein riesiger Staatsanwalt und die ungeduldige Hauptkommissarin starrten auf den Bildschirm.
Karin reagierte letztlich ungeduldig. »Bitte lassen Sie uns an Ihren Überlegungen teilhaben.«
»Ja doch, die Fakten sind eindeutig, ich habe mir Gedanken zum Hergang gemacht, aber die sind rein hypothetisch, daher zögere ich noch.«
»Die eine Hälfte unserer Arbeit beginnt mit dem Sortieren von Vermutungen und Hypothesen, die andere besteht aus der Sammlung von Fakten. Sie befinden sich in bester Gesellschaft.«
Es kostete ihn Überwindung, man sah Pape an, dass er lieber noch geschwiegen hätte. Dann deutete er auf die Bilder. »Von den anderen neun Stichen hebt dieser sich ab. Er ist mit besonderer Wucht ausgeführt worden, das Messer ist an einer Rippe vorbeigeglitten, hat die rechte Herzkammer durchstoßen, es war kein Schrei, keine Reaktion mehr möglich, der Tod trat umgehend ein. Selbst wenn das Opfer schon am Boden lag, könnte man meinen …«
Karin Krafft atmete tief durch und deutete auf das Bild. »Jetzt mal frei von der Leber, man könnte meinen, dass es ein kräftiger Mann gewesen ist, richtig? Keine Sorge, wir sind unter uns, Sie dürfen sich in unserem Beisein ruhig eindeutig geschlechtlich orientiert äußern.«
Pape drehte sich zu ihr um, mit einem Gesichtsausdruck, der besagte, diese arme Frau habe nichts verstanden, und setzte zu klärenden Worten an. »Es war eine kräftige Person, die diesen Stich gesetzt hat.«
Aaron Nilsson fasste zusammen. »Der letzte Stich war nicht nur besonders heftig, sondern auch tödlich.«
Justus Pape straffte seine Haltung, er fühlte sich verstanden. »Sie haben es erfasst. Den Blutverlust der anderen Wunden hätte sie überlebt, wäre vielleicht sogar selbstständig in der Lage gewesen, Hilfe zu holen. Und dann traf sie dieser präzise gesetzte Stich, und innerhalb von Sekunden war alles vorbei.«
Der Rechtsmediziner sagte zu, den Bericht am nächsten Morgen zu senden, es folgte eine sachliche Verabschiedung.
Auf dem Weg zum Parkplatz erkundigte sich Karin Krafft, was denn aus der netten Medizinerin geworden sei, die den letzten Fall bearbeitet hatte.
Aaron Nilsson seufzte. »Ach, die. Momentan ist sie in Australien, nutzt die Zeit, um die Welt zu sehen, sagt sie. Sie wollte mich überzeugen, mit ihr zu reisen. Aber das bin ich nicht. Alles stehen und liegen zu lassen, um neue Horizonte zu finden. Ich bin damit zufrieden, ein Zuhause gefunden zu haben.«
Dabei lächelte er in sich hinein. Karin Krafft war das ganz recht. Dieser Staatsanwalt war gut, ihr Team vom K1 und Nilsson, das passte. Umso besser, dass er am Niederrhein angekommen war. Sie würde mit ihm die Spur aufnehmen. Sie würden klären, was es mit dem einen, dem einzigartigen Messerstich auf sich hatte.
***
Am halben Mond war die Befragung der Nachbarn zeitaufwendig, nicht alle waren daheim, einige von diesen jedoch, laut denjenigen, die man antraf, zur Tatzeit in der Nähe gewesen. Tom Weber und Jerry Patalon arbeiteten sich die kurze, enge Straße hinauf, einer links, der andere rechts, und teilten sich die Klingelschilder in den großen Mehrfamilienhäusern gegenüber.
Im Haus selbst betrat Nikolas Burmeester zunächst die Wohnung des Opfers, in der ein Kollege von der Spurensicherung die letzten Proben nahm. Die Opulenz der Dekoration überwältigte auch ihn, für einen Moment musste er im Türrahmen zum Wohn-Essraum verharren und alles auf sich wirken lassen.
Erste Fliegen zerstörten gerade das perfekte Bild der Schwarzwälder Kirschtorte, er fühlte sich nicht gemüßigt, näher zu treten, außerdem saßen da eine Menge Wesen mit Porzellanaugen im Hintergrund und bewachten den Tisch. Vielleicht waren die beiden Gedecke deshalb nebeneinander vor dem Sofa platziert, dachte er, da hatte man beim Essen diese Puppen und Tiere im Nacken.
Der Fachmann für die Spurensicherung hielt einen Beutel hoch, er habe ein Smartphone gefunden, die Auswertung erfolge zeitnah. Burmeester nahm es in die Hand, drückte auf die seitliche Taste, es sprang an.
»Ich nehme es mit, ihr habt genug mit dem Rechner und der restlichen Auswertung zu tun. Mal schauen, welche Kontakte und Nachrichten wir entdecken.«
»Soll ich zum Versiegeln auf Sie warten?«
Burmeester fiel ein, dass er kein entsprechendes Material bei sich hatte, und nickte. »Ich beeile mich.«
Er betrat das Schlafzimmer. Er konnte nachvollziehen, was seine Chefin mit ihrer Schilderung ausgedrückt hatte. Wie abgeschnitten waren die Blutspuren, an der Tür begann das Fiasko. Er hob den ersten flusigen Teppich an und, siehe da, entdeckte darunter einen blutigen Teilabdruck eines Schuhs. Dieser Teppich war also bewegt worden, um exakt diese Spur zu verdecken.
Er rief den Kollegen von der Haustür zurück. »Haben Sie den Abdruck schon gesichert?«
Klare Antwort: »Nein, das ist ja interessant, mache ich sofort. Das ist nicht viel, da der Untergrund ein hochfloriger Teppichboden ist, aber immerhin.«
Burmeester warf einen Blick zwischen Wand und Bett, dort hatte sie also gelegen. Da es keine Schleifspuren gab, hatte sie sich vor der Attacke in die äußerste Ecke verkrochen. Er murmelte seine Vermutung: »Keine Flüchterin. Eine, die sich bei Gefahr verkriecht.«
Der Kollege fotografierte und vermaß den Abdruck. »Wie meinen Sie das?«
»Na, es gibt doch charakteristische Ausprägungen. Die einen suchen instinktiv den Ausweg und rennen fluchtartig weg, die anderen suchen Schutz in Ecken, Räumen, unter dem Tisch. Sie gehörte offenbar zu Letzteren.«
»Und was ist, wenn der Täter sie hier hineingedrängt hat, etwas ganz anderes von ihr wollte? Vielleicht sollte sie hier ihre versteckten Wertsachen aus dem Schrank holen, wo Damen in ihrem Alter schon mal die Geldbündel unter der Wäsche verstecken. Ihre These ist gewagt, Herr Kollege. Es gibt immer eine zweite.«
Burmeester schüttelte den Kopf. »Schauen Sie sich um. Die ganze Wohnung ist bestückt mit stellvertretenden Bewachern und Beschützern, bis hin zu der Sammlung von Engelfiguren auf dem Regalbrett über dem Bett. Der Schrank ist geschlossen, über alle Schranktüren hinweg sind Blutspuren zu finden. Gleich hier vorne wurde sie angegriffen, ist immer weiter ausgewichen, bis in diese Ecke, hier brach sie zusammen.«
Der Fachmann für Spuren schaute sich um und musste zugeben, dass Burmeesters Theorie stimmen konnte. Die Spuren auf dem weißen Schleiflack wiesen den Weg.
Gemeinsam verließen sie die Wohnung, und während der Kollege die Tür versiegelte, ging Burmeester eine Etage höher. Dort sah es im Hausflur nüchtern und eher unaufgeräumt aus. Eine Einkaufskarre stand neben der Tür, daneben eine abgenutzte Matte mit ausgetretenen Männerschuhen darauf. Auf der Fensterbank mickerten die für Hausflure üblichen Pflanzen vor sich hin, ausgewachsene Weihnachtssterne, Grünlilien mit fleckigen Blättern. Auf dem Klingelschild stand »Franziska und Johannes Mertens«.
Eine Frau um die sechzig öffnete die Tür mit erschrockenem Gesichtsausdruck. Burmeester wies sich aus, sie schien beruhigt.
»Ich habe ein paar Fragen, darf ich reinkommen?«
Wortlos trat sie aus dem Weg. Was für ein Unterschied. Hier sah es nicht nach gedeckter Kaffeetafel und Ordnung aus, hier lag der Geruch des Lebens in der Luft, eine Mischung aus Gemüsesuppe, frisch gewaschener Wäsche und Zigarettenrauch.
»Sie sind Frau Mertens?«
»Ja.«
»Waren Sie den ganzen Morgen über daheim?«
»Aber ja, ich habe doch die Polizei angerufen, weil ich so komische Geräusche da unten gehört habe.«
Sie setzte sich auf ihr Sofa und griff nach einer Dose mit Papierhülsen, wollte sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette stopfen.
»Erzählen Sie, was Sie bemerkt haben. Da unten war es ungewöhnlich laut?«
»Ja. Das haben wir noch nie gehört. Es war, als wenn jemand gegen Schranktüren schlägt, so dumpf, ganz unheimlich. Zwei oder vielleicht drei Mal hörte ich Frau Heuwels ganz laut ›Nein‹ sagen, ›Nein, nicht.‹ Oder so. Wissen Sie, das Haus ist eigentlich nicht so hellhörig, und wenn, dann krieg ich mehr von oben mit. Wir sind hier schon seit über fünfzehn Jahren Mieter, bisher habe ich nicht viel von unten gehört. Sie ist ja eine ganz Ordentliche, eine Stille.«
Sie hielt inne und entzündete ihre Selbstgestopfte. »Wie schrecklich, ich muss ja sagen, sie war …«
Die Tür zum Schlafzimmer ging auf, ein Mann schlurfte heraus.
»Johannes, bist du doch aufgewacht. Das ist ein Mann von der Kriminalpolizei, der will wissen, was wir gehört haben.«
»Was?«
Sie wurde lauter. »Du hast wieder deine Hörgeräte vergessen!«
Er ging zurück, man hörte ihn schlurfen und kramen, sie beugte sich vor.
»Wissen Sie, mein Mann ist um einiges älter als ich, der hat so viele Baustellen, eine davon ist seine Schwerhörigkeit, die er lange ignoriert hat. Und die neuen Hörgeräte sind so klein, da muss er erst seine Brille finden, damit er sie nicht übersieht.«
Er würde ihn dennoch befragen, ob er die Beobachtungen seiner Frau bestätigen konnte. Johannes Mertens rief von nebenan: »Weißt du, wo die sind? Ich kann sie nicht finden.«
Sie legte mit einer entschuldigenden Geste ihre Zigarette in einem halb gefüllten Aschenbecher ab und stand auf. »Immer verlegst du alles, und ich soll es dann finden.«
»Was?«
»Da liegen sie doch, in dem Kästchen auf der Fensterbank.«
Sie kam zurück und setzte sich wieder, ihr Mann hockte sich derweil mit einiger Mühe in einen Fernsehsessel, der in Esstischnähe, jedoch mit Blickrichtung Fernseher stand.
»Willst du dich nicht zu uns setzen?«
»Warum? Du hast doch alles im Griff. Ich habe ja hier nichts zu sagen.«
Sie schüttelte den Kopf, nahm einen langen Zug und stieß dann die Zigarette routiniert aus, pustete den Rauch seitlich in den Raum und schaute Burmeester an. »Ich regele hier alles, aber wenn mein Mann seine Ersatzteile immer nutzen würde, dann kriegte er auch mit, was hier geschieht.«
Mertens rührte sich nicht, der Sessel schien ihn zu verschlucken.
Burmeester wandte sich an die Frau. »Was können Sie mir denn noch über Frau Heuwels erzählen?«
Sie schaute ihn entgeistert an. »Wie, was ich Ihnen erzählen kann?«
»Na, lebte sie sehr zurückgezogen, oder bekam sie viel Besuch? Wissen Sie etwas über ihre Freunde und Bekannten?«
Sie gab sich empört, nein, sie sei nicht neugierig und könne nichts dazu sagen.
»Ach, Frau Mertens, seit fünfzehn Jahren leben Sie gemeinsam unter einem Dach und kriegen nichts von Ihrer Nachbarin mit? Das kann ich nicht glauben.«
Der Fernsehsessel, in dem Johannes Mertens verschwunden war, drehte sich langsam um. »Da haben Sie völlig recht. Meine Frau kriegt alles mit, was sich hier abspielt. Sie weiß, wer immer die Einfahrt zuparkt und wann die Nachbarn im Haus gegenüber wieder Krach haben. Sie kann die Schritte unserer Nachbarin und ihrer Besucher in der Dachwohnung unterscheiden und kennt die Lieblingsmusik der Kästners, die auf gleicher Etage im Nebenhaus leben. Nur zu der Heuwels wird Sie Ihnen nichts erzählen können. Das war eine ganz Disziplinierte, da durfte kein Stäubchen im Hausflur liegen, und wehe, wenn es im Herbst draußen matschig wurde. Dann hat sie unten die Fliesen mit Putzlappen ausgelegt. Alles geschah immer still und meist wortlos, aber ihre Aktionen flößten Respekt ein, sie war eben eine Lehrerin vom alten Schlag. Wer nicht reagierte, bekam schlechte Noten.«
Burmeester staunte über die Beredsamkeit von Johannes Mertens und unterbrach ihn nur ungern. »Das müssen Sie mir erklären.«
»Sie schrieb kleine Zettel und heftete sie auf die Treppe, und wenn sie wusste, wer mit Drecksfüßen durch ihren heiligen Flur gelatscht war, dann fand man die Nachricht auch an der eigenen Türklinke. Die hat hier für Ordnung gesorgt, aber was bei ihr los war, das kann auch meine Frau nicht sagen. Die war so aufgeregt heute Morgen, wegen den komischen Geräuschen unten. Dass etwas nicht stimmte, das konnte selbst ich mit meinen Geräten hören. Da war eine Art Poltern, wirklich unheimlich, das habe ich sogar auf der Toilette gehört. Und als ich fertig war, haben wir gemeinsam mit dem Ohr am Türblatt gehangen, plötzlich war Stille. Dann ist die Ziska runtergegangen und hat geklopft und geklingelt, und als sich nichts tat, kam sie wieder rauf und wollte erst nicht die Polizei anrufen. Das macht man nicht einfach so, sagte sie. Dann habe ich gedrängt: ›Los, ruf an, da ist was passiert.‹«
»Woran haben Sie denn gedacht?«
Er überlegte kurz. »Sie wissen ja schon, dass ich schlecht höre, aber ich hatte den Eindruck, da bricht jemand zusammen, vielleicht mit einem Schlaganfall oder so. Und da kann man nicht stundenlang warten.«
Er schaute seine Frau liebevoll an. »Und dann passiert so was in unserem Haus. Die Ziska ist jetzt noch ganz schockiert.«
Franziska Mertens stopfte sich eine weitere Zigarette und nickte. »Eine ganz Ordentliche war sie. Ja. Wer weiß, wer als Nächstes unten einziehen wird. Bestimmt wieder so eine Jungsche wie die oben. Die hatte eine Zeit lang andauernd andere Männer zu Besuch, da war was los auf der Treppe.«
»Ja, aber ganz ohne Besuch ging es bei der Lehrerin auch nicht«, warf Johannes Mertens ein. »Du hast doch mal einen Mann gesehen, der klammheimlich aus ihrer Wohnung kam.«
»Stimmt, den hatte ich schon vergessen, das ist ja auch schon lange her.«
Burmeester lauschte dem Dialog ohne Zwischenfragen.
»Ja, Anfang Februar war das, nach dem großen Schneefall, da hatte sie unten den Flur wieder ausgelegt.«
»Genau, und ich kam aus dem Keller, da schlich er gerade nach draußen.«
»Du hast erzählt, er habe die Tür leise zugezogen, als wolle er nicht, dass jemand ihn hört, und er habe ganz erschrocken gewirkt und dich im nächsten Moment einfach angelächelt. Dann ist er rausgegangen.«
»Ein gut gekleideter, richtig fescher Mann war das, ich konnte gar nicht glauben, dass der die strenge Lehrerin besucht hat.«
Johannes Mertens grinste plötzlich breit. »Du hast gestaunt, weil der so gut aussah. Und dann haben wir gefrotzelt. Der war wie der Mann aus der Bierwerbung, der sich im Mantel entspannt in die Düne fallen lässt, hast du gesagt. Kein Stress, keine Termine, kein anderes Bier. Und für den würdest du mich glatt sitzenlassen.«
Sie stieß eine dicke Rauchwolke aus. »Stimmt, und ich habe gesagt, du solltest froh sein, dem Kerl aus der Cola-Werbung wäre ich glatt nackt in den Schnee gefolgt.«
Beide schienen für einen Moment den ernsten Hintergrund vergessen zu haben. Burmeester nahm den Faden wieder auf. »Ein Mann, der auffällt. Können Sie ihn näher beschreiben?«
Sie schüttelte den Kopf und stieß die Kippe in den Aschenbecher.
»Ich habe den doch nur eine Sekunde lang gesehen. Eine teure wattierte Jacke hatte er an, das weiß ich noch genau, weil ich die von hinten betrachtet habe, aber beschreiben kann ich ihn nicht, dazu hat der kurze Moment nicht gereicht. Aber diese Art von schickem Mann … Wenn so einer wie mein Hannes da unten aus der Tür gekommen wäre, dann hätte ich nicht weiter drüber nachgedacht. Aber so ein Schicker, der was aus sich macht, da guckst du als Frau doch hin.«
»Wie würden Sie das beschreiben, was Sie gesehen haben?«
Sie überlegte und schüttelte dabei leicht den Kopf. »Na, groß eben, und schick gekleidet.«
»Wie alt?«
»Unser Alter. Ihres nicht, Sie sind ja um einiges jünger.«
»Können Sie die Frisur beschreiben, das Gesicht?«
»Nein, ich habe ihn ja nur kurz von der Seite gesehen, ein Lächeln, nur von hinten habe ich ihn mir angeschaut. Schick gekleidet, die Schuhe glänzten, das hat mich beeindruckt. Ich dachte noch, so teure Schuhe bei dem Matsch auf den Straßen, der muss es ja haben. Hier gibt es in der ganzen Wohnung keine Schuhe aus glänzendem Leder.«
Johannes Mertens stöhnte. »Frauen! Wo ihr hinguckt, das ist mir immer schon ein Rätsel gewesen.«
Burmeester kramte eine Karte aus seiner Hosentasche hervor und legte sie auf den Tisch.
»Frau Mertens, Sie kommen bitte morgen ins Kommissariat, unser Zeichner wird mal versuchen, ob sich Ihre Erinnerung bildlich zu Papier bringen lässt, denn jedes Detail ist von Bedeutung. Und vielleicht fällt Ihnen in den nächsten Stunden noch mehr ein. Alles ist wichtig, was Sie gesehen, gehört, gerochen haben …«
»Ja, da war was!« Sie sprang auf, gestikulierte lebhaft. »Jetzt, wo Sie es sagen. Der Mann trug ein besonderes Herrenparfüm. Das lag auch sonst manchmal in der Luft, da muss er auch im Haus gewesen sein. Das würde ich wiedererkennen.«
Mit Blick auf ihren Gatten fügte sie hinzu, er würde ja immer nur nach dem Weichspüler riechen, den sie für die Wäsche nutzt. Johannes Mertens blieb unbeeindruckt.
Burmeester verabschiedete sich und setzte im Hausflur an, eine Etage höher zu steigen.
Frau Mertens hielt ihn auf. »Das können Sie vergessen, die ist tagsüber nie da.«
Burmeester verdrehte die Augen, wendete sich jedoch mit einem freundlichen Lächeln um. Wer wusste, was diese Frau noch alles abgespeichert hatte, nur jetzt noch nicht abrufen konnte. Man musste sie sich warmhalten.
»Das ist nett, dass Sie mich vorm Treppensteigen bewahren wollen, aber ich schiebe der Nachbarin, wie heißt sie eigentlich …?«
»Schlemmer, Dora Schlemmer.«
»… also ich schiebe Frau Schlemmer eine Karte unter die Tür, damit sie sich bei uns meldet.«
»Ach so.«
Franziska Mertens blieb so lange im Türrahmen stehen, bis Burmeester die Haustür hinter sich schloss. Er musste daran denken, wie er jahrelang im Haus der Mutter von Hauptkommissarin Karin Krafft gewohnt hatte und dort manchmal fürsorglich belagert wurde. Bei der Mertens hätte er sich wahrscheinlich verfolgt gefühlt. Um zu bemerken, dass das Schuhwerk glänzt, musste man schon sehr genau hinsehen.