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Das Kult-Kommissariat vom Niederrhein ermittelt zwischen Vorgartenparadies und Spielhölle. Lebemann Thorwald Timmermann liegt erschossen und mit Farbe überschüttet auf der Kiesfläche seines grauen Vorgartens. Stecken militante Umweltschützer dahinter, die seit Wochen gegen die Tristesse der niederrheinischen Steingärten demonstrieren? Das Weseler K1 ermittelt auf Hochtouren, während Gero von Aha eine ganz andere Fährte verfolgt: Undercover begibt er sich in die illegale Glücksspiel-Szene, in der der Tote aktiv war – und ist ihr sogleich verfallen. Kann er den Mord aufklären, bevor er selbst zum Opfer wird?
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Seitenzahl: 438
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Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist. Bekannt wurde er unter anderem durch Niederrhein-Krimis zusammen mit Thomas Niermann und Renate Wirth.
Renate Wirth, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeutin, Künstlerin und Autorin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Thorsten Spoerlein
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-134-8
Niederrhein Krimi
Originalausgabe
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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Niemand spricht gefahrlos, wenn er nichtim richtigen Moment schweigt.
Thomas von Kempen
Donnerstag, der 14. September, sieben Uhr zehn, Weseler Straße, Fahrtrichtung Wesel zwischen Unterbirten und Ginderich
Diese Idylle! Das ist ja ungeheuerlich, wie schön ein Weg zu einem Tatort sein kann, dachte Karin Krafft, während sie unterhalb der Höchstgeschwindigkeit von hundert Kilometern pro Stunde über die Landstraße fuhr, ungeachtet der Schlange, die sich hinter ihrem Wagen bildete. Auf der rechten Seite nisteten Störche auf abgebrochenen Pappelstämmen, die alten suchten in der Niederung nach Futter, hinter den Bäumen ging malerisch die Sonne in einem lichten Streifen wabernden Nebels auf. Auf den Weiden lagen frische Kälber neben ihren Müttern und wurden liebevoll abgeschleckt.
Vorbei an Ginderich, dem kleinen Dorf hinter dem Deich, befand sie sich nun mit siebzig Kilometern pro Stunde in der zum Gebotsschild passenden Geschwindigkeit. Linker Hand kam der Storchenhorst vom Schwanenhof in Sicht. Die Vogelkinder, gut erkennbar an Schnäbeln und Langbeinen, denen noch das typische Rot fehlte, lugten auch hier über den groben Rand.
»Bald müsst ihr fliegen«, murmelte Karin mit einem Hauch Wehmut, während genau vor ihr ein Greifvogel mit einer Maus in den Krallen am Straßenrand aufstieg und knapp die Frontscheibe verfehlte.
»Gerade gut gegangen.«
Burmeester hatte Karin frühzeitig aus dem Bett geklingelt. »Einsatz, Karin, ein Toter in Dinslaken, die Leitstelle hat mich, wie immer, knapp vor Ende der Bereitschaft informiert. Ich bin gleich vor Ort.«
»Einsätze vor dem Aufstehen sollten untersagt werden«, hatte ihr Mann geflüstert, »immer klauen sie uns die letzte halbe Kuschelstunde, deine Toten.«
Ihr Telefon klingelte erneut beharrlich, die Hauptkommissarin drückte auf ihrem Lenkrad das kleine Hörersymbol, Jerry Patalon meldete sich.
»Burmeester hat die ersten Einzelheiten eingestellt und meinte, ich soll dich schon mal auf dem Weg informieren. Es gibt einen Hausbesitzer in einem sehr ordentlichen Stadtteil Dinslakens, dem Bruch, der an den Wohnungswald grenzt. Das ist das Viertel mit den Straßen, die nach Frauen benannt sind.«
Karin musste lächeln und nahm aus dem Lautsprecher wahr, dass es Jerry ähnlich ging. Seit Jahren zog eine Geschichte durch die Polizeibehörde, die sich bei der Aufnahme von Personalien abgespielt hatte.
Der Wachtmeister: »Wo wohnen Sie?«
Der Befragte: »Auffe Berta, aber nächsten Ersten umme Ecke auffe Almut.«
Der Wachtmeister, sichtlich irritiert: »Wie bitte?«
Der Befragte: »Na, auffe Bertastraße.«
Karin fragte Jerry, wo der Tatort sei, konzentrierte sich auf die Straße, bemerkte, wie er schmunzelte.
»Auffe Agnes.«
Beide prusteten los.
»Agnesstraße 58, der Hausbesitzer liegt malerisch in seinem Vorgarten, einer dieser furchterregenden Schottergärten, in die sich kein Grün verirrt, meinte Burmeester. Heierbeck und er haben ihn noch nicht bewegt, da gibt es einen Umstand, den du selber sehen sollst.«
Karin bemerkte erleichtert, dass die B 8 hinter dem Ortsende Wesel und weit vor dem Restaurant Lippeschlößchen ihre alte Fahrspur zurückerhalten hatte und nur noch die Umleitung über die Frankfurter Straße für ein verstärktes Verkehrsaufkommen sorgte. »Ja dann bin ich mal gespannt. Gibt es noch Infos zur Person?«
Jerry berichtete, dass der Mann Thorwald Timmermann hieß, ein Geschäftsmann aus dem Ort.
»Die mögliche Todesursache scheint laut erster Sichtung ein gewaltiger Schlag auf den Hinterkopf zu sein. Das Tatwerkzeug, ein etwa faustgroßer Stein, wurde bereits sichergestellt.«
»Gut, danke. Du hast jetzt Feierabend, richtig? Von Aha müsste ja gleich eintrudeln.«
»Genau.«
Das klang erleichtert.
»Ich warte noch eben auf Gero und mache eine kurze Übergabe.« Ohne Pause revidierte er seine Äußerung. »Ach, nein, ich bleibe hier, uns fehlt sonst einer, solange Tom noch im Urlaub ist, und die ersten Stunden sind immer wichtig.«
Karin Krafft lächelte, sie hatte ein gutes Team. Tom Weber hatte bei einem der letzten Einsätze eine sehr kompetente, attraktive Kollegin aus dem LKA Düsseldorf kennengelernt und schien seitdem wie ausgewechselt, er summte sogar manchmal, wenn er an seinem PC saß. Gero von Aha, der gleich die Stallwache übernehmen würde, fiel immer wieder durch eigenwillige Ermittlungsmethoden auf, war aber dennoch ein geschätzter Kollege.
Die Agnesstraße wirkte gefegt, unkrautfrei, und Karin konnte sich vorstellen, wie hier in ein paar Wochen die Laubbläser um die Wette jaulen würden. Das Aufgebot an Polizeibeamten, die Fahrzeuge, das Trassierband, der von den Rettungskräften der Feuerwehr aufgefaltete Sichtschutz, alles schien hier falsch, passte nicht in das geordnete Bild, gehörte in eine andere, verdorbene Welt. Hier rangelten keine Gaffer mit gezückten Handys um die beste Sicht, hier lauerten die Neugierigen verdeckt im Hintergrund, hinter den Fenstern statt hinter dem rot-weißen Absperrband. Karin bemerkte Schemen hinter lichten Gardinen.
Burmeester kam ihr entgegengelaufen. »Gut, dass du da bist, ich habe bislang dafür gesorgt, dass die Anzahl derer begrenzt ist, die den Toten sehen konnten.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Seine Frau, Farina Timmermann, die wollte zum Walken.«
Wie dieses Kölner Parfüm, ging es Karin durch den Kopf, wer nennt denn seine Tochter nach einem traditionellen Duft? Sie liefen an dem Vorgarten vorbei durch die Einfahrt, der Zugang durch den Sichtschutz war an der Frontseite des Hauses.
»Wie lange liegt er schon dort?«
»Zwischen sieben und acht Stunden.«
»Das war ja dann um Mitternacht. Hat Farina ihn nicht im Haus vermisst?«
Burmeester zuckte mit den Schultern. »Sie war bislang nicht ansprechbar. Ich kann nicht so gut mit weinenden Frauen, das ist dein Part.«
Die Hauptkommissarin schaute auf die Plane. Vor ihr eine Fläche mit Kies, nichts als Steine. Es waren Muster gelegt mit unterschiedlich großen Kiesbrocken, die kleinen vergleichbar mit Hühnereiern, die großen, die sie nun überqueren sollte, wie Fußbälle, verformt, weil Luft entwichen war. »Verdammt, wer denkt sich, dass so etwas schön ist? Komme ich vom Bürgersteig aus einfacher an ihn ran?«
»Nein, vorne ist dieser Vorgarten gleichermaßen schlecht begehbar. Das Tatwerkzeug zu finden war keine Kunst, also ich gehe von einer Tötung im Affekt aus.«
Karin starrte auf die Steine. »Was ist so Besonderes an der Leiche, dass ich hier durch dieses Steinfeld muss?«
Burmeester wies auf den Toten unter der Plane, neben ihm stand Heierbeck, winkte sie her und rief ihr zu, sie solle einfach vorsichtig rüberbalancieren. »Sie werden gleich erkennen, warum wir ihn vor neugierigen Blicken schützen.«
Burmeester seufzte kurz, stellte sich neben seine Chefin und bot ihr galant eine Hand, gemeinsam stolperten sie hinüber zu der großen Plane, unter deren vorderem Teil sich ein Körper abzeichnete. Heierbeck und sein Kollege lupften die vorderen Ecken. Darunter lag der Tote auf dem Bauch, den Kopf mit den weit geöffneten Augen zur Seite geneigt, eine Blutlache um seinen zertrümmerten Schädel färbte die eiergroßen Kiesel.
Etwas anderes fiel unweigerlich ins Auge. Der untere Teil des Schädels, der halbe Rücken, die Oberschenkel, ein Teil der Unterschenkel waren mit weißer Farbe überschüttet, dies musste mit Wucht geschehen sein, die Farbe bedeckte gleichermaßen eine große Steinfläche. Sie schien bereits gefestigt zu sein.
Irritiert schaute Karin Krafft zu dem Spurensicherer auf. »Was ist das?«
Sie stockte einen Moment, dachte nach, während Heierbeck antwortete.
»Ich tippe auf hochwertige Acrylfarbe, bei unserer Ankunft bereits angetrocknet.«
»Ja, jetzt verstehe ich die Abdeckung. Burmeester, diese Farbe wird doch von einer bis dato noch unbekannten Gruppe von Aktivisten immer wieder in steinreichen Vorgärten verteilt, richtig?«
Der Angesprochene setzte zu einem Statement an. »Genau, es gibt seit knapp einem Jahr wöchentlich neue Anzeigen, alle Polizeireviere quer durch die Region sind damit beschäftigt. Das ist viel Schreibarbeit wegen Sachbeschädigung, ein Ermittlungserfolg ist nicht in Sicht. Niemand weiß, wer dahintersteckt. Zwar gibt es keine Bekennerschreiben oder sonstige Hinweise zu den Attacken auf Schottergärten im gesamten Kreis, jeder weiß jedoch, warum das als stiller Protest geschieht. Bodenversiegelung, Naturvernichtung, Aufheizen von Stadtflächen, alles spricht gegen diese lieblose Schotterung, doch so viele folgen dem Trend, der in Einzelfällen bereits vor ein, zwei Jahrzehnten begann. Den Aktivisten schlägt nicht nur Feindseligkeit, sondern auch eine gewisse Sympathie entgegen. Die Betroffenen fluchen, die Naturschützer recken anerkennend die Daumen in die Höhe, der NABU distanziert sich offiziell von diesen Aktionen. Klammheimliche Sympathie bleibt dennoch nicht verborgen.«
»Stopp mal eben«, unterbrach Karin ihn. »Kollege Heierbeck, was sagen Sie zu dem Ablauf hier? Stehen die Tötung und das Überschütten mit Farbe in direktem Zusammenhang? Und lässt sich die Farbe mit den vorherigen für die, wie soll ich es nennen, Geröllschändung verwendeten vergleichen?«
»Alles, was ich zu diesem Zeitpunkt gesichert sagen kann, ist, dass zunächst das Blut floss und danach die Farbe.«
Er wies auf einen Behälter der Spurensicherung, der zwei Meter von dem Toten entfernt in der Steinwüste stand. »Da lag das einzige Beweisstück, das wir der Tat bislang zuordnen können.«
Die Hauptkommissarin wartete auf eine nähere Erläuterung, die blieb jedoch aus. Sie schaute auf die Steinhaufen, die sie zu überqueren hätte, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen über das, was sich gut abgeschirmt dort befand, und resignierte. »Och nee, ich balanciere jetzt nicht dorthin. Verraten Sie mir, was Sie sichergestellt haben.«
Heierbeck blickte auf, dann auf Karins Füße, zierliche Schuhe mit glatter Sohle, zwar modisch und hübsch, aber nicht für Gänge durchs Gelände zu gebrauchen. »Ich sehe schon, Sie waren nicht auf den Ausflug ins Gebirge gefasst.« Er wies zur Seite. »In dem Behälter befindet sich der Eimer, aus dem die Farbe gegossen wurde.«
Karin vermutete einen Lichtblick. »Dann müsste sich ja anhand des Barcodes ermitteln lassen, wo die Farbe gekauft worden ist?«
Heierbeck schüttelte den Kopf. »Wenn dieser Eimer überhaupt eine Kennzeichnung hat, dann ist sie momentan von der Farbe bedeckt. Es handelt sich nicht um den Originaleimer, man hat die Farbe umgefüllt. Hier geht es unter Umständen um Fingerabdrücke, und vielleicht lässt sich aus der Farbzusammensetzung zumindest der Hersteller ermitteln. Alles ist offen, Frau Krafft. Und den zeitlichen Abstand zwischen Eintritt des Todes und Überschüttung mit dem Zeugs kann ich auch noch nicht genau bestimmen, da werden wir wohl experimentieren müssen. Möchten Sie das Opfer noch einmal sehen, oder kann ich ihn abholen lassen?«
»Nein, nein, er kann zur Forensik. Ich balanciere hier wieder heraus und werde nachhorchen, was die Gattin des Toten sagt. Der Todeszeitpunkt liegt irgendwo um Mitternacht herum, da muss sie ihn doch im Haus vermisst haben, oder? Und lassen Sie die Plane auf den Steinen, es wird besser sein, wenn wir einen gewissen Vorsprung vor dem Teil der Öffentlichkeit haben, der sofort mit dem Finger auf die unbekannten Aktivisten weist. Wenn die Gruppe für das hier verantwortlich ist, dann finden wir das heraus.«
Farina Timmermann öffnete die Tür, nahm den Ausweis der Hauptkommissarin entgegen, vergewisserte sich, dass die abgebildete Person die war, der sie in die Augen sah, reichte die Kunststoffkarte zurück. Mit einer Geste bat sie Karin Krafft einzutreten, nicht ohne den Blick gezielt in die Umgebung schweifen zu lassen.
Farina, dachte Karin, das war der Vorgänger von 4711. Wie gut, dass die Eltern dieser Frau sie nicht Tosca genannt haben. Schnell kehrte sie gedanklich zum Tagesgeschehen zurück und betrachtete ihr Gegenüber. Offenbar hatte sie ihr Sportzeug abgelegt.
Die chic gekleidete Frau linste halb verdeckt aus der Diele heraus zur Straße. »Furchtbar, alle glotzen zu mir herüber. Ich habe das Telefon abgestellt, andauernd ruft jemand an und fragt, was hier los sei. Da, sehen Sie, die Radfahrerin steigt sogar ab, um herzustarren. Neugieriges Gesindel.«
War das eine blutfrische schockierte trauernde Witwe?, ging es Karin durch den Kopf angesichts der durchgestylten Frau, die sogar an das passende Parfüm zu ihrem teuren, dezent bunten Outfit gedacht hatte, leicht blumig mit einem Hauch Vanille. Wie sollte sie ihr neutral begegnen?
Spontan streckte Karin die Hand aus. Farina Timmermann wirkte irritiert, ergriff sie zart, um die Berührung schnell wieder zu lösen. Ein Frauchenhändedruck, dachte Karin. »Mein Mitgefühl, Frau Timmermann.«
»Danke. Daran muss ich mich wohl erst mal gewöhnen. Ach, gehen Sie durch und nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Frisch gemahlene Bohnen aus Mexiko.«
Die glatte Platte des Esstisches wirkte ungefähr so einladend wie ein Spiegel, auf dem man keine Fingerabdrücke hinterlassen durfte, alles in diesem Haus schien nahezu staubfrei. Die Hauptkommissarin hockte sich auf die Kante eines Stuhles mit Rollen, beherrschte sich, diese nicht zu nutzen, straffte ihren Rücken, die Füße auf die Steinfliesen gepresst. »Für mich bitte nicht. Setzen Sie sich einen Augenblick zu mir.«
Farina Timmermann folgte wie ein braves Mädchen und schaute Karin aus perfekt geschminkten Augen mit unschuldigem, fast kindlichem Blick an. In Karins Kopf surrte es. Was präsentierte ihr die Frau hier in diesem Haus, das die Gemütlichkeit eines Möbelkatalogs ausstrahlte?
»Frau Timmermann, wann haben Sie Ihren Gatten zuletzt gesehen?«
Pause.
»Ich weiß nicht genau. Wir haben uns eine Pizza kommen lassen, das war so gegen neunzehn Uhr. Dann ist er unten verschwunden. Er blieb die ganze Zeit in seinem Arbeitszimmer. Manchmal kann er sich nicht lösen.«
»Das beantwortet meine Frage nicht.«
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist er noch einmal ins Wohnzimmer gegangen, weil er sich ein Bier geholt hat. Ich bin gegen zweiundzwanzig Uhr raufgegangen und habe oben ein wenig ferngesehen.«
»Und dann?«
Die Witwe betrachtete ihre perfekten Fingernägel, lang und rot, künstlich und ungeeignet, sich auch nur die Kopfhaut zu kratzen, bevor sie mit leiser Stimme weitersprach. »Ich bin dann wohl eingeschlafen.«
»Während der Fernseher weiterlief?«
»Das Gerät stellt sich nach einer Stunde automatisch aus, das ist ganz praktisch.«
Karin dachte darüber nach, wie oft sie aufwachte, weil Maarten später ins Bett kroch, dass es immer zumindest einen kurzen Körperkontakt gab, einen Kuss, ein Streicheln. »Haben Sie Ihren Mann nicht vermisst?«
»Er schläft manchmal unten, das ist normal, wenn er viel arbeitet.«
»Was machte Ihr Mann beruflich?«
Farina Timmermann spielte mit der Halskette, ließ die weißen Perlen durch die Finger gleiten. Die Frau wie ein Model aus der Modezeitschrift trug bereits den Schmuck der Trauer, weiße Zuchtperlen, bemerkte Karin, während sie immer noch, von ihrem Gespür geleitet, herauszufinden versuchte, was sie hier irritierte. Sie legte ihre Unterarme auf der Tischplatte ab, bemerkte sofort den kleinen strafenden Blick der Witwe, die innehielt, ihre Perlen zu befühlen. Nein, Karin ließ die Arme auf dem kühlen Untergrund liegen.
»Mein Mann war freier Unternehmer.«
Karin wartete einen Moment auf weitere Erläuterungen. Die blieben aus. Sie würde dieser Frau alle Einzelheiten nacheinander entlocken müssen. »Womit war er aktuell beschäftigt?«
»Das weiß ich nicht.«
Schluss, Karin verbarg ihre aufkeimende Ungeduld, indem sie die Finger faltete und tief durchatmete. »Frau Timmermann, um zu begreifen, was da draußen geschehen ist, muss ich mir ein Bild von Ihrem Mann machen. Dazu brauche ich präzise Angaben. Ich werde jetzt die Kollegen hereinholen, die sehen sich das Arbeitszimmer Ihres Gatten genauer an und werden sich auch im weiteren Haus umsehen.«
Das schien ihr nicht zu gefallen. »Warum das denn? Der liegt da draußen, nicht hier drinnen.«
»Wollen Sie nicht auch wissen, was passiert ist?«
»Jaja, aber das hat doch nichts mit mir und meinem Sohn zu tun.«
»Sie haben einen Sohn?«
»Ja, Felix.«
»Wo ist der?«
»Na, ich hoffe doch, in der Schule. Er hat bei einem Freund übernachtet, die wollten gemeinsam irgendeine Serie auf Netflix gucken.«
»Wie alt ist er?«
»Siebzehn, nächsten Monat achtzehn.«
Wenn Karins Tochter Hannah sie während der Schulzeit fragen würde, ob sie von Mittwoch auf Donnerstag zum Fernsehen bei einer Freundin übernachten könnte, würde sie mit elterlichem Widerstand rechnen müssen. »Haben Sie ihn schon informiert?«
Die Timmermann schaute ohne Veränderung ihrer Mimik zum Fenster hinaus auf eine künstlich wirkende Rasenfläche, hinter der sich ein Zaun aus steingefüllten Gabionen auftat. »Er ging nicht ans Handy. Da habe ich ihm geschrieben. ›Komm nach Hause, es ist was mit Papa.‹«
Sie nahm ihr Smartphone zur Hand und rief eine App auf, reichte das Gerät an Karin weiter. Mit einem Blick war der Hauptkommissarin klar, wer hier mit wem schrieb. Es gab nur Nachrichten von der Mutter, keine Antworten von Felix.
Das schien die Timmermann nicht zu stören. »Sehen Sie? Er hat sich die Nachricht noch nicht durchgelesen, es gibt keine Lesebestätigung. In der Schule sind die Smartphones tabu, in der großen Pause um zehn Uhr wird er es einschalten.«
Karin musterte Farina Timmermann ungewollt streng.
»Meinen Sie, es ist so günstig für einen jungen Menschen von siebzehn Jahren, ihn so lange im Ungewissen zu lassen? Außerdem wird sich bis in die Schule verbreitet haben, dass hier vor Ihrem Haus etwas Schlimmes passiert ist. Wollen Sie wirklich, dass er die Nachricht vom Tod seines Vaters über dubiose Kanäle erhält statt von Ihnen?«
Zum ersten Mal gab es eine Regung in dem perfekt geschminkten Gesicht, die Augenwinkel der Frau füllten sich mit Tränen, die sie mühselig zu unterdrücken versuchte, sie legte den Kopf in den Nacken, stand auf, zupfte ein Papiertuch aus einer Box, die auf der glatt polierten Anrichte stand, tupfte vorsichtig, lehnte sich an das niedrige Möbelstück, gestikulierte erst wortlos, schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß doch nicht, was ich ihm sagen soll, ich kann das nicht.«
Karin Kraffts Unterarme und Hände hatten sichtbare Spuren auf der Tischplatte hinterlassen, zur Krönung stützte sie sich mit beiden Handflächen auf, während sie sich erhob, bemerkte den kritischen Blick der Hausherrin, ignorierte den stummen Vorwurf. »Wir beide werden noch einmal miteinander sprechen, ich führe Ihre Zurückhaltung auf die schockierende Tatsache zurück, den Gatten leblos im Vorgarten gefunden zu haben.«
»Was passiert jetzt mit ihm?«
»Ein Bestatter bringt ihn gerade zur Gerichtsmedizin nach Duisburg, dort wird sich das Fachpersonal mit der Frage der Todesursache beschäftigen.«
»Wann kann ich die Beisetzung planen?«
Sie steht entweder unter Schock oder ist einfach cool, dachte Karin. »Sie werden informiert, sobald sie in Duisburg fertig sind, das kann ein paar Tage dauern.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Es ist gleich zehn Uhr. Wo geht Ihr Sohn zur Schule?«
»In die Gesamtschule in der Stadt.«
»Kommen Sie, wir fahren gemeinsam hin und sprechen mit ihm. Er hat ein Recht auf eine ordentliche Information, finden Sie nicht?«
Die Frau löste sich von der Anrichte, blieb mit hängenden Armen stehen. Karin baute sich vor ihr auf, sie waren fast gleich groß, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Frau Timmermann, ich habe bereits die Notfallseelsorge informiert, es wird nachher jemand für Sie da sein. Aber jetzt müssen wir los und Felix davor bewahren, dass ihn die Todesnachricht auf anderen Wegen erreicht.«
Tumultartige Geräusche forderten Karins Aufmerksamkeit, laute Stimmen, Geschrei aus dem Bereich des Vorgartens drangen zu ihr. Sie ließ Frau Timmermann stehen und ging zur Eingangstür.
Draußen hielten Burmeester und Heierbeck gemeinsam einen Jugendlichen fest, der mit aller Kraft versuchte, sich aus deren Armen zu befreien. »Lasst mich los, so eine Scheiße! Loslassen! Ich will ihn sehen!«
Zwei Angestellte des inzwischen eingetroffenen Bestatters blieben in der Einfahrt stehen, über die sie die Bahre mit dem Totensack rollten.
Karin übertönte alle. »Lasst ihn los, sofort!«
Sie ging zu dem Jungen, der ihr stolpernd entgegenfiel. »Ich bin Hauptkommissarin Krafft. Du bist Felix, richtig?«
»Ja, ich will ihn sehen, geht das? Ich muss doch sehen, ob das stimmt, was die alle reden.«
»Traust du dir das zu? Er sieht nicht mehr aus wie immer, er hat im Blut gelegen.«
Der Junge nickte heftig. Karin wies die beiden Bestatter an, den Reißverschluss des dunkelgrauen Sacks zu öffnen.
Wenige Sekunden später lag der Junge schluchzend in ihrem Arm, während eine Notfallseelsorgerin sich dem Haus näherte. Mit Blicken verständigten sich die Frauen, die Seelsorgerin sprach Felix an, geleitete ihn zur Haustür, nickte Karin zu. Kurz darauf konnte sie seine Stimme erneut hören, er schien mit seiner Mutter zusammenzutreffen, der er seine Seelennot vor die Füße warf.
»Hast du es endlich geschafft, du alte Schlampe? Bist du jetzt froh, jaaa, ich sehe das doch, du bist froh, dass er nicht mehr lebt. Hast du ihn umgebracht? Antworte! Warst du das? Nein, du machst dir doch deine zarten Finger nicht dreckig. Wer hat dir diesen Job abgenommen? Scheiße! Rede mit mir!«
Es entstand eine kurze Pause, Burmeester, Heierbeck und Karin wagten nicht zu atmen, dann ging es wieder los.
»Du bist schuld. Wegen dir lebt er nicht mehr!«
Schließlich ging sein Geschrei in Stille über.
Karin wies zum Haus. »Gut, dass da schon eine Begleitung bei den beiden ist. Die zwei müssen wir näher befragen, anscheinend ist diese Fassade nicht umsonst mit Steinen geschmückt.« Sie schaute den Bestattern nach, die die Bahre in ihren Transporter schoben. »Wie gesagt, die Plane bleibt, und der Bereich hier wird ordentlich abgesperrt. Ich will nicht, dass jetzt eine Hetzjagd auf Naturschützer beginnt, die eventuell zu diesen Schotterverächtern gehören.«
Burmeester wies auf die Dachfenster der gegenüberliegenden Mehrfamilienhäuser, in den schrägen Fenstern lehnten Nachbarn mit gezückten Smartphones. »Wenn da nicht schon die ersten Posts unterwegs sind.«
»Burmeester, du gehst mit Heierbeck ins Haus und schaust dich speziell im Arbeitszimmer des Toten um. Ich will wissen, womit der sein Geld verdiente. Und vielleicht ist die Frau ja einem Mann gegenüber etwas zugänglicher. Bei mir gab sie die unnahbare, perfekt durchgestylte Eiskönigin.«
Während Karin zu ihrem Wagen lief, rief sie bereits im Kommissariat 1 an und erreichte Jerry Patalon.
»Finde mal heraus, was in den Polizeirevieren des Kreises über die Aktivisten gegen Schottergärten bekannt ist, ich brauche alle Infos. Und überprüfe den Namen Timmermann, Thorwald. Ich bin in einer Viertelstunde zurück.«
***
Es wurde eng in seiner kleinen Hütte. Wenn ihn zwei Personen gleichzeitig besuchten, so wie jetzt gerade Fliege und der Kurt, meinte Arthur Barneby Krause nach spätestens fünf Minuten, nicht mehr frei atmen zu können. In dieser Zeit hatte er seinen Besuch mit Haferkeksen und grünem Tee versorgt. Sie hatten beide in ungewöhnlicher Art losgeredet, aufgeregt, oberflächlich, laut, sie fielen sich ins Wort. Auch dieser Lärm schien falsch zu sein, insbesondere innerhalb seiner Holzwände.
Er war einfach nichts mehr gewöhnt, und in seinem Alter ließ einiges nach, die Energie, die Aufmerksamkeit, die Bereitschaft, sich ständig auf Neues einzulassen. Arthur Barneby Krause fühlte sich dann mit seinen sechzig Jahren wie seine alte Jeanshose: durchlöchert, geflickt und fadenscheinig.
Nach zehn Minuten schien es ihm, als zögen sich seine Lungenflügel zusammen und würden sich auf den minimalen Sauerstoffgehalt in seinem Tiny House einrichten, ein flaues Gefühl durchzog zunächst den Kopf, breitete sich im ganzen Körper aus. Und wenn dann noch, quasi als Gipfel der Sinnesbelästigungen, einer von beiden nach zwei Jahren gezielter Anweisung nun ohne spezielle Aufforderung rücksichtsvoll seine Schuhe vor dem Häusle ausgezogen hatte und eine besondere Art von Fußgeruch verbreitete, blieb Arthur nichts anderes übrig, als seine Eingangspforte weit aufzureißen, sich draußen auf die Stufe zu stellen und das Gespräch von dort aus weiterzuführen.
»Was erzählt ihr da? Habe ich das richtig verstanden, es gab einen Zwischenfall, und ihr habt den Plan nicht komplett ausgeführt? Das bringt uns in Verzug.«
Beide Besucher verstummten schlagartig. Fliege, den jeder so nannte, weil er mit seinen fünfundzwanzig Jahren spindeldürr war, seine fahle Haut fast durchsichtig schien und seine Schulterblätter sich unter den dünnen T-Shirts abmalten wie Flügel, Fliege wirkte noch blasser als üblich, während er in kurzen Sätzen stockend berichtete.
»Wir, also der Kurt und ich, haben uns an den Plan gehalten. Nie mehr als drei Schotterflächen in einer Nacht, leise und unauffällig und dann nix wie weg.«
Der Kurt, wie ihn jeder nannte, Artikel vor dem Vornamen, der Kurt bestätigte.
»Das haben wir doch vor zwei Jahren in der großen Runde festgelegt, bevor wir zum ersten Mal rausgefahren sind. Drei Gartenfrevler sollen spätestens am frühen Morgen darüber nachdenken, warum ihre leblosen Vorgärten plötzlich anders aussehen als am Abend zuvor. Wir waren beim zweiten Garten. Den ersten hatten wir richtig eingesaut, die graue Schotterfläche, du, da standen nicht einmal Blumenkübel oder so, einfach nur Steine verstreut bis zur Hauswand, da haben wir drei Liter draufgekippt, schön in Kreuzform, und es hat noch gereicht für ein R.I.P. mit einer Blattform. Rest in peace. Na, dachte ich noch, der wird blöd gucken auf dem Weg zur Garage.«
Arthur Barneby Krause wurde unruhig. Der Platz vor dem Eingang bot frische Luft, jedoch umschwirrten ihn einige Wespen, das war der Preis, wenn man am Rande einer Streuobstwiese lebte. »Und? Was geschah dann? Mensch, lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
Fliege richtete sich auf, was seine Schultern erst recht hängen ließ, er starrte immer noch einen imaginären Punkt auf dem Fußboden an.
»Dann haben wir neues Material geholt, du weißt doch, der Wagen steht bei den Einsätzen immer in erreichbarer Nähe, damit wir schnell abhauen können. Als Nächstes sollte ein Vorgarten dran sein, der nicht neu angelegt war, sondern wo die Steine immer wieder von Algen und Moos gereinigt werden und gerade alles tippitoppi aussah, wie meine Oma immer sagt.«
Er stockte, offenbar rang er nach Worten. Arthur wirkte nachdenklich und kombinierte. Wenn die beiden nicht in der Lage waren, egal ob einzeln oder zu zweit, jedoch in klaren Sätzen und am Stück von dem Einsatz zu berichten, dann mussten sie etwas sehr Außergewöhnliches erlebt haben. Schließlich waren sie schon zigmal gemeinsam unterwegs gewesen.
Er wies auf den Kurt. »Erzähle du, seid ihr erwischt worden?«
Auch der Kurt wusste nicht, wie er anfangen sollte, schüttelte heftig den Kopf, rutschte auf seinem Stuhl herum wie ein Delinquent auf der Anklagebank. Arthur fühlte sich verantwortlich für die beiden, ebenso wie für die andere Aktivistin des Aktionskreises gegen Schotterflächen und unnütze Bodenversiegelung, wie sie, speziell in Neubaugebieten, immer weiter um sich griffen.
Steinwüsten statt bunter Vorgärten waren ihre Ziele, schnell verschüttete Farbe, biologisch unbedenklich, aber wenn sie getrocknet war, konnte sie nur mit viel Arbeit wieder entfernt werden. Das war ihre Waffe. Sie hinterließen Zeichen auf Kies und Schotter, wiesen darauf hin, wie tot der Boden war. Den betroffenen Besitzern gefielen die Aktionen natürlich nicht, jedoch hatte sie bisher niemand belangt, sie ließen sich nicht erwischen, waren schnell und gut organisiert. Dafür verzeichneten sie eine Menge Statements in den öffentlichen und sozialen Medien, Anerkennung aus verschiedenen Reihen für diese grüne Guerillagruppe, wie man sie nannte, die sich die Rettung der Vorgärten auf die Fahnen geschrieben hatte.
Nun saßen die zwei Aktivisten der rechten Rheinseite in Arthurs Tiny House, Fliege müffelte es mit seinen stinkenden Socken und der Kurt mit penetrant auftretendem Angstschweiß zu, während Arthur jeden musterte und tief ein- und ausatmete. »Verdammt, ich komme mir vor wie im Kindergarten. So muss es sein, wenn Fritzchen dem Kläuschen ein Auto geklaut hat. Die Jungen stehen heulend vor der Kindergärtnerin und drucksen herum.«
Fliege schaute kurz auf. »Kindertagesstätte, so heißt es, und auch nicht Kindergärtnerin, die korrekte Berufsbezeichnung ist Erzieherin.«
Das war zu viel, Arthur trat ein und schloss die Tür hinter sich, so viel Beherrschung konnte er noch aufbringen. Es wurde laut. »Mir ist die Berufsbezeichnung wurscht, ihr wollt ganz plump ablenken! Wenn jetzt nicht einer von euch das Maul aufmacht, dann schmeiß ich euch raus aus meiner Hütte und aus der Aktion, ich kann hier keine Aktiven brauchen, die vor sich hinschweigen!«
Die Männer schauten erschrocken auf, Arthurs Ausbruch brachte die Luft zum Vibrieren, der Kurt schluckte, war im Begriff, per Handzeichen um das Wort zu bitten, nahm seinen Arm wieder runter, schluckte, spuckte den entscheidenden Satz in Arthurs Rücken, während dieser die Tür wieder öffnete. »Vor dem Haus lag einer auf den großen Steinen.«
Arthur drehte sich im Zeitlupentempo um. Hatte er den Kurt richtig verstanden? »Was sagst du da?«
Fliege verschränkte seine dünnen Ärmchen und schaute endlich mal auf. »Da lag ein Mann, und der bewegte sich nicht. Das haben wir erst gesehen, nachdem ihm die erste Farbe, die ich mit Schwung verschüttet hatte, bereits über die Hosenbeine floss.«
Arthur ging auf ihn zu. »Da lag einer im Vorgarten und hat jetzt unsere Farbe auf den Beinen?«
Beide nickten, das Eis schien gebrochen, der Kurt fuhr fort. »Wir haben sichernd zu den Seiten geschaut, zu den Fenstern, der Tür, da war nichts. Ich habe den Farbeimer geöffnet, und Fliege war dran mit Schütten. Da ging der Bewegungsmelder an, und wir sahen den Mann. Der trug Klamotten in Erdtönen, der lag echt wie getarnt auf den Steinen, unsere Farbe auf den Hosenbeinen, bis hinauf zum Kopf. Du kannst dir unseren Schreck vorstellen, wir starrten ihn an. Das Licht erlosch wieder, Fliege hatte schon seinen Rückwärtsgang eingelegt, ich rief leise Hallo, nichts, der Mann rührte sich nicht. Da schlich ich zu ihm auf die Steine und leuchtete sein Gesicht kurz mit dem Handy an. Diese starren Augen werde ich nie vergessen, glaub mir, das war so krass.«
»Hast du seinen Puls gefühlt?«
»Nein, ich wusste, dass er, nun ja, wie soll ich sagen, dass er tot ist.«
Arthur konnte es nicht glauben. Diesem Duo war es offenbar egal, ob ein Betrunkener sie wiedererkennen konnte. Niemand hatte den Tod festgestellt.
Der Kurt sah seine Zweifel und winkte ab. »Der war hin, glaube mir, denn das war nicht alles. Der hatte ein kleines blutiges Loch am Kopf. So etwas habe ich noch nie in echt gesehen, immer nur in Spielfilmen. Ich hätte mich fast übergeben.«
Fliege drängte sich vor. »Wir haben den Bewegungsmelder nicht mehr aktiviert, der Kurt flüsterte nur, wir müssen schnell hier weg. Da habe ich aus Versehen den Eimer stehen gelassen, und wir sind zum Auto gerannt. Im Wagen habe ich dann gesehen, dass der Kurt noch Farbe an den Schuhen hat.«
Arthur schreckte auf. »Was? Ihr habt auch noch Spuren hinterlassen? Hast du die Schuhe wenigstens gleich entsorgt?«
Schuldbewusst schaute der Kurt durch die bodenlangen Fenster, Arthur folgte dem Blick und wusste bereits, was er zu sehen bekam, bevor seine Augen die Schuhe erreichten, die draußen auf dem Absatz auf der Matte standen. Am äußeren Rand der linken Sohle ziemlich abgelaufener, alter lederner Halbschuhe erkannte er getrocknete weiße Farbspritzer. »Bist du bescheuert und bringst auch noch diese Schuhe mit zu meiner Hütte?«
Der Kurt zuckte die Achseln. »Wieso denn? Wir haben doch nichts gemacht.«
Arthur stand auf und bedeutete den Männern zu gehen. »Ihr sitzt hier bei mir und erzählt von einem toten Mann, dem ihr unsere Farbe, unsere Erkennungsmarke, über den Körper gekippt habt. Was denkt ihr denn, welche Schlüsse die Polizei daraus zieht?«
Beide schwiegen, der Kurt stand auf, ging raus. »Ich werde meine alten Treter wohl besser entsorgen.«
Fliege folgte ihm. »Und ich bringe die Farbeimer, die noch im Auto stehen, ins Lager und werfe die Einweghandschuhe weg, die ich ja bei den Einsätzen immer mehrmals trage. Keine Sorge, ich mache das Auto klar.«
Arthur Barneby Krause stand vor seinem Minihaus und blickte ihnen nach, wie sie den gemähten Weg durch den Bongert gingen. Er rief ihnen hinterher. »Und so schnell werde ich euch nicht mehr einsetzen. Überhaupt sollten wir darüber nachdenken, eine Pause einzulegen.«
Der Kurt stoppte, kam zurück. »Ich denke, das wäre ungünstig. Wenn jetzt gar nichts mehr geschieht, dann ist das doch so etwas wie ein Eingeständnis für einen Vorfall, mit dem wir nichts zu tun haben.«
Arthur dachte nach. »Ihr hört von mir.«
***
Kommissar Burmeester blieb vor Ort und organisierte die Befragung der Nachbarschaft, Karin Krafft fuhr nachdenklich zurück ins Büro. Das sah doch schon wieder nach einem verzwickten Fall aus – ein Geschäftsmann liegt seit Mitternacht vor dem Haus, mit einem spitzen Stein aus dem eigenen Vorgarten erschlagen und zum Teil mit weißer Farbe überschüttet, was in Polizeikreisen gleich als Tat einer bislang unbekannten Gruppe erkannt wurde, die mit den Aktionen auf die Missachtung der Natur hinweisen wollte. Derzeit ging man jedenfalls davon aus, dass es statt einer mehrere Personen sein mussten, das würden sie nun im K1 genauer ermitteln.
Ihr ging durch den Sinn, wie abwechslungsreich und kunstvoll ihre Mutter Johanna den Vorgarten in Bislich-Büschken gestaltete, mit bienenfreundlichen Stauden, die vom Frühjahr bis zum Herbst blühten, und Kunstwerken aus Holz und Stein, die teilweise noch von ihrem Vater stammten oder neu hinzugekauft worden waren. Johanna und ihr Lebensgefährte waren begeisterte Besucher von Ausstellungen mit seltenen Pflanzen und Gartenkunst, sie hatten Karins Ehemann Maarten angesteckt, der immer öfter mit erdverschmierten Fingern ins Haus kam. Und zwar nicht von seinen Ausgrabungen im Archäologischen Park in Xanten, was seinem Beruf als Archäologe entsprach, sondern weil er auf dem Rückweg von der Arbeit wieder eine Staude im Bestand des Supermarktes vor dem Tod durch Vertrocknen gerettet, eingepflanzt und gegossen hatte.
Im Kommissariat fand sie Jeremias Patalon vor seinem PC vor. Tom Weber würde erst am Montag wieder aus dem Urlaub zurückkehren, den er gemeinsam mit der Kollegin vom Landeskriminalamt Düsseldorf an der Nordsee verbrachte. Er und Alice Karun hatten sich im letzten großen Fall um den Tod eines Starkochs kennengelernt, und seitdem war der sonst mausgraue Hauptkommissar kaum wiederzuerkennen. Zum ersten Mal, seit Karin ihn kannte, schien er glücklich zu sein.
Da fehlte doch noch einer.
»Jerry, sag mal, weißt du, wo Gero ist?«
Sein gequälter Blick verhieß nichts Gutes. »Der ist in der Teeküche beschäftigt. Aber Vorsicht, das ist quasi vermintes Terrain dort.«
»Wie meinst du das?«
Noch bevor er eine Antwort geben konnte, war Karin bereits auf dem kurzen Weg zu der kleinen Küchenecke. Gero von Aha stützte sich auf der Ablage ab, vor ihm eine Gebrauchsanweisung, neben ihm der superteure Kaffeeautomat, sein Ein und Alles. Schweißperlen bedeckten seine Stirn, er schien in sich hineinzumurmeln, Karin vernahm Wort- und Satzfetzen, während sie um die Ecke lugte.
»Verfluchtes Teil … kann doch nicht wahr sein … Ausgerechnet du, mein Guter … Nein, das hatte ich kontrolliert … Ach, da kann die Übersetzung auf keinen Fall stimmen …«
»Guten Morgen, Gero, was machst du da?«
Er schreckte auf, schaute Karin mit wirrem Haar und vor Konzentration geröteten Wangen an. »Wonach sieht es denn aus?«
Karin kombinierte. »Sag nicht, sie ist …«
Gero von Aha trommelte auf die Arbeitsplatte, die leeren Tassen vom Vortag klirrten aneinander, er schien außer sich. »Doch, doch, doch, aber nicht sie, er, der Automat hat einen Defekt, und ich kann die Ursache nicht lokalisieren. Das macht mich total fuchsig!«
»Kein Gero-Spezial-Luxuskaffee heute?«
Er schüttelte den Kopf und raufte sich das Haar, griff zu seinem Smartphone. »Ich versuche seit einer Stunde, den Service zu erreichen, da geht keiner ran.«
Was sollte sie machen? Karin wusste genau, dass Gero ohne seinen Kaffee ein halber Mensch war, wollte und konnte jedoch nicht auf ihn und seine Ermittlungsarbeit verzichten. »Komm, wir haben einen neuen Fall, und ich brauche dich im Team.«
»Jaja, fünf Minuten noch.«
»Das sagt meine Tochter auch immer, und dann braucht sie zwei Stunden. Ich sehe dich gleich in Jerrys Büro.«
Jerry hatte sich nach den ersten Informationen aus Dinslaken bereits im Intranet der Kreispolizeibehörde umgeschaut und Informationen über die mit reichlich weißer Farbe durchgeführten nächtlichen Aktionen in steinernen Vorgärten gesammelt. Es tat sich ein Bild auf, dessen Umfang und Wirkung ihm bislang verborgen geblieben waren.
Nachdem von Aha in gereizter und äußerst mieser Stimmung die Tür zu seinem Büro ins Schloss hatte fallen lassen, begann Jerry zu berichten.
»Wenn ich die spärlichen Informationen richtig zusammensetze, dann ergibt sich ein Gebiet, das sich auf beiden Seiten des Rheins quer durch den Kreis zieht und sich darüber hinaus rechtsrheinisch bis nach Emmerich erstreckt. Immer sind es Anzeigen von Privatpersonen, denen weiße Farbe über Schotter oder Kies gekippt wurde, ergiebig und großflächig. Es gibt weder Zeugen noch Spuren. Bislang konnte niemand ermittelt werden, und es gibt auch keine Veröffentlichungen, Aufrufe in der Presse oder Ähnliches.«
Karin hakte nach. »Weißt du, warum nicht berichtet wird?«
»Weil es sich um Sachbeschädigung handelt. Nicht einmal um Hausfriedensbruch oder so, da wird immer nur Farbe hingeschüttet, ohne die Grundstücke zu betreten, da brauchte es bislang keine Mitteilung an die Presse. Und schau es dir an, alle Orte dieser Eingriffe in die steinernen Ordnungen liegen weit voneinander entfernt, das ist das Einzige, was erkennbar ist. Wer auch immer das macht, sucht sich bewusst ein oder zwei Ziele in einer Nacht aus und ist dann schnell wieder verschwunden. Vielleicht werden auch gar nicht alle Fälle zur Anzeige gebracht, sondern unter dem Begriff ›Dumme-Jungen-Streich‹ verbucht und beseitigt.«
Jerry hatte auf die Schnelle auf einer Karte die Vorfälle markiert. An die zwanzig Kreuze markierten die Vorgärten, die weiß übertüncht worden waren.
Von Aha stand auf und bewegte sich in Richtung Tür. »Ist das etwa ein Fall für uns? Da kümmere ich mich lieber um den Kaffeeautomaten.«
Karin hielt ihn auf. »Stopp, Gero, im Dinslakener Stadtteil Bruch ist auch Farbe verschüttet worden, die traf aber nicht nur Kies, sondern einen Toten, der darauflag.«
Gero von Aha setzte sich erneut, ohne seinen Widerwillen zu verbergen. »Ein Opfer des Farbfanatikers?«
»Das versucht Heierbeck gerade herauszufinden.«
»Wie darf ich mir das vorstellen?«
»Er kann den Todeszeitpunkt eingrenzen und wird den Trockenheitsgrad der Farbe, die den Mann getroffen hat, damit vergleichen. Ich glaube jedoch nicht an einen direkten Zusammenhang. Hier kommt noch ein anderer Aspekt hinzu.«
Damit hatte sie auch von Ahas Aufmerksamkeit gewonnen. »Was denn, haben die etwa das Werk signiert?«
»Nein, aber sie ließen den Farbeimer zurück, und es gibt einen halben Fußabdruck, der sich von dem Tatort entfernt. Wenn ich Jerry richtig verstanden habe, dann gab es bislang in den anderen Fällen keine Spuren.«
Jerry meldete sich zu Wort. »Es ist noch komplizierter, als es gerade wirkt. Es gibt in den Anzeigen die Adressen der Geschädigten, ihre Aussagen, und es gibt Fotos. Niemand hat sich die Mühe gemacht, zum Beispiel Farbproben sicherzustellen, um sie zu vergleichen.«
Karin stellte sich hinter Jerry, um einen Blick auf seinen PC zu werfen. »Das ist doch unmöglich. Die verschüttete Farbe kann nicht verglichen werden, um den Hersteller, Großhändler, letztlich den Standort des Händlers zu ermitteln?«
»Nein, in einem Bericht heißt es, dass die Art, wie sie verteilt wird, immer die gleichen Spuren hinterlasse und man davon ausgehe, dass höchstens drei bis vier Personen für diesen Frevel verantwortlich sind.«
»Handelt es sich um reine Phantasie, oder gibt es einen ermittelten Hintergrund?«
Jeder bemerkte die aufkommende Unzufriedenheit der Hauptkommissarin. Jerry schaute abwechselnd von ihr zu von Aha, als wolle er taxieren, wer von beiden zu dem Zeitpunkt die schlechtere Laune entwickelte, und beeilte sich, seine weiteren Ergebnisse preiszugeben.
»Offenbar hat ein findiger Kopf aus dem Revier in Voerde die Schleuderrichtung, Weite der verschütteten Mengen und die Dicke der Schichten verglichen. Ich habe vorhin mit Polizeimeister Hartenberg gesprochen, der allein für diese Arbeiten belächelt wurde, und man hat ihm schnell andere Tätigkeiten übertragen. Er hat den Eindruck, dass es einige Kollegen in den Reihen der Polizei gibt, die diese Sachbeschädigungen nicht ernst nehmen. Farbe auf Steinen, haha. Nichts wurde zerstört, die Beseitigung ist nur arbeitsintensiv. Hartenberg sagt, es müsse sich in den acht untersuchten Fällen um zwei bis drei Rechtshänder und einen Linkshänder unterschiedlicher Größe und Kraft handeln, das lasse sich durch Fließrichtung und Weite der Farbspritzer beweisen. Allerdings hat auch er die Farbe nicht sichergestellt.«
Karin Krafft meinte, man müsse dementsprechend von einer Gruppe ausgehen.
Von Aha stimmte mürrisch zu. »Keine Zeugen, keine Beweissicherung, nicht ein einziges Foto von einer Überwachungskamera. Und ab heute ist das Thema plötzlich zu uns in die fünfte Etage der Kreispolizeibehörde Wesel als Fall für die Mordkommission geklettert. Weiße Acrylfarbe auf Steinen, prima.«
Karin Krafft, mit äußerst wenig Lust auf den gestressten Kollegen, delegierte die Sammlung von Informationen über Thorwald Timmermann an ihn.
»Und wenn du dich an deinen PC setzt, dann vergiss bitte den kaputten Automaten, Gero, ich will Ergebnisse zu Timmermann statt zum Edelkaffee. Jerry, das sind gute Infos zu den Steingartenfrevlern. Haben die eigentlich einen Namen? Ich nehme mir Farina und den Sohn Felix vor. Und mal sehen, welche Informationen Burmeester aus Dinslaken mitbringt. Kleine Lage um siebzehn Uhr.«
***
Burmeester hatte mehrere Stimmen zu den Timmermanns gesammelt, einer sauberen, stillen, anscheinend perfekten Familie. So eine hübsche Frau, die Witwe, immer ein Lächeln, stets ein freundliches Wort für die Nachbarn. Und er, der Tote, wie so oft erwischte es die Guten zuerst. Wenn es galt, irgendwo anzupacken, dann war er da und zog alle mit. Er sammelte aus Eigeninitiative Spenden für ein krankes Mädchen aus der Nachbarschaft, um ihr eine teure Therapie zu ermöglichen. Wenn man die Nachbarschaft ernst nahm, dann war Thorwald Timmermann der Held der Agnesstraße.
Die einzigen Spuren, die noch auf die Geschehnisse der Nacht und den Einsatz am Morgen hinwiesen, waren die Plane, die den Steingarten der Timmermanns überdeckte, und das rot-weiße Trassierband mit der Aufschrift »Polizei«, das Heierbeck quer darübergespannt hatte.
Burmeester saß mit einem Becher Coffee to go und einem belegten Brötchen aus der Bäckerei im Edeka-Supermarkt um die Ecke hinter dem Steuer seines Wagens und wartete auf die letzten Nachbarn aus dem Mehrfamilienhaus gegenüber der Timmermann’schen Burg und dem Haus nebenan. Er verfolgte nebenbei die Menschen, die sich bei Farina Timmermann einfanden, hatte die Eingangstür im Blick, die sich immer wieder öffnete, Frauen, Männer fielen Farina in die Arme, tröstliche Sekunden lang. Inzwischen mussten an die zwanzig Personen im Haus sein, manche brachten Essen mit, andere hatten Flaschen unter dem Arm.
Der Mann, der seinen Wagen nebenan vor der Garage abgestellt hatte, ging im Laufschritt auf Timmermanns Einfahrt zu und hatte bereits geklingelt, noch bevor Burmeester seinen Becher wieder abgesetzt und das Brötchen auf die Ablage gelegt hatte. Die Witwe erschien in der Haustür, und Burmeester hätte schwören können, dass der Blick und das kurze, angedeutete Lächeln, das sie für ihren Nachbarn hatte, dass die Art, wie er seine Arme um sie schlang, dass die Enge ihrer Körper zueinander, dass die Begrüßungsszene intensiver aussah als bei den Menschen, die zuvor über diese Schwelle gegangen waren.
»Na, wenn das saubere Timmermann-Haus nicht doch ein kleines schmutziges Geheimnis verbirgt, das würde mich doch wundern.« Was sollte er machen? Sich in diese tröstende Gruppe begeben, um den Nachbarn zu befragen?
In dem Moment erschien eine Radlerin, die ihre Sportfiets in den hinteren Bereich des Mehrfamilienhauses gegenüber schob. Das musste die Krankenschwester sein, die von ihrem Frühdienst kam und die er noch nicht befragt hatte. Burmeester entschied, sie gleich abzupassen und danach bei der Witwe den Nachbarn zu befragen.
Die Krankenschwester, Marie Freiling, gab an, beim Frühdienst immer auf den letzten Drücker zu starten, weil das einfach nicht ihre Zeit wäre. Sie wohnte erst seit zwei Monaten in ihrem Appartement und kannte noch niemanden aus der Nachbarschaft. Sie wirkte bestürzt über den Tod, jedoch ohne Trauer. Ob sie gegenüber etwas bemerkt hätte? Nein. Sie sei immer heilfroh, dann doch unfallfrei im nahen Sankt-Vinzenz-Hospital anzukommen, und zähle akribisch die Tage, bis sie wieder in einer anderen Schicht tätig sei.
»Da schaue ich weder nach links oder rechts, ich konzentriere mich voll auf den Straßenverkehr, es sind genügend Bekloppte unterwegs, die Leute auf Rädern ignorieren oder falsch einschätzen. Schauen Sie mich an, ich fühle mich in der Dunkelheit wie ein Glühwürmchen, überall an der Kleidung Reflektoren, die Radspeichen, mein Rucksack, alles springt einem ins Auge, sobald ein Lichtstrahl darauffällt. Ich habe einfach nicht den Blick für die Nachbarschaft, es sei denn, jemand startet einen Wagen, während ich in der Nähe bin.«
»Und? Gab es Bewegung in der Straße?«
Sie überlegte nicht lange, schüttelte den Kopf, gähnte ausgiebig. »Nein, ich habe nichts bemerkt, und jetzt muss ich echt gehen, Haushalt, Einkauf, Wäsche, Putzen, das ganze Feierabendprogramm wartet auf mich.«
Burmeester verabschiedete sich und wechselte die Straßenseite.
***
Gero von Aha war aufgesprungen und hatte seinen Bürostuhl dabei mit Wucht gegen die Wand hinter ihm knallen lassen. Seine Stimme verlor den letzten Rest an Contenance, er wurde laut, fuchtelte mit den Armen, drehte sich zum Fenster und bemerkte nicht, dass seine Chefin die Tür geöffnet hatte und ihn fassungslos beobachtete.
»Wie …? Erst am Montag? Vorher geht nichts …? Personalmangel? Das soll ich Ihnen glauben? Was wollen Sie mir unterstellen, das ist eine Unverschämtheit, mir in den Hörer zu sagen, ich hätte mich nicht an die vertraglichen Gegebenheiten gehalten. Das kann doch nicht wahr sein! Hören Sie, dieser Kaffeeautomat ist regelmäßig von Ihnen gewartet worden, ich habe alle Nachweise vorliegen, schauen Sie doch einfach in Ihre Kundendatei, da werden Sie alles finden … Na also! Und wann sind Sie da? Montag, zehn Uhr, ich nehme Sie beim Wort. Ja, kommen Sie zur Rechnungsadresse. Und vergessen Sie nicht, mindestens ein Pfund Maragogype-Kaffee als Entschuldigung für Ihre Unterstellungen mitzubringen.«
Er warf sein Smartphone auf den überladenen Schreibtisch, es rutschte in einen Berg aus Ausdrucken, zwischen denen Karin leere Brötchentüten und Keksverpackungen ausmachte.
Von Aha schreckte auf, als Karin sich räusperte. Er starrte sie an. »Seit wann stehst du da?«
»Ich beschreibe es mal so, ich habe deine umwerfend freundliche Art, mit dem Service wegen dieser verdammten Kaffeemaschine zu telefonieren, fast applaudierend verfolgt.«
Er setzte sich und begann mit zittrigen Fingern sein Smartphone zu suchen, Karin stützte sich auf seinen Schreibtisch, beide wussten, was nun folgte.
»Ich hatte dir eine Aufgabe erteilt, zusammen mit dem Hinweis, dass du diesen verflixten Kaffeemacher aus deiner Arbeitszeit ausklammerst!«
Von Aha murmelte etwas, schaute immer noch an seiner Chefin vorbei, Karin fragte nach, er antwortete, immer noch leise. »Automat, nicht Maschine, Kaffeeautomat.«
»Das ist mir scheißegal! Du setzt hier fahrlässig unser Betriebsklima aufs Spiel, mein Guter, wir haben einen Fall zu bearbeiten, und ich will, dass du dich konzentriert an den Ermittlungen beteiligst! Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
Mit seinem Smartphone in der Hand schaute er sie an. Sein Zorn wich einer Art Hilflosigkeit, mit hängenden Schultern schien er durch sie hindurch in die Ferne zu blicken, atmete tief durch. »Ja, ich habe es verstanden. Aber ohne hochwertigen Kaffee läuft bei mir nichts. Zu Hause gibt es nur Tee, morgens, mittags, abends, Marlene findet das gesund. Was soll ich bis Montag machen?«
»Deinen Anspruch zurückstellen, ich bringe morgen eine Kaffeemaschine mit, damit deine Entzugserscheinungen uns hier nicht an der Arbeit hindern oder schlicht nerven. Komm wieder auf den Teppich, Gero, ich brauche dich in diesem Team. Du hast noch eine Stunde bis zur Lagebesprechung, hau rein.«
***
Burmeester wusste aus den nachbarschaftlichen Befragungen nichts Neues zu berichten, außer dass die Zusammenkunft unterschiedlicher Menschen, mehr Frauen als Männer, die sich im Hause Timmermann um die Witwe scharten, einen sehr vergnüglichen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte.
»Stellt euch vor, sanfte Musik im Hintergrund, alle mit einem Glas in der Hand oder vor sich auf einer Ablage, nicht gerade fröhlich, aber doch in alltäglicher Stimmung in Gespräche vertieft. Als ich an der Tür nach dem Nachbarn fragte, um ihn zu sprechen, hatte jemand etwas Witziges erzählt, ein großer Lacher schallte herüber.«
Dann hatte Farina Timmermann Ingo Kutscher in die Diele gebeten und die Tür zum Wohnzimmer hinter ihm geschlossen.
»Die Blicke, die beide miteinander tauschten, hättet ihr sehen sollen, für mich steht fest, dass die ein Verhältnis miteinander haben. Kutscher gab an, er habe nichts bemerkt, es sei noch dunkel gewesen, als er sich morgens auf den Weg machte. Er muss zur Arbeit nach Duisburg-Ruhrort, da müsse man momentan eine Dreiviertelstunde Verzögerung einrechnen wegen Baustellen und Umleitungen, und er könne sich keine Verspätungen leisten. Farina Timmermann hielt sich im Hintergrund, ging in die Küche, aber glaubt mir, die hat ganz genau zugehört.«
Burmeester schaute auf, wunderte sich über Gero von Aha, der zehn Minuten zu spät den Besprechungsraum betrat, bemerkte sofort, dass sein Kollege sehr schlecht aussah, blass und eingefallen, und dass seine Chefin erst auf die Uhr, dann auf ihn blickte, sich jedoch jeglichen Kommentar sparte.
Und dann unterlief Burmeester ein Fehler, den er nicht sofort als solchen erkannte, er tat den berühmten Schritt ins Fettnäpfchen. »Gero, was ist hier los, gibt es keinen Kaffee?«
Gero von Aha wechselte die Gesichtsfarbe, Karins Gesichtsausdruck wurde eine Spur strenger, und Jerry schien sich hinter seinem Laptop in Sicherheit zu bringen, duckte sich und rief aus dem Untergrund »Die Kaffeemaschine ist kaputt«, wodurch er eine kurze Attacke ausgewachsenen Grolls von Gero von Aha über sich ergehen lassen musste.
»Das ist ein Automat, ein Kaffeeautomat, sage nie wieder Kaffeemaschine!«
Karin schrie ihn an, ob er von allen guten Geistern verlassen sei, er solle sich auf die Arbeit konzentrieren, und es sei völlig egal, wie dieses Gerät korrekt bezeichnet würde. »Das geht einfach nicht, Gero, du musst dich beherrschen.«
Burmeester versprach kleinlaut, am nächsten Tag zumindest für einfachen Ersatz zu sorgen, und blickte von Aha kritisch an. »Sag mal, kann das sein, dass du einen richtigen Hype auf Kaffee hast?«
Von Aha, wieder beruhigt, aber noch mit hochrotem Kopf, nickte leicht. »Sorry, Leute, da stehe ich neben mir. Immerhin habe ich es geschafft, das Rauchen aufzugeben.«
Burmeester setzte sich in seine Nähe, signalisierte, alles sei okay. Karin sprach von Aha auf erste Ermittlungsergebnisse an.
»Ich, ja, also, ich habe einerseits hausintern Anfragen zum Opfer und zu den Familienmitgliedern gestellt. Weder der Tote noch seine Frau sind in unserem System, aber der Filius, Felix Timmermann, ist erst vor einem halben Jahr wegen einer Anzahl von kleineren Delikten zu Sozialstunden verurteilt worden. Lauter Kleinscheiß, den man einem Sohn aus besserem Hause nicht zutraut, Ladendiebstahl, Schwarzfahren, er ist nachts wegen Vandalismus mit zur Wache genommen worden, weil man ihn beim Herausrupfen frischer Bepflanzung von städtischen Blumenkästen erwischt hat. Wir sollten ihn im Auge behalten.«
Karin fragte, was es über Thorwald Timmermann zu berichten gäbe. Von Aha lehnte sich zurück.
»Das ist ein ganz anderes Thema. Da findest du nichts im Netz, er war ein Geschäftsmann aus Dinslaken, der überall dabei war, im Golfclub in Moyland, bei den Lions, der saß im Elferrat vom Karnevalsverein Blau-Weiß. Versteht ihr? Womit er sein Geld verdiente, außer durch Spekulationen an der Börse, ist nicht zu erkennen. Offenbar konnte Familie Timmermann gut davon leben.«
Ein kurzer Moment der Stille entstand, den von Aha mit einem einzigen Satz unterbrach. »Ein Foto habe ich gegoogelt, das ich nicht ganz verstehe.«
Er rief das Bild auf, es erschien auf der Medienwand und zeigte Timmermann neben einem weiteren Mann. Dem Untertitel nach war er Gast in einer Spielhalle in Hamminkeln, dem Playground. »Was macht so ein gestandenes Mannsbild mit festem Auskommen, Familie, Haus und zig Vereinsmitgliedschaften in bester Gesellschaft in einem Spielsalon?«
Man sah Timmermann in bester Laune vor einer Reihe von Spielautomaten stehen. Karin schaute sich das Foto aus der Nähe an, wies auf den Mann neben dem Toten. »Den kenne ich. Der war doch vor fünf Jahren in einen Skandal um zwei Spielhallen verwickelt, in denen Minderjährige Sportwetten abschließen konnten.«
Von Aha nickte. »Ja, den habe ich natürlich auch unter die Lupe genommen. Es handelt sich um Achim Schröder, am Niederrhein und bis hinein ins Ruhrgebiet ein amtierender Spielhallenmogul. In Fachkreisen nennt man ihn auch Don Schröder, was immer das uns sagen will. Bislang hat er sich erfolgreich aus allen Verfahren herausgezogen. Alles, was man ihm zur Last legte, hat sich in Luft aufgelöst, ihm waren weder Betrug noch Ausbeutung oder gar Steuerhinterziehung nachzuweisen. Im Endeffekt gab es in jedem Verfahren Bauernopfer, Angestellte, die statt seiner für schuldig befunden wurden. Aber wenn ihr mich fragt …«
Er lehnte sich in altbekannter Art und Weise zurück und nutzte seine rhetorische Pause, um noch einmal tief durchzuatmen.
»… wer sich öffentlich wie ein germanischer Mafioso nennt, der hat garantiert kein Interesse an einem Karnevalsverein, der will auch nicht schlagkräftig Golfbälle in Löchern versenken, der will Macht ausüben, kassieren. Der will gefürchtet sein. Und dabei ist er anscheinend erfolgreich. Don Schröder hat sich vor einem Jahr klammheimlich hier in Wesel niedergelassen. Und ihr werdet nicht glauben, wo er jetzt residiert.«
Von Aha streckte eine Hand aus, nur kurz, spreizte die Finger, Karin erkannte, dass sie zitterten. Von Aha schaute in fragende Gesichter und fuhr fort. »Er hat Haus Konstantin gekauft, umfassend renoviert und ist im Juli dort eingezogen.«
Das Haus, eine ehemalige, sehr beliebte und weithin bekannte Traditionsgaststätte, zwischen Schloss Diersfordt und Bislich malerisch am Wald gelegen, war den Ermittlern ein Begriff durch die Geschichte des vorherigen Nutzers.
»Der ist dort eingezogen? Ich habe im Sommer, als ich von Johanna aus Bislich-Büschken kam, dort Handwerker gesehen und dachte noch, wie schön, endlich kommt neues Leben in das Anwesen, und selbst der große Buddha, der im Vorgarten thront, wirkte gleich wieder ausgeglichen.« Karin schaute auf das Foto und grinste. »Und dann ist es doch so ein halbseidener Geselle, der sich mit Don anreden lässt und Spielhallen betreibt. Ich hätte dem Haus endlich etwas Redliches gewünscht, nach all den Vorfällen der letzten Jahre.«
Burmeester überlegte, kam jedoch nicht darauf, was seine Chefin meinte, und fragte Google auf dem Smartphone. »Ach, in Haus Konstantin war dieses ominöse Balance-Recovery-Life-Center, wo Menschen sich in therapeutischer Absicht in die Hände eines Sektenführers begaben und Heilung suchten.«
Auch Jerry erinnerte sich. »Jetzt, wo du es sagst. Der Kerl ist doch wegen Körperverletzung und Missbrauch an seinen Anhängern verurteilt worden. Eine üble Geschichte.«
Burmeester wies auf sein Smartphone. »Hier steht noch in einem Artikel vom letzten Jahr, dass ein neuer Eigentümer einen Pächter sucht, der die Gastronomie wieder aufleben lässt.«