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Kultig, warmherzig, spannend und ganz viel Niederrhein: der Jubiläumskrimi des Autorenduos Hesse/Wirth. Das Storchendorf Bislich-Büschken steht kopf: Die Dorfgemeinschaft hat den Lotto-Jackpot geknackt! Doch jeder plant etwas anderes mit den Millionen. Und einer hat nicht mitgespielt, setzt nun aber alles daran, trotzdem das ganz große Geld einzustreichen. Der Neider kommt nicht weit, liegt er doch plötzlich tot auf dem Friedhof. Chefkommissarin Karin Krafft und Kommissar Gero von Aha schalten sich ein – und erhalten unerwartete Unterstützung von drei Schlitzohren, die schlau wie Füchse sind.
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Seitenzahl: 429
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Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationsberater und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist.
Renate Wirth, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeutin, Künstlerin und Autorin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/pa/Jan Woitas
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-278-6
Niederrhein Krimi
Originalausgabe
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Die Menschen sind so einfältig und hängen so sehr vom Eindruck des Augenblickes ab, dass einer, der sie täuschen will, stets jemanden findet, der sich täuschen lässt.
Niccolò Machiavelli (1469–1527)
Es war vieles anders gewesen an diesem Tag. Die Sonne zum Beispiel, sie schien. Das hatte sie seit drei Tagen nicht mehr getan. Nur Regenwolken über dem Niederrhein. Triste Stimmung und gereizte Menschen. Alle atmeten auf.
Jetzt am Abend regnete es wieder in dünnen Streifen. Landregen. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem feuchten Asphalt. Es verlief wie ein fahles Lichterband durch das kleine Dorf. Tiez hatte keinen Blick dafür. Er radelte wie besessen.
Gerade noch waren wagemutige Gedanken durch seinen Kopf getanzt. Mit dem neuen Mountainbike war er heimlich und tief geduckt an der Hecke neben Bert Schreibers Einfahrt, dann extrem schnell und lautlos am Haus von Alma Argond vorbeigesaust. Alles blieb still, ihre alten Hunde hatten ihn nicht bemerkt. Aufrecht, freihändig hatte er das Anwesen der Aengenholts passiert, die seit Tagen nicht daheim waren, und war aus Bislich-Büschken herausgehetzt. Das Spezialrad zischte los, wenn man den Druckpunkt der Pedale richtig traf. Dafür war es gebaut. Die groben Stollen griffen in die Grasnarbe des Rheindeichs, als handele es sich um festen Untergrund. Hier zu fahren war untersagt. Tiez wusste, wo er die Lücke im Weidezaun fand. Er wusste auch, dass seine Mutter ihm strikt verboten hatte, in der Dämmerung auf Tour zu gehen.
Hätte er ihr gehorcht, wäre er dem unbekannten Mann mit dem dunklen Kapuzenpullover nicht begegnet. Der gehörte nicht hierhin. Hier wandte sich niemand ab, wenn man sich traf, hier grüßte man sich. Das taten alle, außer dem Neuen, der aus der Stadt kam. Auf jeden Fall versteckte sich niemand, wie dieser Mann es getan hatte. Geduckt war er hinter der Hecke verschwunden, als Tiez tief gebeugt zum Schutz vor den möglichen Blicken der Mutter vorbeirauschte. Und dann hielt der Mann auch noch eine Stange in der Hand. Tiez hatte sie nur einen winzigen Augenblick lang wahrgenommen. Sie waren sich im schummrigen Laternenlicht begegnet. Da blieb keine Zeit, genauer hinzuschauen.
Tiez war nicht mehr jung, sein Geist aber der eines Zwölfjährigen, und er war kraftvoll. Er wollte sich ausprobieren, unbedarft wie ein Kind. Und das Rad natürlich.
Nachdem er die Deichböschung bewältigt hatte, strampelte er über den Weg auf der Krone. Hier gab es Asphalt, er war nass und glatt. Er verlagerte sein Körpergewicht und ließ das Vorderrad hochsteigen. Wie ein zu bändigendes Wildpferd. Der Reifen prallte zurück auf die Teerstraße. Mit einer weiteren Körperwendung legte er das Rad seitlich. Er bremste scharf und ließ sein Mountainbike in Schräglage schleudern. Gut, dass die enge Deichstraße regenfeucht war. Mama wäre stolz auf seine Fahrkünste. Nur konnte er ihr nichts davon erzählen. Die Strafe für sein verbotenes Tun wäre fürchterlich. Fahrrad weggeschlossen. Stubenarrest. Sie hatte ihn gewarnt, nie zu viel zu riskieren. Er wäre nicht so gesund wie die anderen großen Jungs, er müsse aufpassen.
Tiez, der die Aktion liebte, wusste es plötzlich. Er musste zurück nach Hause. Noch einen schnellen Sprint. Noch kurz mit dem Rad an der Deichkante abheben, ein paar Meter durch die Luft springen und im unauffälligen Auslauf zurück auf die Dorfstraße. Er drehte um.
Tiez sah in seinem langen Rückspiegel, wie sich die Scheinwerfer eines Autos näherten. Es war schnell, und es fuhr fast lautlos. Der Fahrer hielt direkt auf ihn zu. Wer ihn verfolgte, konnte der kindliche Mann nicht sehen. Der Schattenmann hinter dem Steuer schien wild entschlossen. Tiez trampelte und trampelte. Er schlug Haken, musste aber nach ein paar Sekunden einsehen, dass er keine Chance hatte. Doch er kannte jeden Winkel im Dorf.
Er riss das Rad herum und steuerte auf ein Gartentor zu. Durch das triefend nasse Gras im Obstbongert der Nachbarn eilte er. Das würde Ärger geben, wenn ihn jemand erwischte. Doch das Dorf saß vor dem Fernseher oder schlief. Wenn das Fahrzeug des Verfolgers Motorenlärm erzeugt hätte, wäre das anders gewesen. Tiez sah die Scheinwerfer des lautlosen Autos, wie sie vom Deich her nach ihm tasteten. Der Fahrer wendete hin und her, um viel Fläche auszuleuchten. Nicht immer funktionierte es, unsichtbar zu bleiben, wenn Tiez verbotene Wege nutzte. Diesmal schon, weil das Licht der nächsten Laterne ausgefallen war, als er die Straße erreichte, die im fahlen Licht kaum noch spiegelte. Er sah sich um.
Tiez atmete durch, niemand war zu sehen. Nicht, dass er Angst im Dunkeln hatte. Er war schließlich ein erwachsener Mann, und Angst redete ihm höchstens seine Mutter ein. Davon war er überzeugt. Aber wenn er mitten im Dorf, hier auf ihrer kleinen Straße, der Himmelsstiege, jemandem begegnete, würde er in der diffusen Dämmrigkeit nicht erkennen, wer es war. Das mochte er nicht.
Jetzt war er nur noch fünfzig Meter von der Hecke von Bert Schreiber entfernt. An ihr musste er vorbei, um nach Hause zu kommen. Er würde schnell sein mit dem Rad. Doch dann sah er, dass aus der Gegenrichtung ein Mann auf ihn zukam. Er hatte eine Stange in der Hand. Wieder der. Aber niemand, den er kannte. Er kannte die meisten Nachbarn auch aus den neuen Streusiedlungen ums Dorf herum. Dieser Mann war keiner von hier. Oder höchstens einer von den neu Zugezogenen. Die waren vereinzelt gekommen in den letzten Jahren und hielten sich für was Besseres. Manche sah man, andere blieben für sich.
Er radelte etwas schneller und wechselte auf die linke Straßenseite. Nicht aus Angst, nein, aus Vorsicht. Der Mann drückte sich an den Vorgärten der anderen Seite entlang. Die Stange ließ er an seiner Seite herunterhängen. Als sie sich auf gleicher Höhe befanden, trat Tiez heftig in die Pedale, geduckt, leise, unsichtbar. Er erreichte die wilde Hecke der Lürsens, stoppte, schaute sich um. Der Mann war weg. War er in eins der Häuser gelaufen? Ein Einbrecher? Was sollte die Stange sonst?
Aber das war auch gleich. Jetzt musste Tiez noch in die Seitenstraße der Himmelsstiege abbiegen und vor allen Blicken verborgen über den alten Wirtschaftsweg fahren. Dann wäre er fast zu Hause, nur noch hinten durch den Garten, und seine Mutter hätte von seinem Ausflug nichts bemerkt. Der rauer werdende Wind rüttelte an den alten Fliedersträuchern und dem dahinterstehenden Apfelbaum. Er riss feuchte Blätter ab, die auf den Gehsteig und den Straßenbelag klatschten. Tiez tastete in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel für die Verandatür. Er musste ihn bereithalten, um schnell ins Haus zu kommen.
Seine Laune war wirklich abgekühlt. Er war wütend auf sich selbst, dass er wie ein Angsthase durch sein dunkles Dorf eilte. Und das Rad nun durch den schmaler werdenden Weg schob, der hinter den Gärten verlief, statt die nächste Kurve eng zu nehmen. Schon Hunderte Male war er hier langgegangen. Nun fürchtete er sich vor dem, was ihm hinter der dicht gewachsenen Hecke, die wie eine Wand wirkte, begegnen würde, als er ein Geräusch hörte. Was war das für ein Laut? Ein großes Tier? Der böse Wolf mitten im Wohngebiet?
Tiez drehte sich um und spähte. Die ungezähmten Äste der Hecke versperrten ihm die Sicht auf den Weg. Er schwankte. Da hörte er ein neues Geräusch. Ganz nah. Als wäre ein Gegenstand über einen herabgefallenen Ast hinweggerollt und hätte ihn zerbrochen. Jemand war hinter ihm her!
Er schleuderte sein Mountainbike unter die herabhängenden Äste und rannte los. Ein Auto rollte lautlos auf ihn zu. Ohne Licht. Nicht mehr weit, dann konnte Tiez hinter der Hecke von Bert Schreibers Garten verschwinden. Er kannte die verborgene kleine Pforte darin. An Mutters Garten war er ja aufgeschreckt vorbeigestapft. Wegen dieses furchtbaren Geräuschs.
Berts Hecke war ordentlich geschnitten. Er musste an den eckig geformten Hainbuchen vorbeilaufen, das Auto kam näher. Dann schien es festzustecken im enger werdenden Pfad. Jemand riss eine Tür auf und schnellte hoch. Eilige Schritte. Er war wieder da!
Tiez erreichte Schreibers Pforte, lief über den Gartenweg. Er übersah die Steinkante des Wegs, trat dagegen, taumelte und fiel in den Komposthaufen am Ende der Gemüsebeete. Ein paar Sekunden blieb er regungslos liegen, sein Gesicht in den feuchten Untergrund gepresst. Er traute sich nicht aufzublicken. Dem kindlichen Mann schossen die Tränen in die Augen. War es Angst, war es Wut? Ganz sacht bewegte er nun seinen Kopf auf die Seite und öffnete ein Auge.
Der Mann hatte die Pforte erreicht und stolperte über das schief hängende Törchen. Er schaute sich um. Er hielt die Stange, bereit, sie zu benutzen. Doch kein Lichtschein half ihm zu finden, wen er suchte. Er zog eine fingerdicke Lampe aus der Hosentasche. Nein, zu gefährlich, man würde ihn sofort entdecken. Das konnte er wohl nicht riskieren.
Der Mann trat einen Meter nach vorn, dann wieder zur Seite. Auf den Komposthaufen zu. Er hob die Stange, bereit zum Schlag. Tiez spürte, wie der Boden ein wenig unter dem sich nähernden Schritt wankte. Nein, nicht. Nicht näher. Der Mann wendete sich kurz vor einer Gartenbank ab, deren Umrisse sich schattenhaft abzeichneten. Er blieb stehen. Er wartete, auf eine kleine Bewegung, auf ein Atmen.
Tiez hielt die Luft an. Er konnte nicht mehr, gleich würde er losbrüllen. Sekunden vergingen in Stille und Dunkelheit. Dann bellte einer von Alma Argonds Hunden. Kurz. Der Mann gab auf. Er drehte leise ab und verließ den Garten. Wieder baumelte die Stange in seiner Hand.
Tiez hörte, wie der Mann die Autotür schloss, das Auto schrammte mit leisem Quietschen an den Ästen der Hecke entlang. Die Geräusche der abrollenden Reifen. All das entfernte sich in Richtung Seitenstraße. Der Mann würde ihn nicht finden. Niemand außer ihm war noch in Bert Schreibers Garten. Laut presste er Luft in seine Lungen.
»Mutter! MUTTI!« Er schrie hemmungslos.
Sie musste ihn doch bemerken, ihr Haus lag auf der anderen Seite der Ziersträucher. Nichts war zu hören. Er drückte sich aus dem Kompost hoch und lief erneut los. Heraus aus der schützenden grünen Wand der Hecke, durch die Pforte, über den alten Wirtschaftsweg, von hinten in den Garten seiner Mutter. Hastig wühlte er in der durchnässten Hosentasche, der Schlüssel verhakte sich im Innenfutter. Er riss an ihm und zerfetzte den Stoff. Fiebrig suchte er das Schloss, steckte den Schlüssel hinein, drehte ihn um und schob die Tür auf. Tiez wollte sie schon hinter sich zuwerfen. Aber er mahnte sich, keinen Lärm zu machen. Holte tief Luft und drehte den Schlüssel von innen um. Doppelt. Erleichtert lehnte er sich mit dem Rücken an das Türblatt.
Er sah nicht, wie der Mann an der Ecke zur Himmelsstiege in sein Auto einstieg und die Reichweitenanzeige der Batterie anschaltete, feststellte, dass der Elektromotor ihn still und leise wieder zurückbringen würde. Dorthin, wo niemand Verdacht schöpfte.
Tiez hatte auch nicht bemerkt, was schon zu Beginn seiner Fahrt nicht gestimmt hatte. Dass er am Nachbarhaus doch nicht allein gewesen war. Jemand hatte an die Wand gelehnt dagesessen. Aufrecht, aber regungslos und lautlos und tot.
Was auf Bert Schreibers Grund und Boden passiert war, würde das Dorf für immer verändern.
Eine wohltuende innere Ruhe durchflutete ihn, nur selten kam ihm der Begriff »Zufriedenheit« in den Sinn, so wie jetzt, in diesem Augenblick. Er hatte alles richtig gemacht. Tausende von Kilometern lagen zwischen ihm und beruflichen Plänen, beziehungstechnischen Sorgen, den Plagen des Alltags und den Widerlichkeiten seiner gesundheitlichen Beschwerden.
Der stattliche Mann im besten Alter lächelte versonnen in sich hinein. Aufrecht, beide Arme vor der Brust verschränkt, stand der große Arndt Kunstmann auf der Deichkrone, eine leichte Sommerbrise wehte durch sein spärliches, nackenlanges Haar. Stille um ihn herum, durchatmen, aufatmen.
Er nahm mit professionellem Panoramablick seine Umgebung wahr, Einzelheiten in unterschiedlichen Weiten und Schärfen. Den Mischwald, die Aue, schwarzbunte Kühe und Kopfweiden, dahinter den Rhein, die Binnenschiffe in gemächlich erscheinender Bewegung, in der Ferne die Türme des Xantener Doms und, mit einem Schwenk nach links, in unmittelbarer Nähe vor ihm die Himmelsstiege, die kleine Straße mit dem abstrakten Muster geflickter Schlaglöcher, in der er wohnte.
Welch malerischer provinzieller Anblick von der erhöhten Position des Deichs her. Arndt Kunstmann dachte spontan zurück an die gediegene Premierenfeier zu seiner Dokumentationsreihe über die Begräbniskultur am Niederrhein.
Fünf Jahre war es her, seit er Geistlichkeit, Presse und seine Crew im Studio versammelt hatte, um auf den Erfolg der vierteiligen Serie, die der WDR im Abendprogramm ausstrahlte, anzustoßen. Im Verlauf des Abends beklagte er, der gefeierte Dokumentarfilmer, das städtische Leben in Duisburg, die fehlende Ruhe und Abgeschiedenheit, die aufdringlich weltoffene Art der Ureinwohner des Ruhrgebiets, die sich ständig in übersteigerter Kontaktfreude ausdrückte, sei es beim morgendlichen Brötchenkauf oder aus dem geöffneten Fenster im Nebenhaus. Überall wurde er genötigt, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit und unabhängig davon, ob er sich in entsprechender Stimmung befand oder nicht.
Ein verständnisvoll dreinblickender Vertreter der überregionalen Presse hatte ihm daraufhin einen nahezu väterlichen Rat ins Ohr geraunt: »Zieh aufs Land, dorthin, wo dich keine Sau kennt. Glaube mir, ein intellektuell einfaches Umfeld und geografische Abgeschiedenheit sind Gold wert in unserer Branche. Und du findest garantiert jemanden für gelegentliche Bettgeschichten. Man ist verschwiegen in solchen Dingen.«
Seit vier Jahren lebte der preisgekrönte Filmregisseur nun in Bislich-Büschken, dem kleinsten, abseits gelegensten, langweiligsten Dorfteil, den er sich in seiner Phantasie ausmalen konnte, mittendrin und doch für sich. Jedenfalls größtenteils. Bevor er den Entschluss besiegelte, hatte er Erkundigungen über die Gegend und speziell dieses Dorf eingezogen und dabei festgestellt, dass als einziges mediales Ereignis ein Mordfall im Jahr 2005 den Landfrieden gestört hatte. Unwichtig für seine Pläne.
Er hatte sich ein einfaches Siedlungshaus aus den Sechzigern nach seinen Vorstellungen ausbauen lassen und hochmodern eingerichtet. Außen biederer Klinker und innen futuristische Möbel aus Düsseldorfer Designgeschäften. Hinter seinem Garten lag der Wald, was ihm sehr entgegenkam, für Abgeschiedenheit zu den Seiten sorgten dichte, hohe Buchenhecken.
Was ihn, den selbst ernannten Eremiten, in der ersten Zeit an seinem beherzten Entschluss zur Landflucht zweifeln ließ, war die Erfahrung, dass er von den Anliegern der Straße, seinen direkten Nachbarn, zu allen möglichen Feiern eingeladen wurde. Die vorbehaltlosen Versuche, ihn in das dörfliche Leben zu integrieren, kamen ihm rührig vor, stellten jedoch seine Entscheidung manches Mal ernsthaft in Frage.
Zwei Schützenbrüder standen mit einer Uniform, gefiedertem Hut und einer Beitrittserklärung für den Verein vor seiner Tür. Die Kirchengemeinde sammelte für den Martinszug, der Förderverein des Familienzentrums wollte ihn als Mitglied gewinnen. Die Pfadfinder boten gegen eine freiwillige Spende ihre Dienste in Haus, Garage und Garten an. Die Kinder klingelten zu Halloween und erwarteten Süßigkeiten, die Pumpennachbarschaft lud zur Feier am Brunnen ein. Alle hatten im Laufe des ersten Jahres seine Zurückhaltung akzeptiert, was er mit Wohlwollen registrierte, denn mittlerweile lud man ihn nicht einmal mehr zum alljährlichen Straßenfest ein. Gott sei Dank. Der Weg zur eigenen Mitte schien für immer geebnet.
Etwas war anders an diesem frühen Samstagabend, passte nicht ins Bild. Schon von Weitem nahm er eine ungewöhnliche Unruhe wahr, die sich wie diese kindische Girlande mit den Schützenfähnchen kreuz und quer über die beschauliche Straße zog. Ein Rufen und Laufen, wuselige Aktivitäten schienen sich durch diverse Häuser zu ziehen. Deren Bewohner, sobald sie einander habhaft wurden, umarmten sich stürmisch, steckten die Köpfe zusammen. Es gab wohl Anlass, sich zu beglückwünschen. Je näher er seiner Burg kam, desto unverständlicher erschienen ihm die Gesten seiner Nachbarn. Was war los in seinem Beritt?
Es war Anfang Juni, zu spät für das Osterfeuer und zu früh für das Sommerfest. Zu dieser Zeit, gegen achtzehn Uhr dreißig an einem Samstag, wurde in Büschken eventuell noch der eine oder andere Wagen in der Einfahrt poliert. Aber selbst die Rasenmäher schwiegen, da zur Vorabendmesse das geschäftige Leben ein leises Ende fand. Nun dieser Aufruhr.
Er betrachtete sie, seine Dörfler, aus mittlerer Entfernung und nahm Details in den Fokus, deren Deutung ihm umso rätselhafter erschien, je näher er der Siedlung kam.
Da schleppte Stefan Rutkowsky, dieser angeberische Highender, der ständig unüberhörbar mit technischen Innovationen in, um und vor dem Haus protzte, seinen riesigen multifunktionalen Grillautomaten gemeinsam mit seiner Frau zu den Schreibers, die direkt gegenüber von ihm lebten. Die beiden älteren Zwillinge von der Ecke, denen aufgrund ihrer geistigen Eingeschränktheit ein Leben mit kindlich-fröhlichem Gemüt beschieden war, mühten sich mit einer Biertischgarnitur ab. Sie schlugen die gleiche Richtung ein wie das Paar mit diesem überdimensionierten, kastenförmigen Luzifer-2000-Grill.
Ob die Schreibers einen runden Geburtstag feierten? Nein, dann hätte die emsige Nachbarschaft in mühevoller Kleinarbeit einen Kranz aus Grünzeug mit Blüten aus Krepppapier gebunden und unter lautem, angesäuseltem Gegröle die Eingangstür aufwendig damit umrahmt. Traditionelles, hochprozentig begossenes niederrheinisches Ritual, Dauer mindestens eine Woche, zelebriert mit diversen feuchtfröhlichen Zusammenkünften. Nichts dergleichen hatte er bemerkt. Nein, es musste einen anderen Anlass für dieses Zusammenrotten wohlgelaunter, ja nahezu euphorisch anmutender Menschen geben.
Arndt Kunstmann atmete tief durch und wechselte die Straßenseite, einer der Zwillinge, die im Dorf Tiez und Köbes gerufen wurden, lief auf ihn zu und in gekonntem, wortlosem Bogen an ihm vorbei. Selbst er grüßte ihn nicht mehr, sondern stürzte zur Haustür des ersten Hauses, in dem ein älteres Paar und ein ausgeflippter Junggeselle lebten, dessen Kleiderschrank er gern mal filmisch zum Thema »Schlechter Geschmack macht noch keinen Modetrend« dokumentieren würde.
Manchmal taten ihm die Augen weh, wenn er den ansonsten unscheinbaren Mann, der angeblich bei der Kriminalpolizei arbeitete, in Leopardenhose mit gestreiftem T-Shirt zum Bäcker schlendern sah. Diese optische Auf fälligkeit hatte sich so schmerzhaft bei Arndt Kunstmann eingebrannt, dass er sich sogar den Namen des modischen Ungeheuers gemerkt hatte: Nikolas Burmeester. Struppige Frisur, schmales Gesicht, verträumte Augen, aber ein energischer Zug um den Mund und eine athletische Figur, vielleicht um die dreißig. Ein durchaus sympathischer Kerl, wenn diese Geschmacksverirrung nicht wäre.
Während er den Vorgarten passierte, öffnete die ältere, freundliche Dame die Tür, aus dem Zwilling sprudelte es hervor.
»Tante Krafft, du musst mit uns feiern. Wir haben es geschafft, sagt meine Mama, wir kriegen endlich mal einen großen Topf.«
Die Frau lachte. »Was kriegen wir? Langsam, Tiez, erzähl mir in aller Ruhe, worum es geht.«
»Die Isolde von nebenan kam vorhin zur Mama und sagte, der Bert, also ihr Mann, wäre ganz sicher. Weil das doch die Geburtstage von der Familie sind. Und jetzt feiern wir bei ihm. Und der Köbes bindet Herta schon die Schleife um.«
»Tiez, ich verstehe kein Wort. Die Herta, das ist doch euer Minischweinchen, oder?«
Heftig nickte der Mann mit der pomadigen Frisur. »Ja. Klein und schlau und immer hungrig.«
»Und? Wieso kriegt Herta heute eine Schleife?«
»Die Mama sagt, das muss so sein, weil die Herta ein Glücksschwein ist.«
»Ein Glücksschwein?«
»Ja, wegen der Geburtstage vom Bert.«
Der Mann der älteren Frau gesellte sich zu ihr und schien zu verstehen, was besagter Tiez ihr berichten wollte. Nur konnte Arndt Kunstmann ihn nicht verstehen, da er mittlerweile das nächste Haus, in dem die Rutkowskys wohnten, mit schnellen Schritten passierte. Er wollte seine Tür hinter sich schließen, bevor man ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite aus entdeckte.
Denn das schien ein Tag zu sein, an dem diese einfachen Menschen zu allem bereit waren, und ihm stand nicht der Sinn nach unkontrollierter Kontaktaufnahme. Hastig fingerte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche und führte ihn mit zittrigen Fingern ins Schloss. Da geschah es. Frank Lürsen, sein Nachbar zur Rechten, dieser hundertfünfzigprozentige Vorzeige-Öko, kam mit einer Flasche in der Hand auf ihn zugelaufen. Er wagte es, seine Einfahrt zu betreten, sich seinem Dunstkreis zu nähern, ja, er besaß sogar die Dreistigkeit, ihn anzusprechen.
»Herr Kunstmann, wollen Sie nicht mit uns feiern? Ich habe auch ein Schluttweiler mitgebracht.«
Kunstmann stand wie versteinert vor seiner Haustür und starrte den Eindringling an, der sich zu einer Erklärung genötigt sah.
»Das ist ein würziges dunkles Bier, die kleine Privatbrauerei im Münsterland braut ausschließlich mit biologisch reinen Zutaten.«
Was wollte dieser Mann in farblosen Gesundheitslatschen von ihm? »Schluttweiler«, sagte er nur.
»Genau. Kommen Sie doch rüber und stoßen Sie mit uns an.«
»Weshalb sollte ich mit Ihnen Schluttweiler trinken?«
Bert Schreiber löste sich aus dem wohlgelaunten Pulk, der mittlerweile seine Einfahrt bevölkerte, und rief Frank zu, er solle den Einsiedler in Ruhe lassen und mitkommen.
»Der gehört eben nicht dazu. Wir, die Gemeinschaft der Ureinwohner, sahnen ab, der wird schon sehen, wo er mit seinem einsamen Leben fern der Nachbarschaft bleibt. Los, komm, wir holen Paul und Barbara, die müssen doch mitfeiern, wie et sich gehört.«
Frank Lürsen schluffte in seinen vegan hergestellten Sandalen über die Straße, reihte sich in den Tross ein, der nun nordwärts zog, und Kunstmann nutzte die Chance, unbehelligt und ohne Schluttweiler die Tür hinter sich zu schließen. Er schlich sich in die Küche, blickte, versteckt hinter einem fast dichten Rollo, weiter auf das ungewöhnliche Geschehen jenseits seines Vorgartens. Die neuen Fenster mit der Dreifachverglasung ließen keine Geräusche zu ihm vordringen, er langte nach dem Fenstergriff und stellte es langsam auf Kipp.
Von links betrat der andere Zwilling die Szene, die der legendäre Rainer Werner Fassbinder gedreht haben könnte, ruhig, den kleinen Bauch vorgeschoben wie der kleine Häwelmann auf alten Bildern in dem Märchen von Theodor Storm. Die Leine in der Hand des jungen Mannes verband ihn allerdings nicht mit dem Mond, stattdessen führte er sein übergewichtiges Zwergschwein spazieren. Das war so weit noch nichts Ungewöhnliches, er wusste um dieses spezielle Haustier. Kunstmann irritierte vielmehr die riesige rosafarbene Schleife, die am Halsband befestigt und fast größer als das kleine quiekende Tier war und zu den Trippelschrittchen luftig federte. Was war hier los? Sollte es etwa gegrillt werden, würde das Urvolk hinter dem Deich dem Vollmond ein Tieropfer bringen?
Er musste sich an die Ecke seiner Arbeitsplatte stellen und recken, um zu beobachten, wie eine Abordnung dieser munteren Leutchen, drei Männer und die Frau von Bert Schreiber, Isolde, »nennen Sie mich Isi, das machen alle hier«, die einmal in der Woche bei ihm putzen kam, vor dem letzten Haus der Siedlung, in dem Paul und Barbara Aengenholt wohnten, lautstark um Einlass rief. Sie klopften an die Fenster, bollerten an die Eingangstür und riefen, anscheinend war niemand daheim. Unverrichteter Dinge zog die kleine Gruppe wieder zurück zu der Einfahrt, in der sich immer mehr Dörfler einfanden.
Das konnte interessant werden. Kunstmann, der neugierige Dokumentarfilmer, der eine lebensechte Story witterte, traf eine Entscheidung.
In der oberen Etage befand sich sein Arbeitszimmer zur Straße hin, er hastete die Freitreppe hinauf, schaltete den Bildschirm ein, der ihm auf einen Blick die vier Perspektiven der Überwachungskameras präsentierte, die optischen Wächter seiner Burg, die stets wachen Augen, die selbst Igel und Spitzmäuse sichtbar machten und ungebetene Eindringlinge abschrecken sollten. Das Programm löschte bei üblicher Einstellung die Aufnahmen automatisch nach vierundzwanzig Stunden.
Er loggte sich in das System ein und veränderte die Programmierung. Ab sofort würden ihm die Aufnahmen des Abends und der folgenden Nacht für mindestens eine Woche zur Verfügung stehen. Möglich, dass er die Bilder nutzen konnte. Die Himmelsstiege war offensichtlich im Ausnahmezustand. Und er wohnte im Auge des Orkans von Büschken.
***
Nikolas Burmeester hatte das K1 nach einem ereignislosen Bereitschaftsdienst in die Hände des Kollegen Gero von Aha übergeben, der wieder einmal kopfschüttelnd bemerkt hatte, dass die schwere Eingangstür zum Flur des Dienstbereichs klemmte. Seit Jahren wurde das alte Gebäude am Herzogenring in Wesel stiefmütterlich behandelt, und besonders dem Kollegen von Aha, der großstädtische Büroausstattung gewohnt war, stießen die Mängel ständig ins Auge. Um dem neuerlichen Gemecker über die baulichen Unzumutbarkeiten zu entrinnen, hatte Kommissar Burmeester ihm schnell eine ruhige Nacht gewünscht.
Der Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem seitlich abstehenden Haupthaar hatte nur kurz genickt und sich das Sommerhemd glatt gestrichen. Gero von Aha achtete immer auf seine Kleidung, er hatte in einer Stilberatung gelernt, welche Farbkombinationen ihm standen. Nicht nur damit betonte er, dass er sich in dieser Behörde für etwas Besonderes hielt.
Burmeester selbst konnte einen freien Sonntag gut gebrauchen. Die Überstunden in seinem Kommissariat, die sich durch den langen Ausfall der Hauptkommissarin ergeben hatten, lasteten zwar auf vielen Schultern, konnten jedoch auch nach ihrer Rückkehr aus der angemessenen Rekonvaleszenz nicht einfach so abgegolten werden. Die Kollegen wollten ihre Chefin, die im letzten aufsehenerregenden Fall am Niederrhein nach einer körperlichen Attacke verletzt und mit seelischen Blessuren aus ihrer Gefangenschaft gerettet worden war, nicht gleich wieder mit Doppeldiensten belasten. So blieb nur die Auszahlung der Mehrstunden, Abbau war nicht möglich.
Das gesamte Kommissariat war froh, dass Karin Krafft wieder an Bord war. Für den Neustart hatte sie sich eine andere Frisur gegönnt. Ein Symbol. Sie stand ihr gut, etwas länger und mit Naturwelle. Weiblich. Ein Blick auf ihren rechten Arm zeigte, dass der kosmetische Eingriff am Oberarm, wo man ihr die Tätowierung entfernt hatte, gut verheilt war. Damit konnte sie leben.
Welche Spuren tief in ihr drin geblieben waren, konnten die Kollegen nur ahnen. Wichtig war, sie war wieder im Dienst. Zuverlässig und gedankenscharf wie eh und je. Einer wie Burmeester wusste das zu schätzen.
Schon als er mit seinem Auto von Bislich aus kommend im Ortsteil Büschken auf die Himmelsstiege abbog, war ihm klar, dass dies kein gewöhnlicher Samstagabend werden würde. Die Nachbarschaft schien in Feierlaune, was erfahrungsgemäß an keinem Bewohner vorbeigehen konnte. Außer vielleicht an dem exzentrischen Möchtegern-Promi, dem Filmer, der durch seinen selbst gewählten Rückzug auf die eigene Scholle seit mehreren Jahren für Gesprächsstoff sorgte.
Garantiert würde Johanna Krafft, die leutselige Mutter seiner Chefin und seine Vermieterin, Bescheid wissen und ihn sofort, nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, über den Anlass aufklären.
Wäre sie jünger, hätte er ihr längst vorgeschlagen, als Quereinsteigerin zur Polizei zu gehen. Zuarbeiten, recherchieren, Nachrichten detailliert weiterleiten oder komprimieren, sich mit berechtigten Schwerpunkten undiplomatisch durchsetzen, das alles waren Tätigkeiten, die viel Zeit bündelten, und eine zusätzliche Kraft, haha, wie eine Johanna Krafft, würde das Kommissariat deutlich entlasten.
Nikolas Burmeester stellte umgehend fest, dass er danebengetippt hatte, denn Johanna wartete nicht im Hausflur auf ihn. Sie öffnete ihm die Haustür und zog ihn strahlend ohne Gruß und Kommentar in ihre Wohnung. Burmeester wusste, wo hier sein Platz war. Auf dem Esszimmertisch stand die Tasse für seinen Tee parat, auf dem kleinen Tischset, dessen Mohnblumenaufdruck auffallend verblasst war. Henner Jensen, Johannas Lebensgefährte, saß bereits am Kopfende des Tisches und grinste ebenfalls.
Burmeester fühlte sich unwohl. »Was ist denn? Ich bin ganz irritiert.«
Jensen übernahm die Koordination. »Setz dich erst mal, Junge, und nimm einen Schluck Ostfriesentee.«
Johannas Hand erwies sich beim Einschenken als unsicher, auf dem Tischset bildete das verschüttete Getränk Perlen, die sie hastig mit einer Serviette aufwischte.
»Sorry, aber ich kann nicht einfach zum Teetrinken übergehen, ohne zu wissen, was hier los ist. Also, raus mit der Sprache, und danach nehme ich ein Tässchen.«
Die beiden anderen sprachen sich mit den Augen ab, der Blick zwischen ihnen besagte, Johanna solle loslegen. Sie setzte sich in Positur und räusperte sich, wirkte unsicher wie ein Teenager, kicherte, bevor sie sprechen konnte.
»Nikolas, wir sind dabei.«
Burmeester wartete geduldig einige Sekunden auf den Kern der Nachricht, Johanna versagte die Sprache.
»Bitte erklärt es mir. Wo sind wir dabei?«
Henner lachte und übernahm das Wort. »Du erinnerst dich, dass Johanna immer den Plan macht für die Abgabe des Lottoscheins? Sie kümmert sich darum, dass neue Zahlen notiert werden, wenn jemand etwas an seiner Reihe verändert haben möchte, fragt nach, ob jeder noch an Bord ist, und weiß, wer in welcher Woche den Weg zur Annahmestelle übernimmt.«
»Ja, und ihr habt mich im letzten Jahr zur Teilnahme überredet. Das Dorf, das gemeinsam Lotto spielt. Gewonnen haben wir nie.«
Die beiden älteren Herrschaften saßen nun breit grinsend vor ihren Tassen, im Hintergrund schien der stattliche Hirsch auf dem alten Ölgemälde lauter als sonst in den Tannenwald zu röhren.
»Und? Haben wir fünf Richtige und gehen ganz ordentlich essen?«
Dieses Mal schüttelten sie mit einheitlich seligem Gesichtsausdruck unisono die Köpfe.
»Dann, jetzt, nun, los, raus mit der Sprache, wie viel ist es?«
Henner Jensen schnappte nach Luft und brachte mit zittriger Stimme eine unglaubliche Zahl zum Vorschein. »Sechzig Millionen …«
Johanna ergänzte mit leuchtenden Augen: »… wenn wir den Jackpot allein haben.«
Burmeester fühlte sich auf den Arm genommen. Das konnte doch nicht sein. »Der erste April ist vorbei, dieser Scherz ist echt öde. Was wollt ihr mir also eigentlich mitteilen?«
Henner Jensen sprang fast jugendlich leicht auf und klatschte in die Hände. »Nein, nein, Nikolas, das stimmt. Du kannst anfangen, dich an folgenden Gedanken zu gewöhnen: Ab heute ist jeder Einzelne aus der dörflichen Tippgemeinschaft, der offiziell und bei Johanna registriert mitgemacht hat, ein mehrfacher Millionär. Also alle von der Himmelsstiege, fast alle, nur dieser Arroganzling aus der Stadt nicht.«
Johanna nickte mit hochroten Wangen heftig und ließ ein klirrendes Lachen hören. Burmeester war sich nicht sicher, er glaubte für einen Moment, so etwas wie Schadenfreude wahrzunehmen.
Johanna war hin- und hergerissen. »Ich hätte nicht gedacht, dass Geld mich jemals in Wallung bringen würde. Ich habe doch alles, was ich zum Leben brauche, ich weiß gar nicht, ob ich mich dann freue, wenn die Millionen auf unserem Konto eingegangen sind. Das ist so unmoralisch viel Geld.«
Henner Jensen stand auf und holte eine Flasche Korn und drei Pinnchen aus dem Esszimmerschrank.
»Komm, Junge, darauf trinken wir erst mal einen Schluck.«
Burmeester fehlten die Worte, wie in Trance erhob er das Glas und stieß mit den beiden an.
»Hopp, hopp, in de Kopp.« Es war Johanna, die den typisch niederrheinischen Trinkspruch ausbrachte.
Erst als das scharfe Getränk sich den Weg durch seine Kehle in den Magen brannte, wurde Burmeester bewusst, dass er soeben am Tisch seiner Vermieterin eine phantastische Nachricht erhalten hatte, die für sein Leben unglaubliche Konsequenzen haben würde. Neue Chancen taten sich auf, gründeten eine gedankliche Kolonie in seinem Kopf, bewirkten das Aufleben eines lange ersehnten, nie erreichten Ziels. Freiheit, um bestimmte eigene Entscheidungen zu treffen. Er erhob sich, dankte höflich für den Korn und begab sich auf den Weg zur Treppe.
Johanna lief hinter ihm her. »Und dein Tee?«
Die Stimme erreichte Burmeester aus weiter Ferne. Er drehte sich in Zeitlupe um, zu viele Bilder rauschten ihm durch das Hirn. »Was? Nein, danke, ich muss mich einen Moment hinlegen.«
»Kommst du nachher mit zu Schreibers in die Einfahrt? Dort feiern die Nachbarn.«
»Wer feiert? Ach so, ja, ich komme nach.«
Oben unter dem Dach angekommen, öffnete er sein Fenster mit Blick auf den Rhein und atmete tief durch. Selbst eine einzige Million hätte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Aber das hier war geradezu uferlos und utopisch. Über seinen Bereitschaftsdienst hinweg war er zum mehrfachen Millionär geworden.
Er griff nach seinem Handy. Yasmin musste sofort erfahren, mit wem sie seit heute zusammen war. Kaum hatte er ihre Nummer aufgerufen, ließ er das Gerät wieder sinken. Nein, nicht am Telefon. Und nicht einfach so.
Er, Nikolas Burmeester, gezeugt in Indien unter Bhagwans Augen in einer Aussteigerkommune und aufgewachsen an vielen Wohnorten quer durch die Republik, geschlagen mit einer esoterischen Mutter, unter Aufsicht einer aufmerksamen Vermieterin, er, der jüngste Kommissar im K1, der mit seinen krassen Outfits immer wieder für Verwirrung zu sorgen wusste, als könne er ohne diese Form der Aufmerksamkeit nicht leben, er würde seiner Angebeteten nun endlich einen Heiratsantrag machen. Standesgemäß mit Kniefall und roter Rose.
Er suchte im Smartphone über das Internet die Nummer eines bekannten Restaurants in Wesel und sorgte für einen Mittagstisch, abgelegen im Nebenraum. In feinem Ambiente. Alles klar. Nun wählte er Yasmins Nummer, sie meldete sich mit ihrer wunderbar säuselnden Stimme, die sie nur für ihn im Repertoire hatte.
»Ja, Lieber, was gibt’s?«
»Hast du morgen Mittag was vor? Egal was, bitte sag es ab, wir zwei gehen schick essen.«
»Wenn ich am Nachmittag wieder in Wesel bin, dann ist es okay, ich habe noch Cousinen-Kaffee.«
»Das kriegen wir bestimmt hin. Sehr schön, ich freue mich.«
»Ich auch. Gibt es einen besonderen Anlass?«
»Und wie! Sag ich dir morgen, ich hol dich ab, so gegen halb eins.«
»Klingt geheimnisvoll. Verrätst du mir, wo es hingeht, damit ich in passender Garderobe erscheine?«
»Wir zwei gehen ins ›Art‹ in Flüren.«
Yasmin kicherte kurz ins Telefon, beherrschte sich aber sofort wieder. »Lieber, dann plane du genug Zeit ein, um für diese erlesene Adresse eine geschmacklich angemessene Auslese in deinem Kleiderschrank zu finden.«
Zunächst verstand er nicht, was sie ihm mitteilen wollte, dann machte es klick. »Äh, keine Sorge, ich habe ja noch die Sachen, die ich mit dir zusammen eingekauft habe. Ich werde uns nicht blamieren.«
Nein, dachte er, ich werde dich beeindrucken, dich auf Händen tragen und dir in Zukunft alle Wünsche erfüllen, die ich von deinen hübschen braunen Augen ablesen kann.
Yasmin ließ nicht locker. »Gibt es etwas zu feiern?«
»Sei nicht so neugierig, du wirst es morgen erfahren.«
»Sehe ich dich heute Abend noch?«
»Wahrscheinlich nicht, ich habe hier eine Verpflichtung, der ich nachkommen muss.«
»Schade, dann bis morgen. Ich freu mich. Küsschen.«
»Ich schicke dir den schärfsten Kuss unserer Beziehung durch den Hörer, du wundervolles Weib, du. Schmatz.«
Er konnte Yasmin förmlich denken hören nach diesem Abschied, beendete das Gespräch, bevor sie reagieren konnte, und lächelte in sich hinein.
Ein Jubelschwall drang von der Straße aufdringlich zu ihm hinauf. Sie feierte bereits, die Gemeinschaft der Glückseligen. Plötzlich war ihm nach einem ordentlichen Vollrausch. Nach allen Regeln der Kunst. Hellwach spurtete er die Treppen hinab.
Es war noch nicht dunkel an diesem zwar bedeckten, jedoch trockenen und lauen Abend, als Burmeester vor die Tür trat und den Geräuschen folgte, die ihn auf die gegenüberliegende Straßenseite führten. Diese kleine Siedlung, in der manche Häuser bereits mit neuen Dachpfannen gedeckt und isolierenden Fenstern ausgestattet waren, wo es in den Vorgärten gepflegt blühte und blitzblanke Autos in den Einfahrten glänzten, wirkte im Dämmerlicht wie die Kulisse zu einer Vorabendserie, in der das Böse keinen Platz hat.
Während er sich dem Haus von Bert und Isi näherte, glaubte Burmeester, dass diese Ausgelassenheit über den Rhein hinweg selbst bei seiner Vorgesetzten in Lüttingen, wo sie wohnte, noch zu hören sein müsste. So ausgeflippt hatte er diese Nachbarschaft noch nicht erlebt.
Alle waren da, für die alte Oma Argond hatte Bert Schreiber einen Sessel aus seinem Wohnzimmer in die Einfahrt geschafft. Einer ihrer Hunde lag ihr treu zu Füßen, sie selbst schwenkte ein Glas mit undefinierbarem Inhalt in ihrer faltigen Rechten. Neben den Hund hatte sich das Zwergschwein der Zwillinge gesellt, verunstaltet mit einer Schleife, die schlapp an seinem Halsband baumelte.
Isolde »Isi« Schreiber hatte sich schick gemacht, was bedeutete, sie trug ein hautenges Kleid, mindestens zwei Größen zu klein und für Frauen genäht, die drei Jahrzehnte jünger waren als sie. Sie saß ihrem Gatten auf den Knien, da auf seinen Oberschenkeln mittlerweile eine große Form von Bauch ruhte, wie es bei Männern jenseits der sechzig öfter zu beobachten war. Stefan und Nicole Rutkowsky hatten offenbar nicht nur ihren supermodernen Grill zur Verfügung gestellt. Er brutzelte Schnitzel vom Wollschwein und T-Bone-Steaks vom Angusrind, und der gezimmerte Kasten mit Champagnerflaschen, die sorgsam in Holzwolle gewickelt waren, stammte ebenso aus ihren Beständen, wie Nicole nicht müde wurde zu berichten.
»Wir haben immer gehofft, ihn zu einem besonderen Anlass zu trinken. Passender geht es wohl nicht. Prost, ihr Guten, auf uns, auf die Gewinner.«
Maria Steinbrink, die Mutter der Zwillingsbrüder, achtete mit Argusaugen darauf, dass die beiden sich die Gläser nicht erneut auffüllen ließen.
Nicole wollte sich über dieses Gebot hinwegsetzen. »Aber Maria, so eine Feier gibt es nur einmal im Leben.«
»Nichts da, die beiden trinken ab sofort Mineralwasser. Den letzten Vollrausch hatten sie vor zehn Jahren, als beschlossen wurde, dass Bislich-Büschken Golddorf wird. Sie einmal im Leben völlig betrunken zu Bett zu bringen hat gereicht, das willst du nicht erleben.«
Hinter dem Sessel, in dem Alma Argond mittlerweile vor sich hinsummte, füllte Rutkowsky ihre Gläser heimlich auf. »Sagt der Mama, das ist Prickelwasser, kein Champagner.«
Silke und Frank Lürsen hockten eng beieinander am anderen Ende des Tisches, vor ihnen standen je zwei Flaschen Bier, und Frank lehnte offenbar erneut ein Glas des teuren Schaumweins ab.
»Danke, aber ich befürchte, der stammt nicht aus ökologischem Anbau. Wir bleiben bei unserem Schluttweiler, nicht wahr, Schatz?«
Silke wirkte nicht sehr überzeugt, gab sich geschlagen.
Burmeester hakte nach. »Wie heißt das Bier?«
»Schluttweiler, willst du eins probieren? Ich hole es dir.«
»Nein, danke, außergewöhnlicher Name. Aber ich bleibe bei Stefans Luxusgesöff.«
So stießen sie ein ums andere Mal an. Isi gab eine Tanzeinlage auf dem Tisch, der unter ihren prallen Beinen bebte, Alma Argond hielt sich den Bauch vor Lachen, Bert Schreiber grölte »We Are the Champions« und wollte Herta grillen, was bei den Zwillingen auf erbosten Widerstand traf.
In einem ruhigen Augenblick, die Gläser wurden von Nicole Rutkowsky erbarmungslos aufgefüllt, blickte Frank Lürsen von seiner Flasche Schluttweiler auf und schüttelte den Kopf. »Wo der Paul nur sein kann?«
Niemand schien auf ihn zu achten, oder vermied man krampfhaft, sich die Laune verderben zu lassen? Frank hatte sich in den letzten zehn Jahren einen respektablen Ruf als Spaßbremse erarbeitet.
»Wie läuft das eigentlich mit dem Gewinn? Ich meine, wie kommt das Geld ins Dorf? Wird es überwiesen, oder kommt jemand mit mehreren großen Koffern angereist?« Nicole stieß mit allen an und mied den biertrinkenden Öko, ermunterte stattdessen Isi dazu, noch eine Tanzeinlage zu bringen.
Frank Lürsens Stimme versank fast in der ausgelassenen Stimmung. »Nur der Paul kann den Gewinn einlösen, weil der die Spielquittung hat.«
Johanna hatte ihn gehört und sah sein ernstes Gesicht im Schein der Lichterkette, die Bert über den Tisch gehängt hatte. »Frank, hör auf zu unken«, sagte sie. »Wir haben doch einen Vertrag, den alle unterschrieben haben, die zur Gemeinschaft gehören.«
Frank Lürsen schaute auf, blickte ihr lange in die Augen. »Und was ist, wenn er weg ist und ganz woanders den Schein einlöst? Von der Gemeinschaft wissen wir, aber in Posemuckel wäre er der Held mit dem Millionengewinn. Ein Leben in Saus und Braus. Abgehauen mit unseren Millionen, so etwas ist denkbar, wenn einen die Gier packt.«
Er rettete seine Bierflasche vor den stampfenden Beinen von Isi, die ihrer Tanzlust freien Lauf ließ und ihre professionell enthaarten Beine erneut auf dem Tisch zur Schau stellte. Er widmete sich seinem Bier und schien seine trübsinnigen Gedanken in langen Zügen zu ertränken.
Johanna fand, er sah noch sehr nüchtern aus, und bezweifelte, ob das Öko-Bier überhaupt zu den alkoholischen Getränken zu rechnen war. Sie und Henner verabschiedeten sich in noch halbwegs nüchternem Zustand und hakten die alte Alma unter, um sie nach Hause zu geleiten.
***
Arndt Kunstmann fand keine Ruhe und zog kurz in Erwägung, die Polizei anzurufen, um den ruhestörenden Lärm offiziell beenden zu lassen, stellte das Telefon zurück in die Halterung und überlegte, ob er selbst noch einmal vor die Tür gehen sollte, um dieses Volk zu ermahnen. Nein, er würde sich nicht die Blöße geben, als einziger gescheiter Mensch in dieser Siedlung zu nächtlicher Stunde noch Vernunft walten zu lassen.
Doch er musste sich eingestehen, dass ihn die Neugier trieb. Zu gern hätte er gewusst, was die Ursache dafür war, dass sich die Ausgelassenheit dieser kleinkarierten Dörfler so ungehemmt Bahn brach. Also schlich er sich mit einem Glas Whisky on the rocks in der Hand in die Küche und begab sich im Stockdunklen noch einmal auf seinen Beobachtungsposten.
Was redeten sie da? Das war keine spontane Mittsommernachtsfeier, das lief auch anders ab als die üblichen runden Geburtstage, er konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen, was da eigentlich gefeiert wurde. Seine mollige Putzfrau Isi testete anscheinend den Biertisch auf seine Belastbarkeit und schien sich wie eine zarte Ballerina zu fühlen. Leider war sie weder jung noch talentiert.
Die älteren Leutchen vom Eckhaus waren schon gegangen und hatten die alte Frau nach Hause gebracht, die in seinen Augen Animal Hoarding betrieb, da auf ihren Fensterbänken ständig andere Katzen saßen und ein Nachbarsjunge mit unterschiedlichen Hunden Gassi lief.
Nachbar Schreiber hatte, wie es sich für einen handwerklich begabten Dörfler gehört, in aller Schnelle eine Lichterkette mit bunten Glühbirnen installiert, es wurde flaschenweise Sekt oder Champagner entkorkt, die Sprache der noch Anwesenden war bereits verwaschen. Gelächter überwog, Lautstärke und Deutlichkeit wurden nebensächlich. Bert Schreiber, sein Nachbar von gegenüber, zog die Aufmerksamkeit auf sich, erhob sich wankend und wollte anscheinend einen Trinkspruch ausbringen. Das könnte eine ausgiebige Rede werden, dachte Arndt Kunstmann.
»Liebe Nachbarn.«
Isi fiel ihrem Mann säuselnd ins Wort. »Vergiss die Frauen nicht, sag, liebe Nachbarn und liebe Nachbarinnen.«
Bert Schreiber ignorierte seine Frau, die sich nur noch knapp auf den Beinen halten konnte, und setzte seine Ansprache fort.
»Ich will mit euch anstoßen. Wir haben es geschafft. Erhebt das Glas, und du, Lürsen, nimm deine Flasche in die Hände, lasst uns gemeinsam anstoßen auf die Runde der frischgebackenen Millionäre. Nein, nein, nein, das trifft es nicht genau, ich meine auf das Dorf der Multimillionäre.«
Mit breitem Lächeln blickte er auf seine Holde. »Jaja, und auf die anwesenden Multimillionärinnen stoßen wir auch an. Mit dem leckeren Gesöff von Stefan und Nicole. Prost.«
Kunstmann hörte die Gläser klirren, zustimmendes Zuprosten, übergehend in Gelächter, Gejohle, vereinzelte Jubelrufe. Das war es also. Diese kleingeistigen Leutchen da draußen hatten offenbar im Lotto gewonnen, und zwar eine nicht zu verachtende, eine riesige Summe.
Er, der große Arndt Kunstmann, lehnte sich an den Küchenschrank und schüttelte den Kopf. So waren sie, konnten diese Neuigkeit nicht dezent zurückhalten, stattdessen posaunten sie ihr vermeintliches Glück in die Stille der Nacht hinaus, damit Krethi und Plethi erfahren konnten, wo sie sich demnächst in den Pulk potenzieller Bittsteller einreihen konnten. Sein ruhiges Dorf würde überrannt werden von ärmlichen Kreaturen mit mitleidtriefenden Schicksalen, die von dem großen Kuchen einen Bissen abkriegen wollten. Die ganze Bandbreite des Lebens, nicht am Filmort, sondern vor seiner Haustür. Es würden Scharen von zwielichtigen Gestalten hier herumlungern. Er würde seine Alarmanlage gleich zu Beginn der Woche überprüfen lassen, denn als Nächstes würden sich Verbrecher einfinden, um systematisch in sämtliche Häuser einzubrechen und alles zu verwüsten, was für sie nicht zu gebrauchen war.
Die drehbuchartig angekurbelte Phantasie des Filmers produzierte beängstigende Bilder von maskierten Männern, die sich an seinen teuren Kameras, jede einzelne ein wertvolles Sammlerstück und das Modernste für den Fachmann, vergriffen, seine Leidenschaft, die Grundlage seiner Existenz, mitnahmen oder zerstörten. Er hatte immer ein Leben im Understatement bevorzugt, nicht wie die Rutkowskys, diese Angeber aus dem Nebenhaus, die regelmäßig allen ihre Neuerwerbe präsentieren mussten. Die besoffene Horde da draußen würde sich goldene Wasserhähne bestellen und vor dem Einbau rundzeigen.
Arndt Kunstmann ging ins Wohnzimmer und schenkte sich an der Hausbar einen weiteren Single Malt ein, ließ zwei Eiswürfel aus dem Eisfach hineinplumpsen und hörte sie in der Ferne grölen: »Wir kaufen unser Omma ihr klein Häuschen …« Warum hatten diese einfach gestrickten Menschen so ein verdammtes Glück?
Er nahm einen langen Schluck, umspülte seine Zähne mit dem würzig-herben Getränk, bevor es mit leichtem Brennen seine Kehle hinablief. Warum musste er sich für seinen Erfolg abstrampeln, warum hatte er noch keine Finca auf Mallorca wie jedes zweitklassige Schlagersternchen? Stattdessen ein Haus auf dem Lande, ein selbst gewähltes Exil, demnächst umgeben von geschmacklosem Luxus und beäugt von Kriminellen aus nah und fern.
Ein Lottogewinn für das Volk. Und warum war er nicht dabei?
Er, der weltläufige Filmer aus der Metropole und Ruhesucher in der Provinz, war nicht unter den Gewinnern. Nur weil er seiner eigenen Hochnäsigkeit nachgegeben und das Angebot, in die allumfassende Tippgemeinschaft des Dorfes einzutreten, abgelehnt hatte.
Drei Dinge kommen nicht zurück: der abgeschossene Pfeil, das gesprochene Wort und die verpasste Chance, dachte Arndt Kunstmann. Eigentlich war das unverzeihlich, als freier Filmschaffender musste er Risiken einkalkulieren und hatte gerade ein kleines Tief zu überwinden. Genauer gesagt, hatte er eine Finanzspritze bitter nötig. Keine gute Position, aber auch nicht ausweglos.
Vielleicht würde er mit seinen Kontakten zu Düsseldorfer Geldleuten beeinflussen können, was man mit den Millionen machte. Den Dörflern entsprechende Ideen einpflanzen, Projekte anbieten zum Beispiel, Provision mitkassieren und gleichzeitig sein Idyll bewahren. Sollten die ruhig feiern!
Jemand zündete eine Feuerwerksbatterie, offenbar vom letzten Jahreswechsel übrig geblieben. Er ging zurück in die Küche und blickte auf die schwankenden Menschen, die mit erhobenen Köpfen und Gläsern in den Händen den zischenden Raketen nachschauten. Er hatte genug gesehen für heute, schlurfte zur Treppe, hinauf in sein Schlafzimmer, griff nach seinem Tablet und googelte die Lottogesellschaft. Nicht, dass es hier nur um eine schlappe Summe ging.
Seine Augen wurden groß, im allerbesten Fall sechzig Millionen, er sank ins Kissen, das Tablet rutschte zu Boden. Wirre Gedanken durchzogen sein Hirn, er bemühte sich um innere Ordnung. Er gehörte nicht zu den Gewinnern. Das nagte an ihm, musste er zugeben.
»Da wollen wir doch mal sehen, was sich alles entwickelt in der nächsten Zeit«, sagte er zu dem Gesicht, das ihn verzerrt aus der Spiegeltür des Kleiderschranks gegenüber seinem Bett anstarrte.
»Und ob ein Stück von diesem unverschämt riesigen Kuchen übrig bleibt.« Für ihn, den genialen Kopf, der immer Sponsoren für besondere Projekte suchte. Nie mehr Anträge, Anfragen, Promotion bis zum Umfallen, Geldgebern hinterherschleimen, nie mehr Kreditgeber im Nacken. Nur noch filmen, was er wollte.
***
Kurz vor Mitternacht, nachdem Bert seinen geheimen Vorrat an Feuerwerkskörpern abgebrannt hatte, war Rutkowskys Champagner, bester Jahrgang, seltene Sorte, immer noch nicht vernichtet, und Burmeester sah sich genötigt, weiter auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Als von der anderen Rheinseite der Glockenschlag des Xantener Doms zu ihm vordrang, schlich sich der Gedanke an seine Verabredung mit Yasmin wieder ins Bewusstsein. Schlecht, wenn er dort mit einem riesigen Kater sitzen würde. Zwei Glas noch, dann würde er sich auf den Weg machen.
Mit steigendem Alkoholspiegel stieg sein Mut, es wurde Zeit für einen Trinkspruch in dieser Runde. »Auf die Zukunft und auf die Liebe.«
Isi drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Genau, du Süßer.«
Dieser Kuss war das Letzte, das er in Erinnerung hatte, als er mitten in der Nacht wieder aufwachte. Beim Nickerchen auf dem Biertisch war ihm der Arm eingeschlafen, er ließ sich nur unter Schmerzen wieder wecken.
Die Runde um ihn herum hatte sich verkleinert. Die Frauen waren verschwunden, ebenso die Zwillinge, nur die Männer saßen noch bei den letzten Wollschweinschnitzeln. Leere Flaschen füllten malerisch die Tischmitte, auf der Isis Steppeinlagen Spuren im Lack hinterlassen hatten. Die Nachbarn unterhielten sich, während er krampfhaft versuchte, seinen Arm zu wecken. Bert Schreiber sprach noch, ohne zu lallen, der verpackte einiges. Dauerhaftes Training.
»Mensch, da hält Paul den Siegesschein in Händen und verpasst die erste Champagnerfeier der Himmelsstiege.«
Frank Lürsen wirkte völlig nüchtern. Wahrscheinlich hat sein Öko-Schluttweiler keine Umdrehungen, dachte Burmeester, getarntes Saufen. Bei ihm selbst drehte sich alles, ein schlechtes Zeichen.
»Seine Frau ist ja auch nicht zu Hause, wahrscheinlich auf kleiner Wochenendreise«, mutmaßte Frank. »Silke und ich fahren demnächst mit der Bahn ins Siebengebirge zum Wandern.«
Keiner wollte es hören, Stefan Rutkowsky kam ins Grübeln.
»Das ist doch ungewöhnlich. Die fahren zwei Mal im Jahr in den Urlaub, im Mai nach Mallorca und im September nach Gran Canaria, die sind sonst nicht mal eben weg. Und wenn, dann weiß einer von uns Bescheid und achtet auf die Blumen, betätigt die Rollläden, stellt die Zeitschaltuhren jeden Abend um und leert den Briefkasten, damit das Haus bewohnt aussieht. Ich kann ja völlig automatisch aus der Ferne sehen, was bei mir los ist, und regeln, was notwendig ist. Bei Aengenholts ist alles noch oldschool. Und jetzt schaut mal hin. Die Rollläden sind oben, und es ist kein Licht an. Wenn ihr mich fragt, da stimmt was nicht.«
Drei Männer bestätigten einander, dass es an der Zeit sei, dort nachzuschauen. Nur Burmeester nicht. Schreiber schaute auf ihn.
»Du bist doch hier der Bulle, gibt es nicht so etwas wie ›Gefahr im Anzug‹, kannst du da nicht mal reinschauen?«
»Verzug, heißt es, Gefahr im Verzug. Mit welcher Begründung sollte ich das machen? Nur weil niemand da ist mitten in der Nacht? Nee, Jungs, das reicht nicht. Und ich muss jetzt ins Bett. Ich habe heute noch was vor.«
Mit unsicheren Schritten machte er sich auf den Weg und schaffte es nur mit Mühe, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Wenn das mal gut ging und er seiner Angebeteten nicht zu verkatert unter die Augen treten würde.
Was sollte er ihr erzählen, in diesem Augenblick, der ihr gemeinsames Leben entscheiden sollte? Es gab in ihrem Denken kaum geltende Argumente, die solche Ausfälle und Unzulänglichkeiten rechtfertigten. »Schatz, ich musste meine Millionen feiern«? Zu plump, und genau das sollte sie anders erfahren. »Spontaner Junggesellenabschied«? Mit der Tür ins Haus fallen? Nein, ihm musste was richtig Gutes einfallen.
Während er auf Händen und Füßen die schmale Treppe zu seinem Appartement bewältigte und meinte, durch sein umsichtiges Verhalten die anderen Bewohner nicht zu wecken, ging es draußen zur Sache. Bert Schreiber und Frank Lürsen schleppten eine Aluleiter über die Straße und lehnten sie an der Seite des Hauses an das Balkongeländer. Wenn hinter diesen Mauern jemand schlief, dann hätte der Aufprall der Leiter, der das Metallgeländer vibrieren ließ, alle geweckt. Nichts geschah.
Und während Burmeester in voller Montur auf sein Bett und zeitgleich in einen tiefen Schlaf fiel, kletterte draußen der einzige halbwegs nüchterne Mann mit wackeligen Beinen die Leiter hoch. Oben klammerte er sich an das Geländer. Frank Lürsen wusste nicht, wie er seine Beine darüberschwenken sollte.
»Ich trau mich nicht. Leuchte doch mal einer hier hoch. Es ist so dunkel. Ich komm wieder runter.«
Schreiber hielt sein Handy mit der Taschenlampen-App in die Höhe, was nicht sehr effektiv war. »Mann, sei keine Memme, los, klettere doch einfach rüber. Und dann schaust du, ob die Balkontür dicht ist. Ich kontrolliere die Kellertür. Stefan hält die Leiter fest.«
Mit viel Mühe erreichte Frank den Balkon, rappelte an der Tür, am Fenster, alles war verriegelt. Der Rückweg bereitete ihm ein mulmiges Gefühl, er war froh, unten neben seinem Nachbarn wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. »Ich bin nicht schwindelfrei, am Haus erledigt Silke immer die Sachen, für die man eine Leiter braucht.«
Stefan klopfte ihm auf die Schulter. »Das hast du doch gut gemacht.«
Bert Schreiber tauchte wieder aus dem dunklen Garten auf, im fahlen Licht konnten sie erkennen, dass er den Kopf schüttelte.
»Nichts zu machen, alles dunkel und dicht. Kommt, wir trinken noch einen Schluck, und morgen lassen wir uns den Schein von Paul zeigen. Einmal in Händen halten, ein Foto mit dem Smartphone machen. Scheiße, mir werden die Finger zittern.«
***
Paul Aengenholt horchte angespannt in die Nacht hinaus. Es wurde ungemütlich auf dem harten Küchenboden, sein Hintern tat ihm schon weh. Während draußen die drei Männer sein Grundstück wieder verließen, meinte er, seinen eigenen Schweiß zu riechen. Er stank zum Himmel.
Seit gefühlten Stunden saß der Mann unterhalb des Küchenfensters, harte Heizkörperrippen malten ihm ein Muster ins Kreuz. Er traute sich nicht, laut zu atmen oder seine Position nur um Millimeter zu verändern. Versteinert saß er da, während sein Kopf auf Hochtouren arbeitete. Er hatte ein Problem. Ein ziemlich großes sogar. In ein paar Stunden würde er sich im Internet darüber informieren können, wie groß es im Endeffekt war, wie millionenschwer sozusagen.
Paul Aengenholt hatte im Leben nicht damit gerechnet, dass es so einen Moment der Verzweiflung jemals geben könnte. Er hatte am frühen Abend relativ entspannt vor dem Fernseher gesessen. Barbara wollte bei ihrer Mutter in Moers übernachten, es ging der alten Frau nicht gut, und die gehorsame Tochter folgte stets ihrem Ruf nach Unterstützung und Gesellschaft.