Das schwarze Schaf - Thomas Hesse - E-Book

Das schwarze Schaf E-Book

Thomas Hesse

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Beschreibung

Eine Terrorgruppe will den Ausbau der Bahnlinie am Niederrhein verhindern – und entführt Hauptkommissarin Krafft. Die Suche nach ihr bleibt erfolglos, bis eine Frauenleiche mit frappierender Ähnlichkeit ans Rheinufer gespült wird. Das LKA aus Düsseldorf unterstützt das K1 in Wesel in diesem Fall und erkennt: Karin Krafft muss als tot gelten, um zu überleben. Ein harter Weg für ihre Familie und die Kollegen vom K1 um Kommissar Gero von Aha.

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Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist und Journalist und war am Niederrhein lange in leitender Position bei der »Rheinischen Post« tätig. Heute ist er freier Autor und Publizist. Im Emons Verlag hat er bisher zwölf Niederrhein Krimis veröffentlicht.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Holger Leue/Lookphotos Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-105-5 Niederrhein Krimi Originalausgabe

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Nahment zusammenRief man über den ZaunLief die Wiesen entlangSchwamm durch grünliche SeenUnd wurde zum schwarzen Schaf

Hanns Dieter Hüsch, der große Niederrheiner, aus »Das schwarze Schaf vom Niederrhein«, Heyne Bücher, 1983

EINS

Das große Ganze immer im Blick, ein gemeinsames Ziel vor Augen haben und niemals die Statuten und die Ideologie bezweifeln, das hatte man ihr monatelang eingebläut. Eine Schulung baut dein Denken um, das hilft dir, weil der ganze unnötige Ballast aus deinem Kopf verschwindet. Wie lauten die Grundsätze? Falsch! Zehn Liegestütze, zwanzig, dreißig, mach jetzt nicht schlapp. Und? Richtig!

Mit der gleichen unerbittlichen Härte hatte sie in den letzten Jahren die Grundsätze an die Neuen weitergegeben. Was sollt ihr entscheiden? Nichts. Was könnt ihr allein entscheiden? Nichts. Den Befehl eines ranghöheren Sprechers in Frage zu stellen oder sich Kritik zu erlauben, eine Order zu ignorieren oder Widerstand zu leisten galt als Sakrileg. Es bedeutete unweigerlich, bei der nächsten Zusammenkunft vor eine Art Gericht gestellt zu werden.

Sie selbst hatte schon geurteilt, verurteilt. Du hast gesagt, getan, du hast dich widersetzt, du hast jetzt einen einzigen Satz, um dich zu verteidigen. Und wenn dieser eine verkackte Satz nicht alle ranghöchsten Anwesenden überzeugt, bist du wieder der Arsch vom Dienst, darfst erneut klein anfangen. Botendienste, Spähaufträge, Beschaffungswesen, ja, gewiss, nein, bestimmt nicht, du kannst dich mühsam wieder hochbuckeln, egal, von welcher Position aus du in diesen Abgrund gerutscht bist. Du bist am Boden. Oder du bist tot.

Der Mann am Steuer des Wagens war ranghöher als sie. Er fuhr mit einhundertzwanzigkm/h die Albert-Einstein-Straße am Gewerbegebiet Bucholtwelmen entlang, siebzig waren erlaubt.

»Ras nicht so, guck, die Schwertransporter haben eine Eskorte mit Blaulicht da stehen. Mensch, geh vom Gas, die haben uns doch gleich am Haken.«

Das Stoppschild zur Neuen Hünxer Straße überfuhr er ebenso rasant, mit hundert ging es auf die Kanalbrücke zu. Der Mann wies mit einer kantigen Kopfbewegung auf die Transportfläche des Ducato.

»Wer hat uns den Scheiß eingebrockt, he? In zwei Wochen ist Gericht in der Stammzelle in Dortmund, ich werde dafür sorgen, dass man dich auseinandernimmt. Du wirst wieder putzen und kochen, das sag ich dir, und meine Unterhosen waschen.«

Er äffte sie mit überzogener Mimik nach. »Ich wollte ja nur, ich dachte, ich könnte, aber es ist doch nichts passiert.«

Die Beifahrerin rutschte nervös auf dem durchgescheuerten Sitz hin und her, schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. Am Kieswerk vorbei raste der Fahrer in RichtungB8, bog an der Ampel bei Rot in Richtung Wesel ab.

»Du hast uns das dahinten eingebrockt, du wirst uns auch wieder davon befreien.«

Schlagartig wandte sie den Kopf in seine Richtung. »Was soll das heißen?«

Seine Rechte formte mit ausgestrecktem Zeigefinger und Daumen eine Pistole. Er setzte ihr den Zeigefinger wie den Lauf einer Waffe an die Schläfe.

»Paff!«

»Ich soll…?«

»Ja. Wenn du jetzt erneut einen Befehl verweigerst, dann weißt du, dass ich das Recht dazu habe, innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein außerordentliches Gericht einzuberufen. Dann bist du weg vom Fenster!«

Sie sackte in sich zusammen, während der Fahrer über die Dinslakener Landstraße in Richtung Weseler Innenstadt raste.

»Ich steige gleich am Bahnhof aus, hinten auf dem Schotter steht ein Ersatzwagen. Mach mit dem Problem, was du meinst, aber mach es.«

Keine anonyme Menge, kein aufsehenerregendes Blutbad unter fremden Menschen. Dieser Befehl überstieg die Dimension des Todes, die sie bereits erlebt, organisiert, durchgeführt hatte. Das Problem im Heck des Transporters kannte sie. Gut. In irgendeiner grauen Vorzeit hatten sie gemeinsam Marmeladengläser aus dem Bestand ihrer Mutter geklaut und hinter der Hecke leer geschleckt. Und jetzt?

Peng.

***

Das letzte Indigo des Abendhimmels war dem Schwarz der Nacht gewichen. Die Venus stand strahlend über der Sichel des Mondes, beide ließen beim Betrachter eine Ahnung vom Sternenhimmel über dem hell erleuchteten Rastplatz aufkeimen. Laternen an hohen Masten, vorbeihuschende Lichtkegel, die Innenbeleuchtung der Gaststätte lenkten ab von fernen Galaxien.

Vor dem Gebäude standen wenige Autos, die Standplätze für die Lkws waren dicht zugestellt mit Fahrzeugen aus unterschiedlichen Nationen, alle mit dem Führerhaus in FahrtrichtungA3 geparkt. Motoren liefen, Aggregate versorgten Kühlwagen und Klimaanlagen mit Energie in dieser lauen Sommernacht. Die Fahrer brauchten ihre vorgeschriebenen Ruhepausen, die meisten Kabinenfenster waren mit Gardinen verhangen. Eine Handvoll Männer nutzte den naturnahen Rastplatz abseits der großen Parkfläche zum Picknick, dunkle Stimmen, Gelächter im matten Schein glimmender Holzkohle unter improvisierten Grillrosten schallten gegen die Geräuschkulisse an, der Duft von Grillgut waberte über den Platz. Auf der nachtleeren Autobahn dröhnten vereinzelt die Motoren schneller Fahrzeuge, deren Fahrer die Leistungsfähigkeit ihrer Pferdestärken spüren wollten. Flott nach Hause.

Zunächst nahm niemand Notiz von dem Tier, einem langhaarigen, großen Hund, grau wie der Asphalt, auf dem er nahezu regungslos hockte. Sein Kopf verfolgte jedes neue Geräusch, das auf ihn zukam, aufmerksam, er reckte seine Nase in den Wind, witterte in die ferne Dunkelheit, hechelte. Speicheltropfen liefen an seinen Kinnhaaren entlang, tropften vor seinen Pfoten auf den Untergrund. Um ihn herum leere Parkflächen, nahe der Fahrbahn vor der Raststätte ein silberfarbener Opel, sonst nichts und niemand. Neben dem Tier lugten zaghaft Löwenzahnpflanzen aus winzigen Rissen im Belag, die Männerstimmen und der Duft von Grillwürsten konnten ihn nicht beeindrucken. Er saß mit tropfendem Kinn aufrecht da, einer vergessenen Statue gleich.

In der Raststätte standen zwei Männer neben den Spielautomaten und beobachteten mit Gleichmut das bunte Flackern der Spielverläufe, ließen immer wieder neue Münzen in die Schlitze gleiten, wenig Hoffnung im Blick. Hinter der Imbisszeile putzten Küchenhilfen die Warmhaltemulden für den Ansturm des nächsten Tages. Die Kassiererin, zuständig für hochpreisige Heißgetränke, bemerkte den Hund erst, als zwei der Fahrer sich dem Tier vorsichtig näherten. Der zottelige Hund ließ es zu, stand sogar auf, beschnupperte sie schwanzwedelnd, rührte sich jedoch nicht weiter als zwei Schritte vom Fleck. Sie beobachtete, wie einer von ihnen das Halsband des Tieres lockerte und abnahm, in die Höhe hielt und offensichtlich dem anderen eine Telefonnummer vorlas, die dieser in sein Handy eintippte. Ein kurzes Gespräch, gestikulierend erläuterte der Mann offenbar die Lage, wandte sich, das Handy mit abgewinkeltem Ellenbogen ans Ohr haltend, zu allen Seiten um. Nachdem der andere das Halsband wieder fixiert hatte, animierten sie das Tier, ihnen zu folgen.

Die Kassiererin lächelte, sie kannte das schon von anderen ausgesetzten Tieren. Entweder war ihre Not so groß, dass sie jedem freudig folgten, oder sie blieben stur sitzen in der Hoffnung, dies sei ein Spiel, und Herrchen oder Frauchen käme gleich wieder zurück.

Keine Chance, der graue Hund setzte sich elegant auf die Hinterläufe und verschmolz farblich mit dem Asphalt.

Die beiden Männer betraten die Raststätte, bestellten Kaffee und setzten sich an die Panoramascheibe mit Blick über den Parkplatz, die seitlich abgestellten Lkws und den Hund, der wieder und wieder seine Nase in den Wind hielt.

***

Maarten de Kleurtje hatte sich nichts dabei gedacht, als seine Frau auch nach Mitternacht noch nicht neben ihm im Bett lag. Am frühen Abend hatte Karin Krafft ihn von der Raststätte Hünxe Ost aus angerufen. Als Vertreterin ihres Kommissariats1 in Wesel war sie zu einer forensischen Fortbildung in Bochum gewesen und hatte, wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, eine Pause einlegen müssen. Woodstock habe dringend in die Büsche gemusst und sie kurz zum Klo.

»Und du glaubst nicht, wer mich urplötzlich vom Kuchenbüfett aus begrüßt. Die Greta! Eine alte Freundin von mir, ich habe dir bestimmt schon von ihr erzählt. Wir haben uns fast zwanzig Jahre nicht gesehen und sind uns tränenreich in die Arme gefallen. Woodstock war ganz irritiert, aber wie immer schnell wieder in der Spur. Ihr Temperament ist unverändert. Natürlich ist sie älter geworden, aber ihre Stimme ist unverkennbar. Wir werden nachher in verschiedene Richtungen fahren und bleiben noch ein wenig hier. Schwelgen in alten Erinnerungen.«

Er hatte ihr viel Spaß gewünscht. Wenn er seine alten Freunde traf, wurde es auch immer spät. Irgendwann war er über seinem Buch eingeschlafen.

Und nun, mitten in der Nacht, meldete sich das Telefon, seine ausgestreckte Linke fand niemanden an seiner Seite, es konnte nur ihm gelten und nicht der Hauptkommissarin, die oft herausgeklingelt wurde. Hastig suchte er den Lichtschalter, eine fremde Männerstimme meldete sich. Auf dem Rastplatz Hünxe Ost säße ein Hund, in der Plakette an seinem Halsband habe der Mann diese Telefonnummer gefunden. Schlagartig war Maarten hellwach.

»Ist denn meine Frau nicht in der Nähe?«

»Nein, nur der Hund hockt hier wie bestellt und nicht abgeholt. Da ist niemand.«

»Ich komme ihn abholen, brauche eine gute halbe Stunde.«

Raststätte Hünxe Ost, das stimmte, nur wo war Karin? Er wählte ihre Nummer, es schellte durch, die Mailbox sprang an.

»Maarten hier, bitte melde dich kurz, ja? Langsam mache ich mir Sorgen.«

In Windeseile schrieb er für Hannah einen Brief in einfachen Buchstaben, legte ihn vorsichtig an das Bett der Tochter. Die Absprache mit der Nachbarfamilie bestand, dass man sich im Notfall helfen würde. Diese Situation konnte sich durchaus zu einem entwickeln.

Wie er es geschafft hatte, innerhalb einer exakten halben Stunde vor Ort zu sein, wusste er nicht mehr genau. Freie Straßen und sein Fuß immer auf dem Gaspedal. Auf dem Navigationsgerät abgebildet war die rückwärtige Zufahrt zu dem Motel, das zu der Raststätte gehörte. In Hünxe war er über eine schmale Landstraße der Beschilderung gefolgt und in kurze Zweifel verfallen, ob dies wirklich stimmte oder die Navigation von TomTom ihn in die Wüste schickte.

Die Zufahrt zur vorderen Parkfläche war verboten, egal, er sah Woodstock von Weitem einsam unter der Laterne sitzen und hielt mit zwei Fahrzeugbreiten Abstand seinen Wagen an. Vorsichtig öffnete er die Tür, der Hund erkannte ihn sofort. Er wollte auf Maarten zulaufen, schien sich auf seinen Auftrag zu besinnen, hielt inne, wedelte ihm entgegen.

»Sie hat dir befohlen zu warten, mein Guter. Und du bist ein gehorsamer Hund.«

Maarten nahm die Ersatzleine, eine Plastikschüssel und die Wasserflasche vom Beifahrersitz und ging auf ihn zu. Eine heftige Begrüßung folgte.

»Du musst Durst haben, he? Seit wann du wohl hier hockst?«

Hastig schlabberte der Hund die Schüssel leer, Maarten nutzte die Situation, um ihn anzuleinen, schaute sich in der Zeit um. Karins Dienstfahrzeug erkannte er am Polizeiaufkleber auf der Heckscheibe. Wo war seine Frau?

Aus dem hell erleuchteten Gastraum der Raststätte schauten ihm zwei Männer entgegen, einer hob die Hand zum Gruß.

»Das muss dein Retter sein, komm mit, wir begrüßen ihn kurz. Woodstock, bei Fuß.«

Mit einem letzten Blick auf den Platz unter der Laterne setzte dieser sich zögerlich in Bewegung. Auch dem Vize des Alphatiers musste man als guter Hund gehorchen, und so trottete er mit gesenktem Kopf neben Maarten auf die breite Treppe zum Eingang zu.

Die beiden kräftig gebauten Männer schauten ihnen grinsend entgegen.

»Wer ist nun ausgerissen, der Hund oder deine Frau?«

»Sie haben mich angerufen?«

»Ja, nachdem der Kerl sich nicht von der Stelle rührte, haben wir die Telefonnummer am Halsband gefunden.«

Der andere kraulte Woodstock hinter den Ohren.

»So einen hätte ich auch gerne. Hätte ihn glatt mitgenommen, wenn er ausgesetzt worden wäre.«

»Haben Sie zufällig jemanden bei dem silbernen Opel gesehen? Eine Frau, so groß wie ich, dunkelblonder Kurzhaarschnitt, hübsch, sportlich?«

»Nee, niemand weit und breit. Ist das der Wagen von deiner Frau?«

»Ja, und sie hat den Hund beauftragt zu warten. Er ist ausgebildet und nimmt Befehle beim Wort.«

Die beiden Männer schüttelten die Köpfe, da war kein Mensch unterwegs gewesen.

»Vielleicht ist sie unten bei den Toiletten. Bauchweh oder Frauenmalheur.«

Maarten wandte sich mit Woodstock zusammen um, schon auf dem Weg zum Untergeschoss wusste er, dass er Karin dort nicht finden würde, der Hund hätte die Witterung bereits beim Hereinkommen aufgenommen und keine Ruhe gegeben. Stattdessen lief er weiter mit hängendem Kopf neben ihm her. Auch der Angestellte der Reinigungsfirma hatte in der letzten Stunde seit Schichtbeginn keine Frau in Begleitung dieses Hundes hier unten gesehen.

Am Ausgang trafen Maarten und die Lkw-Fahrer wieder aufeinander. Der größere der beiden lächelte süffisant und wies mit dem Kopf in Richtung Parkplatz.

»Attraktive Frauen verbringen schon mal ein Stündchen da draußen in einer Fahrerkabine.«

Maarten unterdrückte den blitzartig aufwallenden Impuls, dem Mann eine zu scheuern, nickte, für die beiden Männer irritierend, und verließ die Raststätte. »Wir werden nachschauen«, sagte er. Vielleicht war die Freundin ja Fahrerin, und sie plauderten munter in einer der Kabinen.

»Mach keinen Scheiß. Wenn du einen schlecht gelaunten Osteuropäer weckst, kann es ungemütlich werden.«

Maarten drehte sich um. »Vielen Dank für die Warnung. Ich habe einen professionellen Suchhund dabei, wir müssen nicht einmal anklopfen.«

Widerwillig folgte Woodstock dem Befehl »Such Karin« und lief die Lkw-Reihen entlang. Keine Reaktion. Erst als Maarten sich mit ihm auf den Rückweg begab, wurde das Tier wieder lebhaft, wagte es sogar, die Leine zu straffen, strebte scheinbar Maartens Wagen entgegen und stoppte abrupt unter der Laterne, an exakt derselben Stelle, an der er über Stunden gehorsam gewartet hatte. Dort setzte er sich und gab kurz Laut.

Nichts brachte ihn dazu, sich fortzubewegen. Maarten ging vor ihm in die Hocke, kraulte ihn, redete auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd. Was konnte er machen? Karin blieb verschwunden. Es hatte wenig Sinn, die Polizei zu informieren, was sollte er den Beamten sagen? Seine Frau war seit drei Stunden nicht erreichbar, ihr Hund saß unbeirrbar auf einem Parkplatz unweit ihres Dienstwagens. Und?

Er schaute Woodstock an, der sich nicht beirren ließ. Um ihn herum glitzerten die Tropfen seiner Lefzen auf dem Asphalt. Er starrte auf das feuchte Muster, blieb mit seinem Blick an einem Fleck haften, der sich von den anderen unterschied. Dunkler war er, glitzerte auch nicht, wirkte an einer Seite lang gezogen verschmiert. Maarten beugte sich hinunter, glaubte erst nicht, was er irgendwo in seinem Unterbewusstsein vermutete.

Zögerlich zog er einen Zeigefinger durch die matte Flüssigkeit, hielt ihn ins Licht. Schweiß trat ihm auf die Stirn, er bemerkte die Unruhe, die ihn beim Anblick seines Fingers durchfuhr. Das undefinierbare dunkle Material hatte eine Spur auf der Fingerkuppe hinterlassen. Es war rot. Blutrot.

***

Nikolas Burmeester hatte mit sekündlich wachsender Unruhe den Schilderungen Maartens gelauscht und ihn anschließend angewiesen, die Stelle auf dem Parkplatz nicht aus den Augen zu lassen. Hellwach war er aus dem Bett in seine Klamotten gesprungen und hatte sich von seiner Wohnung in Bislich-Büschken aus auf den Weg gemacht.

Die Beschreibungen des Ehemannes seiner Chefin wirkten äußerst beunruhigend. Ein programmierter Suchhund, der sich nicht von einem Blutfleck fortbewegte, während von der Hauptkommissarin jede Spur fehlte. Das passte ganz und gar nicht zu Karin. Maarten hatte Burmeester, als Kollegen seiner Frau, angerufen, weil er sich sorgte, von fremden Polizeibeamten nicht ernst genommen zu werden.

Während der Fahrt hatte Burmeester zunächst die Bereitschaft informiert, damit ein Streifenwagen das Terrain auf dem Rastplatz professionell sicherte, und als Nächstes den Kollegen Heierbeck von der Spurensicherung aus den Federn geklingelt und mit seiner Ausrüstung zur Raststätte beordert. Alles war ohne großartige Rückfragen gelaufen, ein einziger Satz von ihm hatte überzeugt: »Hauptkommissarin Karin Krafft ist nicht auffindbar.«

Über die rückwärtige Zufahrt gelangte auch er zur Vorderseite der hell beleuchteten Raststätte. Die beschriebene Fläche war bei seiner Ankunft bereits mit transportablen Pollern und Trassierband gesichert, Maarten und ein Streifenbeamter standen in der Nähe, einige Lkw-Fahrer schauten neugierig zu ihnen hinüber. Im Vorübergehen hörte Burmeester, wie einer dem anderen sagte, das sei ja ziemlich übertrieben, erst habe nur der Hund dort gesessen, jetzt dieser Massenauflauf. Wer wohl die Frau sei, um die es ginge. Der andere mutmaßte, vielleicht ein verschwundener Promi.

»Blond, schlank. Helene Fischer?«

»Wenn das so ist, hatte jemand Erbarmen mit der Menschheit, die sollen bloß nicht nach ihr suchen.«

Burmeester ging wortlos vorüber, sollten sie doch spekulieren.

Maarten begrüßte ihn aufgeregt, so hatte der Kommissar den taffen Mann seiner Chefin noch nie erlebt, halb aufgelöst in echter Besorgnis.

»Da ist ein Blutfleck, Nikolas, ganz sicher, und Woodstock hat die ganze Zeit danebengesessen. Er hat aufgepasst, damit jemand den Fleck entdeckt. Wenn das Karins Blut ist, was hat das zu bedeuten?«

Während sie dastanden, bemühten sich erste Gaffer, in ihren Fahrzeugen langsam über den Parkplatz zu rollen, um zu erkennen, was dort vor sich ging. Burmeester legte Maarten eine Hand auf die Schulter, drehte ihn aus dem Blickfeld und wies zur Restauration.

»Los, wir gehen rein und setzen uns. Gleich kommt Heierbeck, ich habe ihm schon durchgegeben, worum es geht, er wird alles sichern, was er hier finden kann. Wir können zunächst nicht mehr tun.«

Am Fuß der Treppe zögerte Maarten erneut, Burmeester schob ihn sanft in Richtung Eingang. »Und jetzt will ich, dass du mit mir dort hineingehst und eine Cola oder sonst was trinkst, um dich zu beruhigen. Ich brauche einen Kaffee. Karin kann gut auf sich aufpassen. Vergiss nicht, sie ist Hauptkommissarin, ausgebildet in Selbstverteidigung und aller Wahrscheinlichkeit nach auch bewaffnet.«

»Glaube ich nicht. Sie war doch zur Fortbildung. Karin hat ihre Waffe heute Morgen im Safe gelassen, da bin ich mir sicher.«

Langsam setzten sich die zwei Männer und der Hund in Bewegung, immer wieder schaute sich Woodstock um, tänzelte nicht wippend mit wehendem Fell, sondern trottete unfreiwillig neben Maarten her.

Sie hockten sich an die Panoramascheibe und beobachteten das Tatortfahrzeug, das neben dem Streifenwagen hielt. Heierbeck hatte einen jungen Kollegen mitgebracht, beide streiften sich am Heck des Kleintransporters weiße Schutzanzüge über, bevor sie sich der Absperrung näherten.

Maarten wollte aufspringen, Burmeester hielt ihn zurück. »Die wissen Bescheid und machen das schon, glaub mir.«

Die beiden Bediensteten der Restauration gesellten sich zu ihnen vor die Scheibe, um einen Blick auf die Geschehnisse zu erhaschen. Die Kassiererin von der Kaffeebar im Servicebereich sprach die Männer an.

»Entschuldigung, wissen Sie, was das zu bedeuten hat?«

Burmeester antwortete mit Bedacht. »Dort werden Spuren gesichert, mehr nicht.«

»Sie sind von der Polizei?«

Burmeester nickte, die Frau schaute skeptisch auf seine hautenge gelbe Jeans in Biker-Optik und das knallbunte Shirt. Den Blick kannte er, fühlte sich mal wieder zu farbig für diese Welt und hielt ihr kurz seinen Ausweis ins Blickfeld.

»Es geht um die Frau, der dieser Hund gehört, richtig? Ich habe Sie vorhin gehört, als Sie die Fahrer ansprachen«, wandte sie sich an Maarten.

Burmeester nickte matt.

Sie sah sich zu einer Erklärung genötigt. »Also ich habe ja erst seit Mitternacht Dienst, aber die Melanie, die habe ich abgelöst. Sie müsste die Frau bemerkt haben, um die es geht. Soll ich Ihnen die Telefonnummer geben?«

Schon lief sie und kam mit einem Notizzettel zurück. »Name und Nummer, aber bitte nicht wecken, die muss um acht wieder fit sein.«

In der Zwischenzeit hatte Heierbeck zwei leistungsstarke Scheinwerfer platziert, die Fläche war taghell erleuchtet. Er stellte Schilder zur Nummerierung von Spuren auf, um danach eine Reihe von Fotos zu machen.

Maarten tippte mit dem Finger an die Scheibe. »Der hat zwei Schilder fotografiert. Nummer eins und zwei, was hat er außer dem Blut noch entdeckt?«

Burmeester zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber gutes Licht bringt kleinste Flusen zum Vorschein. Ich werde ihn fragen, bevor er wieder losfährt.«

Maarten wollte sofort eingreifen, Burmeester beruhigte ihn. »Bleib. Ich gehe und frage, und rühr dich nicht von der Stelle, verstanden? Das ist eine Angelegenheit für Profis, da störst du nur.«

Der Kommissar stand auf, während Maarten unablässig mit dem Fuß wippte, und ging zügig nach draußen. Er blickte zu Maarten hinauf, der sich an seine Ansage zu halten schien. Er kam in die Nähe der Absperrung, als Heierbeck gerade mit einem Spatel Proben vom Asphalt kratzte und in ein Glasröhrchen klopfte.

»Was haben wir?«

Heierbeck blickte zu ihm hoch. »Aller Wahrscheinlichkeit nach Blut. Ich werde so schnell wie möglich eine Vergleichsprobe erstellen, wir haben ja die Daten der Kollegin vorliegen. Morgen früh gibt es ein sicheres Ergebnis.«

»Und die zweite Spur?«

Heierbeck schaute neben sich auf die Nummer zwei, schien unsicher zu sein.

»Ich weiß nicht, ob es überhaupt von Belang ist und zusammengehört, schließlich standen hier den ganzen Tag über bestimmt unterschiedliche Fahrzeuge. Schauen Sie her. Die Blutspritzer sind so verteilt, als habe sich jemand gehörig den Kopf gestoßen, jedoch die Blutung nicht selbst gestoppt. Verstehen Sie? Wenn Sie sich eine Kopfwunde zuziehen, die erfahrungsgemäß sehr stark blutet, dann sind Sie bedacht, diese schnell zu bedecken, mit irgendwas, mit bloßen Händen, irgendwie. Es blutet weiter, die Spuren verteilen sich, somit vergrößert sich der Radius. Hier aber ist es auf eine Stelle getropft, an der ich auch Haare sichergestellt habe.«

»Daher die These mit der Kopfwunde?«

»Genau. Wenn es sich um Karins Blut handelt, dann könnte sie hier mit einer Kopfwunde zusammengebrochen sein, sodass sie die Blutung nicht stillen konnte.«

Beklommen fuhr Heierbeck fort: »Die gute Nachricht ist, dass ich hier zwar Haare, jedoch keine Knochenpartikel gefunden habe. Und bei der Nummer zwei liegen unterschiedlich große Partikel von porösem Dichtungsgummi, vermutlich von einem etwas älteren Fahrzeug, abgerieben durch Scheuern oder Entlangschleifen. Habe ich schon eingetütet, da kümmern wir uns drum.«

Burmeester nickte anerkennend. »Verstehe. Und wenn an diesen Partikeln ebenfalls Blutspuren zu finden sind…«

Heierbeck atmete schwer ein und aus. »…dann ist zu vermuten, dass hier jemand mit einer blutenden Wunde in ein Fahrzeug verfrachtet wurde.«

Burmeester blickte verunsichert in Richtung Raststätte und sah Maarten, der sich fast die Nase an der Scheibe platt drückte. »Bestenfalls hat dann jemand eine verletzte Person in ein Krankenhaus gebracht.«

Heierbeck verstaute die Gefäße mit unterschiedlichen Proben in einem Koffer mit entsprechenden Einschüben. »Ja, bestenfalls. Würden Sie eine verletzte Person einfach so in Ihren Wagen packen? Blutend?«

Burmeester realisierte ganz langsam, was der Kollege von der Spurensicherung zum Ausdruck bringen wollte. »Ich würde Erste Hilfe leisten und einen Rettungswagen anfordern.«

Heierbeck erhob sich und wies den jungen Kollegen an, die Beleuchtung neu auszurichten, an dem Blutfleck vorbei auf die Parkbucht.

»Ja, so würden Sie handeln, und ein Großteil der Bevölkerung ebenfalls. Das hier wirkt anders. Ich schaue noch einmal nach, ob ich sekundäre Spuren vom Fahrzeug oder von Fahrer und Mitfahrern finden kann.«

»Was sage ich dem Mann von Karin?«

Heierbeck schaute ihn ernst an. »Sagen Sie ihm, Sie würden gleich alle Kliniken im Umkreis abfragen. Und Ergebnisse von mir gibt es am Morgen.«

Burmeester machte sich auf den Rückweg zur Restauration. Was war hier geschehen? Das war mysteriös. Und es ging um Karin.

Mit feuchten Fingern setzte er sich wieder an den Tisch. »Morgen wissen wir mehr.«

»Was? Was wisst ihr dann?«

»Ob es Karins Blut ist. Ich werde gleich einen Suchruf an alle Krankenhäuser im Umkreis starten, vielleicht hat sie jemand in eine Ambulanz gebracht.«

Maarten stand energisch auf. »Gut. Ich komme mit.«

Burmeester trank einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse. Kalt und abgestanden. »Du wirst nichts unternehmen. Ich befrage hier jeden, der noch wach ist, und lasse die Leitstelle bei den Ambulanzen nachforschen.«

»Ich kann beim Fragen helfen.«

»Maarten, du bist Archäologe, ich bin der Mann von der Kripo. Ich befrage Leute, du fährst mit dem Hund nach Hause zu eurer Tochter. Es wird sich alles aufklären, glaub mir.«

Auf dem Weg zu den Fahrzeugen klopfte Burmeester ihm kurz auf die Schulter, die Männer schauten sich an. Eine Spur Zuversicht im Blick, die neben großer Sorge und Verunsicherung fast unterging.

Maarten nahm die Ausfahrt direkt an der Raststätte, während sich Burmeester auf dem Rastplatz umschaute. Um zwei Uhr in der Nacht war nicht viel los. Er nahm sein Handy und gab den Auftrag an die Leitstelle in Wesel, in den Krankenhäusern der Umgebung nach Karin Krafft zu forschen. Nach dem Gespräch machte er eine umlaufende Videoaufnahme, auch der parkenden Lkws, darauf bedacht, die Kennzeichen festzuhalten, damit er im Bedarfsfall die Fahrer ausfindig machen konnte. Er schaltete die Kamera ab und begab sich auf den Weg zu den Nachtschwärmern an der langsam verglimmenden Grillstelle. Dabei schaute er sich um, zur Tankstelle würde er danach gehen, und wählte gleichzeitig die Nummer seiner Chefin. Nichts. Kein Signal. Er würde ihr Handy nicht orten können.

Karin Krafft war verschwunden.

Die Männer an der Grillstelle, eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe von Fahrern aus unterschiedlichen Balkanstaaten, die sich gegenseitig Lieder aus der Heimat vorsangen, verstanden ihn nicht. Er brauchte ein Foto, das er vorzeigen könnte, möglichst großformatig und klar.

Die Anfrage bei den Ambulanzen verlief negativ. Ob Burmeester es wollte oder nicht, das Gefühl, das sich langsam in ihm ausbreitete wie ein aggressiver Grippevirus, der nacheinander alle Zellen besetzt, war Angst.

***

Es lohnte sich nicht, nach Hause zu fahren.

Im Büro durchsuchte Burmeester sämtliche offiziellen Dateien nach einem Foto von Karin mit Woodstock. Es gab nur die Personalfotos, jedoch keines von beiden oder gar dem Hund allein. Schließlich erinnerte er sich an Schnappschüsse, die er selbst von Hund nebst Frauchen gemacht hatte, nachdem der Bouvier aus dem offiziellen Dienst bei der Drogenfahndung ausgeschieden war. Er hatte einem Kollegen gehört, der sich in der Asservatenkammer an einer umfangreichen Menge Drogen vergriffen hatte, um gemeinsam mit seiner Schwester ein lukratives Nebengeschäft zu betreiben. Der Mann saß für die nächsten Jahre hinter Gittern, und Karin war auf den Hund gekommen, der die Herzen ihrer Familienmitglieder im Sturm erobert hatte.

In den Fotodateien auf seinem Smartphone fand Burmeester ein Bild, auf dem beide gleichermaßen gut zu erkennen waren, machte für seinen eigenen Gebrauch mehrere Abzüge und schickte es weiter an die Leitstelle für den Fall, dass eine Suchaktion eingeleitet werden musste.

Selten hatte er sich so hilflos gefühlt wie jetzt, in diesem Moment. Was war mitten in der Nacht da draußen passiert? Ein Unglück, ein Überfall? Karin als Opfer eines Gewaltverbrechens? In seinen übelsten Phantasien sah er sie für einen Moment misshandelt und leblos irgendwo im Hünxer Wald liegen, ähnlich wie im Fall der Frau aus Dinslaken, die ihr eigener Sohn in einem stillgelegten Bachbett entsorgt hatte. Burmeester schüttelte, entsetzt über die Gedanken, die sich in seinem Hirn verselbstständigten, den Kopf. Nein, Karin doch nicht! Diese toughe Frau hatte so etwas nicht auf ihrer Schicksalslinie stehen, nein, das konnte nicht sein, und er durfte sich nicht noch einmal derart schlechte Gedanken erlauben. »Du erzeugst schlechtes Karma«, hätte seine Mutter dazu gesagt. Karin ging es gut. Jedenfalls lebte sie, davon war er überzeugt.

Die nächtliche Stille im Kommissariat übertrug sich heute nicht auf ihn, er blieb unruhig, hätte sich gerne mit seinen Kollegen ausgetauscht, wollte andererseits nicht die Pferde scheu machen, ahnte, dass es den anderen Männern des K1 ähnlich gehen würde wie ihm, wenn sie von den Ereignissen der Nacht erfahren würden. Hier konnte er absolut nichts machen. Aber draußen auf dem Rastplatz wurden vielleicht die ersten Fernfahrer wach und bereiteten sich auf die Abfahrt vor. Der besorgte Kommissar schnappte sich die Fotos mit Frau und Hund, verließ die Amtsstube und begab sich erneut auf den Weg nach Hünxe Ost.

Noch war der Himmel tiefschwarz, in Kürze würde die Morgendämmerung einsetzen, die blaue Stunde zwischen Nacht und Tag, die er schon als Kind gemocht hatte. Alles war noch schlafstill und starr, er hatte sich als Magier gefühlt, wenn er das Erwachen von Tier und Mensch beobachten konnte. Während seiner Aufenthalte mit der damals orangefarben gekleideten Mutter in Indien war diese Zeit in zarte Rauchschwaden der Feuerstellen gehüllt, über denen das traditionelle Frühstück zubereitet wurde.

Es dämmerte am Horizont, als Burmeester auf dem Rastplatz eintraf. In den Kabinen einiger Lkws brannte bereits Licht, mehrere Plätze waren auch schon verlassen, es wurde also höchste Zeit für die Befragung. Um seine Seriosität und Funktion zu unterstreichen, zog er sich die Warnweste an, auf der Vorder- und Rückseite mit dem fluoreszierenden Aufdruck »Polizei« versehen, und begab sich zunächst zur Tankstelle, bevor dort der Schichtwechsel wieder für neue Gesichter und für verblassende Erinnerungen sorgen konnte.

Nein, weder Frau noch Hund kamen jemandem bekannt vor. Burmeester wies auf die Überwachungskameras an einem Mast zum Rastplatz hin. Die Angestellte wusste nicht weiter.

»Die nehmen alles auf, was draußen bei den Zapfsäulen passiert, und wenn uns jemand ausraubt, dürfte man ihn aus der Tür rennen sehen. Wir denken nicht an allgemeine Überwachung, hier geht es um geprellte Tankrechnungen und Schutz vor Raub. Wenn die Frau hier getankt hat, wird sie auf einem Band sein. Ansonsten kann Ihnen leider nicht helfen.«

Noch einmal schaute sie auf das Foto. »Die Frau sieht nett aus.«

Burmeester seufzte kurz, ja, das tat sie.

Die Runde an der Lkw-Reihe vorbei hätte er sich sparen können, keiner der Männer konnte oder wollte sich an eine Frau mit Hund erinnern. Die beiden Fahrer, die in der Nacht Maarten informiert hatten, standen um kurz vor sieben gemeinsam mit Kaffeetassen vor dem Kühler eines ihrer Fahrzeuge. Sie erkannten den Hund auf Anhieb.

»Die Frau fällt doch auf, sieht gut aus. Nee, ehrlich, die habe ich nicht gesehen. Du?«

Der andere Mann blickte ratlos. »Hab mir schon gedacht, dass es brenzlig ist, die Polizei kommt nicht einfach mit Großaufgebot, wenn Frauchen für zwei Stunden den Hund vergessen hat. Was ist da los? Eine Entführung? Wer ist die Frau?«

»Meine Chefin.«

Die Männer schauten beide auf seinen Ausweis, den er immer noch in der Hand hielt, und die Aufschrift der Warnweste.

»Eine verschwundene Polizistin. Deshalb die vielen Kollegen heute Nacht… Wenn das mal gut geht. Habt ihr schon eine Spur?«

Burmeester schwankte kurz, ob er den Männern Einzelheiten erzählen sollte, sie konnten schließlich im Funkverkehr mit anderen kommunizieren, Nachrichten verbreiten und eventuell auch erhalten.

»Nein, von ihr fehlt jede Spur. Zuletzt ist sie hier auf dem Parkplatz gewesen, sie muss den Hund angewiesen haben zu bleiben, sonst hätte der sich nicht immer an die gleiche Stelle begeben. Ihr Auto steht dort in der Nähe, ihr Handy lässt sich nicht orten.«

Einer der Fahrer fragte ganz direkt: »War sie im Einsatz? Ich meine, solche Orte bieten sich an für Machenschaften aller Art. Müssen wir hier auf der Hut sein?«

»Nein, nein, bis auf ihr Verschwinden gibt es keinen Grund zur Besorgnis. Sie war nicht im Einsatz.«

Der andere schleuderte mit heftigen Armbewegungen die allerletzten Tropfen aus seiner Tasse. »Wir können uns ja mal umhören.«

Burmeester zog zwei Visitenkarten aus der Brusttasche seiner Weste. »Und wenn Sie was hören, bitte umgehend melden, ja?«

»Ist gebongt.«

Ringsum schwoll die Geräuschkulisse an: der rollende Berufsverkehr auf der Autobahn, startende Lkw-Motoren, die derben Rufe einzelner Männer, die sich voneinander verabschiedeten. Bis zum nächsten Mal, irgendwo. Um acht würde die Frau mit dem Vornamen Melanie, die Karin aller Wahrscheinlichkeit nach gesehen hatte, zum Dienst in der Raststätte erscheinen. Burmeester blickte auf die Uhr und lief auf die Stufen zur Restauration zu.

Zwanzig vor acht, er würde sich einen Kaffee und ein kleines Frühstück gönnen, auf »Melanie« warten und nach dem Gespräch zurück in die Dienststelle fahren. Eine aufregende, hektische Nacht ohne Schlaf. Er verpackte so etwas nicht mehr wie mit zwanzig, fühlte sich ausgelaugt und aufgedreht zugleich. Ein letzter Versuch, Karins Handy zu erreichen, scheiterte wie alle anderen zuvor.

Beim Anblick des reichhaltigen Frühstücksbüfetts wurde ihm klar, dass er dieses Angebot nicht wahrnehmen konnte. Er hatte keinen Appetit, würde keinen Bissen runterkriegen. Burmeester entschied sich für ein koffeinhaltiges Heißgetränk mit viel Zucker.

***

Jeremias Patalon, der dunkelhäutige Kommissar mit Wurzeln auf Haiti, Tom Weber, der stille grauhaarige Denker, und Gero von Aha, der eulenartig wirkende Rebell desK1, saßen wie versteinert im Besprechungsraum und ließen sich von Burmeester auf den Stand bringen. Die Ergebnisse der Spurensicherung lagen vor.

Tom Weber ließ sich bestätigen, ob er wirklich richtig gehört hatte. »Der Hund saß allein auf dem Rastplatz, von Karin keine Spur und in der Nähe von Woodstock Blutflecken auf dem Asphalt, korrekt?«

Die anderen nickten beklommen.

»Und Heierbeck bestätigte vor fünf Minuten, dass es sich bei zwei Blutproben, die nur wenige Zentimeter voneinander entfernt gefunden wurden, um Karins Blut handelt?«

Burmeester bestätigte, Patalon hakte nach.

»Was heißt das im Klartext? Wir müssen doch wohl von einem Gewaltverbrechen ausgehen und sollten alles in die Wege leiten, was wir tun können. Hat schon jemand den Staatsanwalt und die Behördenchefin informiert? Wir werden doch vom LKA unterstützt, wenn es um Verbrechen gegen Polizeibeamte geht, vielleicht wäre es hilfreich, wenn so schnell wie möglich jemand aus Düsseldorf zu uns stoßen würde.«

Von Aha hatte ganz vergessen, seine Kaffeemaschine in Gang zu setzen, um das K1 mit seinem edlen Gesöff zu versorgen, jetzt stand er auf und erging sich in Aktionismus, holte Wasserflaschen zum Nachfüllen, drückte Knöpfe, stellte Tassen parat, raufte sich das wirre Haar.

»Leute, mal ganz langsam. Die Blutspuren sind nicht zu leugnen, waren jedoch nicht von nennenswerter Größe. Das kann heißen, Karin hat sich verletzt, und ihre alte Freundin hat sie zu sich nach Hause gebracht, um sie dort zu versorgen, richtig? Haben wir die schon ausfindig gemacht?«

Burmeester verneinte.

»Karin hatte Maarten nur einen Vornamen genannt. Eine Frau namens Greta, die sie aus der Kindheit kennt und seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat, mehr wissen wir noch nicht.«

»Und? Wieso hast du noch nicht deine Fühler ausgestreckt und die einzige Person befragt, die über eine Greta aus Karins Kindheit Auskunft geben könnte?«

Burmeester sah ihn fragend an.

Von Aha verteilte die ersten beiden duftenden Kaffeebecher, einen gab er dem Kommissar mit dem übernächtigten Gesichtsausdruck. »Lebst du zufällig noch immer unter einem Dach mit Karins Mutter?«

An Johanna Krafft hatte Burmeester überhaupt nicht gedacht, war nachts zwischen Raststätte und Kommissariat hin- und hergependelt. Dankbar nahm er einen Schluck Kaffee. »Klar, hätte ich selbst draufkommen können, ist mir völlig entfallen.«

»Dann ruf sie an.«

Burmeester schüttelte den Kopf. »Nein, Gero, ich kann sie doch nicht per Telefon über die Geschehnisse der Nacht informieren, die Dame ist nicht mehr die Jüngste, wir sollten das sensibel handhaben. Ich fahre nach der Lagebesprechung nach Hause und werde vor Ort mit ihr sprechen.«

Von Aha gab sich ungeduldig. »Dann mal los, mach dich auf die Socken, wir brauchen den Namen.«

Tom Weber bremste Gero von Aha, der bereits die Tür aufhielt. »Den Namen zu kennen ist zwar wichtig, aber meinst du nicht, dass Karins Handy noch zu erreichen wäre, dass jemand schon auf Maartens Kontaktversuche reagiert hätte, um die Sachlage zu erklären, wenn die Geschichte so positiv ausfiele? Eine alte Freundin wäre selbst auf die Idee gekommen, Angehörige zu informieren. Ausfindig machen sollten wir sie natürlich auf jeden Fall. Burmeester, bevor du gehst, solltest du den anderen noch berichten, was die Kassiererin in der Raststätte beobachtet hat.«

Burmeester setzte den Becher ab. »Melanie, alle sind hier per Du, kommt um elf Uhr, damit ein Phantombild erstellt werden kann.«

Er schilderte, dass der Angestellten die teenagerhafte Begrüßung der beiden Frauen aufgefallen war. Melanie erinnerte sich genau, es habe geklungen wie in den amerikanischen Sitcoms, wenn Frauen sich begrüßen, schrill, hell, freudig, ein Tanz der Stimmen. Dann hätten sie mehrere Colas und Kaffees lang an einem der Tische zur Terrasse hin gesessen, es habe den Anschein gehabt, als hätten sie ununterbrochen geredet. Der Hund, der bei ihnen war, sei vorbildlich, genügsam, wohlerzogen gewesen.

Melanie hatte nicht beobachten können, mit welchen Fahrzeugen die Frauen unterwegs waren. Sie selbst habe das Gebäude wie immer auf der Rückseite verlassen und sei über den Gansenbergweg nach Hause gefahren, sie nutze nie die Abfahrt von der Autobahn, alle Mitarbeiter kämen über den schmalen ländlichen Weg, denn die Parkplätze für das Personal seien hinter dem Gebäude.

Die Männer hatten ein zweites Mal aufmerksam gelauscht, doch einen Hinweis auf das merkwürdige Verschwinden von Karin Krafft fanden sie auch diesmal nicht. So verteilten sie zunächst, was sich an Aufgaben anbot.

Burmeester würde den Kontakt mit Johanna Krafft und Maarten de Kleurtje übernehmen. Gero von Aha wollte sich mit der Kassiererin zusammen um das Phantombild kümmern, und Tom und Jerry, wie man Weber und Patalon intern nannte, würden Staatsanwaltschaft und Behördenchefin um Punkt fünfzehn Uhr über den Stand der Dinge unterrichten, wenn es bis dahin immer noch kein Lebenszeichen von Karin geben sollte.

***

Maarten hatte kaum geschlafen. Kurz bevor die Weckfunktion seines Smartphones ihn zurück in die Welt holte, war er am Esstisch, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, in einen wenig erholsamen, traumlosen Schlaf gesunken. Vor ihm lagen sein mobiles und das Haustelefon, immer wieder hatte er in der Nacht den Ladestand der Akkus überprüft, auf eingehende Anrufe geachtet, die vielleicht zu kurz für ein Klingelzeichen gewesen waren. Nichts.

Woodstock war seit seiner Ankunft in der Diele geblieben und bewachte akribisch die Haustür. Selbst in dem Tier zeigte sich nichts als der Wunsch, Karin käme jeden Moment durch diese Tür und würde den ledernen Rucksack und die Jacke fallen lassen, um alle zu begrüßen, wie sie es immer tat.

Hannah saß nun in der Schule und glaubte, ihre Mutter sei im Einsatz. Sie hatte sich gewundert, den Hund vorzufinden, der eigentlich zu Karins ständigem Begleiter geworden war, und Maarten war es sehr schwer gefallen, ihr etwas Falsches zu erzählen. Noch nie hatte er seine Tochter belogen, dieses Gefühl nagte an ihm. Würde Karin bis zum späten Nachmittag nicht zurück sein, bliebe ihm nichts anderes übrig, als seine Tochter mit einer schonenden Version der Wahrheit zu konfrontieren. Mama ist verschwunden, niemand weiß im Moment, wo sie ist. Das hörte sich unglaublich an. Ihm blieben mehrere Stunden Zeit zum Üben.

Maarten entschuldigte sich bei seiner Arbeitsstelle. Halbtags war er als Archäologe im Römerpark in Xanten beschäftigt. Er bat um zwei bis drei Tage Urlaub außer der Reihe, er würde sich melden.

Es gab nur wenige Abende in der Zeit mit Karin, an denen sie sich nicht eine gute Nacht gewünscht hatten. Mitten im Einsatz etwa ging das schlecht, und Maarten selbst fuhr einmal im Jahr zu Ausgrabungen an entlegene Stellen der Erde, an denen jegliche technische Kommunikation unmöglich war. Es war ihre ungeschriebene Regel, den Tag mit ein paar Worten, einer lieben Geste, einem zärtlichen Kuss für den anderen zu beschließen. Der Gedanke schmerzte. Immer wieder rekapitulierte er das Telefonat vom Vorabend, rief sich den Dialog in Erinnerung.

Was hatte Karin genau gesagt? Sie habe an der Raststätte haltgemacht, Woodstock in die Büsche gelassen und selbst die Toilette aufgesucht. Auf dem Weg zum Ausgang sei unvermittelt eine Frau auf sie zugestürmt, die am Kuchenbüfett gestanden hatte. Karin hatte sich wie irre gefreut. Natürlich, Greta mit ihren Temperamentsausbrüchen, unverkennbar, und im Gegensatz zu ihrem Äußeren habe ihre Stimme sich nicht verändert. Greta, sie habe ihm bestimmt schon von ihrer Kindheits- und Jugendfreundin erzählt. Die beiden würden nun ein wenig in Erinnerungen schwelgen, er solle nicht auf sie warten.

Natürlich hatte Maarten vorgehabt aufzubleiben, bis sie käme, war dann über seinem Buch eingenickt und erst aufgewacht, als das Telefon klingelte und eine raue Männerstimme ihm berichtete, der Hund sitze allein auf dem Rastplatz.

Bei allem, was er und Karin sich aus ihrem Leben erzählt hatten, mussten sie doch immer wieder feststellen, dass es vieles gab, wovon der andere noch nichts wusste. Den Vornamen Greta konnte er partout nicht einordnen. Dabei erzählte Karin immer lebhaft, er hörte ihr gerne und aufmerksam zu. Wer war Greta?

Maarten nahm die Telefone und ging hinauf ins Gästezimmer. Hier hatte Karin ein Regal mit ihren Erinnerungen gefüllt. Steiff-Tiere aus ihrer Kindheit, Fotoalben mit vergilbenden Bildern, der Handabdruck von Moritz aus seiner Kindergartenzeit und ganze Serien von Gemälden ihrer Kinder bewahrte sie hier auf. Es gab Kästchen mit Briefen und eine Sammlung Postkarten aus aller Welt. Nie wäre Maarten auf die Idee gekommen, hier zwischen ihren ganz persönlichen Sachen zu stöbern, und so hockte er in der Zimmerecke, lehnte sich an die Wand und starrte auf das bunte Sammelsurium. Ein gerahmtes Foto, klein, unscheinbar, fiel ihm ins Auge. Karins Eltern. Er sprang auf. Natürlich! Wenn jemand über Karins Freundschaften in der Kindheit Bescheid wusste, dann war es ihre Mutter.

Er wählte die Nummer von Johanna Krafft. Es klingelte durch, niemand da, der Anrufbeantworter sprang an.

»Maarten hier, hallo, Johanna, ich bin zu Hause zu erreichen, bitte ruf mich doch eben an, wenn du zurück bist, danke.«

***

Kein Kontakt, keine neuen Erkenntnisse, man konnte die Situation um vierzehn Uhr dreißig an diesem Tag drehen und wenden, sie blieb mysteriös. Stündlich wuchsen Unruhe und Sorge in den Köpfen der Männer vomK1, die Atmosphäre in den Räumen am Herzogenring war zum Bersten gespannt.

Burmeester kehrte unverrichteter Dinge aus Bislich-Büschken zurück. Er hatte Karins Mutter nur eine Botschaft hinterlassen, denn Johanna Krafft und ihr Lebensgefährte waren nicht daheim.

Die Auswertung der Befragungen hatte nicht einmal ergeben, welches Fahrzeug an der Stelle geparkt hatte, an der das Blut auf dem Asphalt gefunden wurde. So hatten sie auf das Phantombild gewartet, das man nach den Angaben der Kassiererin anfertigte. Der Fachmann, der mit einem neuen Darstellungsprogramm arbeitete, hatte versprochen, mit Feingefühl und besonderer Aufmerksamkeit alles aus der Erinnerung der jungen Frau herauszufiltern, was dort verborgen war.

Er hatte sich Zeit genommen, nach fast zwei Stunden wurde dem K1 eine Datei mit dem Abbild einer ungefähr vierzigjährigen Frau zugestellt, das dunkelblonde Haar zu einem Pagenschnitt frisiert, dessen Ponyfransen wie eine lichte Kante knapp über dem Schwung der Augenbrauen lagen. Ferner hatte sich die Zeugin an ein Muttermal auf der linken Wange, ungefähr mittig, in einer Linie mit der Iris, erinnert. Es gab Piercinglöcher am äußeren Ende der rechten Augenbraue, und es fehlte eine Ecke am linken Schneidezahn der oberen Zahnreihe. In seiner E-Mail attestierte der Zeichner der Kassiererin eine sehr gute Beobachtungsgabe.

Der intensive Blick auf die Kundschaft mache die Arbeit interessanter, hatte die Zeugin gemeint. Allein schon am Gesicht könne sie oft ablesen, ob jemand gepflegt und ordentlich oder vergammelt und schmuddelig sei, und diese Frau hatte von allem etwas. Auf die Frage, wie sie das meine, hatte sie geantwortet, die Frau habe blasse Wangen, raue Haut um den Mund herum, also eine vernachlässigte Gesichtspflege, aber eine superordentliche Frisur gehabt. Ihre Hände seien ebenfalls sauber gewesen, als sie jedoch das Tablett mit ihrer Mahlzeit zum Tisch trug, sei der völlig abgetretene, fransige und schmutzige Saum ihrer Jeans sichtbar geworden. Außerdem habe sie abgetretene Doc Martens getragen, bei denen sich an einem Schuh bereits die Sohle löste. Der Zeichner hatte ein Zitat vermerkt: »Typischer Fall von oben hui und unten pfui.«

Die Zeugin hatte es so zusammengefasst: »Sie glauben nicht, wer alles vor der Kasse steht und wie die Finger manchmal aussehen, die in speckigen Hosentaschen nach Geld fischen. Ich kann es nicht anders beschreiben, die Frau wirkte echt widersprüchlich auf mich.«

Das Phantombild hatte der Kollege um alle genannten Details, Körperlänge und ungefähre Konfektionsgröße ergänzt. Die Herren Kommissare gesellten sich nebeneinander vor die digitale Schautafel und betrachteten das Ergebnis.

Tom Weber brachte es auf den Punkt: »Wer auch immer diese Frau ist, sie hat tatsächlich großen Wert auf ihre Haare gelegt, und es wirkt, als habe das Geld nach dem Friseurbesuch nicht mehr für den Rest gereicht.«

Jerry Patalon reagierte flapsig. »Wo schaust du denn bei einer Frau zuerst hin, auf Hosenbeine und Schuhe oder blickst du ihr ins Gesicht?«

Weber verteidigte seine Ansicht. »Du nimmst doch ein Gesamtbild wahr, oder? Auch wenn dich Sternchenaugen anblinken, checkt dein waches Auge den Rest deines Gegenübers ab.« Er schüttelte den Kopf. »Erzähl mir nicht, dass dir löchrige Hosenbeine und lose Schuhsohlen entgehen würden.«

Burmeester schaltete sich ein. »Jerry, dir fehlt momentan die Übung, was die Wahrnehmung des weiblichen Geschlechts angeht. Ich habe vom ersten Zusammentreffen mit meiner orientalischen Perle jedes Haupthaar und sogar die Riemchen ihrer Sandalen in Erinnerung.«

Patalon winkte ab. »Oder eher sie dein Haupthaar. Wenn ich mich nicht irre, hat sie beim Kennenlernen auf dich runtergeschaut, weil du gestolpert und ihr vor die Füße gefallen bist. Kein Kunststück, dass du dabei ihr Schuhwerk im Blick hattest. Stehend wären deine Augen garantiert nicht tiefer als bis zur Taille gewandert. Leute, egal, der Angestellten ist die Frau im Gedächtnis geblieben, das zählt. Wir sehen hier die ehemalige Freundin von Karin, ihr Name ist Greta, und wenn sich nichts anderes ergibt, ist dies die Person, die bis zu Karins Verschwinden vom Parkplatz in unmittelbarem Kontakt mit ihr stand.«

Hilflos blickte er zu Burmeester. »Hast du eine Ahnung, wann ihre Mutter wieder erreichbar ist?«

Der junge Kommissar verneinte, er habe die dringende Bitte um Rückruf hinterlassen, man müsse abwarten. Unterdessen sollte man auf anderem Weg versuchen, dieser Greta auf die Spur zu kommen. Vielleicht wusste Maarten, welche Schulen Karin besucht hatte?

Gero von Aha, bislang mit krauser Stirn stumm in die Betrachtung der Zeichnung vertieft, übernahm, während er sich mehrmals das Haar raufte, die Organisation.

»Das Ding ist mir zehn Nummern zu diffus. Da ist was passiert, glaubt mir. Ihr kennt Karin doch schon wesentlich länger als ich und könnt noch besser beurteilen, dass es nicht ihre Art ist, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Ich werde also jetzt die Behördenchefin und den Staatsanwalt per E-Mail über den ersten Sachstand informieren. Wir lassen uns das weitere Vorgehen offiziell von der Chefetage absegnen und intensivieren die Suche mit gebotener Vorsicht. Ist das okay?«

Sie stimmten ihm zu. Burmeester blieb am Telefon, während Tom Weber überlegte, sich mit der Personalabteilung in Verbindung zu setzen, um in Erfahrung zu bringen, ob in Karins alten Bewerbungsunterlagen Hinweise auf die von ihr besuchten Regelschulen zu finden seien.

»Ich weiß nicht, wie das jetzt ist, aber wir mussten ja noch einen solchen lückenlosen Lebenslauf einreichen. Ein erster Ansatz.«

Patalon stimmte zu. »Gute Idee, könnte von mir stammen. Ich frage mal bei Maarten de Kleurtje nach. Außerdem fällt ihm vielleicht etwas zu dem Phantombild ein.«

Es wurde geschäftig imK1, alles erinnerte an einen ordnungsgemäßen Ermittlungsbeginn. Den Unterschied erkannten nur die vier Männer. Sie legten ohne Vorgesetzte los, und ihnen fehlte die rechtliche Absicherung durch den Staatsanwalt und die Behördenchefin. Gero von Aha hämmerte auf seine Tastatur ein und formulierte eine knappe, sachliche E-Mail, die keine zehn Minuten später an Haase und van den Berg herausgehen sollte.

Die Zeit verging schleichend. Jede Minute konnte ein Zeichen, ein Lebenszeichen von Karin eintreffen. Theoretisch ja. Praktisch nein.

***

Ein großer Tisch, sechs Stühle, eine provisorisch eingerichtete Küche, frei stehender Kühlschrank, Spüle mit Unterbau, daneben eine Waschmaschine, offene Regale für billiges Geschirr und Vorräte. Nette Gardinen vor den Fenstern und, damit das Image wirklich perfekt war, die eine oder andere robuste Topfpflanze auf der Fensterbank.

In zwei Nebenzimmern ausreichend Matratzen, säuberlich gefaltetes Bettzeug an den Fußenden, mit einfachen Kunststoffbügeln behängte Kleiderstangen auf Rollen und Regale für Wäsche. Im gegenüberliegenden Raum Campingstühle und ein Fernseher, dessen tonloses Geflimmer abends das Bild eines harmonischen Miteinanders mit Chips und Limo nach außen abgab. An der Wand eine aus einzeln ausgedruckten DIN-A4-Bögen zusammengesetzte Karte des rechten Niederrheins, auffällig darauf eine grellgrün markierte Linie, die sich von Süd nach Nord zog, Punkte in den Städten Emmerich, Mehrhoog, Wesel, Voerde, Dinslaken und Oberhausen waren rot eingekreist.

Durch die beiden Fenster zur Straße war diese Karte für die Außenwelt nicht sichtbar. So funktionierte es immer, je unauffälliger, desto besser hielt die Tarnung. Es gab insgesamt vier Räume, man hatte sich als kleine WG angemeldet, drei Paare und gelegentlicher Besuch. Die Vermieterin gab sich tolerant und weltoffen angesichts der bar auf den Tisch gelegten Kaution und der drei Monatsmieten im Voraus. Sie schien froh darüber zu sein, dass ordentliche junge Leute die Wohnung ohne Bitten um Modernisierung der alten Räume aus den Fünfzigern oder Einsicht in den Energiepass nehmen wollten. Die Wohngemeinschaft kam gerade zur rechten Zeit.

Manchmal übernachteten sie hier, in der Mitte von Wesel, zu sechst, dann wiederum verbrachten drei Mitglieder der Gruppe eine Zeit auf dem Campingplatz, eine harmlos wirkende Männerrunde getarnt als Anglerfreunde, die sich regelmäßig trafen und ihre Köder, Schwimmer, Blinker und Bleigewichte an edlen Ruten in den Rhein warfen.

Heute saßen sie bereits zu fünft am Tisch, drei Männer und zwei Frauen, und schauten der Frau entgegen, die nun mit ihrem Schlüssel die Wohnungstür öffnete. Sie atmete tief ein und aus. Das große Ganze immer im Blick haben, ein gemeinsames Ziel vor Augen und nie die Statuten oder die Ideologie bezweifeln. Einem Mantra gleich wiederholte sie innerlich den Satz, ging lässig auf den Kühlschrank zu, nahm sich eine Dose Cola und setzte sich so locker wie möglich auf den leeren Stuhl.

Alle schwiegen, als sie die rote Dose mit metallischem Knacken öffnete, sich den sprudelnden Inhalt in die Kehle laufen ließ und die Dose so laut auf dem Tisch aufsetzte, dass der Inhalt knisternd aufschäumte.

»’n Abend zusammen. Komische Stimmung hier. Ist was?«

Der Sprecher beugte sich vor und wies mit dem Finger drohend in ihre Richtung. »Das weißt du ganz genau. Ich hoffe, du hast deine Hausaufgaben gemacht. Die Gruppe ist informiert und steht voll auf meiner Seite. Überzeuge uns, und dir bleibt das Gericht in der Hauptgruppe in Dortmund erspart.«

Die Frau blickte in jedes der Gesichter am Tisch, aus jedem einzelnen schaute ihr Entschlossenheit entgegen. Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Dose, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. »Du hast mich angewiesen, ein Problem zu lösen. Das habe ich gemacht.«

Ruhig saß sie da, gönnte sich einen weiteren großen Schluck Cola und setzte die Dose dieses Mal geräuschlos auf der Tischplatte ab. Niemand rührte sich, fünf Augenpaare blickten abwechselnd in ihre Richtung und warteten auf die Reaktion ihres Gegenübers. Auf den nächsten Satz des Gruppensprechers war sie vorbereitet, zog, bevor er ihn aussprach, langsam ihr Handy aus der Hosentasche hervor, während ihr Blick unbeirrt auf den verengten Augenschlitzen des muskulösen Mannes haftete.

»Beweise es«, sagte er.

Mit überlegenem Gesichtsausdruck sichtete sie ihre Dateien. Sie fand problemlos, was sie suchte, mehrere Fotos in Reihe, die sie dem siegesgewiss dreinblickenden Mann ihr gegenüber wie selbstverständlich präsentierte.

»Auf dem ersten Bild siehst du eine Tätowierung der Frau, die befindet sich auf ihrem linken Oberarm, ein kleines Kleeblatt, in den Blättern die Initialen ihrer Familienmitglieder, M,H,M,K. Es hat die Größe einer Zwei-Euro-Münze.«

»Und?«

»Switch doch einfach zum nächsten Foto.«

Im schwachen Blitzlicht des ältlichen Handymodells festgehalten war eine unbekleidete Frau, die auf steinigem Untergrund lag. Erst auf den zweiten Blick realisierbar war, dass der Körper nicht vollständig dort lag. Über den blutbesudelten Schultern klaffte eine unnatürliche Lücke. Frau ohne Kopf. Der Sprecher schaute sie fragend an. Sie antwortete so selbstsicher, wie es ihr nach dieser Nacht möglich war.

»Glaub mir, der Kopf wird niemals gefunden werden. Ich habe erst nach der Endlösung ans Fotografieren gedacht, aber das Tattoo ist der Beweis.«

Der Sprecher ließ das Handy rundgehen, stand vehement auf, sein Stuhl kippte mit Getöse gegen die Wand hinter ihm. »Was hast du gemacht, außer eine lange Reihe von Spuren zu legen, die früher oder später direkt zu uns führen wird?«

Sie lehnte sich zurück und sah ihm weiterhin in die Augen. Wer in dieser Situation zuerst wegschaute, hatte verloren. »Ich habe das Problem gelöst, du erinnerst dich an deine Anweisung? Und jetzt reg dich wieder ab.«

Sein Schweigen verriet ihr einen Hauch von Unsicherheit, sie kam in Fahrt, nutzte die teilweise angewiderten Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder. Eine der Frauen, die Blonde, reichte das Handy mit einem kleinen, unterdrückten Aufschrei an ihre Nachbarin weiter. Sie wurde eine Spur lauter.

»Was guckt ihr so blöd? Stellt euch bloß nicht an wie Klosterschülerinnen, hier gilt ein Menschenleben nichts, und wer das noch nicht in seinem Schädel drin hat, sollte dringend zur Nachschulung.«

Mit funkelnden Augen betrachtete sie den aufgebrachten Sprecher. »Und jetzt zu dir. Wer hat sie denn betäubt und in den Wagen gezerrt? Das war doch deine verdammte Idee! Du mit deinem pathologischen Verfolgungswahn, die hätte mich niemals auf diesen miesen Fahndungsplakaten erkannt. Wir hätten uns einfach verabschiedet, und jede wäre in ihre Richtung abgedampft, aber nein, du musstest den paranoiden Obermacker machen und sie mitnehmen. Nur weil wir uns über alte Zeiten unterhalten haben! Mensch, ich hatte das Ding allein zu lösen und habe einen Weg gefunden, und jetzt setz dich wieder.«

Unwirsch stellte er den Stuhl auf die Beine, schwang sich auf die Sitzfläche und schaute für einen Moment zur Seite. Die Frau fuhr mit der Berichterstattung fort.

»Sie treibt den Fluss hinunter, ist vielleicht schon hinter der niederländischen Grenze, und es entscheidet sich gerade, ob es im Rhein weitergeht oder im Pannerdenschen Kanal.«

Der Mann mit dem ordentlich zurückgekämmten Haar fragte, was das zu bedeuten hätte.

»Der Rhein teilt sich in mehrere Wasserwege, man wird suchen müssen, wo sie herkommt. Jetzt guckt nicht so blöd, auf die Schnelle fiel mir nichts anderes ein, um so viele Spuren wie möglich zu vernichten.«