Boston Police - Atemlose Jagd - Jane Luc - E-Book

Boston Police - Atemlose Jagd E-Book

Jane Luc

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Beschreibung

Die Bostoner Gerichtsmedizinerin Dr. Charlotte Connelly kennt den Tod in all seinen Facetten. Als der Architekt Geno Coleman und sie Zeugen eines grausamen Überfalls werden, versucht Charlotte alles, um das Leben des Opfers zu retten. Doch die junge Frau schafft es nicht. Kurz bevor sie stirbt, nimmt sie Charlotte ein Versprechen ab. Ein Versprechen, das Geno und sie in das Visier eines sadistischen Mörders rückt. Während sie den Spuren des skrupellosen Killers folgen, muss sich Charlotte auch noch über ihre Gefühle für Geno klar werden. Ist er ein Mann für eine Nacht, oder kann sie es wagen, ihm ihr Herz anzuvertrauen?

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Die Bostoner Gerichtsmedizinerin Dr. Charlotte Connelly kennt den Tod in all seinen Facetten. Als der Architekt Geno Coleman und sie Zeugen eines grausamen Überfalls werden, versucht Charlotte alles, um das Leben des Opfers zu retten. Doch die junge Frau schafft es nicht. Kurz bevor sie stirbt, nimmt sie Charlotte ein Versprechen ab. Ein Versprechen, das Geno und sie in das Visier eines sadistischen Mörders rückt. Während sie den Spuren des skrupellosen Killers folgen, muss sich Charlotte auch noch über ihre Gefühle für Geno klar werden. Ist er ein Mann für eine Nacht, oder kann sie es wagen, ihm ihr Herz anzuvertrauen?

JANE LUC

BOSTONPOLICE

Atemlose Jagd

Prolog

Dunkelheit.

So schwarz. Sie konnte nicht einmal ihren Schatten erahnen. Doch solange es dunkel war, sah sie niemand, tat ihr niemand weh. Dieses Wissen glomm wie ein warmer Funken in ihrem Inneren.

Gleichzeitig pressten die Angst und die nasse Kälte ihren Brustkorb zusammen. Mühevoll holte sie Atem, sog die Luft in ihre Lungen und entließ sie wieder. Langsam. Konzentriert. Während eine eisige Stille sich um ihren Hals klammerte und versuchte, sie zu ersticken. Die Dunkelheit war die einzige Möglichkeit, ihren zerstörten Körper am Leben zu halten, und doch wusste sie, dass diese undurchdringliche Schwärze sie umbringen würde. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das geschah.

Sie saß auf der klammen Matratze und hüllte sich in ihre feuchte Decke. Sie spürte, wie sich die Luft, die sie ausatmete, vor ihrem Gesicht zu weißen Wolken formte. Aber sie konnte es nicht sehen.

Sie war einsam. Einsamer und hoffnungsloser, als sie es sich je hätte vorstellen können. Ihre Schwester war fort. Als sie noch zusammen hier gesessen hatten, war es wärmer gewesen. Lebendiger. Erträglicher. Nun war sie allein. Sie vermisste Tanja. Aber sie war bereit, ihr Leben zu geben, wenn ihre Schwester es nur schaffte.

Er hatte ihr gesagt, er würde sie zur Strafe für Tanjas Flucht leiden lassen. Sie sollte büßen. Doch wovor sollte sie sich noch fürchten? Was sollte schlimmer werden? Die Kälte? Die Schmerzen? Die Erniedrigung? Er hatte sie bereits gebrochen. Ihr Leben war vorüber. Selbst wenn sie all das überstehen würde, gab es nichts mehr für sie. Der Tod hielt sich bereits in diesem Raum auf. Er war der Einzige, der ihr Gesellschaft leistete.

Wenn ihre Schwester es nur schaffte. Wenn sie ins Leben zurückkehrte – dann war es all das wert. »Ich liebe dich«, flüsterte sie in die Dunkelheit, als Tanjas Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte. Sie wollte weinen, aber sie hatte längst keine Tränen mehr. Also starrte sie weiter in die undurchdringliche Schwärze und wartete.

1. Kapitel

Charlotte zog die Wohnungstür auf und stolperte über das Paket, das davor abgestellt worden war. Sie seufzte. Schon wieder! Sie kannte diese Art von Karton viel zu gut, wusste, was sie darin finden würde. Einen Moment überlegte sie, ihn einfach stehen zu lassen. Andererseits – sie hatte noch etwas Zeit und konnte es genauso gut hinter sich bringen.

Sie trug die Kiste in ihr Wohnzimmer und öffnete sie vorsichtig. Die Vorfreude war einer der schönsten Aspekte an den Überraschungen, die Kathreen von Happy Feet ihr bereitete. Der feine Geruch von Leder schlug ihr entgegen, als sie den Deckel anhob. Sie legte ihn zur Seite und zog die Stiefel heraus. Weich schmiegte sich die Oberfläche in ihre Hand. Das Leder hatte genau den gleichen Farbton wie ihre Augen und die Bluse, die sie zu ihrem knielangen schwarzen Bleistiftrock trug. Ein Outfit, das sie für die heutige Gerichtsverhandlung gewählt hatte. Steve-Madden-Boots in cognacfarbenem Leder. Genau das, wonach sie schon seit einer Ewigkeit suchte – nicht, dass sie nicht bereits eine Menge anderer Stiefel besaß.

»Verdammt«, murmelte sie. Kathreen kannte sie viel zu gut. Sie zog ihre Stiefel aus und schlüpfte in die neuen – nur zur Probe. Natürlich passten sie wie angegossen, schmiegten sich regelrecht an ihre Füße. Sie vervollständigten das Outfit, das sie für ihren Auftritt vor Gericht gewählt hatte. Kathreen verstand ihr Geschäft. Charlotte ging ins Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel an der Schranktür. »Leider perfekt.« Manchmal fragte sie sich, ob Kathreen irgendwo in ihrer Wohnung eine Kamera installiert hatte und überprüfte, was sie morgens anzog, um ihr die passenden Schuhe vor die Tür zu stellen. Die Besitzerin des Happy Feet, das im Erdgeschoss ihres Hauses lag, kannte ihre Schwäche für schöne Schuhe viel zu gut. Manchmal glaubte Charlotte, es war Schicksal, dass sie als Schuhsüchtige ausgerechnet hier eingezogen war.

Sie verließ ihre Wohnung in den neuen Stiefeln und tippte auf dem Weg in die Tiefgarage eine Nachricht an Kathreen in ihr Handy: Gekauft.

Sie war früh dran und kam gut durch den Bostoner Morgenverkehr. Im gerichtsmedizinischen Institut war es um diese Zeit noch ruhig.

»Guten Morgen, Doc«, grüßte der Wachmann am Eingang.

»Morgen, Chris.« Sie winkte ihm zu. In der Aufnahme sah sie als Erstes die Einlieferungsliste durch. Als stellvertretende Leiterin des gerichtsmedizinischen Instituts Bostons gehörte das zu ihren Aufgaben. Vier neue Fälle. Aber auf den ersten Blick gab es nichts, was sofort erledigt werden musste. Ihr Boss, Dr. Norman Palmer, würde sie später an die insgesamt fünf Mitarbeiter verteilen.

Sie holte sich eine Tasse Kaffee und ging in ihrem Büro noch einmal den Fall durch, zu dem sie vor Gericht aussagen musste. Ein gewalttätiger Ehemann hatte seine Frau angegriffen und mit dem Messer attackiert. Der Fall war eine klare Sache. Sie hatte Verletzungen am Opfer dokumentiert, die zur Tatwaffe passten. Und sie hatte nachweisen können, dass der Ehemann derjenige war, der zugestochen hatte. Die Frau hatte den Angriff überlebt. Was in Charlottes Welt viel zu selten vorkam.

Wie sie es erwartete, lief ihre Aussage bei Gericht problemlos. Nach einer halben Stunde wurde sie aus dem Zeugenstand entlassen. Auf dem Weg aus dem Gerichtsgebäude schaltete sie ihr Handy ein. Eine Nachricht von Dr. Palmer. Sie klickte sich in die Mailbox und lauschte der leisen, ruhigen Stimme ihres Chefs. Zwei ihrer Kollegen hatten sich krankgemeldet – kein Wunder bei dem Wetter – und ein Fall war angelaufen, den sie übernehmen sollte, weil sie sowieso schon unterwegs war. Alle anderen steckten bereits mitten in ihren Sektionen. »Rufen Sie Detective Coleman an. Und melden Sie sich bei mir, sobald Sie Genaueres wissen.« Die Leitung klickte. Mehr hatte Palmer ihr nicht zu sagen. Er war der Typ, der kurze, präzise Anweisungen gab und ihre Umsetzung erwartete.

Charlotte fröstelte in der eisigen Novemberluft. Boston machte dem Winter in diesem Jahr alle Ehre. Am liebsten wäre sie zurück ins Institut gefahren, um wärmere Kleider anzuziehen. Ihr Gerichtsoutfit war nicht für einen Tatort geeignet. Aber das gehörte nicht zu den Überlegungen, die sich ihr Boss machte.

Sie scrollte durch ihre Kontaktliste und wählte Dominic Colemans Nummer. Wenigstens würde sie mit den Detectives des Boston PD zusammenarbeiten. Dominic und sein Partner Josh Winters waren nicht nur ausgezeichnete Polizisten, sondern seit Jahren Freunde.

»Hey, Doc«, meldete sich Dominic.

»Hey. Palmer hat mich zu euch beordert. Was gibt es?«

»Eine Leiche auf einem brachliegenden Grundstück. Zieh dich warm an, Charlie. Hier draußen friert dir der Hintern ein.«

Während Dominic ihr die Adresse durchgab, sah sie mit einem innerlichen Seufzen auf ihre hübschen neuen Stiefel hinab. Sie beendete das Gespräch und rief ihren Assistenten Nolan an. Er würde ihre Ausrüstung zum Fundort bringen und hoffentlich auch an ihre UGGs denken, die für Einsätze wie diesen in ihrem Büro standen.

Der Tatort glich auf den ersten Blick jedem anderen, für den sie in den vergangenen Jahren verantwortlich gewesen war. Eine Kolonne von Fahrzeugen reihte sich am Straßenrand auf wie eine bunte Kette. Streifenwagen, zivile Fahrzeuge der Mordermittler, Kriminaltechnik. Sobald Nolan kam, würde sich der Van der Gerichtsmedizin dazugesellen. In vorderster Front stand ein orangefarbenes Ungetüm der Stadtwerke, eine Art Baumaschine.

Charlotte parkte ihren Hybrid am Ende der Reihe, machte sich auf die Kälte gefasst, die sie empfangen würde, und stieg aus. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch und hielt ihn zu, damit der Sturm ihr nicht in den Ausschnitt blies. Zügig lief sie die Straße hinauf, hielt einem jungen Officer, der genauso fror wie sie, ihren Ausweis des Gerichtsmedizinischen Instituts hin und bückte sich unter dem Absperrband hindurch, das den Tatort vom Rest der Welt trennte. Vor dem Grundstück, bei dem es sich offenbar um den Fundort der Leiche handelte, blieb sie stehen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Der Wind zerrte an den Ästen der vereinzelten Bäume und fegte über die öde, schneeverwehte Fläche.

Links von ihr gähnte ein schwarzes Loch im Boden. Daneben lag etwas, das aussah wie eine Sperrholzplatte. Unter der Schneedecke erhob sich ein kleiner Erdhügel.

Lieutenant Benjamin Wood, der Chef der Kriminaltechnik, stand in einem Schutzanzug und mit in die Hüften gestützten Fäusten vor dem Loch, das erschreckend einem Grab ähnelte. Seine angespannte Haltung sprach für sich. Charlotte musste sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass er es zu einer grimmigen Miene verzog. Sie stritt oft mit dem alten Brummbären, aber sie mochte und schätzte ihn sehr. In den vergangenen Jahren war auch er zu einem Freund geworden.

Ihre Schutzkleidung würde erst mit Nolan eintreffen, also blieb sie vor dem durchtrennten Maschendraht stehen und winkte Dominic und Josh zu, die auf dem Gelände herumstromerten. Sie kamen zu ihr und traten durch den Zaun.

»Seid ihr das gewesen?«, fragte sie mit einem Blick auf den durchtrennten Draht.

Dominic zuckte die Achseln. »So ist es für alle Beteiligten einfacher, rein- und rauszukommen.«

»Und was treibt ihr?« Sie maß die Schuhabdrücke, die sie im Schnee hinterlassen hatten, mit den Augen. »Spuren vernichten?«

Josh grinste. »Dann hätte Wood uns längst den Kopf abgerissen. Die Spuren sind alle von uns und den Jungs der Stadtwerke. Bevor sie hier angefangen haben zu buddeln, war das Gelände sozusagen jungfräulich. Reinster neuenglischer Schnee. Keine einzige Spur. Nicht einmal ein Tier ist hier durchmarschiert.«

»Wahrscheinlich, weil sie gewusst haben, dass es ein Friedhof ist«, ergänzte Dominic.

»Setzt ihr mich ins Bild? Nolan braucht sicher noch ein bisschen.« Sie steckte ihre Hände in die Manteltaschen und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Stiefel waren zwar gefüttert, aber dem tiefgefrorenen Boden hatten sie nicht genug entgegenzusetzen.

»Die Jungs von den Stadtwerken«, Dominic nickte zu der orangenen Baumaschine hinüber, »sollten die Störung an einer eingefrorenen Leitung beseitigen und haben ihren Plan falsch herum gehalten. Anstatt am anderen Ende der Straße den Boden aufzubrechen, haben sie es hier versucht und sind über das Grab gestolpert.«

»Es war mit einer Holzplatte abgedeckt?«

Josh nickte. »Ja. Der Haufen daneben ist gefrorene Erde. Wahrscheinlich wurde das Loch bereits vor einiger Zeit ausgehoben. Als die Leiche schließlich hineinkam, konnte der Täter es nicht mehr schließen, sondern nur noch provisorisch abdecken, bis der Boden auftaut.«

»Habt ihr euch das Opfer schon angesehen?«

Die Detectives schüttelten unisono den Kopf. »Es ist in eine Plane eingewickelt. Nur ein Stück Hand ragt heraus. Rot lackierte Fingernägel«, erklärte Dominic. »Also vermutlich eine Frau.«

»Um was für ein Gelände handelt es sich hier überhaupt?« Charlotte drehte sich um und nahm das trostlose Grundstück noch einmal in Augenschein. Über den kahlen Bäumen rasten wilde, dunkelgraue Wolken aus Richtung Atlantik in die Stadt. Der harte, schneidende Wind trieb sie unerbittlich voran. Sicher würde es heute noch Schnee geben.

»Das zerfallene Gebäude dort hinten war mal eine Schuhfabrik«, holte Josh sie in die Wirklichkeit zurück.

Eine Schuhfabrik? Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Charlotte schielte auf ihre Steve Maddens hinunter. Das Thema Schuhe schien sie heute nicht loslassen zu wollen.

»Sie wurde in den siebziger Jahren dichtgemacht«, fuhr er fort. »Seitdem rotten die Gebäude vor sich hin, und das Grundstück liegt brach.«

»Wir haben noch keine Ahnung, wem es überhaupt gehört.« Dominic drehte sich langsam um die eigene Achse und betrachtete seine Umgebung mit Argusaugen, wie es seine Art war. »Hey, da kommt Nolan.«

Charlottes Assistent fuhr mit dem Van der Gerichtsmedizin an der Fahrzeugschlange vorbei und parkte ihn auf ihrer Höhe in der zweiten Reihe.

»Dann können wir ja anfangen, bevor wir hier festfrieren.« Mit gespieltem Enthusiasmus rieb sich Dominic die Hände.

Charlotte ging zum Van hinüber. Ihr Assistent hob grüßend die Hand und reichte ihr die UGGs.

»Sie sind meine Rettung, Nolan.« Auf einem Bein hüpfend wechselte sie das Schuhwerk und zog anschließend den Schutzanzug über ihren engen Rock. Kein leichtes Unterfangen und definitiv die völlig falsche Kleidung für einen Tatort. Wenn sie Glück hatte, würde ihre Anwesenheit hier nicht mehr allzu lange erforderlich sein, und sie konnte sie mit der Leiche in die Gerichtsmedizin verlegen.

Sie stapfte zum Tatort zurück, und diesmal trat sie durch den Zaun und stellte sich neben Wood. »Hallo Ben, hast du schon was?«

Der Kriminaltechniker knurrte etwas, was einem Gruß ähnelte. »Wenn du mich fragst, hat dieses Loch niemand mit der Hand gegraben.«

Charlotte ging in die Knie und betrachtete die Wände des Grabes. »Du denkst, es wurde ausgebaggert? Die Wände sind ganz glatt und gleichmäßig.«

»Wenn hier ein Bagger am Werk war, finde ich unter dem Schnee auch Reifenspuren«, sagte er, und sie hatte keinen Zweifel, dass dem so war. Wood hatte den Ruf einer der besten Kriminaltechniker an der Ostküste.

Vorsichtig beugte sie sich nach vorn, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Der Körper war in eine blaue Folie eingewickelt. Zeige- und Mittelfinger waren aus der Umhüllung gerutscht. Charlotte erkannte roten Nagellack. Von ihrem Standpunkt aus wirkten die Finger intakt. Wenn das Opfer tatsächlich erst nach Einbruch der Frostperiode in das Grab gelegt wurde, war es wahrscheinlich ebenfalls gefroren und gut erhalten. »Habt ihr alles dokumentiert?«, fragte sie Wood.

Er brummte. »Wir sind so weit.«

»Gut. Dann holen wir sie hoch.« Sie trat zurück, um den Kriminaltechnikern nicht im Weg zu stehen. Zwei Cops kletterten in das Loch, schoben Seile unter den Körper und ließen ihn nach oben ziehen. Während die Leiche sacht neben das Loch gelegt wurde, begannen sie, den Boden im Grab nach weiteren Hinweisen abzusuchen und zu fotografieren.

Ein weiterer Fotograf stand für Charlotte bereit. Sie kniete sich neben die Plastikplane und schlug sie vorsichtig zurück. Die Umstehenden sogen die Luft ein. Charlotte blieb gelassen. In dem Moment, in dem man einen toten Menschen zum ersten Mal zu sehen bekam, wusste man nie, was einen erwartete. Es war der Augenblick, in dem man seine Emotionen zur Seite schieben musste. Sie war nicht hier, um Mitgefühl für die Frau mit dem zerschlagenen Gesicht zu empfinden. Sie war hier, um den zu finden, der ihr das angetan hatte. Charlotte war kein kaltherziger Mensch. Ganz im Gegenteil. Aber sie ließ ihre Gefühle erst zu, wenn sie sichergehen konnte, dass sie ihre Arbeit und ihr Urteilsvermögen nicht mehr beeinflussten.

Die Frau mit dem blutverkrusteten blonden Haar, die vor ihr auf dem Boden lag, war nicht von selbst in das Grab gesprungen. Die durchtrennte Kehle und die Verletzungen in ihrem Gesicht sprachen die deutliche Sprache furchtbarster Gewalt. Sie zog ihr Diktiergerät aus der Tasche und begann die Umstände des Leichenfundes zu dokumentieren. Datum, Uhrzeit, Wetter, Auffindesituation und objektiver Zustand des Leichenteils, den sie bislang freigelegt hatte. Als sie alle Fakten dokumentiert hatte, die es im Moment zu erfassen gab, schlug sie die Plane wieder über das Gesicht der Toten und richtete sich auf. »Wir können sie jetzt in die Gerichtsmedizin bringen.« Sie würden hier so wenig wie möglich an ihr verändern. Im Institut konnte sie sie in Ruhe von oben bis unten untersuchen und alle Spuren sichern.

»Kannst du …«, begann Dominic.

»Natürlich. Ich versuche als Erstes, sie zu identifizieren. Ihr hört von mir, sobald ich etwas habe.«

Nolan schob die Bahre heran. Gemeinsam mit den Beamten schoben sie die Frau samt Plastikfolie in einen Leichensack, hoben sie auf das Gefährt und verluden sie in den Van. Ihr Assistent fuhr ihn zurück ins Institut. Charlotte folgte ihm in ihrem Wagen.

In der Gerichtsmedizin suchte sie zuerst Dr. Palmer auf und berichtete von dem Leichenfund auf dem Gelände der alten Schuhfabrik. Die beiden Kollegen, die sich krankgemeldet hatten, hatte die Grippe erwischt. Sie würden so schnell nicht wieder zum Dienst erscheinen. Palmer hatte Charlotte deshalb noch für zwei weitere Obduktionen eingeteilt. Das passte ihr gut. Sie konnte die Fingerabdrücke der Toten nehmen und sie oberflächlich untersuchen, anschließend die beiden anderen Sektionen vorziehen und den Leichnam inzwischen auftauen lassen.

Sie wechselte in ihre OP-Kleidung, band die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in ihre Crocs mit den Gummisohlen. Als sie den Sektionssaal betrat, lag das unbekannte Opfer bereits auf dem Tisch. Ihr Assistent lehnte, sein Handy in der Hand, kreidebleich daneben.

»Ist etwas passiert, Nolan?« Besorgt legte sie ihm eine Hand auf den Arm.

»Ja … nein“, stotterte er. „Meine Frau … das Baby kommt. Es ist doch noch viel zu früh.«

Charlotte rechnete schnell nach. Der Geburtstermin war fast fällig. Erleichtert atmete sie auf. »Eine Woche zu früh ist völlig in Ordnung. Sie sollten ins Krankenhaus fahren.«

»Ja … nein«, stotterte er wieder. »Ich kann Sie doch nicht allein lassen.«

Sie lächelte. »Im Moment komme ich ohne Sie klar. Gehen Sie schon. Sagen Sie Dr. Palmer Bescheid und halten Sie uns auf dem Laufenden. Viel Glück Ihnen und Ihrer Frau.«

Zögernd setzte sich Nolan in Bewegung. So, als könnte er gar nicht glauben, was da gerade geschah. Er wurde zum ersten Mal Vater. Charlotte lächelte. Dann fiel ihr etwas ein. »Nolan.«

»Ja, Doc?« Er drehte sich zu ihr um.

»Wie sind Sie heute zur Arbeit gekommen?«

»Wie immer. Mit dem Bus.«

Auf diese Weise würde er ewig brauchen, bis er seiner Frau beistehen konnte. »Nehmen Sie meinen Wagen. Die Schlüssel sind in meiner Handtasche im Büro.«

»Nein, auf keinen …«

»Keine Widerrede. Ihre Frau wird es mir danken, wenn Sie Ihre Hand halten. Und nun machen Sie, dass Sie hier rauskommen.«

»Danke, Doc.« Er schluckte. Dann besann er sich offenbar seiner Frau in den Wehen und stürmte davon. Charlotte seufzte. Den Wagen zu verleihen, war ihre gute Tat für heute. Sie konnte sich ein Taxi nach Hause nehmen, wenn sie Feierabend machte. Sie setzte die Schutzbrille auf und zog den Mundschutz nach oben. Vorsichtig begann sie, den Leichnam aus der Folie zu wickeln.

*

Dominic rieb seine Hände aneinander. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal so gefroren hatte. Einen ganzen Tag in der eisigen Kälte zu stehen, die der Sturm vom Atlantik herüberwehte, war kein Vergnügen. Er hatte schon gemütlichere Tatorte gesehen. Vor allem hätte er es jetzt gern gemütlich. Zu Hause bei seiner Frau und seinem Sohn. Vor dem warmen Kamin. Die Markierungen, die von den mittlerweile aufgebauten Scheinwerfern in der Dämmerung beleuchtet wurden, ließen ihn daran zweifeln, ob er die Nacht überhaupt in seinem Bett verbringen würde. Die leichten Erhebungen in dem ansonsten flachen Gelände hatten sie nach dem Fund der toten Frau stutzig werden lassen. Einer Eingebung folgend hatten sie eine Hundestaffel angefordert.

Josh kam durch den inzwischen platt getrampelten Schnee zu ihm herüber. »Die Hunde sind fertig.«

»Sind sie sich mit dem Ergebnis sicher?« In diesem verdammten gefrorenen Garten steckten fünf rote Fähnchen im Boden.

Josh zog seine Mütze tiefer ins Gesicht. »An diesen Stellen haben die Leichenspürhunde angeschlagen. Kann sein, dass wir nicht überall etwas finden. Die Hunde haben es bei dem Frost nicht gerade leicht. Wir müssen aber trotzdem damit rechnen, an jedem markierten Punkt auf etwas zu stoßen.«

»Das ist ein verdammter Friedhof. Hab ich doch gleich gesagt«, knurrte Dominic.

Wood gesellte sich zu ihnen. »Mit dem ersten Grab sind wir so weit fertig. Mit dem Rest wird es schwierig. Wir müssen den Boden heizen, um graben zu können.«

»Wie lange wird das dauern?« Josh hatte bereits sein Handy aus der Tasche gezogen. Es wurde höchste Zeit, ihren Lieutenant auf den aktuellen Stand der Ermittlungen zu bringen.

»Wenn nicht heute noch eine Warmwetterfront über uns hereinbricht, wird sich der eine oder andere von uns ein paar Nächte um die Ohren schlagen müssen. Wir können immer nur ein Grab auftauen. Es wird also dauern.

Wir fangen mit dem dort drüben an.« Wood wies auf das nächste Fähnchen. »Hat sich Charlie schon gemeldet?«

»Sie hat mir eine Nachricht geschickt. Der Todeszeitpunkt lässt sich aufgrund des Frostes nicht genau nachvollziehen. Sie schätzt, ein paar Wochen. Identifizieren konnte sie die Frau noch nicht. Unsere Jane Doe wurde missbraucht und starb vermutlich an der durchtrennten Kehle. Sie möchte morgen früh ein Meeting.«

»Gut. Bis dahin haben wir vielleicht das nächste Grab geöffnet und wissen mehr über diesen Friedhof.« Wood kickte einen kleinen Schneeklumpen zur Seite. »Wir sollten überlegen, wie wir weiter vorgehen. Eine Nachtwache brauchen wir zwar, aber sicher muss nicht jeder von uns hier herumhängen, bis wir alle ausgegraben haben.«

Wood hatte recht. Sie mussten sich überlegen, wie sie weiter vorgingen. »Einen Moment.« Dominic trat einen Schritt zur Seite, zog mit steif gefrorenen Fingern sein klingelndes Handy aus der Tasche und blickte auf das Display. Sein Bruder. »Was gibt’s, Geno?«

»Hey, Dom. Ich wollte mich nur mal melden und fragen, wie es so geht.«

»Kein guter Zeitpunkt«, ließ Dominic ihn wissen. Er gab Josh ein Zeichen, dass er gleich wieder da war.

»Verstehe. Du bist gerade an einem Tatort«, tönte die Stimme seines jüngeren Bruders durch den Hörer.

»Ja. Deshalb ist es im Moment schlecht. Wir haben schon ein Opfer im Leichenschauhaus, und wie es aussieht, bleibt es nicht bei einem.«

»Ist Charlie für euren Fall zuständig?«

Dominic seufzte. »Gott sei Dank, ja. Hör mal, ich muss wirklich Schluss machen.«

»Kein Problem. Grüß Ellie von mir.« Geno drückte das Gespräch weg, noch bevor Dominic etwas erwidern konnte. Er wandte sich wieder zu Josh um. »Sollen wir eine Münze werfen, wer die erste Schicht übernimmt?«

*

Charlotte rollte ihre angespannten Schultern und drückte auf Speichern. Sie versandte ihren Obduktionsbericht an Dominic, Josh, Wood und ihren Boss. Dann fuhr sie den PC herunter und trank den letzten Schluck lauwarmen Tee. Die Kälte, die sich am Tatort in ihr breitgemacht hatte, war sie den ganzen Tag über nicht mehr ganz losgeworden. Am besten ging sie schleunigst nach Hause und ließ sich ein heißes Bad ein, um ihren Körper wieder auf Normaltemperatur zu bringen. Palmer wäre nicht begeistert, wenn sie sich auch noch eine Erkältung einfing.

Ihr Magen knurrte laut, als sie von ihrem Schreibtisch aufstand. Verdammt, sie hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Ihr kam in den Sinn, dass sie heute eigentlich hatte einkaufen gehen wollen. Ihr Kühlschrank war leer, aber Nolan hatte ihren Wagen. Also würde sie schnell etwas essen gehen, bevor sie sich das heiße Bad gönnte. Mel’s Diner, in dem sie hin und wieder nach der Arbeit aß oder etwas zu essen mitnahm, war nicht besonders gut. Aber es lag nur zwei Blocks vom Institut entfernt. Sie konnte hinlaufen und sich von dort ein Taxi nach Hause bestellen. Charlotte schlüpfte wieder in ihre UGGs.

Zusammen mit ihrem Kostüm sahen sie zwar ein wenig albern aus, aber das war ihr beim Gedanken an den Schnee, durch den sie stiefeln musste, egal. Sie schnappte sich ihre Handtasche und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

*

Geno Coleman legte seinen Werkzeuggürtel ab und verstaute die Arbeitsmaterialien und -geräte in der leeren Speisekammer. Er strich über die glatte Oberfläche eines der Hängeschränke, die Coleman Construction heute eingebaut hatte. Noch drei Tage, und Mrs Jennings neue Küche war fertig. Zwei Tage vor dem vereinbarten Termin.

Er war eigentlich nur vorbeigekommen, um einen Blick auf die Fortschritte zu werfen, doch dann hatte er der Arbeit nicht widerstehen können. Er mochte Holz. Das Sägen, das Schleifen. Er hatte ein wenig mit angepackt und sich schließlich sogar bereit erklärt, aufzuräumen und die Sägespäne zusammenzukehren. Es war ein ungeschriebenes Coleman-Gesetz, eine Baustelle immer ordentlich zu verlassen.

Nach einem letzten Blick in die halb fertige Küche nahm er seinen Parka von einem der Stühle und löschte das Licht. Er fuhr zu Mel’s Diner, seinem Lieblingsrestaurant.

Er mochte diesen Laden weder wegen der durchschnittlichen Burger noch wegen der griesgrämigen Kellnerin. Er mochte ihn wegen der Gesellschaft, die sich möglicherweise bot. Vor ein paar Monaten war er nach einem Termin in der Nähe zufällig in diesem Schuppen gelandet und hatte einen der schönsten Abende seit Langem verbracht. Seitdem war er hin und wieder hier gewesen, immer in der Hoffnung auf ein weiteres Treffen.

Sein Bruder hatte gesagt, dass er und seine Kollegen einen harten Tag gehabt hatten. Vielleicht brachte das die Frau, an die er in der letzten Zeit viel zu oft dachte, hierher. Ihr erstes – und letztes – Treffen ohne einen ganzen Haufen Leute um sie herum hatte ebenfalls nach einem besonders schlimmen Tag stattgefunden.

Er war bei seinem dritten Kaffee angelangt, als sie durch die Tür trat. Sie stutzte, lächelte aber. Geno konnte sich beim Anblick ihres Outfits ein Grinsen nicht verkneifen. Hübsches Kostüm unter einem grauen Mantel zu UGG-Boots und einem etwas durcheinandergeratenen Pferdeschwanz. Er stand auf, um sie zur Begrüßung auf die Wange zu küssen, und nutzte die Chance, ihren Duft einzuatmen. Er hatte keine Ahnung, wie Gerichtsmediziner normalerweise rochen. Charlie duftete sauber und frisch, irgendwie nach Frühling. Er musste sich zwingen, nicht länger an ihr zu schnüffeln.

»Was machst du hier?«, wollte sie wissen und rutschte ihm gegenüber in die Sitznische.

»Ich war zufällig in der Gegend und hatte Lust auf eine besonders freundliche Bedienung.« Sie blickten beide zu der mürrischen Kellnerin, die am Tresen saß und im Fernsehen eine Seifenoper verfolgte. Charlie lachte.

»Möchtest du mit mir essen?«

Sie überlegte keine Sekunde. »Gern. Ich hoffe, dein Tag war besser als meiner und du kannst mir davon erzählen.«

Über Kaffee und Burgern plauderten sie, teilten sich ein Bier und schließlich einen Donut zum Nachtisch. Wie auch bei ihrem ersten Treffen verflog die Zeit in Charlies Gegenwart.

Schließlich unterdrückte sie ein Gähnen und sah auf ihre Uhr. Bedauernd hob sie den Blick. »Ich sollte gehen. Morgen früh steht als Erstes eine Besprechung mit deinem Bruder und seinem Team an. Ich muss früh raus.«

»Ich schließe mich an. Mein Tag beginnt auch ziemlich früh. Lass mich die Rechnung zahlen, dann begleite ich dich zu deinem Wagen.«

»Vielen Dank für die Einladung. Aber zu meinem Auto brauchst du mich nicht zu bringen. Das habe ich an meinen Assistenten verliehen. Ich bitte Kellnerin Sonnenschein, mir ein Taxi zu bestellen.«

»Kommt überhaupt nicht infrage.« Bei dem Gedanken, den Abend auszudehnen und noch ein wenig Zeit mit Charlie zu verbringen, beschleunigte sich sein Puls. Sie genoss seine Gegenwart, aber sie war zurückhaltend. Vielleicht konnte er sie ja zu einem weiteren Abendessen überreden. Oder Kino. Oder worauf auch immer sie Lust hatte.

Er zahlte, hielt ihr die Tür des Restaurants und die seines Pick-ups auf. Sie schauderte in der Kälte und kroch tiefer in ihren Mantel. Geno drehte die Heizung hoch und ließ sich von ihr den Weg zu ihrer Wohnung zeigen. In behaglichem Schweigen fuhren sie durch die nächtliche Stadt. Er fand keinen Parkplatz vor ihrem Haus und stellte den Wagen in einer Seitenstraße ab. Als er ausstieg und ihr abermals die Tür aufhielt, versuchte sie, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht notwendig war, sie nach Hause zu begleiten. Es war aber notwendig. Nicht nur, weil er jede Sekunde mit ihr genoss, aber immer noch nicht wusste, wie er sie zu einem weiteren Date überreden konnte. Seine Mutter würde ihm die Ohren langziehen, sollte er sich nicht wie ein Gentleman verhalten und sie nach Hause bringen.

2. Kapitel

Es war so leicht gewesen, so einfach, sie zu jagen. Einen kleinen Vorsprung hatte er ihr gegönnt, hatte sie von Freiheit träumen lassen. Sie hatte das Versteck noch nicht einmal verlassen, als er ihre Flucht bemerkte.

Er war ihr ohne besondere Eile gefolgt, hatte sie vor sich hergetrieben. Auf unsicheren Beinen stolperte sie über den eisigen Untergrund. Der Wind zerrte an ihrem wirren Haar. Ihr hektischer Atem stieg in weißen Wolken in das gelbe Licht der Straßenlaternen und verlor sich wie Nebelfetzen in der Nacht.

Als sie sich mit der Hand am Schaufenster des Schuhgeschäfts abstützte, um zu Atem zu kommen, entschied er, dass sie weit genug gekommen war. Er drehte sie am Arm zu sich um. »Hab ich dich«, flüsterte er.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ er das Messer über ihren Hals gleiten und lächelte zufrieden. Die Wärme des Blutes dampfte über dem Schnitt. Luft strömte zwischen ihren halb geöffneten Lippen hervor. Mit einem leisen Stöhnen versuchte sie, ein letztes Mal zu sprechen.

Vielleicht wollte sie ihn beschimpften, ihn verfluchen.

Vielleicht wollte sie um ihr Leben betteln. Er wusste es nicht – und es war ihm egal. Aus ihrem Mund würde nie wieder ein Laut dringen. Ihre großen braunen Augen waren weit aufgerissen, ein einziges Flehen. Er konnte ihr nicht helfen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Nun würde sie die Konsequenzen tragen müssen. Fast tat es ihm leid, sie zu töten.

Nicht, weil sie ihm so am Herzen lag, sondern weil sie gemeinsam wirklich viel Spaß gehabt hatten. Sie war ein Diamant unter Strasssteinchen gewesen. Und nun hauchte sie ihr Leben in einer dunklen Straße in Charlestown aus. Ein Jammer. Es hätte so viel spektakulärer, um so vieles aufregender enden können. Aber auch hier, im düsteren Licht einer einzigen Straßenlaterne und der Schaufensterbeleuchtung eines Schuhgeschäftes, starb sie wunderschön.

Wenn er diesen Augenblick nur festhalten könnte. Am besten in einem Video. Notfalls hätten es auch ein paar Bilder getan. Er konnte nicht einmal ein Foto mit dem Handy machen, weil er es nicht dabeihatte. Er kannte die Polizei gut genug. Sie würden versuchen, herauszufinden, wer sich Montagnacht um kurz vor zwölf in dieser Gegend herumgetrieben hatte, wenn sie die Leiche fanden. Sie würden Funkmasten auswerten, Mobilfunkdaten erheben. Zu seinem Handy würden sich die Ermittlungen auf keinen Fall zurückführen lassen.

Plötzlich verärgert darüber, um die Dokumentation dieses einmaligen tödlichen Augenblicks beraubt worden zu sein, hob er ihren leichten, schlaffen Körper an und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen die Schaufensterscheibe des Schuhgeschäfts. Mit einem explosionsartigen Knall zerbarst das Glas in Millionen von Splittern und regnete auf die leblose Frau nieder, die zwischen Stiefeln, Pumps und Hausschuhen aufschlug.

Gleichzeitig mit ihrem Aufprall nahm er etwas anderes wahr. Einen leisen Schrei, irgendwo zwischen Schock, Unglauben und Entsetzen. Das blutige Messer noch in der Hand, drehte er sich in Richtung des Geräusches und sah das Paar, das einen Block entfernt stand. Gerade eben war er mit dem Mädchen noch völlig allein gewesen. Er fixierte sein ungewolltes Publikum. Augenblicklich brannte sich das Bild der beiden in seine Netzhaut. Keine Frage, er würde sie ausschalten müssen. Im Moment starrten sie ihn an wie hypnotisierte Eichhörnchen.

Er hatte bereits den ersten Schritt in ihre Richtung gemacht, als in einer Wohnung über dem Bioladen nebenan das Licht anging und ein Fenster hochgeschoben wurde.

»Was ist denn da unten los?«, brüllte jemand.

Innerlich verfluchte er sich dafür, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, sie durch das Schaufenster zu werfen.

Natürlich war das spektakulär genug gewesen, sogar in diesem verschlafenen Teil der Stadt die Leute auf sich aufmerksam zu machen. Ab und zu, nicht oft – aber manchmal – konnte er sich einfach nicht zurückhalten.

Er hatte also Aufsehen erregt. Nun gut. Das war nichts, was sich nicht bereinigen ließ. Jetzt würde er erst einmal verschwinden.

Wenn sich das Pärchen, das ihn beobachtete, um diese Zeit hier herumtrieb, wohnten sie wahrscheinlich in der Gegend. In diesem Fall würde er sie wiederfinden. Sollten sie ihn im diffusen Licht der Straßenbeleuchtung und des leichten Schneefalls tatsächlich erkannt haben, würde er es zu verhindern wissen, jemals von ihnen identifiziert zu werden.

Normalerweise verließ er ein Opfer nie, ohne zu überprüfen, ob es wirklich tot war. In diesem Fall war das nicht notwendig, entschied er mit einem Blick auf das Mädchen im Schaufenster. Sie würde ihn nicht mehr verraten können. Er sah ein letztes Mal zu dem Pärchen an der Straßenecke, drehte sich um und sprintete los. Was für ein hübscher Tod, dachte er, während er in der Dunkelheit verschwand. Verendet im Schaufenster eines Schuhgeschäftes. Wenn das nicht der Traum aller Frauen war. Er unterdrückte ein Kichern, seine Muskeln spannten sich an, und mit der Schnelligkeit eines Leichtathleten ließ er die Tote und die Zeugen hinter sich.

*

Geno verhielt sich anders als sonst. Sie hatten sich schon einige Male auf Partys gesehen. Oder bei Dominic und Elena. Einen einzigen Abend hatten sie in Mel’s Diner verbracht, nachdem sie sich zufällig über den Weg gelaufen waren.

Und heute hatten sie sich wieder dort getroffen. Er war genauso gut gelaunt und unkompliziert wie immer. Und doch war er irgendwie – intensiver. Er half ihr aus dem Wagen und bot ihr seinen Arm. Sie hatte protestiert, aber ein Coleman ließ sich nicht davon abbringen, wenn er sich etwas in den Kopf setzte. Geno hatte sich vorgenommen, sie nach Hause zu begleiten.

Bevor sie in die Riverside Street, die Straße, in der sie wohnte, abbogen, blieb Geno ohne Vorwarnung stehen und drehte sie zu sich herum. »Charlie, ich wollte dir nur sagen«, begann er. »Also, dieser Abend war wirklich toll. Wir sollten das unbedingt wiederholen.«

Daher wehte der Wind. Sie schenkte ihm ein Lächeln, schüttelte aber den Kopf. »Geno …«

»Es ist mein Ernst. Ich würde dich wirklich gern wiedersehen.«

Sie machte einen Schritt nach hinten und trat in den Lichtkegel der Laterne, die die Straßenecke beleuchtete. »Es wäre nur keine gute Idee.«

Er schenkte ihr sein unbeschwertes Grinsen. »Wetten doch?« Mit einer fließenden Bewegung folgte er ihr unter das gelbe Licht, zog sie an sich und legte seine Lippen auf ihre. Er forderte nicht, er überrumpelte nicht. Er bot ihr etwas an. Ließ sie entscheiden, ob sie sich auf diesen Kuss einlassen wollte. Sie könnte zurücktreten, und er würde sie in Ruhe lassen, das wusste sie. Und vielleicht war es genau das, was sie dazu brachte, ihre Lippen auf seine zu pressen.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Zumindest kam es Charlotte so vor. In dem Moment, in dem Geno den Kuss vertiefte, riss das ohrenbetäubende Brechen von Glas sie auseinander. Mit einem entsetzten Laut fuhr Charlotte herum und erblickte die große Gestalt – mit Sicherheit ein Mann – und die Beine einer Frau, die aus dem Schaufenster des Happy Feet ragten, durch das sie gerade geworfen worden war.

Charlotte hoffte, ihr Aufschrei wäre im Splittern der Scheibe untergegangen. Dem war nicht so. Die Gestalt drehte sich zu ihr um. Es war ganz sicher ein Mann. Sein Gesicht lag im Schatten. Sie konnte ihn nicht erkennen, aber seine Augen waren auf sie gerichtet. Sein Blick glitt förmlich über sie hinweg. Sie bemerkte das Messer in seiner Hand, und doch konnte sie sich nicht bewegen. Vor Entsetzen gelähmt sah sie zu, wie er den ersten Schritt in ihre Richtung machte. Wenn sie es nicht schaffte, sich zu bewegen, bis er bei ihr war …

Über dem Bioladen ging das Licht an. Das Fenster wurde hochgeschoben. Die Gestalt löste ihren Blick von ihr und sah kurz nach oben. Dann drehte sie sich um und verschwand in der Nacht.

»Oh Gott!« Geno sog keuchend Luft in seine Lungen.

Charlotte sah ihn an. Einen Augenblick lang hatte sie vergessen, dass er neben ihr stand. Er war blass und schluckte heftig. Aber er schien sich im Griff zu haben. »Ruf einen Rettungswagen. Ich folge dem Typen«. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprintete er in die Richtung, in die der Mann verschwunden war. Hoffentlich hatte Geno das Messer bemerkt.

Charlotte rannte ebenfalls los. Während sie an das Schaufenster des Happy Feet trat, wählte sie die 911.

»Notrufzentrale. Welchen Notfall möchten Sie melden?«

»Ich bin Dr. Charlotte Connelly vom gerichtsmedizinischen Institut. Ich möchte einen Überfall melden.« Sie warf einen Blick in das Schuhgeschäft, und das Blut gefror ihr in den Adern. Oh Gott, war alles, was sie denken konnte.

»Doktor? Sind Sie noch da, Doktor?«, tönte es aus dem Hörer.

Charlotte räusperte sich. »Ja. Ja, ich bin noch da. Weibliche Patientin. Etwa zwanzig Jahre alt. Die Vena jugularis ist geöffnet. Carotis intakt.« Sie sah das Blut in der Halswunde pulsieren. »Sie ist bewusstlos. Schicken Sie so schnell wie möglich einen Rettungswagen.« Sie nannte die Adresse und schob das Handy zurück in die Tasche, um die Hände frei zu haben. Vorsichtig kletterte sie über die Scherben ins Schaufenster. Die Frau vor ihr lag reglos in einer dunklen Blutlache und war offenbar bewusstlos. Was war hier nur passiert? Normalerweise kam sie nicht an einen Tatort, solange das Opfer noch lebte. Sie atmete tief durch, um ihren Kopf zu klären. Charlotte war trotz allem Ärztin und wusste, was zu tun war. Sie tastete am Handgelenk der Bewusstlosen nach dem Puls. Am Hals könnte sie ihn besser fühlen, aber sie wollte ihr nicht noch mehr Qualen zufügen. Im ersten Moment spürte sie nichts. Sie legte einen zweiten Finger auf das Handgelenk. Die Haut fühlte sich kalt und klamm an. Und dann konnte sie es fühlen. Das Herz der Frau schlug – noch. Der Puls war schwach und unregelmäßig, aber er war da. Erleichtert atmete Charlotte aus.

Ihr Blick fiel wieder auf die Halswunde. Der Mann, dem Geno folgte, hatte offenbar versucht, ihr die Kehle zu durchtrennen, aber nur die Drosselvene erwischt. Sie konnte nicht viel für die Frau tun, die kaum älter als ein Mädchen war. Diese Verletzung konnte sie durchaus überleben. Sie musste sie warmhalten und versuchen, die Blutung zu stoppen. Hoffentlich war der Rettungswagen schnell genug. Niemand war in der Nähe. Keine Menschenseele war auf der Straße zu sehen. Das Fenster, das vorhin hochgeschoben worden war, war wieder geschlossen. Wenn auf der Charlestown Bridge ein Unfall geschah, waren innerhalb von Sekunden Schaulustige versammelt. Aber wehe, man brauchte Hilfe.

Charlotte zog ihren Mantel aus und deckte die Frau zu. In Ermangelung von Verbandmaterial presste sie ihre rechte Hand auf die Wunde, nachdem sie die Einweghandschuhe aus ihrer Tasche gefischt hatte. Mit der anderen nahm sie die Hand der Bewusstlosen. Sanft strich sie mit dem Daumen über den kalten Handrücken und murmelte beruhigend. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob ihre Worte überhaupt zu der Frau durchdrangen.

Irgendwann, Charlotte war sich nicht sicher, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren, wurde der Puls noch unregelmäßiger. Sie konnte ihn kaum noch ertasten. Ein leichtes Zittern durchlief den Körper vor ihr. Die Lider begannen zu flattern, und die Frau schlug die Augen auf.

»Ruhig«, murmelte Charlotte. »Alles wird gut. Hilfe ist unterwegs. Sie sind in Sicherheit.«

Die großen Augen blickten sie unverwandt an. Dann bewegte die Frau lautlos ihre Lippen.

»Sch! Nicht sprechen.« Charlotte strich weiter beruhigend mit dem Daumen über den klammen Handrücken. Der Puls war fast nicht mehr fühlbar.

»Hilfe« brachte die Frau wie ein heiseres Stöhnen über die Lippen. »Mädchen … helfen … Haus.« Sie hatte die Worte stockend und stark akzentuiert ausgesprochen. Sie war keine Amerikanerin. Vermutlich Osteuropäerin, dachte Charlotte.

In der Ferne erklang das Signalhorn des Rettungswagens.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie die Frau. »Sagen Sie mir Ihren Namen.«

Die Lippen bebten erneut. »Tanja«, hauchte sie. »Bitte …«

»Was ist passiert, Tanja? Braucht noch jemand Hilfe?« Charlotte war froh, die Verletzte mit einem Namen ansprechen zu können.

»Bitte … Natalia … Mädchen … helfen.« Tanja sah ihr fest in die Augen und drückte ihre Finger, wie um ein Versprechen zu besiegeln. Dann wurde ihr Blick leer, und die Hand in ihrer erschlaffte. Charlotte fühlte keinen Puls mehr unter ihren Fingerkuppen. Scheiße!

»Tanja. Komm schon, halt durch!« Die Sirenen des Rettungswagens klangen so nah, aber weder das Herz noch die Lungen der jungen Frau arbeiteten.

Charlotte riss ihren Mantel weg und legte die Hände für die Herzdruckmassage auf das Brustbein. Sie würde Tanja nicht sterben lassen. Als sie begann, die Handballen auf den Brustkorb zu pressen, gaben die Knochen unnatürlich schnell nach. Verdammt! Wieso waren Tanjas Rippen gebrochen? Sie konnte sich doch unmöglich beim Sturz durch das Schaufenster so verletzt haben. »Was ist nur mit dir passiert?«, fragte sie das leblose Gesicht unter sich, während sie ihre Wiederbelebungsversuche fortsetzte.

Eiskalte Schauder rieselten ihr über den Rücken. Sie hatte sich seit ihrer Zeit als AIP in der Notaufnahme in keiner Situation befunden, in der sie sich so hilflos gefühlt hatte wie in diesem Moment. »Komm schon, Mädchen, halte durch«, flüsterte sie beschwörend. Eine eröffnete Vena jugularis konnte man überleben. Das war möglich. Das war absolut möglich.

Mädchen … Natalia … helfen … Haus. Im Rhythmus ihrer Herzdruckmassage hallten die Worte durch Charlottes Kopf. Sie wechselte zur Mund-zu-Nase-Beatmung und dann wieder zur Herzdruckmassage. Unaufhörlich. Bis sie das Blaulicht des Rettungswagens sah. »Komm schon, Tanja.«

*

Genos Lungen brannten. Er war gerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Dabei war er derjenige, der den Teufel verfolgte, oder besser gesagt: ein wirklich grausames Monster jagte. Als er sich endlich aus seiner Erstarrung gelöst hatte, war der Mann ihm bereits zwei Blocks voraus.

In der Hoffnung, den Abstand zu verkleinern, schlitterte Geno über den vereisten Bürgersteig. Zweimal hatte er den Typen abbiegen sehen. Jetzt war er verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Wo versteckte er sich? In einer der vielen Gassen? Einem Hauseingang oder Hinterhof?

Verdammt. Schwer atmend blieb er stehen. Wo war dieser Mistkerl? Geno zog seinen Schlüsselbund hervor und schaltete die kleine Maglite ein, die an dem Ring befestigt war. Sorgfältig leuchtete er den Boden vor sich ab. Nichts. Der Schneematsch war im Laufe des Tages von Hunderten Füßen zusammengetrampelt worden und inzwischen von einer feinen Eisschicht überzogen. Er konnte keinen Fußabdruck des Typen finden, keinen Hinweis, wo er abgeblieben war. Langsam drehte sich Geno im Kreis, wie es sein Bruder immer tat, wenn er die Umgebung in sich aufnehmen wollte. Er hielt den Atem an und lauschte. Kein verdächtiges Geräusch drang zu ihm durch. Nur ein entferntes Martinshorn und das Rauschen des Verkehrs der Durchgangsstraße, die am Ende die Gasse kreuzte, waren zu hören. Er lief bis zu der Straße und blickte eine Zeit lang in beide Richtungen.

Die Autos rauschten in einem unablässigen Strom an ihm vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schob ein Penner humpelnd einen Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten vor sich her. So warm eingepackt, wie er war, konnte man nicht viel von ihm erkennen.

Geno drehte sich um. Charlie brauchte seine Hilfe. Und doch – verdammt. Er passte eine Lücke im Verkehr ab und sprintete über die Straße. Er musste den Obdachlosen überprüfen. Wenn sich der Täter auf diese Weise tarnte und Geno ihn entwischen ließ, würde er sich später in den Hintern treten. »Entschuldigen Sie, Sir«, rief er.

Der Penner drehte sich um. Eine wirklich üble Geruchswolke wehte zu Geno herüber. »Was ist?« Er war alt und wacklig auf den Beinen. Seine Augen waren glasig vom Alkohol oder von was auch immer.

»Entschuldigen Sie, ich habe Sie verwechselt.«

Der Alte grinste zahnlos und musterte ihn von oben bis unten. »Mit wem willst du mich denn verwechselt haben, Jungchen?« Das Lachen, das er ausstieß, war rau und hässlich. Es jagte Geno eine Gänsehaut über den Rücken.

Er kramte einen Zehndollarschein aus der Hosentasche und drückte ihn dem Mann in die Hand. »Nochmals Entschuldigung«, murmelte er.

Der Alte starrte einen Moment auf den Schein. »Gott mit dir, Jungchen«, brummte er und ließ ihn stehen. Mit einem langsamen Schlurfen schob er seinen Wagen weiter über den vereisten Gehweg.

Geno blickte ihm einen Augenblick nach. Der eisige Wind, der vom Charlesriver herüberwehte, fuhr unter seinen Parka und ließ ihn noch einmal erschaudern. Langsam drehte er sich um und lief zurück. Er warf abermals einen Blick in jede Gasse, jeden Hinterhof und Hauseingang. Nirgendwo ein Hinweis auf den Scheißkerl, der die Frau durch das Schaufenster geworfen hatte. Als er aus der dunklen Gasse in die Riverside Street einbog, musste er gegen die Helligkeit blinzeln, die die Scheinwerfer und rot-weiß-blauen Lichter eines Polizeifahrzeugs und eines Rettungswagens in den Schnee malten. Eine kleine Menschen-traube hatte sich um das Schaufenster des Schuhladens versammelt. Charlie konnte er nicht sehen. Er steckte die kalten Hände in die Parkataschen und schob sich durch die Leute – und da war sie. An die Mauer der Hauswand gelehnt, hockte sie neben dem zersplitterten Glas, die Hände voller Blut, das Gesicht so weiß, als hätte sie einen Geist gesehen.

*

Die Nacht wurde lang. Die junge Frau, Tanja, konnte nicht gerettet werden. Die Reanimationsversuche der beiden Rettungssanitäter, die Charlotte in ihren Bemühungen ablösten, blieben erfolglos.

Kurz nach dem Eintreffen des Rettungswagens tauchte eine Streife auf. Die Officer sperrten den Tatort ab und informierten nach einem kurzen Blick auf die Szenerie das Dezernat für Todesermittlungen.

Charlotte kauerte sich in ihrem schmutzigen Mantel neben das Happy Feet, den Rücken gegen die Hauswand gelehnt, die mit Blut verschmierten Hände im Schoß.

Plötzlich tauchte zwischen all den fremden Menschen Genos Gesicht auf. Er ließ sich schwer atmend neben sie fallen.

»Du hast ihn nicht erwischt?«, fragte sie leise.

»Nein. Ich habe keine Ahnung, wohin er verschwunden ist.« Er sah dem Treiben im und um das Schaufenster herum zu. »Sie hat es nicht geschafft«, stellte er fest.

»Tanja. Sie hat mir gesagt, sie heißt Tanja.« Charlotte senkte den Blick auf ihren Schoß. »Die Kripo ist informiert.

Sie schicken jemanden.«

»Wen?«

»Ich habe keine Ahnung. Wir werden uns überraschen lassen müssen.«

»Ich ruf Dom an.«

»Lass ihn schlafen. Er hat mit seinem Fall genug um die Ohren.«

»Er ist mein Bruder. Ich kann ihn morgens um drei wecken, wenn ich ihn brauche. Und im Moment brauchen wir ihn definitiv. Außerdem würde er mir sowieso in den Hintern treten, wenn er erst morgen früh im Dienst von der Geschichte erfährt.« Geno zog sein Handy aus der Tasche und wählte. »Hey, Dom. Kannst du zu Charlie kommen? Nein, jetzt. Sofort … Hier gab es einen Mord. Nein, nein. Charlie ist okay.« Er warf ihr einen Blick zu. »Ist gut. Bis gleich.« Er drückte das Gespräch weg. »Er kommt her.«