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Wer sind diese Frauen und Männer, die Woche für Woche zum Fußball gehen? Ganz normale Enthusiasten, sagt Stefanie Fiebrig und hat ihr Buch den Fans gewidmet. Was sind das für Menschen, die freitags, sonnabends, sonntags, montags und gelegentlich mittwochs (einige sogar an Dienstagen oder Donnerstagen) eine geschlossene Wand aus Köpfen, Schultern und Gesang bilden, um ihre Fußballmannschaft anzufeuern? Die anlässlich eines Balles, der auf einen Pfosten trifft, im Wohnzimmer auf die Sessellehne kloppen, dass die Gläser in der Schrankwand nur so scheppern? Die tränenden Auges Schnäpse trinken müssen, weil ein ihnen persönlich ganz unbekannter Mann von Hamburg nach London verzieht, um dort zu arbeiten? Die um einen Mettigel auf den Torschützen wetten? Auch wenn es nicht so klingen mag: Die meisten von ihnen sind ganz normal. Sie brauchen keine Perücken in Nationalfarben, und manche sind auf dem Heimweg vom Stadion nicht einmal vollständig betrunken. Fußball ist Bestandteil ihres Alltags, so wie Aufstehen, Anziehen, Zähneputzen. Bloß schöner. 26 Geschichten, Porträts, Interviews und Essays, die um eine einzige Frage kreisen: Warum Fußball? - Weil ich es muss, antwortet der Fan. Weil ich es kann, sagt der Fußballprofi. Weil es mein Kind ist, seufzt seine Mutter. Weil es Kultur ist, glaubt der Künstler. Weil es gut zum Bier passt, beharrt der Gastwirt. Fußball ist in unserem Alltag fest verankert. Um das festzustellen, genügt ein Blick in den Sportteil der Tageszeitung, bisweilen sogar auf ihren Titel. Aber was sind das für Leute, die das lesen? Wo kommen die alle her? Oder waren die etwa schon immer da? Stefanie Fiebrig, Fußballbloggerin, Fotografin und Union-Fan, hat in den letzten zehn Jahren eine ganze Menge von ihnen getroffen. In BRING MICH ZUM RASEN erzählt sie von diesen - sehr unterschiedlichen - Begegnungen, die dem Leser immer wieder überraschende, berührende und erhellende Blickwinkel auf den Fußball und seine Fankultur eröffnen.
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Seitenzahl: 285
Stefanie Fiebrig
Sofern nicht anders ausgezeichnet, stammen alle Zitate aus persönlichen Gesprächen der Autorin mit dem/der Porträtierten.
Vorwort
Mir sind beim Fußball die besten Menschen begegnet, die ich kenne. Fußballfans. Mal waren unsere Farben gleich, mal waren sie verschieden. Erzfeinde habe ich dabei nur wenige gewonnen.
Es ist kein Zufall, dass ich ausgerechnet beim Fußball angefangen habe, ernsthaft zu fotografieren. Mich hat ein Verein gefunden, den ich liebevoll »meinen« nenne. Ich bemühe mich nach Kräften, ihm keine Schande zu machen, auch wenn wir uns manchmal streiten. Eine Geste von Luís Figo hat mich so dermaßen gerührt, dass ich schnurstracks nach Portugal geflogen bin, um Portugiesisch zu lernen. Ich habe ein Land vorgefunden, in dem die Leute mit wenig auskommen, und etwas über alte Fliesen und Stockfisch gelernt. Es macht mir immer noch Spaß, in einem beliebigen Dorf anzuhalten, aus dem Auto zu steigen und dem Spiel zuzusehen, das dort gerade läuft. Nicht zuletzt habe ich am Rande eines Testspiels den Kerl kennengelernt, mit dem ich inzwischen verheiratet bin. Ich weiß bis heute nicht, wie das Spiel ausging. Ich hatte eigentlich auch gar nicht hingehen wollen.
Die Gründe, aus denen wir uns Fußballspiele ansehen, sind verschieden. Entsprechend vielfältig sind die Arten des gelebten Fantums. Die offizielle Sprachregelung trennt Fans von »sogenannten« Fans und unterteilt sie damit in Gut und Böse. Gut sind die mit den lustigen Hüten. Wer lustig ist, ist wohlgelitten. Böse sind die mit den Fackeln. Das musste sich schon Prometheus anhören.
Die Wirklichkeit in den Stadien der Welt ist komplizierter. Die lustigen Hüte sind rar geworden, mit den Fackeln verhält es sich ähnlich. Aber wer sind dann all diese Leute, die freitags, sonnabends, sonntags, montags, gelegentlich mittwochs, einige sogar an Dienstagen oder Donnerstagen eine geschlossene Wand aus Köpfen, Schultern und Gesang bilden, um ihre Mannschaft anzufeuern? Die anlässlich eines Balles, der auf einen Pfosten trifft, im Wohnzimmer auf die Sessellehne kloppen, dass die Gläser in der Schrankwand nur so scheppern? Die tränenden Auges Schnäpse trinken müssen, weil ein ihnen persönlich ganz unbekannter Mann von Hamburg nach London verzieht, um dort zu arbeiten? Die auf den Torschützen wetten – um einen Mettigel?
Auch wenn es nicht so klingt: Die meisten von ihnen sind ganz normal. Fußball ist Bestandteil ihres Alltags, so wie Aufstehen, Anziehen, Zähneputzen. Bloß schöner. Weil das alles so unspektakulär ist, wird kaum darüber berichtet. Die meisten Fußballgeschichten sind klein, ganz selten brennt dabei auch nur das Essen an. In der Summe prägen sie den Fußball stärker als gelegentliche Pfeffersprayeinsätze – nur wird diese Relation kaum hergestellt.
Fußball hat mein Leben besser gemacht, reicher und interessanter. Das gilt nicht nur für mich, es trifft auf viele zu, deren Fußballgeschichten hier gesammelt sind. Männer und Frauen, Jungs und Mädchen. Sie prägen in ihrer Mehrheit das, was wir heute »Fankultur« nennen. Sie sind weder unkritisch noch neutral. Die offizielle Sprachregelung hat keinen besonderen Namen für sie – so normal sind sie. Fußballfans. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Stefanie Fiebrig
1.
Es fängt mit einem Spiel an und bleibt dann so. Für immer. Das sagen die, die dem Fußball verfallen sind. Alle. Ausnahmslos. Sie erinnern sich an dieses eine Spiel, die Erinnerungen sind farbenprächtig und reich an Details. Das Wetter, der Zustand des Rasens, die Aufstellung und das Ergebnis zur Halbzeit. Manche wissen sogar, was sie am Vortag zum Frühstück hatten. Die meisten, wo und mit wem sie sich das Spiel angesehen haben. Die Geschichten fangen im Damals an und reichen bis ins Heute. »Icke, als kleener Piepel«, sagt dann der Berliner. »Wie, schon 20 Jahre her? Kommt mir vor wie gestern, oder höchstens neulich.« Recht häufig kommen Väter und Großväter darin vor, seltener Mütter und Großmütter, es sei denn, es geht um handgefertigte Schals aus selbst versponnener Wolle. Hat der oder die Erzählende dazu noch selbst Fußball gespielt, werden unebene Fußballplätze am Rande der Zivilisation erwähnt. Mannschaften, die nach Landmaschinen heißen. Oder nach Landmaschinenteilen. Das hat eine innere Logik und ist schlüssig. Jeder weiß sofort, dass die Geschichte stimmt.
Nicht ganz so überzeugend, aber trotzdem wahr ist dagegen eine Geschichte namens »Ich bin da irgendwie hängen geblieben«. Es lässt sich nicht auf Bierbecher drucken. Es erklärt auch nicht, warum ich nächsten Sonntag schon wieder hin muss. Nichts daran klingt nach Entbehrung. Die Worte »Herzrasen« und »Leidenschaft«, ohne die keine gute Fußballgeschichte auskommt, fehlen. Für solche Menschen baut niemand eine Fanmeile auf. Fußballmagazine, Sportschau und Doppelseiten sind von Enthusiasten für Enthusiasten gemacht. Hängenbleiben zählt nicht. Hängenbleiben ist wie Sitzenbleiben. Der Ehrentitel »Fußballfan« ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.
Aber genau das ist sie, meine Geschichte. Ich war schlicht nicht ordnungsgemäß sozialisiert worden, der Rückstand unaufholbar. Die 80er waren vorbei, die Kutten waren passé, und die Ultras wollten keine Mädchen. Wie soll man da Zugehörigkeit beweisen? Fans waren die anderen. Praktisch alle außer mir. Schon in Köpenick geboren und samt und sonders in der Wuhle getauft, bevor sie ihren Verein geheiratet haben. Eine geschlossene Gesellschaft.
Was noch schlimmer ist, ich kann mich partout nicht an dieses eine Spiel erinnern. Jenes Spiel, bei dem mich die Fußballleidenschaft traf, so unvermeidlich wie Regen, der auf Blätter fällt. Fußball war in meinem Leben sehr gut vermeidbar. Ich hätte ohne Weiteres gelassen daran vorbeispazieren können. Hin und wieder ein Länderspiel, weil es die gesellschaftliche Konvention so will, aber verständnislos angesichts der überfüllten S-Bahn Richtung Erkner an Heimspielwochenenden. Ich hätte mein Leben so einrichten können. Aber irgendwas ist schiefgegangen. Es muss dieses Spiel gegeben haben. Anders ist das alles nicht zu erklären.
Ich glaube, es war heiß. Und ich glaube, es war Mainz. Wir hatten Besuch aus Mainz. Der wollte Union gegen Mainz sehen. Ich war neu in der Stadt. Hatte ich schon eine Wohnung? Suchte ich noch danach? Ich kannte eine Handvoll Leute, aber Berlin war mir fremd. »Union« war für mich kein Fußballbegriff, sondern irgendwas mit Kohl. Helmut Kohl. Dass es in Berlin Fußballvereine gäbe, war mir nicht geläufig. Ich hatte weder etwas von der Existenz des BFC Dynamo gehört, noch war ich einem lebenden Herthaner begegnet. Ich war nicht verpflichtet, mir diesbezüglich Meinungen zu bilden. Es war eine friedvolle Zeit. Ich fand Dortmund gut, ohne Gründe dafür zu haben, und stänkerte gerne einen Pfälzer an, der Kaiserslautern mochte. Nach Berlin passte beides nicht, ich hab’s beim Umzug aussortiert. Damit war ich praktisch vereinslos, als der Mainzer Besuch kam.
Es hätte alles so schön werden können. Ich hatte die einmalige Gelegenheit, mich auf den ersten Blick zu verlieben. Leider kann ich mich an rein gar nichts erinnern. Saß ich oder stand ich? Tribüne, Gegengerade, hinterm Tor? Sind die anderen womöglich ohne mich zum Spiel gegangen, und ich kenne das alles nur vom Hörensagen, weil sie mir beim Abendessen davon erzählt haben? An dem Tag habe ich es für alle Zeit versaut, mir eine anständige Fußballbiografie zuzulegen. Ich habe das Spiel meines Lebens verpasst. Im Ernst: Ich weiß nicht mal, ob ich da war oder nicht. Die Regel besagt: Du musst dich erinnern können. Wer sich nicht an seinen ersten Stadionbesuch erinnern kann, gehört nicht dazu.
An einen anderen Tag erinnere ich mich besser. Ich hatte Hausaufgaben im Fach Fotografie und wollte meine Mitbewohnerin porträtieren. Eine groß gewachsene, lebensfrohe Person, die die Fähigkeit besaß, sich wie ein Igel einzurollen, wenn eine Kameralinse in ihre Richtung zeigte. Dass ich mit ins Stadion müsse, war ihre Idee. Ich wäre auf Derartiges nie gekommen. Sie konnte das gut erklären. Es hatte etwas mit Aus-sich-Herausgehen zu tun. »Im Stadion bin ich ganz ich selbst.« Das war es, was sie ungefähr gesagt hat. Ich habe diese Fotos gut aufgehoben und den Fußballplatz fortan als einen Ort begriffen, an dem die Leute echt sind. Ungebremst und ungefiltert, im Guten wie im Schlechten.
Eine ganze Reihe von Eindrücken sind mir durch diese Stadionbesuche im Gedächtnis geblieben. Der zum Beispiel: Niemand ist dort ein anderer, als er sonst ist. Das hat einen einfachen Grund. An den Spielfeldrändern des Landes stehen dieselben Leute, die von morgens bis abends das Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften. Als Lkw-Fahrer, Zahnarzthelferin oder Studienrat, als Bauleiterin oder Erzieher. Manche gehen noch zur Schule, einige sind schon Rentner. Etliche müssen mit sehr wenig Geld auskommen, andere haben genug für einen Logenplatz. Normale Menschen, die einen normalen Alltag leben und besser, schlechter oder gar nicht bezahlten Tätigkeiten nachgehen. Bei Wahlen machen sie ihre Kreuze, bei IKEA kaufen sie Teelichter und Tische, die Lack heißen. Aber niemand legt seinen Charakter, seine Persönlichkeit ab, während er am Kassenhäuschen sein Ticket löst. Höchstens ändert sich das Wohlbefinden im Laufe der folgenden zwei Stunden. Umgekehrt steckt niemand seine Liebe zum Fußball auf dem Heimweg zurück in seine Jackeninnentasche. Nur den Schal, den nimmt man montags vielleicht nicht mit ins Büro.
Schon ganz zu Anfang habe ich auch gelernt, dass Fußball kein Paralleluniversum ist. Es ist nur ein weiterer Treffpunkt mit einer eigenen Hausordnung, die marginal von anderen Hausordnungen abweicht. In der stehen Dinge wie »Heiserkeit ist der Muskelkater des Unioners« und dass man seine eigene Mannschaft niemals auspfeift. Regeln, auf die man sich im Umgang miteinander verständigt hat. Jeder Ort dieser Welt hat so etwas. Selbst in meiner Küche wird nicht jedes Verhalten toleriert. Ich dulde beispielsweise keinerlei provokante Äußerungen über Backmischungen. Erst recht verbitte ich mir Kritik an meinen Kochkünsten. In Kirchen und Stadien gilt lautes Singen als opportun, während es in Kneipen und Büros eher Anstoß erregt. Außer die Kneipe zeigt gerade Fußball. Was hier befremdlich und übertrieben wirkt, kann dort ein vollkommen angemessenes Verhalten sein. Etwa das in heimischen Wohnzimmern durchaus übliche Herumsitzen in Unterhosen. Ich möchte es gerne auf Wohnzimmer beschränkt wissen, halte es aber nicht für außergewöhnlich oder gar verrückt. Nicht anders kommt mir ein Fußballpublikum vor, das im Stadion singt und lärmt. Es verhält sich adäquat. Es geht anschließend nach Hause und macht, was man zu Hause so tut. Abwaschen zum Beispiel.
Meine Mitbewohnerin hatte also recht. Sie ist im Stadion ganz sie selbst. Wer sollte sie denn sonst sein? Und diese Person, die sie unzweifelhaft ist, zeigen meine Fotos. Eine Frau, die sich wohlfühlt bei dem, was sie tut. Die ganz bei sich ist. Nichts daran ist verstellt. Es sind Bilder von großer Ernsthaftigkeit. Sie erzählen etwas von Überzeugung und Empathie. Ich habe auch die folgenden fünf oder zehn Spiele mit dem Rücken zum Spielfeld gestanden und das gesamte Geschehen an den Gesichtern der Zuschauer abgelesen. Gebannt. Fasziniert. Kein Wunder, dass ich mich an kein Spiel erinnern kann. Aber an viele Stimmungen, an viele Köpfe. Ihretwegen bin ich wieder und immer wieder gekommen – und am Ende dabeigeblieben.
Viel später habe ich angefangen, auch die Spiele zu verfolgen. Zögerlich zunächst. Gelegentlich verständnislos. Und immer öfter durch die Kamera. Ich konnte vieles, was ich sah, nicht einordnen. Damit meine ich weniger die Frage nach der gleichen Höhe. Die kann niemand beantworten, der hinter dem Tor steht. Hinter dem Tor lebt man hinsichtlich der sportlichen Entscheidungen, die der Schiedsrichter trifft, meist im Bereich des Ungewissen. Um so mehr erstaunt mich, wie meinungsstark es hinter dem Tor zugeht. Mein Mangel an Verständnis rührte eher daher, dass ich ein Spielfeld nur von oben gesehen habe. Von außen. Niemals aus der Perspektive der Spieler.
Der naheliegende und plausible Gedankengang »Selber machen oder zum Mitspieler rüberlegen?« brauchte einige Zeit, um zu mir zu finden. Die Bewertung von Fouls und Verletzungen traue ich mir bis heute erst zu, wenn der Blaulichtwagen schon neben mir steht. Ähnlich verhält es sich mit der natürlichen Bewegung und der Hand, die zum Ball geht. Ich könnte genauso gut behaupten, ich zähle die Flügelschläge eines Kolibris. Fußball ist schnell, und ich sehe nur das, was ich weiß.
Das, was ich weiß, habe ich aus Fotos gelernt. Die Kamera sieht besser als ich. Im Gegensatz zu mir kann sie sich Spielzüge merken. Seitdem ich nachsehen kann, von wem die Vorlage kam und ob der Torhüter noch mit den Fingerspitzen dran war, hat sich meine Fußballexpertise verdoppelt. »Ach kuck, der hat den gar nicht berührt! Klar Ball gespielt!« Bis diese Dinge auf meinen Fotos sichtbar waren, hat es einige Spiele gedauert. Einige Spielzeiten. Wie fotografiert man einen Kolibri? Das ist leicht. In kürzester Belichtungszeit mit Offenblende und Teleobjektiv. Das ist schwer. Jedenfalls, wenn es ein gutes Teleobjektiv ist.
Der Aufstellung ansehen, was das heute für ein Spiel gibt. Im Voraus ahnen, wohin es sich bewegt. Ein Gespür dafür entwickeln, welche Spieler die Dramaturgie bestimmen werden. Aber auch darauf achten, wie tief die Sonne steht. Den Auslöser nicht erst dann durchdrücken, wenn der Ball den Spielerkopf verlassen hat. Wissen, wer in welche Richtung jubelt, und dort sein, bevor er es ist. Alle, deren Namen du nicht fehlerfrei buchstabieren kannst, mindestens einmal von hinten fotografieren. Auf die Körpermitte fokussieren. Schnell weg sein, wenn ein Ball in deine Richtung fliegt. Ich meine: sehr schnell. Das ist erlernbar, aber nicht von jetzt auf gleich.
Interessanterweise habe ich die Fähigkeit erworben, Spieler anhand ihrer Bewegungsabläufe zu erkennen. Ich kann Jan Glinker und Daniel Haas an ihren Flugbahnen unterscheiden. Vielleicht, weil ich das mit den Rückennummern nie geschafft habe. Ich bin außerdem eine Art Experte für Körperteile geworden. Zeig mir dein Knie, und ich sage dir, wer du bist. Ich habe mehr Knie gesehen als die meisten Orthopäden. Die Knubbelknie von Torsten Mattuschka sehen ganz anders aus als die spitzigen Knochen von Christian Stuff. In Zivil und auf der Straße erkenne ich dafür keinen von beiden.
Inzwischen fällt es mir schwer, einem Fußballspiel anders als durch den Sucher einer Kamera zu folgen. Ich habe eine Aufgabe gefunden. Die Kamera zwingt mich zur Konzentration. Sie hilft mir, Situationen zu filtern. Wann genau wurde das Spiel entschieden? Da, wo mir das technische Vokabular fehlt, kann ich auf ein Foto zeigen und sagen: »Da, bitte sehr! Nach diesem Pass ging alles schief.« Ich bin beim Fußball geblieben, weil mir der Film, der da läuft, gefällt. Eine Serie mit unendlich vielen Fortsetzungen. Ohne Dauerkarte, ohne Kluft. Einfach hängen geblieben. Je länger dieses Ins-Stadion-Gehen anhält, desto sicherer bin ich, dass es damit seine Richtigkeit hat.
Bin ich dadurch Fan? Ich weiß nicht genau, was das ist. Ich besitze Trikots. An Sportlerkörpern sehen die sehr gut aus. Wollte ich einen Sportlerkörper, müsste ich was mit einem Sportler anfangen. Dafür ist es wohl zu spät. Nie zu spät ist es aber für die Liebe zum Fußball, selbst für die, die das Spiel ihres Lebens verpasst haben. Ich kann das beweisen. Mit meinem Mitgliedsausweis.
2.
Ich wache auf, ganz von selbst. Es ist halb elf, elegant bewegt der Mann neben mir seine Fühler. Ich sehe das gerne. Wir haben noch den ganzen Tag vor uns. Was wollen wir machen? Egal. Was Schönes. Hauptsache zusammen, Hauptsache wir beide. Frühstück? Frühstück. »Du hast nicht etwa Lust, zum Bäcker zu gehen?« Nein. Keiner von uns hat Lust, zum Bäcker zu gehen. Wir finden noch Brot in der Küche. Brot, das nicht erst irgendwo geholt werden muss, ist gutes Brot. Es gibt Kaffee ans Bett, später einen gedeckten Tisch und Frühstücksei, so wie ich Frühstücksei mag. Hart gekocht. Der Mann kräuselt die Nase, macht’s aber doch. Es schmeckt ganz ausgezeichnet. Auf dem Küchenfensterbrett sitzt ein Eichhörnchen und sieht uns zu. Der Kosmos, der Einklang … ich würde schnurren, wenn ich könnte.
Auch der zweite Kaffee ist heiß, und heiß soll er sein. Ich habe zu viel lauwarmen Kaffee getrunken, seit wir dieses niedliche, kleine Kind haben. Das Kind, das jetzt gerade nicht da ist. Wir sind so ausgeschlafen, wir könnten Bäume pflanzen. Ausgeschlafen sein schafft Raum für Begeisterung. Im Kopf. Kaum den ersten Zentimeter Kaffee abgeschlürft und schon Pläne, die für eine ganze Woche kinderfrei reichen. Was machen wir nun mit dem Tag? Ich sehe auf mein Telefon und relativiere: mit dem, was vom Tag noch übrig ist? Duschen. Na, doch, Duschen ist schon wichtig. Ich sag’s den Kindern immer wieder. Duschen. Niemand kommt rein und wirft kleine Autos in die Wanne. Das kommt mir nicht richtig vor. Was weiter? Anziehen. Schnell und wahllos. Wir sind das so gewohnt. Selbst dann, wenn keine Eile nötig ist. Heute kräht kein kleiner Mensch »Arm!« und will getröstet werden, weil völlig überraschend eine Türschwelle vor ihm aufgetaucht ist. Heute ziehen wir nur uns selbst an. Niemand da, der glaubt, uns gefallen Gummistiefel zum Schlafanzug genauso gut wie ihm. Anziehen ist gar keine große Sache. Wer hätte das gedacht? Siehste: Schon fertig.
Ich suche eine Kamera und entscheide mich für die, die alles ganz langsam macht. Analog. Behäbig. Die passt heute zu mir. Ich suche ewig danach. Wir hatten keine Zeit mehr füreinander seit dem letzten Sommer. Ein paar übrig gebliebene Filmrollen liegen noch im Gemüsefach. Urlaubsreste. Eigentlich nicht das richtige für Winterlicht. Ich packe sie trotzdem ein und springe die Treppe runter. Der Mann wartet schon.
Draußen scheint Sonne auf uns. Kalte, klare Luft. Den Frost spüre ich immer zuerst an den Ohren, dann an den Fingerkuppen. Wir laufen ohne Richtung nebeneinanderher und erzählen uns irgendwas. Es ist auch nicht wichtig. Hauptsache zusammen. Und bitte, keine Eile! Heute nicht. Lass uns Zeit verplempern, als hätten wir genug davon.
Das Café dort drüben, siehst du? Lass uns da reingehen, Füße wärmen. Ich sehe mich erst der Weihnachtsspeisekarte gegenüber und kurz darauf einer Gänsekeule. Es gibt diese Dinge, denen ich nicht widerstehen kann. Eines davon ist Essen. Ein anderes das offene Meer. Ich habe verlernt, langsam zu essen. Dafür kann ich essend füttern, pusten und kleine Kinderpfoten abputzen. Fähigkeiten, die gerade ganz und gar überflüssig sind. Ich wünschte wirklich, ich würde nicht so schlingen. Das hat die arme Gans nicht verdient. Das Beste am Braten ist die Soße. Ich bin geneigt, den Teller abzulecken, sehe aber anstandshalber davon ab. Erschöpft und glücklich lasse ich schließlich Messer, Gabel und Serviette auf den Teller fallen. Der Mann schlägt einen Spaziergang in die Schönholzer Heide vor. Ich finde heute einfach alles gut, was er sagt, und nicke begeistert.
Wir kommen nicht weit. Ein kleines Kassenhäuschen und der Duft von Glühwein locken uns an. Kuck, Fußball! Kuck, Fahnen! Ach, ein schöner Platz! Und schön ist er wirklich, der Paul-Zobel-Sportplatz in Pankow. Vor allem ist er, was sein Name verspricht: ein Sportplatz. Kein Stadion, keine Arena. Linien, Eckfahnen, Geländer. Alles da. Die rasenbedeckten Stufen wecken Heimatgefühle. Von wann sind eigentlich diese Lampen? Ganz erstaunliche Lampen. Angepfiffen wird um 14 Uhr, da ist es noch hell genug. Die Lampen bleiben aus. Ich mache, was ich sonst nie muss. Ich lese das Spielankündigungsplakat. Bezirksliga. VfB Einheit zu Pankow gegen SV Blau Weiss Berolina Mitte. Nie gehört. »Nie gehört« ist etwas Gutes, »Nie gehört« bedeutet, dass wir uns bedenkenlos dazustellen können.
Auf der Heimseite stehen mehr Menschen als auf der Gästeseite, richtig viele sind es auf beiden Seiten nicht. Je nach Alter der Spieler sind das ihre Kumpels, Freundinnen, Eltern, Großeltern, Töchter und Söhne. Manchmal auch ihr Hund. Und ein paar alte Männer, die da sind, weil sie immer da sind. Hinter dem Tor thront der Vereinsvorstand auf Gartenstühlen aus Plaste. Auf der anderen Seite steht der Stadionsprecher. Der kümmert sich auch um die Musik. Die Mannschaften laufen ein zu Hells Bells. Wie die Großen. Sie nehmen ernst, was sie da machen. Wie die Profis.
Der Mann und sein Glühwein lassen sich am Spielfeldrand nieder. Ich spule einen Film ein und sammle Erinnerungen. »Ihr sollt nicht so viel fummeln, ihr sollt spielen!«, feuert einer an. Ich könnte nicht sagen, wen er meint. Wenn’s gut läuft, wird gelobt: »Jenau so, Kevin!« Auf den kleinen Plätzen ist jedes Wort zu hören, sei es auf oder neben dem Spielfeld. Meine Kamera japst kurzatmig beim Aufziehen und löst mit einem weichen Plopp! aus. Als würde sie dazwischen die Luft anhalten. Plopp! Mit demselben Geräusch trifft ein Spieler den Ball.
Als sich ein Spieler verletzt, nicht mehr aufstehen kann, lässt die Linienrichterin die Fahne fallen und rennt mit dem Sanitätskasten über den Platz. Der Mann wird vom Feld getragen, die Partie wieder aufgenommen. Der Spieler auf der Krankentrage wird vor dem verschlossenen Vereinshaus abgelegt: Kein Schlüssel. Es dauert, bis der Rettungswagen da ist. Das nächste Krankenhaus ist die Maria Heimsuchung. Dort werden die Pankower Kinder geboren. Die Unfallchirurgie ist weniger bekannt. Jeder hofft, sie niemals von innen sehen zu müssen. »Er hat es knacken und knirschen gehört«, erklärt die Linienrichterin später, als sie wieder an der Mittellinie steht. Die älteren Männer wissen, was das bedeutet. Wer hier spielt, spielt ohne Netz und Müller-Wohlfahrt.
Kurz vor dem Halbzeitpfiff machen die Gäste von Berolina aus ihrer ersten Chance das 0:1. Das Tor verpasse ich, weil ich Männer auf Gartenstühlen fotografiere. Und den Stadionsprecher, der unter freiem Himmel arbeitet, darauf vertrauend, dass es weder schneit noch regnet. Dieser Teil der Fußballwelt hat keine Videoleinwand, ich werde nie erfahren, wer der Torschütze war. Das Tor ist für mich verloren. Ich fotografiere Spielszenen. Es ist kein sehr schnelles Spiel. Wovon träumt einer, der hier spielt?
Den Pausenglühwein trinken wir mit Schuss. Ausgewechselte Spieler nehmen Bier und Zigarette. Einer, den sie Dante nennen, ist dabei. Dante heißt er wegen der Haare. In der Bezirksliga sind es immer die Haare. Er ist nicht zufrieden mit seinem Trainer und sagt das laut zu seinem Nebenmann. Weil er nicht Dante Bonfim Costa Santos in München, sondern Dante in Niederschönhausen ist, stört sich niemand daran. Sonntagnachmittag um drei. Dantes Wochenende beginnt. Unseres geht zu Ende.
Die zweite Spielhälfte verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Überdeutlich höre ich den Mann sagen: »Wenn ich was gelernt habe, dann, dass Standards in der Bezirksliga keine Waffe sind«, und denke dazu: Sei stille, Schätzchen, sonst fallen wir hier noch auf. Das tun wir aber sowieso, alle anderen kennen sich. Wir sind die beiden, die keinen Grund haben. Im Zweifel freuen wir uns für die Heimmannschaft, einfach, weil Fußball und Neutralität einander ausschließen. Aber die Heimmannschaft will unser Wohlwollen nicht. Sie gibt uns möglichst wenig Anlass, ihr auf die Schulter zu klopfen und »War doch jut« zu sagen. Wir sind verwöhnt und vergesslich. Vielleicht sieht man uns das an. Wir gehen sonst zu technisch herausragenden Zweitligaspielen.
Wie lange ist die Oberliga her? Sechs Jahre? Sieben? Auf Plätzen wie dem hier ist mein Verein mein Verein geworden. Die ganze Sache war viel zu klein, um wild zu sein. Verbote gab es wenige, weil so vieles egal war. Akkreditierung – ein Fremdwort. Niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, aus Sicherheitsgründen alkoholfreies Bier auszuschenken. Im Gegenteil hätte erst das alkoholfreie Bier dazu geführt, dass eine sicherheitsrelevante Situation entsteht. Wenn uns die Musik nicht gefiel, kappten wir den Strom. Unsere Auswärtsfahrten reichten kaum über den Rand von Berlin, Tarifbereich C, hinaus. Sie stellten die S-Bahn nicht vor Kapazitätsprobleme, es durfte auch mal ein Kurzzug sein. So viel Platz zum Fansein hatten wir später nie wieder. Es gibt Tage, an denen ich das vermisse. Jeder Aufstieg ließ den Rasen schöner und Torsten Mattuschka schlanker werden. Der Abstand zum Spielfeld wurde groß und immer größer. Jetzt, am Paul-Zobel-Sportplatz, fällt mir auf, wie weit wir uns entfernt haben. Amateursportplätze erden.
Nach Abpfiff bleiben wir noch lange vor dem Vereinsheim stehen. Die Sonne geht unter, im Gegenlicht sehen wir die Flugzeuge verschwinden, die in Tegel starten. Die Spieler verlassen den Platz, schlendern zu ihren Kumpels, Freundinnen, Eltern, Großeltern, Töchtern und Söhnen, manche zu ihren Hunden. Einer trägt das Ballnetz, ein anderer die Eckfahnen. Spieler und Zuschauer verschmelzen zu einer Gruppe. Biertrinkende Fußballfreunde nach Feierabend. Fast wie ein nachbarschaftliches Grillfest.
Als wir gehen, sind wir beide still, etwa zehn Schritte lang. Dann fangen wir gleichzeitig an zu reden. Darüber, wo die Grenze verläuft zwischen Amateur- und Profisport, über Vereine und wie sie funktionieren, über Begeisterung und Nähe. Von der Schwierigkeit, ein gutes Publikum zu sein. Wie schön Illusionen sind, und was wir über professionellen Fußball nie wissen wollten. Vor uns flitzt ein Fuchs über die Straße.
Wir haben warme Hände und leichte Füße. Manchmal bleiben wir stehen. Knutschen, kichern. Als hätten wir eben einen Kirschbaum geplündert. Der Glühweinbecher tropft, die Hände werden klebrig, und es macht uns nichts aus. Das hier ist Fußball. Ohne Schalensitze, Dach und Rasenheizung. Immer noch magisch. Keine Ahnung, was mich daran so glücklich macht. Bei geklauten Kirschen weiß ich das auch nie. Die schmecken sogar dann, wenn sie noch nicht reif sind.
Mein Telefon klingelt. Oma will wissen, wann sie die Kinder zurück nach Hause bringen soll. Kinder! Herrje, die haben wir ja auch noch. Fußball ist eine Gewohnheit, die wir nicht mit unseren Kindern teilen. Das kleine Kind ist zu klein, das große Kind ist zu uninteressiert. Kein einziger Bayern-Spieler dabei, und sieht auch gar nicht aus wie bei FIFA13. Das ist ihm nicht spektakulär genug.
Ich erzähle Oma, wie schön unser Tag war. Dass rein zufällig ein Fußballspiel unseren Spazierweg kreuzte. Dass wir einfach stehen geblieben sind. Wie gut es uns gefallen hat. Dass alles war wie früher. Ich gerate regelrecht ins Schwärmen. Ich kann hören, wie Oma nickt. Zu jedem einzelnen Satz. Hm, hm. Ihr geht es wie dem großen Kind, nur aus anderen Gründen. Jedes von einem »Hm« begleitete Nicken ist Ausdruck ihres Zweifels. Sie fragt sich, seit wir uns kennen, ob ich gezwungen werde, zum Fußball zu gehen, und ob ich sehr darunter leide. Oma lässt uns aber unsere unglaubwürdige Begeisterung und schüttelt den Kopf nur noch innerlich. Eben, wenn sie »hm« sagt. Solange wir zufrieden sind, ist es ihr recht. Von Zeit zu Zeit bietet sie uns trotzdem Opernkarten an. Falls wir uns das mit dem Fußball mal grundsätzlich anders überlegen sollten.
Als ich auflege, sehe ich den Mann grinsen. Rätselhaft. »Was?«, frage ich. Er sieht mich an. »Zufall? Das glaubst du wirklich?«
3.
Ich habe reichlich Zollstöcke zerbrochen. Ich habe Figuren aus Wäscheklammern gebaut und auf Kochtöpfen getrommelt. Meine Kindheit kann man mit Fug und Recht eine glückliche nennen. Ich wünsche mir, dass Du über Deine später dasselbe sagst. Deshalb hoffe ich, immer unterscheiden zu können zwischen dem, was Du willst, und dem, was ich will. Ich möchte keine von den Müttern sein, die ihre Kinder zwingen, all das zu tun, was sie selbst nicht geschafft haben. Es ist viel, was ich nicht geschafft habe. Ich schreibe es auf, für uns beide.
Ich habe beispielsweise nie Fußball gespielt. In Gesprächssituationen über die Unhaltbarkeit von Bällen, die in Tore trudeln, fühle ich mich deshalb oft unterlegen. Gerne wüsste ich mehr darüber, wie es ist, überhaupt einen Ball am Fuß zu führen. Oder wie sich Torwarthandschuhe anfühlen. Mir scheint es ein Wunder, dass man damit überhaupt irgendwas festhalten kann. Ich erinnere mich an ein Kindergeburtstagsspiel, bei dem mit Messer und Gabel eine Tafel Schokolade aus mehreren Schichten Zeitungspapier geschnitten werden muss, von einem Kind, das Mütze, Schal und Fäustlinge trägt. Nicht nur, dass es viel zu warm ist. Mit Handschuhen kann man kein Besteck halten.
Es waren immer sehr lustige Geburtstage. An Kindern ist Ungeschicklichkeit niedlich. An Erwachsenen ist sie es nicht. Ich traue mich jetzt nicht mehr, jemanden zu bitten, mir Fußballspielen beizubringen. Ich werde auch gewiss nicht fragen, ob ich das mit den Torwarthandschuhen mal probieren darf. Das ist Erwachsensein. Die Dinge, die Du musst, werden mehr. Die Dinge, die Du kannst, weniger.
Das mit dem Fußball ist nicht mein einziges Versäumnis. Ich bin auch nicht Balletttänzerin geworden, obwohl ich mir mit zwölf nichts Schöneres vorstellen konnte. Tanzen. Ich hatte Filme gesehen und alles darüber gelesen. Ich war mir ganz sicher: Das wird mein Beruf. Kinder irren sich manchmal. Mir hätte auffallen können, dass ich schon damals kein Bewegungstalent war. Obwohl ich fast so guten Mädchenspagat konnte wie Jean-Claude Van Damme. Aber, das habe ich später gelernt, darum geht es beim Tanzen gar nicht. Ich sehe dir zu, wie Du auf Zehenspitzen tippelst. Nur so, zum Spaß. Du hüpfst, drehst Dich im Kreis und singst: »Tanze, tanze, tanze!« Du veralberst mich, oder? Nein, Herzchen. Tanz nur weiter. Mir auf der Nase herum.
Opa wollte, dass ich Anwältin werde. Manchmal irren sich auch Eltern. Das wollen wir uns beide gut merken, ja? Anwältin. Geschicklichkeit im Kopf. Das hat er mir zugetraut. Mir gefiel das aber nicht. Vor allem wegen der Kostüme. Nein, ich musste nie als Tiger gehen. Auch, wenn man vor Gericht manchmal laut brüllen muss. Es sind nicht solche Kostüme, wie du sie zum Fasching anziehst. Es ist die Art Kostüm, wie sie die Frauen im Flugzeug tragen, die vorne stehen, mit den Armen rudern und zeigen, was man tun muss, wenn das Flugzeug mal an der falschen Stelle vom Himmel fällt. Keine Bange, das mit dem Runterfallen passiert nicht sehr oft.
Ob die Frauen sich verkleiden, wenn sie im Kostüm zur Arbeit gehen? Ich bin nicht sicher, ob eine Uniform als Verkleidung gilt. Ach so, Du weißt gar nicht, was eine Uniform ist. Uniform ist, wenn alle gleich aussehen. So gleich, dass man sie kaum voneinander unterscheiden kann. Das kann praktisch sein. Das kann aber auch schwierig sein. Wenn Du die gleiche Jacke hast wie Benni, der die gleiche Jacke hat wie Jakob und Charly, und die Jacken von Annika und Mina sehen ganz genauso aus, wissen alle, die euch sehen, dass ihr zusammengehört. Dass ihr eine Gruppe seid. Darum tragen beim Fußball alle das gleiche Trikot. Damit jeder weiß: Die gehören zusammen. Schwierig daran ist, dass ihr nicht genau wisst, welche Jacke wem gehört, wenn alle Jacken gleich aussehen. Spätestens dann, wenn sich einer von euch bekleckert. Jeder sagt, er war das nicht, und keiner will die Jacke mit dem Fleck. Bei euch kommt dann Ute und bestimmt, was gemacht wird. Ohne Ute würdet ihr euch wahrscheinlich darüber streiten. Bei Fußballspielern kommt der Trainer und sagt, was gemacht wird. Der Trainer einer Fußballmannschaft ist der Bestimmer und hat immer recht. Trainer. Auch ein guter Beruf. Das wollte ich aber nie werden, obwohl ich sehr gerne bestimme. Vor allem aber wollte ich nicht zur Gruppe der Anwälte gehören. Ich streite mich nicht so gerne.
Später wollte ich Häuser bauen. Baufacharbeiterin lernen und Architektin werden, das schien mir eine sinnvolle Sache. Menschen müssen wohnen. Beton mischen. Stein auf Stein setzen. Platz lassen für Fenster und Türen. Große Fenster, die viel Licht hereinlassen. Ein geschwungenes Mansarddach oben drauf. Darum tut es mir immer noch ein bisschen leid. Ich danke Dir aber dafür, dass Du mit mir Türme aus LEGO baust, die höher sind als Du. Das tröstet mich.
Einmal wäre ich fast Sportfotografin geworden. Habe ich das schon erzählt? Aber dann kamst Du. Nein, ich möchte nicht tauschen. Mit keinem Sportfotografen auf der Welt. Kein Bild, das ich machen könnte, ist es wert, ohne Dich zu sein. Ein Bild steht still. Du niemals. Dein rundes, glattes Gesicht hat ein Grübchen, wenn Du lachst. Nur eins, auf der rechten Seite. Aufmerksam siehst Du uns zu, wie wir telefonieren. Dann nimmst Du die Fernbedienung des Fernsehers, hältst sie an Dein Ohr und rufst hinein. »Hallo? Hallo, Oma! Ja! Ja!« Nichts. Du legst die Fernbedienung weg. Du weißt nicht, wozu das gut ist, gibst aber den Dingen, die wir tun, grundsätzlich eine Chance, sich als sinnvoll zu erweisen. Sogar dann, wenn wir in flache Klötzchen reinsprechen. Du versuchst ein anderes Gerät, das eben noch an Papas Ohr war. Erstaunter Blick aus blanken Augen. Etwas passiert. Da, eine Stimme! Du hast gelauscht, ganz still, und bist mit dem Telefon weggelaufen. Ich habe es zum Glück nicht verlernt, Menschen zu fotografieren, die sich schnell bewegen. Alles ist zu etwas nütze.
Du bist längst nicht mehr der zahn- und hilflose kleine Kerl, als der Du zur Welt gekommen bist. Da ist weicher Kükenflaum, wo Haare erst noch wachsen sollen. Aber ordentliche Zähne hast Du schon. Blitzeweiß, scharf, unbeschadet vom Leben. Du kannst noch alles kosten und überall probieren. Man ahnt, was du einmal für ein Mensch sein wirst, wenn Du beharrlich »Nein Jacke« sagst und stattdessen »Ball schießen« verlangst. Oder Auto fahren, Buch lesen, Eis essen forderst. Wenn Du nicht einsiehst, dass Deine winzigen Fingernägel nicht lackiert werden sollen. Anna, Kyra und Talia dürfen das doch auch! Deine Wahl fällt auf Orange und Lila. Weil Orange und Lila die Farben sind, die Du kennst. Rot, Blau, Grün und Gelb sind Dir gleichermaßen lieb. Du verwechselst sie und rätst ihre Namen. Du weißt ziemlich gut Bescheid darüber, wer Du bist. Du hast noch nicht genügend Wörter dafür, um mir das zu erklären. Die Wörter kommen noch, kleiner Freund. Aber behalte Deine Klarheit, behalte »ja« und »nein«.
Wenn du willst, bringe ich Dir ein paar von den Sachen bei, die ich gut kann. Basteln zum Beispiel. Deine Tante behauptet, ich hätte Basteln studiert. Das ist nicht ganz richtig, völlig falsch ist es aber nicht. Ich kann ziemlich gut basteln. Ob Du Dich später daran erinnern wirst, dass wir stundenlang in der Küche gesessen haben, um Knetmännchen und Knetautos zu basteln? Du hast die Haare für die Männchen gemacht. Orange Haare. Lila Haare. Die Räder für die Autos, die hast Du auch gemacht. Dass sie nicht rollen, hat Dich maßlos geärgert. Du ärgerst Dich überhaupt immer, wenn Dir etwas nicht gelingt. Das bleibt übrigens so. Nicht alles gelingt. Das soll Dich aber nicht hindern, es zu versuchen. Mach nie etwas nicht. Mach lieber etwas falsch.
Kleines Kerlchen. Jetzt liegst Du da und schläfst, einen Ball im Arm. Nicht, dass Du keinen Teddy hättest. Sogar einen Panda aus Plüsch hast Du. Es ist aber schwierig, dem Fußball aus dem Weg zu gehen, solange Du bei uns wohnst. Es ist einfach sehr viel davon da, wo wir sind. Streng genommen warst Du sogar schon einmal beim Fußball. Das war einen Tag, bevor Du geboren wurdest. Ich dachte, ich seh mir noch schnell das Spiel an. Wer weiß, wann ich wieder dazu komme. Rückblickend eine gute Entscheidung. Ich bin dann eine ganze Weile nicht dort gewesen.
Genau wie Du bin ich kein geduldiger Mensch. Ich warte gespannt auf den Tag, an dem ich Dich das erste Mal mitnehme. Ich möchte Dir so gerne mein Stadion zeigen. Stufen, die ich gefegt habe. Wellenbrecher, die ich geschliffen habe. Das Häuschen mit der Anzeigetafel, in dem ich mal übernachtet habe. Ob Dir das wohl gefällt? Ich denke an Freund Heinzi und seinen Sohn. Es scheint, dass Heinzi jr. in den Fußspuren seines Vaters wandelt. Den Vater freut’s. Ich denke an unseren Freund Norbert. Sein Sohn hat sich den Verein am anderen Ende der Stadt ausgesucht. Norbert liebt ihn deshalb nicht weniger. Zumindest hoffe ich das.