Broken Reign - Ava Harrison - E-Book
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Broken Reign E-Book

Ava Harrison

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Beschreibung

"Du bist das Einzige, was mir wichtig ist. Du bist alles. Verstehst du das?"

Skye wird den Tag nie vergessen, an dem sie als kleines Mädchen ihre Eltern verlor. Und seit damals  hat sie nur ein Ziel: den Mann zu finden, der für den Tod ihrer Eltern verantwortlich ist. Als erfolgreiche Anwältin hat sie ihr Leben im Griff. Bis sie eines Tages im Gerichtssaal auf Tobias Kosta trifft. Berüchtigter Milliardär. Gefürchteter Krimineller. Und der schönste Mann, den Skye je gesehen hat. Kurz darauf engagiert Tobias sie als seine Anwältin und Skye taucht immer tiefer in seine dunkle Welt ein. Er ist rätselhaft. Er ist gefährlich. Und er fasziniert sie. Doch während sie zusehends die Kontrolle über ihre Gefühle verliert, kommen immer neue Geheimnissen ans Licht. Welche Rolle spielt Tobias wirklich in Skyes Leben? Ist er ihre Zukunft oder ihr Untergang?


USA Today-Bestsellerautorin Ava Harrison endlich auch auf Deutsch erhältlich! Alle Titel der "Corrupt Empire" Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden. 

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

"Du bist das Einzige, was mir wichtig ist. Du bist alles. Verstehst du das?"

Skye wird den Tag nie vergessen, an dem sie als kleines Mädchen ihre Eltern verlor. Und seit damals  hat sie nur ein Ziel: den Mann zu finden, der für den Tod ihrer Eltern verantwortlich ist. Als erfolgreiche Anwältin hat sie ihr Leben im Griff. Bis sie eines Tages im Gerichtssaal auf Tobias Kosta trifft. Berüchtigter Milliardär. Gefürchteter Krimineller. Und der schönste Mann, den Skye je gesehen hat. Kurz darauf engagiert Tobias sie als seine Anwältin und Skye taucht immer tiefer in seine dunkle Welt ein. Er ist rätselhaft. Er ist gefährlich. Und er fasziniert sie. Doch während sie zusehends die Kontrolle über ihre Gefühle verliert, kommen immer neue Geheimnissen ans Licht. Welche Rolle spielt Tobias wirklich in Skyes Leben? Ist er ihre Zukunft oder ihr Untergang?

USA Today-Bestsellerautorin Ava Harrison endlich auch auf Deutsch erhältlich! Alle Titel der "Corrupt Empire" Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden. 

Über Ava Harrison

USA Today Bestsellerautorin Ava Harrison liebt das Schreiben. Wenn sie sich nicht gerade neue Romances ausdenkt, kann man sie bei einem ausgiebigen Schaufensterbummel, beim Kochen für ihre Familie oder mit einem Buch auf der Couch antreffen.

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Ava Harrison

Broken Reign

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

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Zitat

PROLOG — Officer Matthews

1. KAPITEL — Zwanzig Jahre später

2. KAPITEL — Skye

3. KAPITEL — Skye

4. KAPITEL — Skye

5. KAPITEL — Tobias

6. KAPITEL — Skye

7. KAPITEL — Tobias

8. KAPITEL — Skye

9. KAPITEL — Tobias

10. KAPITEL — Skye

11. KAPITEL — Tobias

12. KAPITEL — Skye

13. KAPITEL — Tobias

14. KAPITEL — Skye

15. KAPITEL — Tobias

16. KAPITEL — Skye

17. KAPITEL — Tobias

18. KAPITEL — Skye

19. KAPITEL — Tobias

20. KAPITEL — Skye

21. KAPITEL — Tobias

22. KAPITEL — Skye

23. KAPITEL — Tobias

24. KAPITEL — Skye

25. KAPITEL — Tobias

26. KAPITEL — Skye

27. KAPITEL — Skye

28. KAPITEL — Tobias

29. KAPITEL — Skye

30. KAPITEL — Tobias

31. KAPITEL — Skye

32. KAPITEL — Tobias

33. KAPITEL — Skye

34. KAPITEL — Tobias

35. KAPITEL — Skye

36. KAPITEL — Tobias

37. KAPITEL — Skye

38. KAPITEL — Tobias

39. KAPITEL — Skye

40. KAPITEL — Tobias

41. KAPITEL — Skye

42. KAPITEL — Tobias

43. KAPITEL — Skye

44. KAPITEL — Tobias

45. KAPITEL — Skye

46. KAPITEL — Skye

47. KAPITEL — Skye

48. KAPITEL — Tobias

49. KAPITEL — Skye

50. KAPITEL — Tobias

51. KAPITEL — Skye

52. KAPITEL — Tobias

53. KAPITEL — Skye

54. KAPITEL — Skye

55. KAPITEL — Skye

56. KAPITEL — Skye

EPILOG

DANKSAGUNGEN

Impressum

Der einzige Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Sünder ist, dass jeder Heilige eine Vergangenheit hat und jeder Sünder eine Zukunft.

Oscar Wilde

PROLOG

Officer Matthews

Es ist der perfekte Tag, um jemanden zu töten.

Die Hälfte der Polizeikräfte befindet sich in dem klapprigen Haus des Chiefs in der Waverly Street in Nantucket, um seinen fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Es würde ewig dauern, bis die Jungs reagieren. Charlie und Rick dösen an ihren Schreibtischen – sie sind das einzige Anzeichen von Leben in einem Meer aus leeren Stühlen.

Dieser Tage trage ich immer ein Extraset Handschellen an meinem Gürtel. Aber ein Blick aus dem Fenster vor meinem Schreibtisch verrät mir, dass alles ruhig ist. Ungewöhnlich ruhig. Keine Anrufe. Keine Tränen. Keine Leichensäcke.

Es ist ein Sonntagnachmittag, wie er früher selbstverständlich war.

Ein Sonntagnachmittag wie zu den Zeiten, bevor alles sich verändert hat.

Sicher, Verbrechen gab es immer. Doch vor diesem Jahr sind die schlimmsten Kriminellen auf der anderen Seite der Stadt geblieben, außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs, und machten mir keine Kopfschmerzen. Solange die Bewohner von Reddington geschützt waren, ging es mir gut.

Aber das war damals, und jetzt ist heute.

Heutzutage vergeht nicht ein einziger Tag ohne eine Überdosis. Die Drogen rücken immer weiter ins Herz der Stadt vor. Und wenn die Gerüchte auf der Straße stimmen, nähert sich auch der Krieg von den Docks.

Der Bezirksstaatsanwalt hat die Wahl mit einer Kampagne gewonnen, in der er versprach, dass die Drogen nie unsere kleine, ruhige Gemeinde erreichen werden. Dass er sie aufhalten würde.

Was für ein Witz.

Zum vierten Mal innerhalb von zwanzig Minuten schaue ich auf meine Armbanduhr. In zwei Minuten endet meine Schicht. Ich fange an, meine Sachen zusammenzusuchen, da zerreißt das Klingeln des Telefons die Stille.

Ring.

Ring.

Ring.

Charlie und Rick schnarchen ungestört weiter. Ich strecke den Arm über dem Chaos auf meinem Schreibtisch aus – Stifte, zusammengeknüllte Zettel und sogar eine alte, angetrocknete Kaffeetasse.

Neben dem Telefon liegt ein Stapel Fotos. Mein Blick bleibt an einem Bild hängen. Es zeigt Baros, einen neuen Drogendealer in der Stadt. Das gesamte letzte Jahr über haben wir jeden seiner Schritte beobachtet. Die Anweisung kam von ganz oben.

Ich schiebe den Fotostapel beiseite, um ihn nicht umzustoßen, wenn ich den Hörer abhebe. Ein Dröhnen unterbricht mich. Der Chief kommt herein, begleitet von einem Dutzend Kollegen. Sie sind alle in Zivil und reden wild durcheinander. Der Chief hat noch einen Anstecker mit der Aufschrift »Geburtstagskind« am Hemd. Das war zweifelsohne die Idee seiner Frau.

Die Stimmen hallen laut um mich herum. Ich lasse das Telefon weiter klingeln und schaue mich um, um zu sehen, was hier vor sich geht. Eine Gruppe Officer steht zusammen, die Köpfe gesenkt, und lauscht einem Detective. Es ist Mark von der Mordkommission.

Neben mir kreischt Belinda, dass jemand ihr antworten solle. Auf der anderen Seite des Raumes sehe ich Philip in den Flur laufen, der zum Ausgang führt. Ich bin mir nicht sicher, was los ist, aber meine Nerven sind sofort zum Zerreißen gespannt.

Ohne darüber nachzudenken, schiebe ich meinen Stuhl so heftig nach hinten, dass die metallenen Beine über den Fußboden schrammen. Der Stuhl knallt gegen die Wand, wo er vermutlich eine Delle hinterlässt, doch das ist mir egal.

»Was ist los?«, fragt Rick gähnend. Er steht auf, streckt die Arme über den Kopf und stupst Charlie an. Sein Blick schießt durch den Raum, als suche er jemanden, der ihm das Chaos erklären kann.

Ich schüttle den Kopf und hake noch ein Paar Handschellen an meinen Gürtel. »Ich weiß es nicht, aber es muss etwas Großes sein.«

Endlich schließt mein Körper zu meinem Kopf auf und reagiert auf das Chaos. Und dann stürme ich auch schon auf den Chief los. Irgendetwas stimmt nicht. Er ist unnatürlich blass und sein Kiefer angespannt.

»Chief?«

Er sieht mich an. Sein Blick ist leer.

»Was ist los?«, frage ich.

»Es gibt eine Situation …« Seine Stimme verebbt und er schüttelt den Kopf, als verstünde er nicht, was er gerade gehört hat.

»Was für eine Situation?«

Doch er antwortet nicht. Der Raum ist in Aufruhr. Leute schreien über das Klingeln der Telefone hinweg.

Ich warte immer noch darauf, dass er etwas sagt, aber er strafft nur die Schultern und reibt sich die Augen. Dann wird sein Blick klar, und er lässt mich stehen, um in die Mitte des Raumes zu treten.

Alle verstummen augenblicklich.

Meine Muskeln spannen sich an. Ich wappne mich für eine Shitshow.

»Wir haben zahlreiche Anrufe zu einer Explosion und Schreien aus dem Restaurant bekommen. Augenzeugen sagen, es klänge, als hätte dort ein Attentat stattgefunden.«

Wieder reden alle durcheinander.

Fragen werden auf den Chief abgefeuert.

Wir alle wussten, dass dieser Moment kommen würde. Es war unausweichlich. Doch sosehr wir uns auch bemüht haben, die Stadt vom Abschaum zu befreien, so viele Überstunden wir auch gemacht haben, um es unter Kontrolle zu bringen, bevor es zu spät ist – es hat nichts genützt. Der erste Schlag ist erfolgt.

Die Gedanken schießen mit Lichtgeschwindigkeit durch meinen Kopf. Welches Restaurant? War es unten an den Docks? Vielleicht das Café an dem Wohngebäude, das von Drogenabhängigen überrannt wurde? Aber dann dringen seine Worte an mein Ohr. Vor dem Hintergrund meines heftig schlagenden Herzens sind sie beinahe nur ein Summen.

Al’s Diner.

Ein Massaker.

»Ich brauche alle Mann. Matthews, Sterling, Bruno und Ludlow, ihr geht zu Al’s …«

Ich bin schon unterwegs.

Das örtliche Diner.

Das örtliche Diner, in dem Menschen gegessen haben. Wo Familien ihre Liebsten feiern. Ihre Freunde, ihre Partner … ihre Kinder.

Galle steigt in mir auf. Das Diner liegt keine halbe Meile vom Polizeirevier entfernt.

Es ist nicht weit, sage ich mir. Wenn ich jetzt loslaufe, kann ich es vielleicht noch aufhalten. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

Mein Atem geht abgehackt, als ich anfange zu rennen. Stimmen rufen mir hinterher, stehen zu bleiben. Zu warten. Dass wir Verstärkung brauchen.

Aber bevor sie mich aufhalten können, drücke ich die Tür auf und stürze aus dem Gebäude. Hinter mir höre ich Tom schreien, dass er mitkommt. Dann folgen die anderen.

Die Kälte trifft mich wie eine Ohrfeige. Ich habe meinen Mantel nicht mitgenommen. Aber ich weiß, wo ich hingehe und was ich dort vermutlich zu sehen bekomme, deshalb drehe ich nicht um. Dazu ist keine Zeit.

Das Blut rauscht durch meine Adern, als ich schneller laufe.

Mein Herz rast.

Beinahe da.

Nur noch ein paar Blocks.

Als ich mich dem Gebäude nähere, hebt und senkt sich mein Brustkorb hektisch. Meine Lungen brennen, als ich tief durchatmen will, um mich zu beruhigen.

An der Straßenecke, nur wenige Meter vom Eingang des Gebäudes entfernt, bleibe ich stehen und schaue mich nach den Officers um, die mir gefolgt sind. Die meisten stützen sich keuchend auf den Knien ab und versuchen, wieder zu Atem zu kommen. Andere sind an ihren Funkgeräten, vermutlich, um sich Anweisungen vom Chief zu holen.

Ich ignoriere sie und überlege. Warte ich auf Verstärkung? Auf das SWAT-Team aus dem Nachbarort? Oder gehe ich allein ins Gebäude?

Es ist still. Nahezu unheimlich still. Als wüsste die ganze Stadt, was vor sich geht, und hätte beschlossen, sich von hier fernzuhalten. Normalerweise sieht man Fußgänger, vorbeifahrende Autos, miteinander lachende Freunde, Pärchen, die Hand in Hand vorbeischlendern.

Doch jetzt ist hier nichts.

Die Stille sorgt dafür, dass ich zögere. Aber trotz meiner Bedenken zwinge ich mich, weiterzugehen. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Keine Ahnung, welcher Horror sich da drinnen verbirgt.

Alles fühlt sich an wie in Zeitlupe. Als steckte ich in einem Slasher-Film fest, wo die Welt ganz still wird, bevor das Gemetzel richtig losgeht. Was mir am meisten Angst macht, ist, dass keine Schüsse zu hören sind. Aus dem Gebäude dringt kein einziger Laut.

Zögernd öffne ich die Tür, die Waffe erhoben, entsichert und bereit.

Sobald ich die Türschwelle übertrete, steigt mir der vertraute Geruch von Schießpulver in die Nase. Dann spüre ich die Hitze im Gesicht. Die Schüsse sind eben gerade erst abgegeben worden, vermutlich mit einem Schalldämpfer. Das bedeutet, die Bedrohung ist noch da. Höchst wachsam gehe ich weiter hinein.

Anfangs wirkt es, als wäre alles wie immer.

Bis auf das Wichtigste.

Lebenszeichen.

Das einzige Geräusch ist das leise Summen der Jukebox. Vor dem Hintergrund der bunten Wände und Luftschlangen klingt der Song falsch. Es ist ein langsames, emotionales Lied. Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Selbst der Text hört sich wie eine Warnung an …

Eine Warnung, dass etwas Böses hinter der nächsten Ecke lauert.

Normalerweise ist es im Al’s laut und trubelig, aber jetzt ist das Lokal leer. Ich merke mir die Details. Die Spritzer auf der Tapete. Die geplatzten Luftballons. Den kupfrigen Geruch.

Als ich um die Ecke biege, löst sich die Illusion auf.

Es ist ein Massaker.

Patronenhülsen liegen wie Konfetti auf der Erde.

Ich folge ihnen und werfe einen Blick in die erste Sitznische.

Ein blutiger Handabdruck zieht sich über die Bank. Ich senke den Blick. Weite, leere Augen starren mich an. Zwischen ihnen steckt eine Kugel.

Bei dem Anblick beiße ich die Zähne zusammen, und die Muskeln in meinem Rücken spannen sich an.

Die Waffe erhoben, den Finger am Abzug, gehe ich zum nächsten Tisch.

Ein roter Streifen verläuft quer über den Tisch, weiter an der Wand entlang, bis er in blutigen Handabdrücken am Fenster endet.

Jemand hat versucht, zu entkommen.

Ich suche nach der Leiche …

Und da sehe ich sie. Unter der Bank, als könne sie sich dort verstecken.

Der Tod hat sie trotzdem gefunden.

Ich schlucke erneut die Galle herunter, die in mir aufsteigt, drehe mich um und lasse den Blick über den Rest des Raumes schweifen.

Leichen liegen kreuz und quer auf dem Boden. Da ist Blut. So viel Blut! Es zieht sich in roten Rinnsalen über den weißen Linoleumboden, wie Ölfarbe, die über eine Leinwand fließt. Es wird Wochen dauern, diesen Tatort zu untersuchen und herauszufinden, welche Blutspritzer zu wem gehören.

Ich presse die Lippen zusammen und atme ganz flach. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um zusammenzubrechen.

Vorsichtig, um den Tatort nicht zu stören, mache ich einen Schritt.

Eine weitere Leiche. Der Mann ist blass, das heutige Grauen für immer in seine weit aufgerissenen Augen geätzt.

Ich will seine Lider schließen, ihn in Frieden ruhen lassen. Doch ich darf hier nichts verändern.

Frische violette und graue Flecken überziehen Wangen und Lippen. Seine Haut ist noch nicht wächsern, was bedeutet, er muss innerhalb der letzten zwanzig Minuten gestorben sein. Wer auch immer das angerichtet hat, er kann nicht weit sein. Und er muss einen Schalldämpfer benutzt haben, sondern hätten wir die Schüsse auf dem Revier gehört.

Ich hole mein Handy heraus. Ich muss Bescheid geben. Außer mir ist niemand hier. Die Tür hinter der Küche ist der mutmaßliche Fluchtweg. Dennoch behalte ich die Waffe im Anschlag, als ich mich auf die Suche nach Überlebenden mache. Mein Blick gleitet über Wände, Fenster, Tische. Und da fällt es mir ins Auge. Eine kaum sichtbare Blutspur. Ich folge ihr. Jeder Schritt ist langsam und gezielt. Hinter der Jukebox ist eine versteckte Tür.

Verdammt, ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, bin jede Woche im Al’s gewesen und hatte keine Ahnung von der Existenz dieser Tür.

Sie steht einen Spalt offen. Ich gehe darauf zu, bereit, den Abzug zu drücken, wenn es sein muss. Ich hoffe, dass es nicht nötig ist. Ich hoffe zu Gott, dass dahinter ein Überlebender steckt.

Ganz langsam strecke ich die Hand aus und berühre den Türknauf. Die Angeln knarren in der Stille. Sobald die Tür offen ist, stecke ich den Kopf hindurch, um hineinzusehen.

Und da erblicke ich sie.

Eine blutige Hand.

1. KAPITEL

Zwanzig Jahre später

Tobias

Ich habe ein einziges Ziel im Leben. Ein Ziel, immer vor meinen Augen. Es nimmt allen Raum ein und frisst mich innerlich auf. Aber ich muss erst alles ordnen, bevor ich mich daranmachen kann, es zu erreichen.

Was mich in die Gegenwart bringt. Mein rechter Fuß trifft auf den Asphalt, als ich vor dem Gerichtsgebäude aus dem Auto steige.

Es gibt keinen Grund, meinem Fahrer irgendetwas zu erzählen. Er wird auf mich warten, während ich tue, was ich tun muss – wie er es immer macht.

Ich hasse es, herumgefahren zu werden, aber das ist offenbar notwendig. Heute gehe ich allein, obwohl mein Sicherheitsteam mir davon abgeraten hat. Nur Gideon, meine rechte Hand, ist bei mir. Er steht schon da und sieht sich nach möglichen Bedrohungen um.

Mit schnellen Schritten gehe ich auf ihn zu. Eine breite Granittreppe führt zum Eingang des großen Gerichtsgebäudes mit den hohen Säulen.

Oben angekommen muss ich natürlich durch die Sicherheitskontrolle. Heute trage ich keine Waffe, was ein Nachteil ist, sollte einer meiner Feinde beschließen, mich hier anzugreifen. Deshalb geht Gideon voraus. Er stellt sicher, dass niemand an mich herankommt. Er ist darin ausgebildet, eine Bedrohung Meilen vorher zu erkennen, und er braucht keine Waffe, um jemanden auszuschalten. Seine Hände sind genauso tödlich wie jede Pistole.

Es ist gut, ihn an meiner Seite zu haben.

Aber Gideon ist für mich mehr als das. Er ist nicht nur meine rechte Hand, sondern auch der Mann, der alles übernimmt, wenn ich abtrete. Es gibt niemanden sonst, dem ich vertraue. Wir sind befreundet, seitdem wir beide Teenager in Miami waren, und deshalb ist er der perfekte Mann, um den Schlüssel für mein Schloss zu übernehmen. Zum Glück hat er nichts dagegen. Doch bis die Übergabe perfekt ist, beweist er mir wieder und wieder seine Loyalität.

So wie jetzt. Ich vertraue ihm völlig, als ich ohne Waffe durch den Metalldetektor gehe. Ich bin ein offenes Ziel, sollten meine Feinde mich umbringen wollen. Dennoch glaube ich, dass es das wert ist. Ich bin bereit, ein kalkuliertes Risiko einzugehen, denn ich muss sehen, mit wem ich es zu tun habe. Ich muss ihn in Action sehen.

Felix Bernard ist hier. Es ist eine Anhörung, um zu prüfen, ob hinreichender Verdacht auf eine Straftat besteht. In diesem Fall geht es darum, zu bestimmen, ob es ausreichend Beweise für ein Geldwäschesystem gibt. Ein System, durch das er in direkter Verbindung zu einem großen Drogenimperium stehen würde.

Es besteht kein Zweifel, dass Felix Bernard freikommt. Er wird nicht ins Gefängnis gehen. So viel weiß ich. Dennoch muss ich ihn sehen. Dem Mistkerl direkt in die Seele schauen. Die beste Art, die Dämonen zu erkennen, die in jemandem wohnen, ist, ihm direkt in die Augen zu sehen.

Hinter der Sicherheitskontrolle gehe ich weiter zu dem Gerichtssaal, wo Gideon schon auf mich wartet. Die Anhörung ist öffentlich. Was vermutlich keine gute Idee ist. Es könnte zu einem Spektakel kommen, sollte der Fall nicht abgewiesen werden. Wenn ich der Richter wäre, würde ich ihn abweisen. Aber diese dumme Entscheidung, die Öffentlichkeit zuschauen zu lassen, ist mein Gewinn, denn so kann ich Felix in Aktion sehen. In unserem Reich mit all der Security halten Felix und ich uns nur selten im gleichen Bezirk geschweige denn im selben Gebäude auf. Dafür wird von unseren Männern gesorgt.

Ich beschleunige meine Schritte, als ich den Flur hinuntergehe. Meine Sohlen hinterlassen ein Klappern auf dem Marmorfußboden. Sekunden später betrete ich den großen Saal.

Er ist brechend voll. Das hier ist kein Gerichtssaal, es ist ein verdammter Zirkus. Und Felix ist der Zirkusdirektor.

Alle, die was zu sagen haben, sind da.

Als Erstes erblicke ich die hungrige Reporterin von Channel Five. Sie ist ein hübsches junges Ding. Die schulterlangen blonden Haare sind perfekt gestylt, ihr Lächeln ist strahlend, und sie sieht aus, als wäre sie noch ein wenig grün hinter den Ohren. Ich kann sie förmlich sabbern sehen, so begierig ist sie auf die Story. Sie hat keine Ahnung, dass ihr Boss sie vermutlich hergeschickt hat, um sich Ärger zu ersparen. Denn heute wird es keine Story geben.

Auf der anderen Seite des Raumes sehe ich Gideon. Er wartet da, wo er es mir gesagt hat. In seinem Anzug geht er als normaler Geschäftsmann durch. Ihn hier zu sehen, fühlt sich trotzdem falsch an. Männer wie er – Männer wie ich – verbringen wenig Zeit bei Gericht. Normalerweise sind wir mit Blut besudelt, während wir die Eingeweide von irgendeinem armen Kerl in den Händen halten.

Ich setze mich neben ihn und nicke zur Begrüßung, sage aber nichts. Was er vermutlich zu schätzen weiß. Gideon ist ein Mann weniger Worte, und wenn er spricht, dann meist nur, um einen sarkastischen Kommentar von sich zu geben.

Ein schneller Blick durch den Saal lässt mich mein Ziel finden.

Bernard.

Er strahlt Reichtum aus.

Er ist kein hässlicher Mann – im Gegenteil. Wenn ich eine Frau wäre, fände ich ihn vermutlich durchaus attraktiv. Gebräunte Haut und von silbernen Strähnen durchzogenes Haar. Immer perfekt gekleidet. Der distinguierte Gentleman. Ich muss es wissen. Denn ich spiele diese Rolle genauso gut. Wir sind beide Grenzgänger, die gleich viel Zeit in der Unterwelt verbringen.

Felix sieht sich ebenfalls um, als suche er nach jemandem. Sobald er den Blick über die Menge hat schweifen lassen, guckt er zu seinen Anwälten, einem Mann und einer Frau. Dem Mann schenke ich keine Beachtung, aber die Frau macht mich neugierig. So, wie sie steht, kann ich ihr Gesicht nicht sehen, aber der Rest gefällt mir. Lange braune Haare fallen ihr in Wellen über den Rücken. Sie ist fürs Gericht gekleidet, könnte in dem Outfit aber auch gut zum Dinner ausgehen: ein taillierter Blazer über einem maßgeschneiderten Kleid. Sie schiebt einen Ärmel hoch, und ich sehe eine Tätowierung.

Interessant. Und überraschend.

Wer ist deine Anwältin, Bernard?

In diesem Moment dreht sie sich um, und mir stockt der Atem.

Fuuuuuck!

»Alles okay?«, fragt Gideon neben mir, aber seine Stimme klingt, als wäre ich unter Wasser. Ich bin fasziniert und kann den Blick nicht abwenden.

Weiche Lippen. Das ist das Erste, was ich sehe. Sie ist nicht wie die Frauen, von denen ich mich normalerweise angezogen fühle. Sie ist natürlich schön, als würde sie sich kein bisschen schminken. Und sie ist umwerfend. Gebannt starre ich sie weiter an.

Bis ich bei ihren Augen lande. Sie sehen gehetzt aus. Was ich verstehe, denn ich bin genauso.

»Tobias.« Die Worte erreichen mich. Als ich nicht reagiere, tippt Gideon mir auf den Arm. Aber ich kann mich nicht von diesem Anblick lösen.

Sie kommt mir bekannt vor.

Augen, die ich nicht einordnen kann.

Sie erinnert mich an ein Mädchen, das ich mal gekannt habe.

Vielleicht ist sie es.

Ich warte, ob sie mich erkennt. Nicht nur, weil ich glaube, dass wir uns mal getroffen haben, sondern weil mich jeder früher oder später erkennt. Mein Gesicht hat viele Magazintitel geziert. Spekulationen darüber, wo mein Geld herkommt. Über meinen Junggesellenstatus.

Doch als sie mich anblickt, ist da nichts …

Ein leeres Blatt.

Ich beiße die Zähne zusammen. Sie weiß nicht, wer ich bin.

Vielleicht irre ich mich? Vielleicht ist sie es doch nicht?

Nein.

Wut steigt in mir auf, als ich sie anstarre. Wir sind in einem mentalen Kräftemessen gefangen. Endlich, nach endlos erscheinenden Sekunden, bricht sie den Kontakt als Erste ab und wendet sich wieder ihrem Klienten zu.

Die Muskeln in meinem Rücken spannen sich an. Diese lässige Ignoranz macht mich sauer. Ich verenge die Augen und beobachte sie weiter. Und da tut sie es. Sie schaut wieder zu mir.

Konntest wohl nicht anders.

Ich zwinkere ihr zu, und selbst von hier kann ich sehen, wie ihre Wangen sich röten. Ihre Augen werden groß. Sie hat nicht geglaubt, dass ich sie erwischen würde.

Gut.

Sie blinzelt, bevor sie kurz den Kopf schüttelt und sich wieder wegdreht.

Gideon sagt noch etwas, aber er könnte mich warnen, dass die Welt untergeht, und ich würde es nicht mitbekommen.

Die Anhörung beginnt, und ich beobachte die Anwältin stundenlang, ohne meinen Blick abzuwenden. Im Laufe der Zeit werden ihre Argumente kraftvoller und hitziger. Ihre Stimme hallt autoritär durch den Saal.

Mit der Frau muss man rechnen.

»Der Staatsanwalt hat meinen Mandanten hier vor Gericht gezerrt, als wäre er ein gemeiner Krimineller …« In diesem Moment treffen sich unsere Blicke erneut, und ihre Mundwinkel heben sich zu einem kleinen Grinsen, dem ein Zwinkern folgt, das ich im gesamten Körper spüre.

Fuck.

Ihre Stärke ist wirklich bewundernswert. Sie ist ein kleiner Teufel.

Es kommt mir vor, als würde die Zeit nur so verfliegen. Ehe ich mich versehe, stößt Gideon mich mit dem Ellbogen an und bedeutet mir, dass es Zeit ist zu gehen.

Im Gerichtssaal ist allgemeines Gequassel ausgebrochen, und Bernards Anwälte reden mit ihm. Es wird nicht zu einer Verhandlung kommen. Was keine Überraschung ist. Sie ist gut. Wegen dieser Frau kann der Mandant nach Hause gehen. Ich sehe zu, wie sie einander die Hände schütteln. Sehe, wie er sie anlächelt. Felix Bernard sieht sie so an, wie ich es getan habe. Wie jeder Mann in diesem Raum sie angesehen hat. Mit Lust in seinen verschlagenen Augen, die er verengt, als er sich vorstellt, wie es wäre, sie unter sich zu haben.

Als sie sein Lächeln erwidert, balle ich unwillkürlich die Fäuste. Es ist ein professionelles, reserviertes Lächeln. Dennoch, ihr Blick berührt etwas Primitives in mir.

Ich werde sie haben. Ich werde sie ihm aus den Händen reißen. Und dann, wenn das erledigt ist, werde ich sie vor ihm zur Schau stellen und gleichzeitig versuchen, Informationen über ihn aus ihr herauszukriegen.

Ja, genau das werde ich tun. Mein Entschluss steht. Jetzt muss ich ihn nur noch umsetzen.

»Was ist los?« Gideon mustert mich eindringlich.

»Sie«, erwidere ich und zeige mit dem Kinn in ihre Richtung.

»Skye Matthews?«

Meine Neugierde ist geweckt. Ist sie die, für die ich sie halte? Es besteht definitiv eine Ähnlichkeit. Meine Vergangenheit regt sich, schiebt mir ihr Bild ins Gedächtnis.

Ich sehe ein Mädchen vor mir. Das Lächeln, das es mir schenkte. Nein, kein Lächeln, sondern ein Grinsen, gepaart mit einem Zwinkern …

Sie muss es sein.

»Einzelheiten«, sage ich.

»Sie arbeitet bei Stuarts, Finkel and Williams.« Das ist eine der besten Kanzleien in New York. »Sie ist Juniorpartnerin. Ich bin überrascht, dass der Senior ihr die Verhandlung überlassen hat.«

»Interessant.« Das könnte zu meinem Vorteil sein. Seth Williams ist ein Wiesel, der Felix Bernard für den richtigen Preis an den Höchstbietenden verkaufen würde. Und dieser Höchstbietende bin ich.

»Was hast du vor?«

Ich lächle. »Für mein Vorhaben, mich zur Ruhe zu setzen, brauche ich einen Anwalt …« Meine Stimme verebbt. Ein Plan nimmt Gestalt an. »Ich will sie engagieren.«

»Und wie willst du das machen? Sie nehmen keine neuen Mandanten an.«

»Lass das meine Sorge sein.«

»Da ich in deinen Rückzugsplänen eine Rolle spiele, habe ich eine bessere Antwort verdient als diesen Bullshit.«

Er hat recht. Was immer das Ganze an Folgen haben wird, er wird vermutlich derjenige sein, der danach alles aufräumen muss.

Also neige ich den Kopf und erläutere ihm meinen Plan.

Das Ergebnis wird dasselbe sein.

Skye Matthews hat erneut meinen Weg gekreuzt, und dieses Mal wird sie dableiben. Egal, was passiert. Oder wie sie darüber denkt.

Ihre Zukunft ist beschlossene Sache.

2. KAPITEL

Skye

Es klingt wie ein Klischee, aber ich spüre seinen Blick, bevor ich ihn sehe. Es fühlt sich an, als würde es im Saal ganz still.

Es gibt keinen Grund, uns einander vorzustellen. Und mir muss niemand sagen, wer dieser Mann ist. Ich könnte eine Eremitin sein, die niemals ihr Haus verlässt, und wüsste es trotzdem. Sein Ruf eilt ihm voraus.

Tobias Kosta. Frisch gekrönter Milliardär. Notorischer Einsiedler. Und absolut und definitiv der attraktivste Mann, den ich je gesehen habe.

Die Zeitungen sind ihm nicht gerecht geworden. Genauso wenig wie die Bilder, die im Internet kursieren. Dunkle Haare. Augen wie Fischschuppen. Blassblau und rau. Ein perfekter Fünf-Uhr-Schatten auf dem scharf geschnittenen Kinn, dazu gebräunte Haut, als käme er gerade von einem Yachturlaub. Nach allem, was ich gehört habe, war sein Großvater ein griechischer Millionär und seine Mutter …

Nun, das ist eine andere Geschichte.

Wenn die Gerüchte stimmen, stammte sie aus Kolumbien. Oder zumindest irgendjemand aus seiner Familie kam daher. Es wurde gesagt – und ich muss noch mal betonen, dass es nur wenige Informationen über Tobias gibt, weil er eben so ein zurückgezogenes Leben führt –, dass seine Familie Verbindungen zu Pablo Escobar hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Aber da man auch sagt, die Hälfte der in diesem Land zirkulierenden Drogen würden von ihm oder seiner Familie importiert, könnte an den Gerüchten etwas dran sein.

Was egal ist. Denn selbst wenn das alles stimmen sollte, kann ich den Blick nicht von ihm abwenden. Das muss ich jedoch, weil ich aus dem Augenwinkel sehe, wie der Richter den Saal betritt. Ich atme tief ein, um meine Nerven zu beruhigen, und breche dann entschlossen den Bann, in den er mich gezogen hat.

Normalerweise neige ich nicht dazu, mich zu verlieren. Schon gar nicht in einem hübschen Gesicht. Aber er sieht aus wie direkt der griechischen Mythologie entsprungen.

Eine Gottheit.

Mit aller Kraft zähme ich die Gefühle, die in mir toben, und wende mich wieder meinem Mandanten zu. Ich schätze, er ist der Grund, warum Tobias hier ist. Sie sind direkte Konkurrenten. Auch hier gibt es Gerüchte, und die besagen, dass beide Geschäftsmänner ihre Drogen durch diesen Teil des Landes schleusen. Was Tobias‹ Rolle in dem Ganzen ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich weiß genug über meinen Klienten, um behaupten zu können, dass er nicht der aufrichtigste Bürger ist. Ich weiß außerdem, dass ich aufhören muss, an Tobias zu denken, und mich stattdessen auf die Anhörung konzentrieren sollte. Ich bin hier, um den Fall zu den Akten legen zu lassen, bevor er überhaupt beginnt. Felix Bernard ist zu clever und hat zu viele Anwälte, als dass so ein Vorwurf an ihm kleben bleiben würde. Dafür werde ich sorgen.

Ich gehe davon aus, dass der Richter den Fall heute abweist und es nicht zu einer Verhandlung kommt. Es gibt keine Beweise, und da ich in meinem Job verdammt gut bin, zweifle ich nicht eine Sekunde am Ausgang des heutigen Termins.

Die Zeit vergeht schnell. Ich spreche. Ich stelle den Antrag auf Klageabweisung. Trage dem Richter meinen Fall vor. Und dann warten wir, und im Saal wird es ganz still.

Ich warte weiter.

Der Moment der Wahrheit kommt. Und es ist, wie erwartet. Der Fall wird aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Ich habe es wieder einmal geschafft.

Ich bin jung und entschlossen. Obwohl ich nur Juniorpartnerin bin, habe ich eine perfekte Erfolgsbilanz vorzuweisen. Mein Fokus liegt darauf, die verdammt beste Anwältin zu sein, die man mit Geld kaufen kann. Meine Mandanten müssen mir vertrauen. Meine Mandanten müssen …

»Guter Job«, reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken.

Gelobt zu werden, wird niemals langweilig. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass sich mein Magen zusammenzieht, als Felix mich ansieht. Ich hasse diesen Mann. Er ist das personifizierte Böse. Aber am Ende ist er der Schlüssel zu meinem Ziel. Deshalb setze ich ein falsches Lächeln auf.

»Danke, Mr. Bernard.«

»Felix. Nenn mich Felix. Ich denke, nach dem heutigen Tag sollten wir uns duzen, meinst du nicht, Skye?« So, wie er meinen Namen förmlich schnurrt, wird mir ganz übel. Und als ich gerade denke, es könnte nicht schlimmer werden, neigt er den Kopf. »Wir sollten ausgehen und feiern«, sagt er und lässt seinen Blick auf gruselige Art über meinen Körper wandern. Noch ein Grund, aus dem ich diesen Mann hasse.

Wenn er nicht wichtig für mich wäre, würde ich ihm sagen, wo er sich seine Anmache hinstecken kann, aber leider muss ich nett zu ihm sein. Muss die beste Anwältin für ihn sein.

»Es tut mir so leid, Felix.« Als sein Name über meine Lippen fällt, fühle ich mich schmutzig. Das Verlangen, mir den Mund mit Seife auszuwaschen, ist übermächtig. »Ich habe schon andere Verpflichtungen. Eine eidesstattliche Aussage um drei. Ein andermal.«

Zuckersüß. Lass ihn glauben, die Option bestünde tatsächlich. Dass er vielleicht eine Chance hat. Die hat er natürlich nicht.

»Ich komme darauf zurück.«

Daran habe ich leider nicht den geringsten Zweifel. Ich beuge mich vor, packe meine Sachen ein und drehe mich um.

Dann schaue ich in den hinteren Bereich des Saals, und ein Teil von mir erwartet, ein bestimmtes Paar blaugrauer Augen zu sehen, die mich beobachten.

Doch niemand beobachtet mich. Er ist schon gegangen.

Ein Anflug von Enttäuschung macht sich in mir breit. Die sollte ich nicht empfinden, nachdem ich so lange mit den Haien geschwommen bin, aber sie ist da. Energisch schiebe ich den Gedanken beiseite und verlasse das Gerichtsgebäude. Heute wartet viel Arbeit auf mich, und die erledigt sich nicht von allein.

3. KAPITEL

Skye

Der vertraute Duft meine Jugend steigt mir in die Nase, als ich weiter in den Raum hineingehe. Eine ganz bestimmte Mischung aus Kaffee, Zigaretten und dem Geruch, der mir immer das Herz zusammenzieht. Whiskey.

Und zwar nicht das gute Zeug. Nicht die Flaschen, die meine Mandanten trinken. Keine hübschen Kristallgläser mit dicken Preisschildern. Verdammt, es würde mich nicht mal wundern, wenn die Flasche aus Kunststoff wäre und er sie an der Tankstelle gekauft hätte.

Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Ich gehe durch den Flur ins Wohnzimmer, und obwohl ich ihn nicht sehe, weiß ich, dass er hier ist. Irgendwo.

Er sitzt nicht auf seinem üblichen Platz in dem alten Ohrensessel vor dem kleinen Fernseher. Obwohl der Raum leer ist, ist es hier drin chaotisch. Eine alte weiße Decke liegt auf dem Boden. Er hat sie vermutlich fallen lassen, als er das Zimmer verlassen hat.

Kopfschüttelnd gehe ich weiter. In der Küche ist er auch nicht. Hier sieht es nicht viel besser aus. Auf der Arbeitsplatte stapeln sich alte Take-away-Behälter und leere Bierdosen. Wenn ich nachher gehe, werde ich als Erstes einen Reinigungsservice anrufen.

Da er nicht hier ist und trinkt, muss er ein Nickerchen halten. Es war schwer für ihn, und je älter ich werde, desto schlimmer wird es. Mit seinen Leberproblemen sollte er nicht mal Alkohol trinken. Und er hat mir versprochen, dass er es sein lässt. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich ihn in eine Wohnung verfrachten, die näher an meiner liegt. Wo ich ihn öfter besuchen könnte und man sich um ihn kümmern würde. Denn jetzt ist es an mir, gut für ihn zu sorgen. Solange ich denken kann, hat es immer nur uns beide gegeben.

Ja, ich habe ein paar Erinnerungen an die Zeit davor, aber die werden mit jedem Jahr, das vergeht, immer mehr zu einem Traum. Manchmal ist die Vergangenheit so verschwommen, dass ich mich frage, ob ich sie mir nur eingebildet habe. Aber ich weiß, das habe ich nicht.

Unbewusst fange ich an, die Stelle an meinem Handgelenk mit dem Daumen zu reiben. Das ist eine nervöse Angewohnheit. Meistens merke ich nicht mal, dass ich das tue. Ich schüttle den Kopf und gehe weiter den Flur hinunter, wobei ich mich bemühe, möglichst leise zu sein, um ihn nicht zu stören. Wenn er wach wäre, hätte er längst was gesagt.

Als ich sein Büro betrete und direkt auf seinen Schreibtisch zugehe, lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Hier herrscht erstaunliche Ordnung. Es liegt nichts auf dem Boden, abgesehen von dem braunen abgetretenen Teppich. Der müsste mal gereinigt werden, aber das ist auch schon alles. Sonnenlicht fällt durch die geöffneten Jalousien.

Als ich näher an den Schreibtisch trete, erkenne ich, dass der erste Eindruck täuschen kann.

Dieses Zimmer ist nicht ordentlich.

Auf der Schreibtischplatte türmen sich die Akten. Einige sind geöffnet, andere geschlossen. Auf einigen kleben Post-it-Zettel.

Ich muss das alles in Ruhe durchgehen, aber dabei darf er mich nicht erwischen. Denn sonst wird er böse und wirft mich raus. Laut ihm sollte ich die Vergangenheit da lassen, wo sie hingehört. Irgendwo tief unten, von wo sie nie wieder hochkommen und mich dazu bringen kann, Fragen zu stellen. Das klingt nach keiner guten Idee, denn die Vergangenheit ist vermutlich der Grund, aus dem er trinkt.

Aber ich muss die Wahrheit herausfinden. Deshalb bin ich wieder einmal hier.

Suche.

Im Haus herrscht eine unheimliche Stille. Ich schaue auf die Akten und weiß nicht mal, wo ich anfangen soll. Überall liegen Papiere kreuz und quer durcheinander.

Alte Zeitungen.

Ausgeschnittene Artikel.

Ausgedruckte E-Mails.

Kreditkartenabrechnungen.

Gesprächsprotokolle.

Sogar ein Foto von einer Gruppe Männer, die um einen Tisch herumsitzen. Um den Kopf von einem ist ein Kreis gemalt.

Es sind so viele Informationen, aber ich habe keine Zeit, sie alle durchzusehen.

Das Gute ist, dass mein Vater und ich offenbar ähnlich denken. Die Akte, nach der ich suche, liegt aufgeschlagen oben auf dem Chaos. Die Blätter sehen aus, als wären sie zusammengeknüllt und dann wieder glatt gestrichen worden.

Warum hast du das gemacht? Warum hast du sie erst weggeschmissen und es dir dann anders überlegt? Vielleicht hat er sie nicht weggeworfen, sondern ihm hat nur nicht gefallen, was darauf steht? Als hätte es ihn wütend gemacht, sie zu lesen.

Das weckt mein Interesse. Ich beuge mich vor, streiche die Zettel noch einmal glatt und blättere dann auf der Suche nach sachdienlichen Hinweisen die Dokumente durch. In der Ecke der ersten Seite sehe ich eine Notiz in der vertrauten Handschrift meines Vaters: Felix Bernard?

Mein Mandant.

»Was hast du gefunden, Dad?«, flüstere ich.

Gerade will ich umblättern, als ich ein Geräusch höre.

Ich halte inne, und als das Geräusch erneut erklingt, weiß ich, dass er aufgestanden und auf dem Weg hierher ist. Ich schließe die Akte und trete vom Schreibtisch zurück. Dann hole ich mein Handy heraus und tue so, als würde ich telefonieren.

»Skye? Bist du das?«, hallt seine Stimme durchs Haus.

»Yep … In deinem Büro.« Ich trete noch einen Schritt zurück, als ich ihn kommen höre. In dem Moment, als er das Büro betritt, halte ich mir das Handy ans Ohr.

»Was machst du hier?«, fragt er. Seine grauen Haare sind zerzaust. Er sieht aus, als bräuchte er einen Kaffee und eine Dusche. Irgendetwas mit seiner Gesichtsfarbe stimmt nicht. Seine Haut hat einen gelblichen Stich. Vielleicht ist er erkältet? »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mich so bald wieder besuchst.«

Achselzuckend nehme ich das Handy herunter und tue so, als würde ich den Anruf beenden, bevor ich es in meine Tasche stecke. »Kann eine Tochter nicht ihren Dad besuchen?«

Mein Vater mustert mich von Kopf bis Fuß. Ein kleines Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, und seine Augen sind voller Liebe. Ich entdecke neue Falten neben seinen Augenwinkeln. Falten, die letztes Mal noch nicht da gewesen sind. Es sind keine Lachfalten, und sie lassen ihn müde aussehen, als würde das Gewicht der Welt auf seinen Schultern lasten. Was es vermutlich tut, so wie ich meinen Dad kenne.

»Wie geht es dir?« Ich gehe auf ihn zu und er macht einen Schritt zurück.

Seine Augen verengen sich und seine Miene wirkt auf einmal angespannt. »Bist du deshalb hier? Um mir hinterherzuspionieren?«

Ja und nein.

Ich erlaube mir ein Lächeln. »Ganz genau. Du kennst mich zu gut«, scherze ich. In Wahrheit ist das nicht der einzige Grund für meinen Besuch, aber den anderen würde ich ihm lieber nicht verraten.

Die Akte auf seinem Schreibtisch. Die mit den Kaffeeflecken und zerfledderten Ecken, weil er sie sich so oft angesehen hat. Ich frage mich, wonach er sucht. Nach einem Beweis, dass Felix Bernard ebenfalls involviert war?

Ein Teil von mir will ihn geradeheraus danach fragen, aber aus Erfahrung weiß ich, dass er dann nur dichtmachen und die Akte verschwinden lassen wird.

Es ist besser, um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis, und genau das habe ich in diesem Fall vor. Ich weiß, das ist ethisch nicht korrekt, und falls mich jemand dabei erwischt, könnte mir die Lizenz entzogen werden, aber das ist mir egal.

»Du glaubst nicht, dass es mir gut geht, Skye?« Seine Stimme durchschneidet die Stille und lässt eine gewisse Anspannung im Raum zurück.

Ich schlucke. Dann beschließe ich, wahrheitsgemäß zu antworten. »Dad, ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Und ich kann den Alkohol riechen.« Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe.

Er fährt sich mit einer Hand über die Augen, bevor er sie wieder sinken lässt und mich ansieht. »Bist du hier, um mir Vorhaltungen zu machen?« Der bissige Unterton in seiner Stimme verrät mir, dass wir uns streiten werden, sollte es mir nicht gelingen, die Stimmung aufzulockern.

Sosehr ich ihn drängen will, mit dem Trinken aufzuhören, sowenig will ich ihn verärgern. Er ist alles, was ich habe. Ich brauche ihn in meinem Leben.

»Willst du die echte Antwort?«, frage ich leichthin.

Es funktioniert, denn er lacht. Er weiß, dass ich ihm nun eine Predigt halten werde. Meine Schritte hallen um uns herum, als ich mich ihm nähere. Sobald ich neben ihm stehe, lege ich ihm eine Hand auf die Schulter und bemerke sofort, wie zerbrechlich er sich anfühlt. Nur Haut und Knochen. Ein besorgtes Keuchen entfährt mir, aber ich verberge es unter einem Hüsteln. »Komm zu mir in die Stadt.«

»Ich will keine Last sein.«

Ich neige den Kopf und sehe ihm in die Augen. »Du könntest für mich nie eine Last sein, Dad. Ich verdanke dir alles.«

»Nein. Nein, das tust du nicht.« Er schüttelt den Kopf und dreht sich weg, um den Raum zu verlassen. Es ist, als könne er mich nicht ansehen.

Was verbirgst du, Dad?

Ein Teil von mir denkt, es liegt daran, dass er wieder trinkt. Vermutlich hat er das Gefühl, mich enttäuscht zu haben, vor allem nach dem, was ich gerade gesagt habe. Mein Vater wird nie verstehen, dass er mich niemals enttäuschen könnte.

Ich lasse ihm Zeit, seine Gedanken zu sammeln, bevor ich ihm folge.

Was auch immer ihn quält, er weigert sich, es mit mir zu teilen. Vermutlich, weil er glaubt, dass ich ihn verurteile. Was ich niemals tun würde.

Er geht ins Wohnzimmer und nimmt auf der durchgesessenen Couch neben dem Ohrensessel Platz. Die Couch steht hier, solange ich denken kann. Der Stoff mit den Flecken und den ausgefransten Stellen hat schon bessere Zeiten gesehen.

Seit ich Anwältin geworden bin – und es mir leisten kann –, versuche ich ihn zu überzeugen, eine neue Couch zu kaufen, aber er lehnt jedes Mal ab, und ich bedränge ihn nicht. Denn ein neues Sofa ist mir nicht wichtig; mein Ziel ist es, ihm eine neue Wohnung zu besorgen. Weit weg von dieser Stadt und den Geistern, die immer noch hier leben. Geister die ihn, wie ich weiß, täglich begleiten.

Bevor ich das Büro verlasse, bleibe ich an der Tür stehen und schaue noch einmal zum Schreibtisch zurück. Von hier aus sehe ich, dass auf dem Blatt, das mir am nächsten liegt, der Name Baros steht.

Mein Finger gleitet wie von selbst zu meinem Tattoo. Dads Blick fängt die Bewegung auf, und er verengt die Augen. Das ist mein Stichwort, um zu flüchten.

Mit den Fragen kann ich nicht umgehen.

Den Erinnerungen an den Tod.

Den Schuldgefühlen.

Denn ich weiß ohne den geringsten Zweifel: Wenn es irgendetwas gibt, das mich in die Knie zwingen kann, dann ist es der Junge, der an meiner Stelle gestorben ist.

4. KAPITEL

Skye

Es ist eine Woche her, seit ich die Akte gefunden habe. Eine Woche, seitdem sie mir durch die Finger geglitten ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sich in dem Notizenchaos meines Vaters etwas Wichtiges befindet.

Mist.

Ich muss wissen, was in den Akten steht.

Ehe ich nicht gesehen habe, was er weiß, werde ich niemals Frieden finden. Und vielleicht, ganz vielleicht, können die Informationen mir auch endlich den Abschluss liefern, nach dem ich mich sehne.

Meine Vergangenheit ist verschwommen. Ich erinnere mich nur an Bruchstücke von der Zeit, bevor mein Vater mich adoptiert hat. Ohne Foto kann ich mich nicht mal mehr daran erinnern, wie meine Eltern ausgesehen haben.

Das ist nicht fair.

Und auch wenn ich weiß, dass die Gang, die ihren Tod verursacht hat, vor Jahren geschnappt wurde, kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass da noch mehr ist.

Und ich glaube, dass Felix Bernard etwas damit zu tun hat.

Deshalb muss ich die Akten meines Vaters von dem Fall noch mal durchsehen. Letzte Woche habe ich nicht das gefunden, wonach ich gesucht habe, und auch wenn ich die lange Fahrt nicht noch einmal unternehmen will, bleibt mir keine andere Wahl.

Jede Minute, die vergeht, ist eine weitere, in der ich für den Abschaum arbeiten muss, der womöglich beim Tod meiner Eltern seine Hand mit im Spiel hatte.

Ich nehme den Telefonhörer ab und wähle Dads Nummer. Er geht nicht sofort ran. Erst als ich nach dem vierten Klingeln schon auflegen will, höre ich, wie er abhebt. Was völlig untypisch für ihn ist.

»Skye?« Er klingt abgespannt und außer Atem. So wie immer, wenn er früher einen schlimmen Tag bei der Arbeit hatte und zu viel trank. Ich erschaudere. Etwas stimmt mit ihm nicht. Er trinkt immer öfter und immer mehr. Ein Bier hier und da ist nichts, aber wenn es mehr ist, weiß ich nicht, wie ich ihm helfen soll, außer, ich bringe ihn dazu, zu mir in die Stadt zu ziehen.

»Hey Dad«, sage ich. »Habe ich dich geweckt?«

Bitte sag Nein.

Er stößt ein raues Lachen aus, dem ein Husten folgt.

»Geht es dir gut?«

Ich höre, wie er einen großen Schluck Wasser trinkt. »Nein. Ich war wach, Süße.«

»Du klingst, als wärst du im Bett.« Ich überlege, wie ich die Sache angehen soll. Soll ich mich einfach einladen? Ich könnte ihn auch wie nebenbei nach seinen Plänen fragen und bei ihm vorbeifahren, wenn er nicht da ist.

Ja, das ist das Beste.

Wenn er nicht da ist, kann ich mich umsehen, ohne Gefahr zu laufen, dass er zu viele Fragen stellt. Außerdem riskiere ich dann nicht, dass er mich beim Schnüffeln erwischt.

Ich muss nur Fotos von der Akte machen. Oder sie mir ausleihen. Würde es ihm auffallen, wenn sie weg wäre?

Nein, ich entscheide mich für die erste Option und atme tief durch, damit meine Stimme ruhig und weich klingt.

»Was hast du heute vor?«, frage ich.

»Nur ein paar Besorgungen.« Bei seiner Antwort sacken meine Schultern vor Erleichterung herunter. Je nachdem, um was für Besorgungen es sich handelt, könnte es klappen. Ich habe heute keine Meetings und könnte vermutlich rein und raus sein, bevor er es bemerkt.

»Was für Besorgungen?«

Erst antwortet er nicht, dann stößt er hörbar den Atem aus. Was immer er sagen will, er weiß, dass ich ihm vermutlich Fragen stellen werde. Und das will er nicht.

Meine Muskeln spannen sich an.

»Ich habe einen Termin beim Arzt –«

»Was für ein Arzt?«, unterbreche ich ihn. Mein Herzschlag beschleunigt sich, während ich auf die Antwort warte.

»Nur meine jährliche Vorsorgeuntersuchung, Skye. Keine große Sache.«

Mein Vater könnte auf der Straße verbluten und dasselbe sagen. Seine Worte helfen nicht, meine Besorgnis zu vertreiben.

»Hast du irgendwelche Symptome? Fühlst du dich gut?«

»Nein. Und ja, ich fühle mich gut.«

»Du klingst so anders. Deine Stimme …«

»Es ist alles in Ordnung.«

Ich denke kurz über seine Antwort nach, bevor ich noch mal nachhake. »Dad …«

»Skye. Wer ist hier der Vater?« Er klingt, als wären wir in der Zeit zurückgereist und er hätte mich dabei erwischt, wie ich nachts um zwei Uhr Eiscreme im Bett esse. Er würde mir sagen, dass ich das nie wieder tun soll, wobei er ein breites Lächeln im Gesicht hätte.

»Bist du sicher? Warum habe ich das Gefühl, dass du etwas vor mir verheimlichst? Wenn etwas nicht stimmt, würdest du es mir sagen, oder?«

»Natürlich. Aber ich verspreche dir, mir geht es gut. Ich werde einfach nur älter. Aber ich kann im Moment nicht reden.«

»Warum?« Ich muss wissen, wie lange er fort sein wird.

»Falls du es unbedingt wissen musst, ich bin zum Mittagessen verabredet.«

Das lässt mich aufhorchen. »Oh? Das ist schön. Mit wem?«

»Skye …« Seine Stimme stockt. »Ist das hier die Inquisition? Mir geht es fein. Alles ist gut. Und ich gehe nur zum Mittagessen aus. Man könnte fast meinen, du wärst meine Mutter.« Er stöhnt, und obwohl ich wegen der Situation nervös bin, muss ich lachen.

»Ich will doch nur sichergehen, Dad. Ich hab dich lieb.«

Er seufzt. »Das weiß ich. Aber du sollst dir keine Sorgen um mich machen.«

»Tja, dagegen kannst du nichts unternehmen. Egal, was du sagst, ich werde mir immer Sorgen um dich machen.«

»Und sosehr ich es liebe, dass du dich um mich sorgst, ich muss jetzt los. Wir treffen uns in einer Stunde und ich bin noch nicht fertig.«

»Na gut. Dann lasse ich dich gehen. Bye, Dad.«

»Bye, Süße.« Und dann ist die Leitung tot.

Ich schnappe mir meine Tasche und gehe auf die Straße hinunter.

Sobald ich das Gebäude verlassen habe, gehe ich zum Blumenladen, um meinen üblichen Strauß abzuholen, dann weiter zu meinem Wagen, der nur anderthalb Straßenzüge entfernt steht. Ein Auto in der Stadt ist nicht ideal. Ich muss oft früh aufstehen und es umparken. Aber ich brauche es wegen Dad, um ihn zu besuchen. Vermutlich könnte ich ein Uber nehmen, aber ich mag die Freiheit, die mir mein Wagen schenkt.

Es ist nicht viel los, wie üblich um diese Uhrzeit an einem Wochentag. An den Wochenenden herrscht hier mehr Betrieb, weil es mehrere fabelhafte Restaurants in der Gegend gibt.

Beim Gehen schaue ich mich um und fange dabei den Blick eines Mannes auf. Er trägt einen Hut und steht seitlich neben meinem Gebäude. Ich kenne ihn nicht, doch er scheint mich anzustarren. Seine Art zu gucken, hat etwas Gruseliges.

Mein Vater, der Polizist, hat mir eines immer wieder eingebläut: Man kann nie vorsichtig genug sein. Halte deine Umgebung im Blick und trage immer Pfefferspray bei dir.

Ich drehe mich schnell um und beschleunige meine Schritte. Es ist noch hell, und es sind ausreichend Menschen unterwegs, dennoch suche ich in meiner Handtasche nach dem Pfefferspray. Sicher ist sicher.

Genau, wie Dad es wollen würde.

Neben meinem Auto bleibe ich stehen und schaue mich noch mal um, sehe aber niemanden.

Ich stoße den angehaltenen Atem aus, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt und ich sie verriegele. Dann lasse ich den Motor an.

Bin ich schon paranoid, weil ich genau weiß, dass das, was ich vorhabe, nicht in Ordnung ist?

Ich fahre los und kurz darauf bin ich auch schon auf dem Highway nach Reddington.

Meine Fantasie spielt mir immer noch Streiche, denn ich könnte schwören, im Rückspiegel einen Wagen zu sehen, der mir folgt. Aber das ist albern. Niemand folgt mir. Und nur, weil er seit der Stadt immer zwei Autos hinter mir ist …

Vertrau deinem Bauchgefühl. Das irrt sich nur selten.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, wechsle ich zweimal die Spur. Normalerweise bin ich eine sehr rücksichtsvolle Fahrerin, aber ich muss sichergehen, dass ich nicht verfolgt werde.

Ein Blick in den Rückspiegel zeigt mir, dass sie nicht länger hinter mir sind.

Erleichtert atme ich aus.

***

Eine Stunde später fahre ich vor dem kleinen Haus vor, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist erst eine Woche her, dass ich hier war, aber im Nachmittagslicht wirkt es heute noch heruntergekommener als sonst. So schlimm hat es noch nie ausgesehen. Die Schindeln lösen sich und die Farbe blättert ab. Die Wände waren mal weiß, jetzt sehen sie beinahe gelb aus.

Letztes Mal ist es mir gar nicht aufgefallen, aber heute ist nicht zu übersehen, dass Dad sich nicht um die Instandhaltung kümmert. Das Haus muss nicht nur gestrichen werden, es braucht auch einen Gärtner, der das Unkraut beseitigt, das sich durch die brüchigen Betonplatten drängt, die zur Haustür führen.

Bei meinem nächsten Besuch werde ich mit Dad darüber reden, beschließe ich. Aber da ich heute ja offiziell gar nicht hier bin, muss das noch warten.

Ich nehme den Schlüssel aus der Handtasche und schaue mich um, um sicherzugehen, dass niemand mich beobachtet. Dann gehe ich die zwei Stufen zur Haustür hinauf.

Das Haus hat keine Alarmanlage. Was für einen pensionierten Detective nicht sonderlich klug ist, aber es ist eine Kleinstadt. Bestimmt glaubt Dad, niemand würde es wagen, bei ihm einzubrechen.

Falsch gewettet, Dad.

Als ich den Flur betrete, überkommt mich Erleichterung. Er ist nicht da und wird auch so schnell nicht zurückkommen. Dennoch habe ich keine Zeit zu verlieren, also gehe ich direkt ins Büro.

Dort ist es genauso chaotisch wie beim letzten Mal. Ich habe mich dagegen entschieden, die Akte mitzunehmen, und werde sie stattdessen mit meinem Handy fotografieren und die Seiten später ausdrucken. Ich will auch die Post-its fotografieren. Sobald ich wieder zu Hause bin, kann ich mir alles in Ruhe ansehen, aber jetzt muss ich so schnell machen wie möglich.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und nehme mir das erste Blatt vor. Sobald ich es aufgenommen habe, blättere ich weiter. Dabei gleitet mein Blick über den Schreibtisch, und mein Magen zieht sich zusammen. Hier sind so viele Akten.

Ich hoffe wirklich, dass er nicht früher nach Hause kommt und mich auf frischer Tat ertappt.

Das Herz hämmert wie wild in meiner Brust. Nein, das wird er nicht. Alles wird gut. Er hat erst eine Verabredung zum Mittagessen und dann einen Arzttermin. Eine Vorsorgeuntersuchung, wie er sagte. Er meinte, es wäre nichts, aber irgendetwas stimmt nicht. Das habe ich seiner Stimme angehört.

Stopp.

Meine Güte, Skye. Du hast im Moment keine Zeit, die Stimme deines Vaters zu analysieren.

Entschlossen schiebe ich alle Gedanken, die nichts mit der vor mir liegenden Aufgabe zu tun haben, beiseite und mache mich wieder ans Werk.

Die Geräusche des Hauses machen mich nervös. Das Ticken der Standuhr in der Ecke erinnert mich auf unheimliche Weise daran, dass Eile geboten ist.

Ticktack.

Ticktack.

Mit jeder Sekunde, die vergeht, beschleunigt sich mein Puls. Es sind einfach zu viele Papiere.

Erst als meine Finger das letzte Dokument an seinen Platz zurücklegen, atme ich erleichtert aus.

Erledigt.

Doch dann fällt mir etwas ins Auge …

Der Papierkorb.

Der ist auch voll.

Ich leere ihn aus. Das Meiste ist nur Müll, aber ein Zettel lässt mich innehalten. Eine Rechnung? Ich sehe das Papier genauer an. Es sieht aus wie von einer Versicherung. Was für eine Versicherung? Fürs Auto? Oder ist es eine Arztrechnung? Und falls ja, warum ist mein Vater dann noch mal bei einer Vorsorgeuntersuchung? Die noch bessere Frage ist: Warum würde er jetzt schon eine Rechnung vom Arzt haben? Er sagte, die Untersuchung fände jährlich statt.

Ich fotografiere die Rechnung und räume den Papierkorb wieder ein. Sobald alles an seinem Platz ist, gehe ich den Flur hinunter und verlasse das Haus. Dabei fällt mir ein vorbeifahrendes Auto auf. Es sieht so aus wie das vom Highway vorhin.

Aber das ist albern … oder?

5. KAPITEL

Tobias

»Tobias, wo bist du?« Gideons Stimme hallt durch den Wagen. Er ist zweifelsohne genervt, weil ich seine letzten drei Anrufe nicht angenommen habe.

»Das geht dich nichts an«, sage ich.