7,99 €
Neue Abenteuer der furchtlosen Bruderschaft
Nach ihrer triumphalen Heimkehr wird die Mannschaft des »Seevogels « mit ihrem jungen Kapitän Hal von Erak, dem Oberskirl von Skandia, mit einem gefährlichen Auftrag betraut: Die jungen Krieger sollen für ein Jahr im verbündeten Reich von Araluen dienen und die Küste sichern. Prompt begegnen sie einem alten Gegner: Hals Erzfeind Tursgud hat inzwischen ebenfalls ein eigenes Schiff und macht als Pirat die Sturmweiße See und den Westlichen Ozean unsicher. Als er zwölf Bürger von Araluen in seine Gewalt bringt, sind Hal und seine Leute gefordert. Gemeinsam mit Gilan, einem der fähigsten Waldläufer von Araluen, nehmen sie die Verfolgung auf.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 561
© Random House Australia
DER AUTOR
John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten. Danach konzentrierte er sich auf die Reihe »Brotherband« und plant inzwischen eine weitere Spin-off-Reihe.
Von John Flanagan ist als cbj Taschenbuch erschienen:
BROTHERBAND
Die Bruderschaft von Skandia (22381)
Der Kampf um die Smaragdmine (22382)
Die Schlacht um das Wolfsschiff (22383)
DIE CHRONIKEN VON ARALUEN
Die Ruinen von Gorlan (27072)
Die brennende Brücke (27073)
Der eiserne Ritter (21855)
Der Angriff der Temujai-Reiter (21065)
Der Krieger der Nacht (22066)
Die Belagerung (22222)
Der Gefangene des Wüstenvolks (22229)
Die Befreiung von Hibernia (22342)
Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja (22375)
Die Legenden des Königreichs (22486)
Das Vermächtnis des Waldläufers (22508)
Weitere Bände in Vorbereitung.
John Flanagan
BROTHERBAND
Die Sklaven von Socorro
Aus dem Englischenvon Angelika Eisold Viebig
Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Erstmals als cbj Taschenbuch August 2015
© der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House, München 2015
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© John Flanagan 2014
Zuerst erschienen 2014 unter dem Titel »BROTHERBAND –Slaves of Socorro« bei Penguin Random House Australia, Sydney, Australia
Übersetzung: Angelika Eisold Viebig
Lektorat: Andreas Rode
Umschlagillustration: © Jeremy Reston
Umschlaggestaltung: init Kommunikationsdesign,Bad Oeynhausen unter Verwendung des Originalcovers von www.blacksheep-uk.com
CK · Herstellung: CB
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15063-1www.cbj-verlag.de
Für Leonie – noch einmal
Teil eins
Hallasholm
Kapitel eins
Ich denke, wir sollten den Mast ein paar Fuß weiter nach achtern versetzen«, meinte Hal.
Er spähte hinunter in den nackten Rumpf des Wolfsschiffs und rieb sich nachdenklich übers Kinn. Das Innere der Wolfsrute war für alle Welt sichtbar. Alles, was sich normalerweise darin befand, war entfernt worden: Ruder, Masten, Segel, sogar die Bodenbretter und die Ruderbänke sowie die Ballaststeine. Von Holzkeilen abgestützt ruhte das Schiff im Gras neben Anders’ Werft auf dem Trockenen.
Auf beiden Seiten des Rumpfes verlief etwa auf der Höhe des Dollbords ein Gerüst. Hal kniete auf dem Gerüst an der Steuerbordseite, neben ihm standen der Schiffsbauer Anders und Bjarni Bentfinger, der Skirl und Eigentümer des Schiffes. Hal und Anders sahen nachdenklich drein. Bjarni wirkte eher besorgt. Kein Schiffskapitän liebt es, sein Schiff nackt und bloß daliegen zu sehen. Bjarni überlegte, ob dieser Umbau wirklich eine gute Idee gewesen war.
Es ist noch nicht zu spät, dachte er. Ich könnte Anders immer noch für seine bisherige Arbeit bezahlen und ihn bitten, das Schiff wieder in seinen früheren Zustand zurückzuversetzen.
Dann aber dachte er wieder an die höhere Geschwindigkeit und bessere Manövrierfähigkeit, die das Schiff durch den Umbau bekäme. Er zuckte mit den Schultern und blickte zweifelnd zu Hal. Der junge Mann war so … jung. Da stand Bjarni nun und vertraute sein geliebtes Schiff dem jungen Hal für einen Umbau an. Anders war natürlich ein äußerst erfahrener Schiffsbauer. Er musste schließlich wissen, was er tat. Und wenn er Hal vertraute …
Bjarni hatte jedenfalls gesehen, wie effektiv die neuartige Takelung war, die Hal für sein eigenes Schiff, die Seevogel entworfen hatte. Er holte tief Luft, schloss die Augen und verkniff sich die Bemerkung, die ihm auf den Lippen lag. Letztlich wissen diese beiden doch bestimmt, was am besten ist, dachte er.
»Der Mast muss dorthin, wo der Mastfuß ist«, entgegnete Anders zweifelnd. »Wie willst du denn den verschieben?«
Der Mastfuß war ein Stück Holz von etwa einem Schritt Länge, das quasi senkrecht im rechten Winkel zum Kiel stand. Es diente dazu, den Mast fest an seinem Platz zu verankern, und war ein wesentliches Teil des Kiels selbst. Als die Wolfsrute gebaut worden war, hatte man das Kielholz aus einem einzigen, geraden Baum herausgeschlagen und alle Äste des Baumes abgesägt – alle bis auf einen. Dieser verblieb an Ort und Stelle, man kürzte ihn und hobelte ihn so zu, dass er den Mast im rechten Winkel stützen konnte. Seine Stärke rührte aus der Tatsache, dass er an diesem Platz nicht nachträglich festgemacht wurde, sondern dort gewachsen war.
Hal zuckte mit den Schultern. »Das ist kein Problem.« Er kletterte in den Rumpf, kniete sich neben den Kiel und deutete auf den Stützbalken. »Wir lassen den natürlich hier, sodass wir seine Kraft behalten, und machen uns ein etwa drei Fuß langes Stück, das genau dazu passt und das wir hinter dem jetzigen Stützpfosten anbringen.«
Anders kaute nachdenklich auf seiner Lippe. »Ja. Ich nehme an, das könnte funktionieren.«
»Aber warum den Mast überhaupt weiter achtern setzen?«, fragte Bjarni.
»Die neuen Rahhölzer werden bis zum Bug reichen«, erklärte Hal, »und das wird mehr Druck ausüben, wenn du mit voller Kraft fährst. So könnten wir diesen Druck ausgleichen.« Er beschrieb mit der Hand einen Winkel hinter dem Stützpfosten. »Wir könnten sogar den Rand des neuen Balkens in Richtung Heck abflachen. Dadurch könnten wir den Mast leicht nach hinten neigen, wodurch wir noch besseren Ausgleich hätten.«
»Hm«, sagte Anders.
Bei Bjarni hatte sich wieder der besorgte Blick eingestellt. Er hatte die technischen Einzelheiten nicht verstanden, die Hal so selbstbewusst verkündet hatte. Aber er verstand »Hm«. Das bedeutete, dass Anders nicht überzeugt war.
»Lass das mit der Neigung«, sagte Bjarni schnell. »Ich möchte lieber, dass mein Mast gerade steht. Ein Mast soll schließlich gerade dastehen. Das ist sein Zweck. Er steht einfach … gerade da. So war das schon immer.«
Schließlich, dachte er, wäre ein Mast, der sich neigt, auf jeden Fall viel zu neuartig.
Hal grinste ihn an. Er hatte in den vergangenen Monaten die Umrüstung von vier Wolfsschiffen mit herkömmlichen, rechteckigen Rahsegeln zur neuartigen Takelage, wie sie die Seevogel hatte, begleitet. Entsprechend war er an die konservativen Ansichten der älteren Skirls gewöhnt.
»Wie du meinst«, stimmte er liebenswürdig zu, erhob sich und kletterte wieder auf das Gerüst. Anders streckte ihm die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.
»Und hast du noch einmal über die Sache mit dem Senkschwert im Kiel nachgedacht?«, fragte Hal. Er wusste bereits, wie die Antwort lauten würde, noch bevor Bjarni den Kopf schüttelte.
»Ich möchte nicht, dass du irgendwelche Löcher in den Rumpf meines Schiffes bohrst«, antwortete er energisch. »Sonst sinkt es vielleicht noch.«
Hal lächelte ihn beruhigend an. »Ich habe das Gleiche mit meinem Schiff gemacht«, erklärte er. »Und das ist bislang auch nicht gesunken.«
Bjarni schüttelte weiter den Kopf. »Das mag wohl sein«, sagte er. »Aber ich sehe nicht, dass es irgendetwas Gutes bewirkt, wenn man ein Loch in den Schiffsrumpf bohrt. Das ist gegen die Natur.« Er bemerkte Hals nachsichtiges Lächeln und runzelte die Stirn. Es passte ihm nicht, von einem Jungen gönnerhaft behandelt zu werden, selbst wenn der Junge vielleicht recht haben könnte.
»Es ist mir völlig egal, ob du es bei deinem Schiff gemacht hast«, sagte er. »Es könnte einfach nur Glück sein, dass es nicht gesunken ist …« Er machte eine Pause und fügte in vielsagendem Ton hinzu, »bis jetzt.«
Hal zuckte mit den Schultern. Er hatte nicht erwartet, dass Bjarni einem Senkschwert zustimmen würde. Keiner der Skirls der anderen Wolfsschiffe hatte das bisher getan.
»Wie du meinst«, sagte er und drehte sich zu Anders. »Also, kannst du jetzt deine Männer die Erweiterung der Maststütze machen lassen? Ich kann dir eine Zeichnung davon geben, wenn du möchtest.«
Anders nickte langsam. Anders tat die meisten Dinge langsam. Er war ein umsichtiger Mann, der keine Entscheidungen traf, ohne genau darüber nachzudenken. Gewiss war er deshalb auch so ein ausgezeichneter Schiffsbauer.
»Nicht nötig«, sagte er. »Ich weiß dann schon, wie ich es machen muss.«
Hal nickte. Anders hatte natürlich recht. Für einen erfahrenen Handwerker wie ihn war das nicht nötig. Er hatte es auch nur aus Höflichkeit angeboten.
»Tja, dann …«, begann er. Doch er wurde von einer dröhnenden Stimme unterbrochen.
»Schiff ahoi!« Sie drehten sich alle um und sahen Erak, den Oberjarl von Skandia, auf der Straße, die aus der Stadt herausführte. Anders’ Schiffswerft befand sich etwas außerhalb von Hallasholm, damit das ständige Hämmern und Sägen und die dazugehörigen Flüche, wenn Finger dabei durch unvorsichtig gesetzte Hammerschläge gequetscht wurden, die Einwohner nicht störten.
»Was macht der denn hier?«, fragte Bjarni.
Anders schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
»Da geht’s um seine morgendliche Konditionsverbesserung«, sagte er. Als er Bjarnis verblüfften Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Er läuft. Er läuft die meisten Tage hier entlang. Sagt, dadurch bekommt er eine bessere Kondition und es hält ihn schlank.« Der Ansatz eines Lächelns umspielte seine Lippen bei den letzten Worten.
Hal hob die Augenbrauen. »Wie kann er etwas beibehalten, was er nie war?«
Erak war ein imposanter Mann. »Schlank« war nicht unbedingt das Wort, das einem zu seiner Beschreibung einfiel. Der Oberjarl kam jetzt auf sie zumarschiert, neben ihm Svengal, sein ständiger Begleiter und früherer Erster Maat.
»Und was hat er da?«, fragte Bjarni. Erak schwang einen langen, polierten Holzstab in der rechten Hand und setzte ihn als Stock ein. Der Stab hatte am unteren Ende eine silberne Kappe und obenauf einen kleinen Silberknauf. Bei jedem dritten oder vierten Schritt wirbelte Erak den Stab zwischen seinen kräftigen Fingern und ließ das Sonnenlicht im Silberbeschlag aufblitzen.
»Das ist sein neuer Spazierstock«, erklärte Anders. »Vor zwei Wochen war eine Delegation aus Gallica hier, die hat ihm den geschenkt.«
»Aber welchen Zweck hat dieser Stock denn?«, fragte Hal. Für ihn musste alles einen praktischen Nutzen haben.
Anders zuckte mit den Schultern. »Erak findet, damit sähe er besonders geistvoll und kultiviert aus«, antwortete er.
Hal hob überrascht die Augenbrauen. Neben »schlank« gehörte auch das Wort »kultiviert« nicht unbedingt zu jenen Worten, die einem sofort in den Sinn kamen, wenn man an den Oberjarl dachte.
Erak und Svengal blieben am Fuß der Leiter stehen, die zum Gerüst hochführte.
»Können wir hochkommen?«, rief Erak.
Anders winkte einladend mit der rechten Hand. »Nur zu.«
Man konnte spüren, wie die Planken des Gerüsts leicht vibrierten, als die beiden Männer hochstiegen, um sich zu den anderen zu gesellen. Erak war ein Bär von einem Mann, und Svengal war wie ein normaler nordländischer Matrose gebaut: nicht ganz so riesig wie Erak, aber dennoch groß und breit.
Vielleicht, dachte Hal, war es weise von Erak gewesen nachzufragen, bevor er auf die Leiter stieg.
Die beiden Männer marschierten das Gerüst entlang und spähten mit fachmännischem Interesse auf den unter ihnen liegenden bloßgelegten Rumpf.
»Du lässt dir das Schiff nach den neumodischen Ideen des jungen Hal umrüsten, was, Bjarni?«, donnerte Erak. »Die alten Methoden sind wohl nicht mehr gut für dich?«
»Wir haben schon vier andere Schiffe so umgerüstet«, warf Anders ein. »Bislang hat es keine Beschwerden gegeben.«
Erak musterte den Schiffbauer einen Moment lang, dann blickte er zu dem danebenstehenden jungen Mann. Insgeheim war er stolz auf Hal, auf seine Genialität und seinen Erfindungsgeist. Darüber hinaus hatte Hal Führungsstärke und Entschlossenheit gezeigt, als er den Piraten Zavac praktisch durch die halbe Welt verfolgt hatte. Erak bewunderte diese Qualitäten, auch wenn er selbst zu stark im Alten verhaftet war, um sich an die Veränderungen anzupassen, die Hal repräsentierte. Tief im Inneren wusste Erak, dass diese neue Takelung besser war als das alte traditionelle Rahsegel der Wolfsschiffe. Davon hatte er sich bei mehr als einer Gelegenheit überzeugen können. Doch er liebte seine Wolfswind so, wie sie war, und konnte es nicht über sich bringen, sie zu verändern.
»Zeit für Veränderungen, Oberjarl«, sagte Bjarni, als hätte er seine Gedanken gelesen.
Erak fand es an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Die haben ihr die Eingeweide rausgerissen, was?«, kommentierte er fröhlich.
Bjarni sah aus, als wolle er widersprechen, tat es dann aber doch nicht. Eigentlich hatten sie seinem Schiff tatsächlich die Eingeweide rausgerissen.
Komisch, dachte er, eigentlich ist es überall das Gleiche. Ob es nun ein Schiff, ein Haus oder ein Ochsenkarren ist – der erste Schritt der Handwerker beinhaltet fast immer erst einmal eine ziemliche Zerstörung des Vorherigen.
Erak lief das Gerüst entlang, sein Spazierstock klapperte lautstark auf den Planken.
»Da sind zwei Planken, die ersetzt werden müssen«, stellte er fest und spähte auf die besagte Stelle, wo die Schiffsplanken Abnutzungserscheinungen zwischen den Fugen zeigten.
»Das haben wir auch bemerkt«, erwiderte Anders. Dennoch war er beeindruckt, dass Erak diese Stellen aus der Ferne und auf Anhieb erkannt hatte.
Klick, klack, klick machte Eraks Stab, während der Oberjarl weitermarschierte. Hal fing Svengals Blick auf und zwinkerte ihm zu.
»Hast du entschieden, dass es Zeit für einen Gehstock ist, Oberjarl?«, fragte der junge Mann betont unschuldig. Svengal drehte sich weg, um ein Grinsen zu verbergen, als Erak sich langsam zu Hal umdrehte.
»Das hier ist ein Amtsstab, junger Mann«, sagte er hochmütig. »In Gallica geht der Adel gar nicht mehr ohne einen solchen außer Haus.«
»Der Adel, sagst du?«, fragte Hal. Er wusste, dass der Oberjarl ihn mochte, und er wusste auch, wie weit er seine Scherze treiben konnte. Meistens jedenfalls. Bei Eraks scharfer Antwort wurde ihm bewusst, dass er es dieses Mal zu weit getrieben hatte. Jetzt war ein sofortiger Rückzug ratsam. »Tja, ich verstehe, warum du einen solchen Stab hast … bei deinem würdevollen Amt.«
Erak wirbelte den Stab herum und das Sonnenlicht spiegelte sich im Silberbesatz.
»Damit wirke ich eben kultiviert«, sagte er. In seiner Stimme lag eine gewisse Herausforderung.
»Genau das habe ich auch bemerkt, Oberjarl«, warf Svengal fröhlich ein. »Erst kürzlich habe ich zu den Jungs gesagt: »Habt ihr gemerkt, wie kultiviert der Oberjarl dieser Tage aussieht?«
»Und? Was haben sie gesagt?«, fragte Erak mit einem Hauch von Misstrauen.
»Tja, sie mussten natürlich zustimmen, oder? Alle miteinander. Typischerweise haben sie es dann wieder verdorben, weil sie gefragt haben, was ›kultiviert‹ überhaupt bedeutet. Aber sie haben aus ganzem Herzen zugestimmt.«
Bjarni stieß einen kurzen Lacher aus, und Anders’ Schultern schienen zu zittern. Hal hatte eine faszinierende Stelle am Handlauf des Gerüsts entdeckt, die er eindringlich musterte.
Erak schnaubte. »Die Leute haben Kultiviertheit noch nie zu schätzen gewusst«, sagte er. Er klick-klackte auf seinem Weg entlang des Gerüsts, bis hin zur Leiter. Sein alter Freund folgte ein paar Schritte hinter ihm. Bei der Leiter angekommen, drehte Erak sich zu Hal um.
»Komm morgen früh bei mir vorbei, junger Hal. Könnte sein, dass ich einen Auftrag für dich und deinen wüsten Haufen habe.«
Hals Interesse war geweckt. Das Leben war in letzter Zeit recht langweilig gewesen. Außer den routinemäßigen Patrouillen auf dem Meer gab es nichts, um sich die Zeit zu vertreiben.
»Woran denkst du denn dabei, Oberjarl?«, wollte er wissen. Doch Erak grinste nur geheimnisvoll und tippte sich seitlich an die Nase.
»Ich rede nie in der Öffentlichkeit über Geschäfte, Hal«, sagte er. »Das ist so unkultiviert.«
Kapitel zwei
Lydia befand sich auf der Jagd.
Sie war in die Berge gegangen, die hinter Hallasholm begannen, und folgte dort den Wildpfaden, immer auf der Suche nach Tierspuren. Es hatte Gerüchte über einen Keiler in der Gegend gegeben, aber bis jetzt hatte sie noch nichts gefunden, was dieses Gerücht bestätigte.
Bei einem früheren Ausflug hatte sie eine Jagdhütte hoch oben in den Bergen entdeckt. Dort schlug sie nun ihr Lager auf. Das Dach war an einigen Stellen undicht, und sie hatte den ersten Nachmittag damit verbracht, es zu reparieren und die Ritzen in den windschiefen Planken der Wände zu füllen. Es war unübersehbar, dass schon lange niemand mehr hier gewesen war.
Nachdem sie die Hütte instand gesetzt hatte, verstaute sie ihre Ausrüstung, ersetzte einige der brüchigen Schnüre in dem Netz, das die Matratze auf dem Bett hielt, und stellte den alten verbeulten Wasserkessel auf die Feuerstelle. Die Flammen schickten ein fröhlich flackerndes Licht durch die Hütte. Auch jetzt im Sommer waren die Nächte in den Bergen kalt, sodass sie dankbar war für die Wärme des Feuers, als der Abendwind um die schiefen Wände pfiff.
Sie bemerkte, dass einige frühere Bewohner ihre Namen in die Balken der Hütte geritzt hatten. Keine der Schnitzereien war frisch, wie sie feststellte, während sie mit ihrer Fingerspitze die Namen nachfuhr. Arn. Johann. Detmer. Ein Name war in die gegenüberliegende Wand geritzt worden. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen nordländischen Namen, und es war auch kein Männername. Sie musterte ihn neugierig.
»Evanlyn«, sagte sie laut. Wer war Evanlyn wohl gewesen? Und was hatte eine Frau hierhergeführt?
»Vielleicht war sie auf der Jagd, genau wie ich«, sagte sie. Sie holte ihr kleines Taschenmesser heraus und ritzte geschickt ihren eigenen Namen unter den Namen der Unbekannten. Zufrieden musterte sie dann ihr Werk. Evanlyn. Lydia.
»Wir Mädels müssen zusammenhalten«, sagte sie.
Sie verzehrte ein kleines Abendessen aus Speck und gekochten Kartoffeln, dann legte sie sich schlafen.
Am folgenden Tag, früh am Morgen, legte sie Fallen aus. Ihre Pfeilschleuder war für Kleintiere eine zu kraftvolle Waffe. Ein Treffer damit würde die Beute zerreißen und nichts zum Verzehr übrig lassen. Lydia entdeckte verschiedene Spuren, denen sie folgte. Doch leider waren diese bereits einige Tage alt und im Augenblick konnte Lydia keine frischen Fährten finden. So ist es mit der Jagd, ging es ihr durch den Kopf. Egal, wie geschickt du bist, manchmal kommst du einfach mit leeren Händen zurück.
Nicht, dass es für sie wirklich wichtig war. Der Jagdausflug war lediglich eine Möglichkeit, um ein paar Tage aus Hallasholm wegzukommen – und Rollonds Aufmerksamkeiten zu entfliehen.
Rollond war ein Altersgenosse von Stig und Hal. Er war der Anführer der Bruderschaft der Wölfe gewesen, die vor zwei Jahren mit Hal und seiner Bruderschaft der Seevögel den Wettkampf bestritten hatten. Er war groß, muskulös und gut aussehend. Aus gelegentlichen Unterhaltungen wusste sie, dass die Mitglieder der Bruderschaft der Seevögel ihn mochten und respektierten. Sie hatte irgendwelche Geschichten darüber gehört, dass er ihnen während der Ausbildungszeit gegen den hinterhältigen Tursgud beigestanden hatte. Außerdem war Rollond in ganz Hallasholm beliebt. Seine Mannschaft war zwar an dritter Stelle bei dem Wettstreit hervorgegangen, aber dennoch war die Bruderschaft der Wölfe ausgewählt worden, auf einem der führenden Wolfsschiffe im Hafen anzuheuern – und Rollond war bereits zum Vertreter des Skirls ernannt worden.
Das Problem war, dass Rollond total in Lydia verknallt war. Anfangs war sie einfach nur freundlich zu ihm gewesen, denn er war nett – und außerdem auch noch attraktiv. Aber sie erwiderte seine tiefen Gefühle nicht.
Er bat sie ständig um Verabredungen: ein Picknick, einen Ausflug auf dem Fischerboot, ab und zu sogar einen Jagdausflug. Manchmal nahm sie an. Öfter jedoch lehnte sie ab. Doch es wurde immer schwieriger, glaubwürdige Entschuldigungen zu finden, und auf keinen Fall wollte sie Rollonds Gefühle verletzen. Schließlich war er ja wirklich ein sehr liebenswerter Mensch.
Es war nur so, dass sie eben nicht mehr für ihn empfand. Gute Freunde? Bestens. Aber alles, was darüber hinausging, da fühlte sie sich eingeengt.
Lydia war gern unabhängig. Mancher hätte sie sogar eine Einzelgängerin genannt. Sie hatte ihre Kindheit zum großen Teil allein verbracht – auf der Jagd, beim Spurenlesen und Umherstreifen in den dichten Wäldern auf den Klippen oberhalb ihrer Heimatstadt. Als jemand, die neu in Hallasholm war, wollte sie nicht nur als »Rollonds Freundin« betrachtet werden, und sie wusste, dass es darauf hinausliefe. Sie wollte überhaupt nicht über jemand anders definiert werden. Sie versuchte immer noch, ihre eigene Identität in ihrem neuen Zuhause zu finden.
Natürlich kannte man sie als Mitglied der Mannschaft der Seevogel, und das hatte ihr einen gewissen Grad von Respekt verschafft. Sie genoss weiter die Gesellschaft und Kameradschaft dieser Bruderschaft. Lydia war dort willkommen, wann immer sie zu der Mannschaft stieß – bei Festen und Feiern oder anderen gesellschaftlichen Ereignissen. Und sie wusste, dass sie – zumindest für die Mannschaft – keine Außenseiterin war, sondern ein erprobtes Mitglied war. Sie trug immer noch voller Stolz ihre gestrickte Mütze mit dem weißen Seevogelsymbol darauf.
Doch seit die Mannschaft von ihrer triumphalen Reise nach Raguza zurückgekommen war, hatte Lydia nicht mehr viel an Bord zu tun. Nach einer langen Winterpause, in der das Schiff überholt worden war, war die Mannschaft nur zu kurzen Fahrten in heimischen Gewässern ausgesandt worden, bei denen sie schützend ein Auge auf die nordländische Handelsflotte hatte. Da Lydia mit ihrer tödlichen Wurfschleuder eher Teil der Kampfgruppe und weniger der Segelmannschaft war, gab es bei der Eskorte der Handelsflotte – eine meist nur tageweise Aufgabe – für sie nicht viel zu tun. Sie war dazu verdammt, untätig im Heck des Schiffes zu sitzen. Stefan und Jesper kümmerten sich um das Einholen und Setzen der Segel. Ulf und Wulf schienen die Feinheiten des Segeltrimmens vollends zu beherrschen und arbeiteten mit diesem besonderen siebten Sinn zusammen, den Zwillinge so oft teilen, um das Segel am effektivsten zu trimmen und jeden möglichen Knoten an Geschwindigkeit herauszuholen.
Vermutlich konnte sie auch das Steuern lernen. Doch da Hal, Stig, Edvin und sogar Thorn das bestens beherrschten, war die Seevogel nur allzu gut ausgestattet mit Leuten, die den Posten des Steuermanns übernehmen konnten.
Selbst der große, kurzsichtige Ingvar hatte seine Aufgabe an Bord. Mit seiner unglaublichen Kraft unterstützte er Jesper und Stefan. Und natürlich war er der Einzige, der die mächtige Armbrust, der sie den Spitznamen Wumme gegeben hatten, spannen und laden konnte.
»Ich brauche eine lange Fahrt«, murmelte Lydia. »Wenn wir mit irgendeinem größeren Auftrag losgeschickt würden – etwas, wie damals die Jagd nach dem Piraten Zavac, hätte ich gewiss genug an Bord zu tun.«
Mit ihren Überlegungen hatte sie nicht unrecht. Weit weg von den heimischen Gewässern Skandias war die Wahrscheinlichkeit, auf feindliche Schiffe zu treffen, sehr viel höher. Außerdem könnte Lydia ihre Jagdfähigkeiten dafür einsetzen, der Mannschaft Essen zu besorgen. Und vor allem würde eine solche lange Reise sie von der Sorge befreien, Rollond ständig aus dem Weg gehen zu müssen.
Im Augenblick musste sie sich allerdings auf Jagdausflüge wie diesen beschränken, um Abstand von ihm zu halten. Er hatte sie bereits dazu überredet, als seine Begleiterin zum bevorstehenden Heufest zu gehen. Doch da würde es zumindest genügend andere Leute in der Nähe geben – die ganze Stadt, um genau zu sein, auch Hal, Stig und die anderen von der Bruderschaft.
Während Lydia diese Gedanken wälzte, nahm ein davon unabhängiger Teil ihres Bewusstseins die Umgebung um sie herum wahr, hielt nach Hufabdrücken Ausschau, nach abgebrochenen Zweigen im Gebüsch, winzigen Fellfetzen, die an Dornen hängen geblieben waren, Ritzen in den Rinden der Bäume, die zeigten, dass ein Hirsch sein Geweih daran gerieben hatte, um die fellähnliche Haut, den sogenannten Bast, der das Geweih umhüllte, abzureiben oder sein Revier zu markieren. Sie suchte nach allem, was irgendwie andeutete, dass hier in letzter Zeit ein größeres Tier vorbeigekommen war.
Nichts davon war zu entdecken, bis sie um eine Biegung des schmalen Wildpfads kam und sich bückte, um unter einem Gewirr von dornenbesetzten Schlingpflanzen hindurchzugehen. Sie richtete sich auf und blickte geradewegs auf einen großen Baum einige Schritte entfernt, dessen Stamm Markierungen zeigte, die bei ihr die Alarmglocken läuten ließen.
Es handelte sich um zwei parallel verlaufende Rillen in der dicken Rinde – zwei mal vier Rillen, um genau zu sein. Lydia sah sich vorsichtig um, griff mit der linken Hand automatisch nach einem ihrer Wurfpfeile im Köcher am Gürtel. Ihre rechte Hand hielt die Pfeilschleuder bereit.
Diese Rillen stammten von einem Bären, der seine Klauen durch die Baumrinde gezogen hatte, um sie zu schärfen oder zu stärken. Sie wusste, dass Bären um diese Zeit des Jahres unterwegs waren, doch dies war das erste Mal, dass sie ihre Anwesenheit so nahe an Hallasholm wahrnahm.
Lydia machte ein, zwei Schritte auf den Baum zu und berührte die Rillen im Stamm. Das Harz war immer noch klebrig, was bedeutete, dass der Bär erst in den vergangenen ein oder zwei Stunden hier gewesen war. Wieder blickte sie sich um, aber es war kein Anzeichen zu sehen, dass auch jetzt ein Bär in der Nähe war.
»Es ist der Feind, den man nicht sieht, der Schwierigkeiten machen könnte«, sagte sie zu sich. Ihr wurde bewusst, dass sie in letzter Zeit öfter mit sich selbst gesprochen hatte. »Das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen«, kommentierte sie und merkte erst dann, dass sie es schon wieder tat. Sie verzog das Gesicht und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie musste damit aufhören.
Der Bär schien sehr groß zu sein. Lydia musste den Kopf anheben, um zu sehen, wo die Rillen oben im Baumstamm begannen. Von deren Höhe ausgehend schätzte sie, dass das Tier etwa zwei Ellen größer war als sie selbst – und dementsprechend auch viel breiter. Sie war nicht ausreichend bewaffnet, um gegen einen Bären zu kämpfen, also drehte sie lieber um und ging den Weg wieder zurück.
Auf dem Weg zur Hütte machte sie noch einen Umweg, um die Fallen zu überprüfen, die sie vor ein paar Stunden ausgelegt hatte. Sie fand zwei Regenpfeifer, ein Moorhuhn und ein Kaninchen.
Ein guter Fang, dachte sie. Offensichtlich hatte seit einiger Zeit niemand mehr in dieser Gegend gejagt. Sie steckte ihre Beute in ihre Wildtasche und machte sich auf den Weg zur Hütte. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den umliegenden Wald gerichtet, um auf jegliches Anzeichen des Bären gefasst zu sein.
Was sollte sie tun, wenn sie ihn entdeckte? Am besten war, sich erst einmal still zu verhalten – sehr still – und zu hoffen, dass er wieder verschwand.
Als Lydia die Hütte erreicht hatte, stieß sie einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. Bären waren keine Tiere, mit denen man sich anlegen sollte. Sie waren unberechenbar und zudem noch groß, stark und mit gefährlichen Pranken ausgestattet. Das war nicht gerade eine beruhigende Kombination, und die Tatsache, dass sich einer irgendwo in der Nähe aufhielt, machte sie doch nervös.
Sie schloss die Tür und lächelte, als ihr klar wurde, wie trügerisch das Gefühl von Sicherheit war, das sich bei ihr eingestellt hatte. Das Holz der Tür war alt und verwittert, ihre Lederangeln ausgetrocknet und morsch. Ein heftiger Stoß von einem Bären würde die Tür zweifellos aufdrücken und aus den Angeln heben. Doch so fadenscheinig sie auch war, es war eine psychologische Barriere, und so weit Lydia wusste, wagten sich Bären meist nicht in bewohnte Gebäude.
Lydia ging wieder hinaus und entfernte sich ein Stück von der Hütte. Sie häutete das Kaninchen und nahm es aus, rupfte die Vögel und warf die Überreste ein Stück weiter von der Lichtung weg. Sie hängte die Vögel an den Balken der Veranda und nahm das ausgenommene Kaninchen mit hinein.
Solange es noch hell war, ging sie zu einem nahe gelegenen Fluss, reinigte ihre Hände von Blut und Federn und füllte den alten Wassereimer, den sie in der Hütte gefunden hatte. Bis sie schließlich zurückkam, waren die Schatten länger geworden. Sie schloss die Tür, schob den Riegel vor und zündete eine Kerze an. Die grundlegendsten Kochzutaten hatte sie mitgebracht – etwas Schmalz, Salz und Pfeffer. Damit bereitete sie jetzt das in Stücke zerlegte Kaninchen in der großen schwarzen Eisenpfanne zu, die sie in der Hütte vorgefunden hatte.
Bald erfüllte ein appetitanregender Duft die Hütte. Sobald Lydia meinte, das Fleisch sei ziemlich durch, gab sie eine Handvoll wilder Kräuter hinzu, die sie am Vortag bereits auf dem Herweg gepflückt hatte. Sie sah zu, wie die Kräuter auf ein Drittel ihrer ursprünglichen Größe zusammenschrumpften, dann nahm sie die Pfanne vom Herd und schüttete die Fleischstücke auf einen Teller.
Als sie das Kaninchen verzehren wollte, verbrannte sie sich erst einmal Finger und Mund. Durch den Schaden klug geworden, ließ sie die Mahlzeit erst einmal einige Minuten abkühlen, verschlang sie danach jedoch hungrig. Das Fleisch war zart und hatte durch die Kräuter einen wunderbaren Geschmack bekommen. Im Handumdrehen war alles verzehrt. Nichts weckte den Appetit so gut wie ein Tag draußen in der frischen Bergluft. Lydia zupfte die letzten Fleischreste von den Knochen und lehnte sich dann gesättigt zurück. Sie legte ihre Füße auf den Tisch und ließ einen absolut undamenhaften Rülpser hören.
»Richtig lecker«, sagte sie zu sich selbst und leckte die letzten Fettreste von ihren Fingern. Sie erinnerte sich daran, irgendwo einmal gehört zu haben, dass eine einseitige Ernährung mit Kaninchenfleisch auf lange Sicht nicht gesundheitsförderlich sei. Das Fleisch sei dafür zu mager und frei von Fetten und Ölen. Sie zuckte mit den Schultern. Vielleicht war das so. Im Augenblick schmeckte es jedenfalls vorzüglich.
Ihre Überlegungen, ob sich Bären wohl in Hütten wagten, veranlassten sie dazu, die Überreste ihrer Mahlzeit nicht im Haus zu lassen, sondern weiter draußen hinter der Lichtung ins Gebüsch zu werfen. Selbst wenn der Bär nicht mehr in der Gegend wäre, gab es da doch viele kleine Tiere, die diese Reste sicherlich noch vor Sonnenuntergang beseitigen würden.
Wenig später machte sie sich bettfertig. Es war ein langer Tag gewesen. Sie blies die Kerze aus, wickelte sich in ihre Decke, streckte sich auf dem Bett aus und seufzte zufrieden. Der Schein des Feuers flackerte an den Wänden. Es war ein tröstender Anblick und es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen.
Die Flammen waren zu einem schwachen rötlichen Schein geschrumpft, als Lydia plötzlich erwachte. Etwas bewegte sich auf den durchgetretenen Brettern der Veranda. Etwas Großes. Es streifte die Wände der Hütte. Die Wand ächzte und die Hütte erbebte. Vorsichtig schob Lydia die Decke weg und griff nach dem Dolch, der in seiner Scheide am Kopfende des Bettes hing. Dann schlich sie leise auf das kleine Fenster zu, das sich in der Wand zur Veranda befand.
Doch sie stolperte über einen kleinen Hocker in der Mitte des Raumes, der daraufhin umstürzte. Sofort war eine Bewegung von der Veranda her zu vernehmen, als dieses Große sich schnell entfernte. Lydia rieb sich das Schienbein, ging zum Fenster und spähte nervös hinaus.
Drei Vögel hatten am Balken über der Veranda gehangen, als sie sich schlafen gelegt hatte. Ein Moorhuhn und zwei Regenpfeifer. Jetzt hing da nur noch das Moorhuhn. Die anderen beiden Vögel waren verschwunden. Lydia schob nachdenklich die Unterlippe vor.
»Ich denke, ich sollte morgen wieder in die Stadt zurückkehren«, sagte sie zu sich.
Kapitel drei
Hal hatte es Anders überlassen, weiter an Bjarnis Schiff zu arbeiten. Der Schiffsbaumeister hatte nach anfänglichen Zweifeln schließlich Hals Idee, den Mast ein Stück nach hinten zu versetzen, gutgeheißen.
Bjarni blickte besorgt über Anders’ Schulter, beobachtete den Schiffsbauer bei der Arbeit und fragte ständig, was er gerade mache. Schließlich drehte Anders sich zu ihm. Seine Geduld war erschöpft.
»Bjarni, hast du nicht noch etwas anderes zu tun?«
Bjarni schüttelte verblüfft den Kopf. »Eigentlich nicht.«
Anders ließ jedoch nicht locker. »Was würdest du denn normalerweise an einem Tag wie heute machen?«, fragte er.
Bjarni deutete auf den nackten Bootsrumpf. »Normalerweise wäre ich draußen auf dem Meer, an Bord meines Schiffes. Aber das geht ja jetzt nicht, nachdem du es völlig auseinandergenommen hast.«
Darüber musste Anders einen Moment nachdenken. Gegen Bjarnis Logik war schwer anzukommen.
»Warum gehst du denn nicht fischen?«, schlug er vor und fügte schnell hinzu: »Gleich in der Nähe des Hafens. Dafür brauchst du kein Schiff.«
Bjarni sah ihn verständnislos an. »Ich mag keinen Fisch«, sagte er. »Meine Mutter zwang mich früher ständig dazu, Fisch zu essen, deshalb mag ich ihn jetzt gar nicht mehr.«
»Tja, du musst ihn ja auch nicht essen«, entgegnete Anders. »Du könntest einfach Fische fangen und sie dann wieder zurück ins Meer werfen.«
»Was hätte denn das für einen Sinn?«, sagte Bjarni. »Weshalb sollte ich denn einen Fisch zurückwerfen, nachdem ich ihn gefangen habe?«
»Weil du keinen Fisch essen willst«, sagte Anders mit grimmiger Entschlossenheit in der Stimme.
»Dann gibt es ja wohl auch keinen Grund, ihn überhaupt zu fangen«, erwiderte Bjarni, nun doch ziemlich verwirrt. Er fragte sich langsam, ob Anders der Richtige war, um ihm sein geliebtes Schiff anzuvertrauen. Der Schiffsbauer schien absolut nicht logisch denken zu können und Bjarni war der Meinung, dass jemand, der mit Handwerkszeug, Holz und wertvollen Gerätschaften arbeitete, doch ein gewisses Maß an geordneter Denkweise benötigte.
»Dafür gibt es einen sehr guten Grund«, sagte Anders und machte einen Schritt auf seinen Auftraggeber zu, sodass sie Brust an Brust standen. Unbewusst machte Bjarni einen Schritt zurück, doch Anders folgte ihm und behielt seine einschüchternde Haltung bei. »Wenn du hier bleibst und mich weiter verrückt machst, weil du dauernd fragst ›Was machst du denn jetzt?‹ und ›Warum machst du das so?‹ oder ›Wofür ist das denn?‹, dann ist es gut möglich, dass ich dir einen Hammer über den Kopf ziehe.«
Er deutete auf den großen Holzhammer, mit dem er gelegentlich seinen Stechbeitel unterstützte. Bjarni musterte den Hammer und den muskulösen rechten Arm des Schiffsbauers.
»Also weißt du, du hättest ja nur einen Ton sagen müssen«, erwiderte er ein wenig verschnupft. Er trat zurück und warf noch einen letzten Blick auf sein geliebtes Schiff. »Sei vorsichtig mit ihr, ja?«
Normalerweise wäre Anders beleidigt gewesen. Schließlich behandelte er sowieso jedes Schiff, das man ihm übergab, mit größter Umsicht. Er war ein sehr sorgfältiger Handwerker. Doch die taktlose Bitte schien ein kleiner Preis dafür, Bjarni endgültig loszuwerden.
»Ich werde sie behandeln, als wäre sie mein eigenes Schiff«, sagte er mit einem Lächeln, das beruhigend sein sollte – was ihm gründlich misslang.
Bjarni bemerkte den angestrengten Ausdruck und fragte sich, ob Anders vielleicht an Verdauungsproblemen litt. Doch klugerweise sagte er das nicht.
»Also gut«, gab er schließlich nach. »Dann geh ich eben.«
Hals Zuhause war das Gasthaus, das seine Mutter führte. Dieses lag auf der anderen Seite von Hallasholm. Statt den langen, kurvenreichen Weg von der Werft durch den Ort zu nehmen, wählte er die Abkürzung querfeldein durch den Wald oberhalb der Stadt. Es war friedlich und still im Wald und er freute sich an dem Spiel von Licht und Schatten zwischen den Bäumen. In Küstennähe gab es viel mehr unterschiedliche Bäume, auch wenn Kiefern noch immer am häufigsten waren. Entsprechend lag ein angenehmer Geruch nach Nadelbäumen in der Luft. Hal fragte sich, weshalb Erak ihn wohl sehen wollte. Er hoffte, dass eine längere Fahrt bevorstand. Er und seine Mannschaft langweilten sich mittlerweile bei den kurzen Patrouillenfahrten.
Vielleicht ist es ja mal wieder Zeit für Raubzüge, ging es ihm durch den Kopf. Aber ganz ernst war es ihm damit doch nicht.
Jahrelang hatten die Nordländer immer wieder Siedlungen entlang der Sturmweißen See und weiter bis zur Meerenge und dem Ewigen Meer überfallen. Hals Mutter war einst sogar bei einem solchen Beutezug in Araluen entführt worden.
Doch das Waffenstillstandsabkommen, das Erak vor einigen Jahren mit König Duncan von Araluen geschlossen hatte, beinhaltete, dass die Nordländer dies in Zukunft unterließen, so unterhaltsam sie es auch gefunden haben mochten.
Natürlich war das alles geschehen, als Hal noch ein Kind war. Doch es gab viele ältere Nordländer, die sich an diese vergangenen Zeiten erinnerten – einige davon mit einer gewissen Wehmut.
Hal entdeckte jetzt ein Büschel schöner gelber Wildblumen neben dem Pfad und blieb stehen, um sie für seine Mutter zu pflücken. Karina liebte Blumen im Haus. Als er sich bückte, hörte er ein Rascheln im Gebüsch hinter sich. Er hielt inne, die Hand noch an den Stängeln der Blumen.
»Wer ist da?«, fragte er. Es konnte Stig oder ein anderer aus der Mannschaft sein, der ihm einen Streich spielen wollte. Jesper wäre es besonders zuzutrauen.
Jesper, der gern zum Zeitvertreib unbemerkt Sachen entwendete, nur um sie dann wieder zurückzugeben, schlich gern heimlich umher, um seine Kunst zu perfektionieren.
Hal richtete sich auf und drehte sich zu dem dichten Gebüsch, aus dessen Richtung das Geräusch gekommen war.
»Ich kann dich hören, Jesper«, rief er leicht gereizt.
Die einzige Antwort war ein Knurren aus dem Schatten unter den Bäumen. Hal bekam eine Gänsehaut. Das war definitiv nicht Jesper. Er griff nach seinem Sachsmesser, auch wenn ihm klar war, wie nutzlos die Waffe wäre, wenn das Geräusch von dem Tier kam, das er dort vermutete.
Von einem Bären.
Er hatte noch nie einen Bären gehört. Doch er nahm an, dass das Knurren eines Bären so klang wie das, was er gerade gehört hatte – tief und bedrohlich. Langsam ging er zu dem Weg zurück, stolperte über eine Baumwurzel und schaffte es gerade noch, sich wieder zu fangen – mit klopfendem Herzen. Sein Instinkt sagte ihm, dass es das Beste wäre, sich langsam zu bewegen, obwohl jeder Nerv in seinem Körper danach schrie, loszurennen.
Die Büsche bewegten sich, als ob, was immer sich darin versteckte, mit ihm Schritt hielt. Oder bildete er sich das nur ein und es war lediglich der Wind, der durch die Zweige fuhr?
Aber da war kein Wind.
Voff!
Das Geräusch war kurz, abrupt und bedrohlich. Hal blieb stehen und spähte in das dichte Gebüsch, um einen Blick auf das zu erhaschen, was ihm möglicherweise folgte. Nichts bewegte sich mehr. Er machte noch einen Schritt zurück. Dann noch einen. Jetzt nahm die Furcht überhand und er lief schneller, legte so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und diesen knurrenden Bären.
»Voff!«
Da war es wieder. Entschieden. Bestimmend. Der Bär wollte offensichtlich nicht, dass seine Beute entkam. Hal blieb stehen und konnte jetzt wieder beobachten und hören, wie das Gebüsch sich bewegte. Ein großer, schwerer Körper drückte die Zweige etwa in Hüfthöhe beiseite, genau dort, wo auch ein Bär das getan hätte, wenn er auf seinen vier Pranken durch das Dickicht gelaufen wäre.
Hal sah Augen im Schatten aufblitzen, dann schob sich ein Gesicht heraus.
Kein Bär, stellte er mit einem erleichterten Seufzer fest. Ein Hund. Aber ein Hund, der größer war als jeder Hund, den er bisher gesehen hatte. So groß, um genau zu sein, dass es genauso gut ein kleiner Bär hätte sein können.
Sein Kopf war schwarz, mit einer weißen Schnauze und einer weißen Blesse zwischen den Augen, sodass es aussah, als trüge er eine schwarze Maske. Der Körper war schwarz mit einer weißen Brust und einem weißen Bauch. Die Beine waren bis etwa zur Hälfte schwarz, dann wurde das schwarze Fell braun, um schließlich an den Füßen ganz weiß zu werden. Rechts und links der Nase saßen braune Markierungen und über jedem Auge ein brauner Fleck. Da zwischen den Augen des Tieres die weiße Blesse verlief und über den Augen zwei identische Flecken waren, hatte das Hundegesicht eine angenehme Symmetrie. Alles schien genau richtig an seinem Platz zu sein. Die schwarzen Ohren des Hundes hatten braune Spitzen und hingen schlaff nach unten.
»Voff!«
Der Hund bellte wieder und zögerte, näher zu kommen. Hal ließ sich auf ein Knie nieder und streckte seine rechte Hand aus, die Handfläche nach unten und die Finger leicht angezogen.
»Selber Voff!«, sagte er in einem freundlichen Ton. »Na komm, sag Guten Tag!«
Der Hund machte einen Schritt aus dem Gebüsch, dann zog er sich wieder einen halben Schritt zurück, die Augen stets auf Hal gerichtet. Der blieb mit ausgestreckter Hand ruhig an seinem Platz. Der Hund machte noch einen Schritt und kam schließlich ganz heraus. Die große, schwere Rute wedelte zögernd. Nein, Wedeln kann man das noch nicht nennen, korrigierte Hal sich. Eher ein zaghaftes Winken. Hin und her, hin und her, aber immer entschiedener.
»Keine Angst«, sagte Hal und erkannte die Ironie darin. Als er geglaubt hatte, es handle sich um einen Bären, hatte der Hund ihm einen Heidenschreck eingejagt.
Der Hund schüttelte den Kopf. »Voff!«, sagte er wieder.
Hal nickte beifällig. »Das ist ein ziemlich beeindruckendes Bellen, das du an den Tag legst«, sagte er zu ihm. Er bewegte die Finger und der Hund kam einen Schritt näher. Dann noch einen und noch einen.
Gerade noch außerhalb der Reichweite der ausgestreckten Hand blieb er stehen.
»Ich weiß gar nicht, wovor du Angst hast«, sagte Hal zu ihm. »Wenn du wolltest, könntest du mir meinen Arm bis zum Ellbogen abbeißen.«
Hal konnte den warmen Atem des Tieres auf seinen Fingerknöcheln spüren. Dann streckte der Hund die Zunge heraus und leckte an seinen Fingern. Der Schwanz wurde noch etwas entschiedener gewedelt. Anscheinend hatte der Hund keine Bedrohung schmecken können.
»Weißt du«, sagte Hal leise, »langsam tun mir die Knie wer. Ich muss mal aufstehen.«
Er öffnete seine Finger, berührte den Hund vorsichtig unter dem Kinn und kraulte ihn. Das Tier schloss die Augen etwas mehr und Hal streckte die Hand weiter aus, streichelte ihn am Hals. Der Hund hob den Kopf, um die Berührung ausgiebig zu genießen.
»Also gut«, sagte Hal. »Ich stehe jetzt auf.«
Langsam erhob er sich. Sobald er anfing, sich zu bewegen, öffnete der Hund die Augen und seine Ohren stellten sich in Alarmbereitschaft auf, während er wieder einen Schritt zurückwich. Hal ließ die Hand ausgestreckt und sprach weiter sanft mit dem Hund.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Nichts, wovor du Angst haben müsstest. Bin immer noch nur ich.«
Der Hund stand abrupt still. Nur sein Schwanz wedelte noch hin und her.
»Voff!«, machte er. Hal lauschte dem Klang nach.
»Tja«, sagte er dann, »das dürfte dann ja wohl dein Name sein.«
Kapitel vier
Bei genauerem Hinsehen entdeckte Hal, dass Voff, wie er den Hund jetzt nannte, ein Weibchen war. Sie führte den Weg zu seinem Haus an, oder vielmehr sprang sie ihm voraus und drehte sich von Zeit zu Zeit um, als wolle sie sichergehen, dass sie beide in die gleiche Richtung unterwegs waren. Dann wedelte sie mit dem Schwanz, als wolle sie Hal ermutigen, sie einzuholen.
Die beiden näherten sich dem Gasthaus an der Seitentür zur Küche, wo Hals Mutter normalerweise das Essen für den Abendbetrieb vorbereitete. Hal gab Voff ein Zeichen, sich zu setzen, und zu seiner Überraschung gehorchte sie ihm.
»Warte hier«, befahl er. Sie klopfte einmal mit dem Schwanz auf den Boden.
Instinktiv wusste Hal, dass es unklug sein könnte, ein so großes Tier in das Gasthaus mitzunehmen – besonders in den Teil, wo seine Mutter kochte. Er stieg die Stufen zur Seitentür hinauf, stieß sie auf und spähte hinein.
»Mama?«, rief er zögernd und überlegte, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte. Er war sich nicht sicher, womit er anfangen sollte. »Schau mal, was ich gefunden habe!«, forderte eine Antwort heraus wie: »Na wunderbar. Und jetzt sieh zu, dass du ihn wieder los wirst!« Er konnte natürlich auch direkt fragen: »Kann ich ihn behalten?« Aber dann musste er damit rechnen, dass er ein sofortiges Nein zur Antwort bekam.
Er schob sich weiter in die Küche, wobei er sich noch einmal umdrehte, um sicherzugehen, dass Voff nicht näher gekommen war. Sie saß da und beobachtete ihn, klopfte noch ein- oder zweimal mit dem Schwanz auf den Boden.
»Gutes Mädchen«, lobte er leise. »Bleib.«
Er machte eine entsprechende Handbewegung, um den Befehl zu unterstreichen, dann ging er durch die Küche und spähte ins Lokal.
»Mama?«, rief er leise.
Es kam keine Antwort. Er versuchte es wieder, diesmal etwas lauter.
»Mama? Bist du da?«
»Sie ist auf den Markt gegangen.«
Die Stimme kam von direkt hinter ihm und erschrocken machte er einen Satz zurück und wirbelte herum. Thorn stand nur einen Schritt von ihm entfernt.
»Orlogs Atem, Thorn! Schleich dich doch nicht so an mich ran!«, sagte er und seine Stimme wurde unwillkürlich höher.
Thorn zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich bin nur hier reingekommen, während du nach Karina gerufen hast.«
»Tja, du hättest mich ja wissen lassen können, dass du da bist!«, sagte Hal, gewann seine Haltung wieder und versuchte, seine Verlegenheit mit selbstgerechter Empörung zu verbergen.
Wieder zuckte der alte Krieger nur mit den Schultern. »Hab ich ja. Ich hab gesagt, dass sie auf den Markt gegangen ist. Du scheinst mir heute ein wenig nervös«, fügte er hinzu und musterte den jungen Mann neugierig.
»Nervös? Gar nicht«, entgegnete Hal. Er blickte sich in der Küche um und ging zu dem Eimer für die Fleischabfälle. Er war fast voll und Hal holte jetzt eine große Handvoll davon heraus.
Thorn hob eine Augenbraue. »Deine Nervosität hat nicht zufällig etwas mit diesem verdammt großen schwarzweißen Pferd zu tun, das du draußen abgestellt hast, oder? Übrigens«, fügte er hinzu und deutete auf das Fleisch, das Hal in den Händen hielt, »soweit ich weiß, fressen Pferde kein Fleisch, sondern Gras und Hafer.«
»Das ist kein Pferd, sondern ein Hund«, erwiderte Hal.
»Hätte ich nicht gedacht«, antwortete Thorn. »Auch wenn die Schlappohren eher auf einen Hund hindeuten.«
Hal fiel jetzt ein, dass Thorn an dem Hund vorbeigekommen sein musste, um die Küche zu betreten. »Wie kommt es, dass sie nicht gebellt hat, als du reingekommen bist?«, fragte er.
»Pferde bellen nicht. Und außerdem mögen sie mich. Ich kann ganz gut mit Pferden.«
»Ach ja?«, sagte Hal. Er ging an Thorn vorbei zur Tür und stieß sie mit dem Ellbogen auf. Voff saß immer noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte, behielt die Tür im Auge und klopfte mit dem Schwanz auf die Erde. »Und darf ich dich noch einmal daran erinnern, dass sie eine Hündin und kein Pferd ist.«
Er ging die Treppe hinunter und hielt Voff das Fleisch hin. Ihre Ohren stellten sich auf und sie hob vor Aufregung beide Vorderpfoten.
»Pferde machen das auch«, bemerkte Thorn.
Hal warf das Fleisch vor Voff ins Gras. Ihre Schnauze zitterte erwartungsvoll und sie hielt den Blick auf Hal gerichtet, bis er auf das Fleisch deutete.
»Nur zu«, sagte er und sofort wurde das Fleisch mit gierigen Bissen verschlungen. Hal blickte Thorn von der Seite an. »Pferde machen das nicht«, sagte er.
Thorn legte in gespielter Überraschung den Kopf zur Seite. »Tja, weiß man’s? Vielleicht ist es doch eine Hündin. Wo hast du sie denn gefunden?«
»Sie hat mich gefunden, oben im Wald. Kam aus dem Gebüsch und hat mich vorher zu Tode erschreckt. Ich dachte, es wäre ein Bär.«
»Bären werden nicht so groß«, sagte Thorn. »Irgendeine Ahnung, wer der Besitzer sein könnte?«
Hal schüttelte den Kopf. »Ich habe sie auch noch nie in der Stadt gesehen«, sagte er. »Und dabei übersieht man so ein Riesentier nicht so leicht. Ich vermute, dass sie sich in den Bergen verlaufen hat und dann zu uns herübergewandert ist.«
»Sie ist ziemlich schmutzig«, stellte Thorn fest.
Hal nickte. »Muss dringend gebürstet werden. Das mach ich dann schon.«
Voff hatte das Fleisch aufgefressen und schnüffelte prüfend herum, als hoffe sie, dass ein weiteres Stück Fleisch wie von Zauberhand aufgetaucht wäre. Hal schnippte mit den Fingern und sie blickte sofort auf.
»Komm mit, Voff«, sagte er und begann auf die Rückseite des Gebäudes zuzugehen, wo er und Karina lebten. Thorn wohnte immer noch in seinem kleinen Schuppen, der an das Gasthaus angebaut war.
»Wie hast du sie genannt?«
»Voff«, sagte Hal.
Thorn runzelte die Stirn. »Voff?«
Der Hund hob wieder die Vorderpfoten und bellte. »Voff!«
Thorn schob nachdenklich die Lippen vor. »Vergiss, dass ich gefragt habe. Tja, ich habe noch zu tun. Ich war gerade dabei, ein paar Bänke zu lackieren, als du hereingekommen bist und nach deiner Mutter gerufen hast. Da mach ich mich jetzt lieber wieder dran. Oh, und viel Glück bei Karina«, fügte er hinzu, als er schon im Gehen war.
»Wieso brauch ich denn Glück?«, fragte Hal. Irgendwie hatte er das Gefühl, wenn er so tat, als wisse er nicht, worauf Thorn anspielte, würde es weniger wahrscheinlich passieren.
»Du wirst es brauchen, wenn du sie fragst, ob du den Wauwau dort behalten kannst«, sagte Thorn.
»Voff!«, sagte der Hund.
Thorn nickt in seine Richtung. »Meinetwegen.«
»Ich brauche meine Mutter nicht zu fragen, ob ich den Hund behalten kann. Ich brauche von niemandem eine Erlaubnis. Ich bin ein Skirl. Ich habe ein eigenes Schiff und meine Mannschaft. Ich bitte nicht um Erlaubnis. Ich erteile sie. Und hiermit erteile ich sie mir selbst. Ich kann den Hund behalten.«
Thorn grinste. »Wenn ich dir mal ein paar mögliche Reaktionen vorführen darf«, sagte er. Er überlegte kurz, dann imitierte er Karinas Stimme: »Das kommt gar nicht in Frage. Der Hund wird überall haaren. Und er riecht. Außerdem ist er zu groß. Er wird uns die Haare vom Kopf fressen. Bring ihn dorthin zurück, wo du ihn gefunden hast.« Er machte eine Pause. »Wie war das für den Anfang?«
»Er wird ein guter Wachhund sein«, entgegnete Hal. »Er wird Diebe vom Gasthaus fernhalten. Und Mäuse und Ratten auch.«
»Alles sehr gute Argumente«, sagte Thorn und drehte sich um.
Hal fasste ihn am Ärmel und verriet damit unwillkürlich seine unterdrückte Besorgnis über Karinas Reaktion auf den Hund. »Glaubst du, sie werden sie überzeugen?«
»Überhaupt nicht.«
Hal runzelte nachdenklich die Stirn, als sein Freund zur Vorderseite des Hauses zurückging, um weiterzuarbeiten. Er musterte Voff kritisch.
»Vielleicht sollte ich dich mal frisch machen. Wenn du gebürstet bist und dein Fell glänzt, wird Karina schon sehen, was du für ein schöner Hund bist.«
Er ging in die Wohnung und suchte etwas, womit er den Hund bürsten konnte. Unnötig zu sagen, dass er nichts in seinem eigenen Zimmer fand, aber in Karinas Schlafzimmer entdeckte er eine alte Haarbürste und einen geschnitzten Holzkamm. Er nickte zufrieden.
»Die beiden hat sie schon seit ewigen Zeiten«, sagte er. »Da ist es sicher in Ordnung, wenn ich sie ausleihe.«
Draußen machte er sich über Voffs Fell her, zog den Kamm und die Bürste durch den verfilzten Pelz und bürstete so nach und nach all die Kletten heraus, die sich darin angesammelt hatten, genau wie das abgestorbene, alte Haar. Das Tier brummte vor Wohlbefinden unter der Berührung der Bürste und beschwerte sich erst, als er das dicke, verfilzte Haar um die Ohren in Angriff nahm und dabei den Hundekopf zur Seite drückte. Voff hatte ein besonders dichtes Fell und so gab es auch besonders viel zu bürsten. Doch nach einer guten Stunde Bürsten und Kämmen, als Hals Arme schon von der Anstrengung schmerzten, glänzte ihr schwarzes Fell. Hal blickte ehrfürchtig auf den riesigen Stoß von ausgekämmtem Haar, der sich in kleinen Bergen um den Hund angesammelt hatte.
»Ich habe genug Fell für einen zweiten Hund hier«, stellte er fest.
Voff stieß ein zufriedenes Knurren aus.
»Wo im Namen von Boh-Raka hast du denn dieses Vieh gefunden? Und was ist es?«
Karinas Stimme klang scharf wie eine Peitsche. Hal drehte sich nervös um und erhob sich von dem niedrigen Hocker, auf dem er gesessen hatte. Seine Mutter war eine zierliche Frau, und immer noch ausgesprochen schön. Sie konnte allerdings auch außerordentlich einschüchternd sein, wenn sie wollte.
Und das wollte sie jetzt offensichtlich.
»Das ist ein Hund«, sagte Hal und versuchte ein einnehmendes Lächeln. »Eine Hündin, genauer gesagt.« Er deutete mit der Haarbürste auf das Tier. »Sieh dir nur an, wie ihr Fell glänzt.«
Karinas Augen wurden vor Wut groß, als sie die Bürste in seiner Hand sah. »Was hast du denn da? Hast du etwa dieses … Riesenvieh mit meiner Haarbürste gebürstet?«
Er blickte auf die Bürste, als bemerke er sie zum ersten Mal. »Sie ist ja schon alt«, sagte er. »Du hast sie schon seit Jahren. Ich wusste, dass es dir nichts ausmacht.«
»Und dir ist nicht vielleicht der Gedanke gekommen, dass ich diese Bürste seit Jahren besitze, weil es meine Lieblingshaarbürste ist?«, entgegnete sie eisig.
Hal machte überrascht einen Schritt zurück. Voff sah besorgt aus.
»Deine Lieblingsbürste?«, wiederholte er und zupfte verzweifelt an den dicken Klumpen von Hundehaar, die in den Borsten hingen. »Bestimmt ist sie immer noch in Ordnung.«
»Sie ist ruiniert!«
»Nein, nein«, sagte er und warf eine Handvoll Hundehaar hinter sich, als würde das verhindern, dass Karina sie sah. »Sie wird so gut wie neu sein, das verspreche ich. Ich hab sie im Handumdrehen wieder sauber. Siehst du?« Er hielt sie ihr entgegen, merkte, dass immer noch jede Menge Hundehaar darin steckte, und zog sie wieder zurück, zerrte weiter schwarzweiße Fellbüschel heraus.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich diese Bürste jetzt noch ein einziges Mal an mein Haar lasse?«, fragte sie. »Mich wundert ja nur, dass du nicht auch noch meinen guten Fichtenholzkamm genommen hast«, fügte sie bitter hinzu. Hal blickte auf den Kamm, der neben dem Hocker auf dem Boden lag. Schnell stellte er seinen Fuß darauf.
»Na ja, ich muss zugeben, dass ich danach gesucht habe. Aber ich konnte ihn nirgends finden. Vielleicht ist er verloren gegangen.« Und genau das wird auch passieren, dachte er, sobald du mir die Gelegenheit dazu gibst.
»Aber darum geht es jetzt ja gar nicht«, sagte Karina, die merkte, dass sie sich vom eigentlichen Thema entfernten. »Wo hast du denn dieses … dieses Untier gefunden?«
»Sie ist mir nach Hause gefolgt«, erklärte er.
Sie schnaubte abfällig. »Tja, ich hoffe, du hast sie nicht gefüttert«, sagte sie. »Wenn du sie fütterst, werden wir sie nie mehr los. Du hast sie doch nicht gefüttert, oder?«
Hal fand es sehr schwierig, ihrem durchdringenden Blick standzuhalten. Er schaute in den Himmel.
»Ein bisschen«, gab er schließlich zu. Dann suchte er verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln. »Mama, aber wer ist den Boh-Raka?«
Karinas Augen wurden schmal.
»Ein Temujai-Dämon, dem es Spaß macht, dumme Söhne mit einem Walnussstock zu schlagen«, antwortete sie. »Ich hoffe, du triffst ihn bald.« Dann deutete sie auf Voff. »Wie auch immer, ich will dieses Vieh hier nicht haben. Sie haart mir nur alles voll.«
»Nein!«, protestierte Hal. »Sie verliert nicht viele Haare.«
Karina deutete auf den Hof. »Also bitte, sieh dich doch nur mal um, wir stehen jetzt schon knietief in Hundehaaren. Du hast genug aus ihr herausgebürstet, dass es für zwei weitere Hunde reichen würde!«
»Na ja … für einen, vielleicht. Für einen kleinen. Zwei ist übertrieben.«
»Und wer soll hinter dem Tier sauber machen?«, fragte Karina.
Hal deutete mit der Haarbürste auf sich selbst und ließ sie schnell fallen, als er merkte, dass er seine Mutter so nur wieder auf ihre missbrauchte Bürste aufmerksam machte. »Ich mach das!«, rief er aus. »Versprochen!«
»Ha!« Karinas Stimme drückte Ungläubigkeit aus. »Die ersten ein, zwei Wochen vielleicht, ja. Aber dann bleibt die ganze Arbeit an mir hängen. Auf keinen Fall will ich das Tier hier haben. Außerdem frisst es uns arm. Und es riecht.«
Von der anderen Seite des Hauses hörten sie lautes Gelächter.
»Klappe, Thorn!«, rief Hal, doch das Gelächter wurde nur noch lauter. Dann bat er seine Mutter. »Bitte, Mama. Sie wird eine richtig gute Wachhündin sein. Und sie hält ungebetene Gäste fern.«
»Dafür haben wir schon Thorn«, sagte Karina. Das Gelächter von der anderen Seite verstummte abrupt.
»Mama, bitte. Sie hat sich in den Bergen verlaufen und keinen Platz, wo sie hinkann. Sie war so einsam und traurig. Sieh sie dir nur mal an.«
Karina musterte den Hund. Leider sah Voff genau in diesem Augenblick gar nicht einsam und traurig aus. Sie grinste und ließ erwartungsvoll die Zunge heraushängen. Zögernd tappte sie ein paar Schritte vor und streckte den Hals aus, um gestreichelt zu werden. Unwillkürlich streckte Karina die Hand aus und kraulte das Fell unter Voffs Kinn. Eigentlich ist sie recht hübsch, dachte Karina.
»Bitte, Mama? Sie kommt mit mir auf das Schiff. Sie wird ein richtiger Schiffshund sein. Und wir könnten einen Wachhund an Bord gebrauchen.«
Das ist vielleicht nicht verkehrt, überlegte Karina. Viele Wolfsschiffe hatten Hunde an Bord. Und ein Vieh dieser Größe würde Diebe fernhalten, wenn die Seevogel in einem fremden Hafen lag.