Bunte Steine am Weg - Gerhardt Staufenbiel - E-Book

Bunte Steine am Weg E-Book

Gerhardt Staufenbiel

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Beschreibung

Ex Oriente Lux – aus dem Osten kommt das Licht. Aber die Welt ist rund. Wenn man immer weiter nach Osten geht, kommt man schließlich wieder zu den abendländischen Ursprüngen zurück, die unser Denken geprägt haben. Die einzelnen Kapitel des Buches sind als Wegsteine auf den Wegen der letzten fünfzehn Jahre entstanden, gesammelt unterwegs in Dichtung und Philosophie des Abendlandes und des fernen Ostens. Sie entspringen der geistigen Auseinandersetzung mit den Texten, sind aber auch geprägt von den praktischen Erfahrungen auf den Übungswegen des japanischen Zen. Von den ältesten Zeugnissen der abendländischen Dichtung wie Hesiods Theogonie über Hölderlin und Rilke bis hin zum Daodejing des Laotse und den philosophischen Schriften von Zenmeister Dōgen oder der Poesie des mittelalterlichen japanischen Kōkin wakashū führen die Wege von West nach Ost und zurück von Ost nach West. So entsteht ein Dialog zwischen den scheinbar so unterschiedlichen Welten des Zen und des Abendlandes, der unserer Zeit Not tut.

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Bunte Steine am Weg

Von Gerhardt Staufenbiel

Buchbeschreibung:

Ex Oriente Lux – aus dem Osten kommt das Licht. Aber die Welt ist rund. Wenn man immer weiter nach Osten geht, kommt man schließlich wieder zu den abendländischen Ursprüngen zurück, die unser Denken geprägt haben.

Die einzelnen Kapitel des Buches sind als Wegsteine auf den Wegen der letzten fünfzehn Jahre entstanden, gesammelt unterwegs in Dichtung und Philosophie des Abendlandes und des fernen Ostens. Sie entspringen der geistigen Auseinandersetzung mit den Texten, sind aber auch geprägt von den praktischen Erfahrungen auf den Übungswegen des japanischen Zen.

Von den ältesten Zeugnissen der abendländischen Dichtung wie Hesiods Theogonie über Hölderlin und Rilke bis hin zum Daodejing des Laotse und den philosophischen Schriften von Zenmeister Dōgen oder der Poesie des mittelalterlichen japanischen Kōkin wakashū führen die Wege von West nach Ost und zurück von Ost nach West. So entsteht ein Dialog zwischen den scheinbar so unterschiedlichen Welten des Zen und des Abendlandes, der unserer Zeit Not tut.

Über den Autor:

Der Autor blickt auf eine Jahrzehnte lange Erfahrung als Philosophie Dozent zurück. Aber auch die japanischen Übungswege des Zen, der Teezeremonie und der Zen Shakuhachi als langjähriger Lehrer und Leiter des Myōshin An, des Dōjōs für Zenkünste habe sein Denken geprägt. Er ist Verfasser einer ganzen Reihe von Büchern über die Zenkünste, Hölderlin und Zenmeister Dōgen, die immer aus dem Dialog zwischen dem Abendland und dem fernen Osten geprägt sind.

Bunte Steine am Weg

Freies und unbekümmertes Wandern in der Welt des Geistes

im Abendland und im Fernen Osten

Von Gerhardt Staufenbiel

ISBN Softcover: 978-3-347-97917-8

ISBN Hardcover: 978-3-347-97918-5

ISBN E-Book: 978-3-347-97919-2

© 2023 Gerhardt Staufenbiel – alle Rechte vorbehalten.

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag , zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Wege des Wanderers

Süß ists, dann unter hohen Schatten von Bäumen

Und Hügeln zu wohnen, sonnig, wo der Weg ist

Gepflastert zur Kirche, Reisenden aber, wem,

Aus Lebensliebe, messend immerhin,

Die Füße gehorchen,

blühn schöner die Wege im Freien,

wo das Land wechselt wie Korn

Friedrich Hölderlin,

Entwurf zu „Griechenland“

Viel hat von Morgen an,

Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,

Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.

Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,

Ein Zeichen liegts vor uns

Friedrich Hölderlin – Friedensfeier

Inhaltsverzeichnis

Cover

Halbe Titelseite

Buchbeschreibung:

Über den Autor:

Titelblatt

Urheberrechte

1. Bunte Steine am Wegesrand

2. Langsam langsam kleine Schnecke.

3. Hesiod: Gesang der Musen

3.1 Mythos und Logos

3.2 Der Seher und Künder

3.3 Be-Geisterung

3.4 Die Musen: Vermittler von Himmel und Erde

4. DAŌ – der WEG

4.1 Daodejing Nr 1

4.2 Dao – Der WEG

4.3 Ewig oder All-gemein?

4.4 Finden der Spur

5. Zen-Meister Dōgen und das Üben der Zeit – U JI

5.1 Zenmeister Dōgen1 und die Zeit

5.2 Das Üben der Zeit

5.3 Eigenschaften der Tageszeiten

5.4 Gegensätze: Klarheit und das Wälzen im Grase

5.5 Buddha und der Wächtergott – Erweisen durch die Dinge

5.6 Sich Selbst erlernen heißt: sich selbst vergessen.

5.7 Hinz und Kunz und die „übernatürlichen Kräfte“

5.8 Die weite Erde und der leere Himmel

5.9 Das Üben der Leere: der Atem

6. Farbe und Farblosigkeit

6.1 Farbe und Farblosigkeit

6.2 Das IROHA

6.3 IRO - Farbe und Farbtöne

6.4 Farbe im Kōkin Wakashū1

6.5 Von der Farbe zur Farblosigkeit

6.6 Wabi und Farbe

7. Blühende Steine

8. Die Nonne Kenreimon

9. Die reißende Zeit und die Stille1

10. Sommerhitze1

11. Ryugin – Gesang der Drachen1

12. Cha Chan yi wie – Tee und Zen ein Geschmack1

12.1 Cha Chan yi wei

13. Schneeflocken am Yaoshan Tempel1

14. Die Shakuhachi und die Komusō Mönche

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14.1 Aufzeichnungen über das Spiel der Shakuhachi1

14.2 Gedanken über Sui - Zen, den „Blas - Zen“

15. Meigetsu no Uta – Lied unter dem Septembermond.

15.1 Oborotsuki

15.2A Ji Kan – Meditation auf den Laut A

16. Der Geist und die Buddhanatur

17. Zeit für Chanoyu

18. Drei Pfund Hanf

19. Klang und Stille

20. Komm! Ins Offene, Freund!

20.1 Mut

20.2 Der Hofmeister Hölderlin

20.3 Das Offene

20.4 Freunde und Gefährten

20.5 Das Individuelle und das Ganze

20.6 Die bleierne Zeit

20.7 Der Wunsch

20.8 Das Geringe

20.9 Der Brauch

20.10 Wechsel der Stimmungen

20.11 Heroisch, Idealisch, Naiv

20.12 Götter im Gasthaus

21. Hälfte des Lebens

21.1 Umkehrung der Philosophie – Sinnlichkeit

21.2 Der Geist: Einigkeit und Unterscheidung

21.3 Nachtgesänge

21.4 Jena Ende des 18. Jahrhunderts – Exkurs

21.5 „Realität“ in der Philosophie Kants

21.6 Die REALITÄT

21.7 Schön Herr! Schön!

21.8 Denken in Bildern – Sinnlichkeit

21.9 Hölderlin is it vrukt gwehn!1

21.10 Hölderlin in Japan

21.11 Gespräch mit Japan.1

22. Waltershausen1

23. Abschied – Rilkes vierte Duineser Elegie

24. Trink Tee – geh!

Bunte Steine am Weg

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

1. Bunte Steine am Wegesrand

24. Trink Tee – geh!

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Cover

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1. Bunte Steine am Wegesrand

In diesem Buch sind verschiedene Texte ausgewählt, die schon früher verstreut anderweitig publiziert wurden. Zum Teil stammen sie aus Rundbriefen, die an Freunde und Bekannte des Myoshinan1 verschickt wurden, zum Teil sind es einfach eigene Notizen.

Die Texte sind in der Mehrzahl in den letzten fünfzehn Jahren entstanden. Aus meiner langjährigen Tätigkeit als Philosophie Dozent existieren keine schriftlichen Aufzeichnungen mehr. Meistens haben wir gemeinsam nachgedacht und diskutiert. So waren die Auseinandersetzungen immer ganz spontan und aus dem Augenblick heraus. Den Seminar- und Kursteilnehmern bin ich zu großem Dank verpflichtet, denn ich habe vielleicht aus den Diskussionen am meisten gelernt.

Aber immer war es mir wichtig, dass nicht aus dem Kopf heraus gedacht wurde. Wir haben die Texte der frühen Vorsokratiker zwar auch in Seminarräumen diskutiert, davor aber haben wir die Landschaften erwandert und sinnlich die Welt erfahren, aus denen die Texte entstanden waren, und wir haben gemeinsam gefeiert und griechische Tänze getanzt.

So habe ich auch nicht nur philosophische Texte oder die Werke der Dichtung in den Seminaren behandelt. Mir war immer auch die Lebenspraxis wichtig. Aus meiner Begegnung mit dem Yoga ist eine Auseinandersetzung mit den Upanischads und dem Rigveda oder Patanjalis Yogasutra entstanden. Aber bald habe ich mit der Zen-Meditation begonnen. Japan und China haben mich immer mehr gefesselt als die Welt Indiens, obwohl ich eine Zeitlang an der Ausbildung von Yogalehrern mitgewirkt hatte. Die Zen-Künste des Teeweges übe und unterrichte ich nun seit über fünfzig Jahren. Texte, die ich zur Philosophie des Teeweges2 geschrieben habe, waren so speziell, dass sie im wesentlichen die Menschen interessieren werden, die sich selbst auf den Übungswegen des Zen befinden. Oft sind die Anmerkungen auch nur dann verständlich, wenn sie unmittelbar in der Praxis der Übungen gegeben werden. Aber dennoch ist nun, nach mehr als fünfzig Jahren Praxis, ein Buch über die Philosophie des Teeweges in Arbeit.

Meine Wege des Denkens und des Übens haben mich weit in die Welt des Abendlandes und des Fernen Osten geführt. Meine ersten Schritte des Denkens galten dabei den Vorsokratikern und dem alten griechischen Mythos. Leider ist eine Schrift über Hesiod und Homer bei Umzügen verloren gegangen. Aber den Text über Hesiods Musen habe ich eigens für dieses Buch aus der Erinnerung wieder aufgeschrieben.

Es ist eine Erinnerung an die vielen Wanderungen durch die Welt des Geistes und durch die wunderbaren Landschaften Griechenlands, fernab von den Zentren des Tourismus. Eigentlich kann ich sagen, dass Griechenland meine zweite Heimat ist.

Aber genauso gut könnte ich das auch von Japan sagen. Als ich das erste Mal nach Kyoto kam, hatte ich das merkwürdige Gefühl, als sei ich nach Hause zurückgekehrt. Inzwischen habe ich auf viele Reisen nach Japan, Korea und nach China den Zen und die Zenkünste kennengelernt und wunderbare Menschen getroffen. Von all diesen Begegnungen sind Texte entstanden, die wie die Bildstöcke in der Rhön sind, die an den Wanderwegen stehen und die Menschen begleiten. Ja, ich bin hier gewesen! Frei und unbekümmert über die Meinungen der Menschen bin ich auf meinen Wegen gewandert und habe bunte Steine als Erinnerung mitgebracht.

Es ist sicher eine Zumutung für den Leser, diesen verschlungenen Wegen zu folgen. Aber so entsteht vielleicht ein Dialog zwischen der Geisteswelt des Abendlandes und des Fernen Ostens, der geprägt ist von den praktischen Erfahrungen, die auf diesen Wegen gesammelt wurden.

Der Charakter der Texte sollte möglichst weitgehend erhalten bleiben. Darum sind manche Wiederholungen unvermeidlich. Sonst hätte der Text völlig neu geschrieben werden müssen und ein ganz anderes Buch wäre entstanden. Aber einige der Texte sind ohnehin zu größeren und eigenständigen Büchern geworden.

Die Texte sind wie bunte Steine, die meine Wege begleitet haben. Ich hoffe, dass ich noch viele bunte Steine sammeln kann.

Hoch über dem Tal

ziehen die weißen Wolken

sorglos ihre Bahn.

Auf duftenden Bergwiesen

spielt tanzendes Abendlicht.

Gesangeswolken

Decken den blauen Himmel

Preisen den Sommer.

1 Myoshinan ist der Name unseres Dōjō, in dem Teezeremonie und Shakuhachi geübt und unterrichtet wird.

2 www.teeweg.de/de

2. Langsam langsam kleine Schnecke.

Katatsumuri

sorosoro nobore

Fuji No yama

Die kleine Schnecke / ganz langsam steigt sie hinauf / auf den Berg Fuji.

Gestern beim Waldspaziergang ist uns eine kleine Schnecke über den Weg gelaufen. Mühselig kroch sie einen bemoosten Baumstumpf hoch. Würde sie jemals die Spitze erreichen? Sofort musste ich an das berühmte Haiku von Issa Kobayashi (1763 – 1827) denken.

Ich hatte einmal eine japanische Seidenweste geschenkt bekommen, in der im Innenfutter das Gedicht Issas eingewebt war:

Katatsumuri – sorosoro nobore – fuji no Yama.

Auf diese Weise war mir dieses Haiku förmlich „ans Herz gewachsen“. Immer, wenn ich vorwärts stürmen wollte und nicht schnell genug vorankam, musste ich an Issas Gedicht innen in meiner Weste denken.

Issa – sein Name bedeutet wörtlich ‚Ein Tee‘ – wurde auf dem Land in einer armen Bauernfamilie geboren, ging aber nach Edo, der Hauptstadt, die heute Tokio heißt, wo er ein Haiku – Dichter werden wollte. Wegen seiner Armut und seiner bäuerlichen Herkunft hatte er einen sehr schweren Lebensweg, aber er ließ niemals sein Ziel aus den Augen, ein bekannter und anerkannter Haiku – Dichter zu werden. Trotz aller Widrigkeiten ging er unbeirrt seinen Weg, bis er dann in seiner Heimat Kashiwabara eine Haiku – Schule gründete, die zahlreiche Haiku Gesellschaften ins Leben rief.

Die kleine Schnecke – Katatsumuri – geht langsam aber beständig – sorosoro – hinauf auf den Berg. Auch wenn der Weg am Anfang unüberwindlich scheint und das Ziel in unendlicher Ferne liegt – vielleicht sogar nur eine Illusion ist. Der Fuji San ist der heilige Berg Japans. Viele Menschen versuchen, auf seinen Gipfel zu wallfahrten. Aber es ist eine ungeheure Mühe und Anstrengung, nach oben zu kommen um der Gottheit, die auf dem Gipfel wohnt, nahe zu sein.

Aber vielleicht meinte Issa ja gar nicht den heiligen Berg Japans. Der heißt eher mit seinem ehrwürdigen Namen Fuji San.1

Im Ortsteil Asakusa in Edo (Tokio) liegt ein niedriger Erdhügel mit einem Shinto Schrein auf dem Gipfel. Dieser Hügel wird scherzhaft der Fuji Yama genannt.

Für die kleine Schnecke ist es ziemlich gleichgültig, ob sie den echten Fuji San oder den lediglich so genannten Fuji Yama besteigen will. Beide Ziele scheinen nahezu unerreichbar. Das Wesentliche ihres Weges ist, dass sie unentwegt und unverzagt unterwegs ist.

Martin Heidegger hat einmal an einen Studenten geschrieben, der später auch für eine Zeit lang mein Lehrer war: „Bleiben sie stets beirrt, aber immer unentwegt!“ Stets beirrt sein heißt, nicht blind vorwärts stürmen, ohne zu fragen. Immer offen sein für das, was uns am Wegesrand begegnet, auch oder gerade, wenn es völlig unerwartet kommt. Nur so bleibt der Blick frei für das Unerwartete und Neue. Wichtig ist nicht das Ziel. Es könnte sein, dass sich das Ziel im Laufe des Weges unversehens ändert. Wichtig ist es, stets unterwegs zu sein.

Nehmen wir uns ein Beispiel an der kleinen Schnecke: gehen wir, wenn auch langsam aber immer unentwegt hinauf! Irgendwann werden wir auf dem Gipfel des Fuji angekommen sein. Sei es der heilige Berg Fuju-San oder auch nur der Fuji-Yama.

Sorosoro – langsam, langsam.

1 Die Lesung Fuji-San würde nicht in das Versmaß des Haiku passen. Die Zeile mus als Fuji No yama gelesen werden. Nur dann ergeben sich die erforderlichen fünf Silben.

3.  Hesiod: Gesang der Musen

In seinem Gesang der Theogonie schildert Hesiod, wie ihn die Musen zum Dichter beriefen und wie sie mit ihrem Wort und dem Tanz die Vollkommenheit der entstandenen Welt feiern. Die Entstehung der Welt wird erst in den Werken der Musen und in ihrem Sagen und Singen vollkommen. Ohne den Gesang versinkt alles ins Vergessen. Auch die Götter selbst brauchen das Gedenken der Menschen im Gesang. Andernfalls verschwinden auch sie in der Dunkelheit des Vergessens.

Hesiods Gesang und die beiden Werke des Homer, die Ilias und die Odyssee gehören zu den ältesten erhaltenen Dichtungen des Abendlandes.

Anders als sein vermutlicher Zeitgenosse Homer spricht Hesiod von sich selbst. In der Theogonie berichtet er, wie ihn die Musen beim Hüten der Schafe zum Dichter gemacht und ihm ihre Stimme verliehen haben. In den ‚Werken und Tage‘ schildert er nicht nur das alltägliche Leben der Bauern, sondern berichtet auch von seinem Streit mit dem Bruder um das Erbe.

So haben wir eine Vorstellung von der Person des Dichters. Homer dagegen entzieht sich unserer Betrachtung. Ja, es ist Nichteinmal sicher, dass es eine Person mit dem Namen Homer gegeben hat. Die Vorstellung vom blinden Sänger Homer, der von der Insel Chios stammt, kommt aus dem homerischen Hymnus an Apollo. Dieser Hymnus aus der Sammlung der sogenannten homerischen Hymnen stammt mit Sicherheit nicht vom selben Verfasser wie die Ilias oder die Odyssee. Sie sind viel später entstanden und stammen von verschiedenen Rhapsoden. In diesem Hymnus nennt sich der Sänger selbst der ‚blinden Mann aus Chios‘.

Die frühen Gesänge und die homerischen Hymnen wurden von Rhapsoden zur Leier als Gesang vorgetragen. Rhapsode (altgriechisch ῥαψῳδός rhapsodós, von ῥάπτω rhápto „zusammennähen“, übertragen „zusammensetzen“, und ᾠδή odē „Gesang“) ist wörtlich einer, der die Gesänge aus verschiedenen Teilen zusammen ‚näht‘. Man kann in der Ilias deutlich Brüche erkennen, die zeigen, dass offenbar einzelne Verse und Strophen existierten, die der Rhapsode bei seinem Vortrag nach Bedarf zusammensetzte.

Hektor eilt mitten in der Schlacht zur Burg Troja, um die Schutzgöttin um Hilfe anzuflehen. Er wirft den ‚doppeltgebuckelten Schild‘ an seinem Halteband auf den Rücken und der Schild schlägt ihm beim Laufen an Nacken und Fersen. Es handelt sich offenbar um einen achtförmig eingebuchteten Schild mit zwei Buckeln, wie er in der früheren mykenischen Zeit benutzt wurde. In den nächsten Versen wird der Schild aber beschrieben wie der ‚moderne‘ Rundschild aus der Zeit Homers. Offenbar ist hier wie auch an vielen anderen Stellen auf bestehenden Bestand an Versen zurückgegriffen worden, die dann nicht ganz passend ‚zusammengenäht‘ wurden. Ich habe selbst noch erlebt, wie auf der Insel Karpathos die Sänger bei einem Osterfest zusammensaßen und sich gegenseitig mit Spottversen bedacht haben. Dabei griffen sie auf einen festen Bestand von Versen zurück, die dann mit winzigen Änderungen auf konkrete Begebenheiten angepasst wurde. Je geringer die Änderungen waren, desto größer war der Beifall.

Homer, sofern es überhaupt ein bestimmter individueller Mensch war und nicht eine Art Titel oder Berufsbezeichnung für fahrende Sänger, ist eher im Umkreis der Adligen und des gehobenen Bürgers zu suchen. Hesiod dagegen berichtet stolz, dass er beim Schafehüten den Musen begegnete, die ihn den Gesang lehrten.

Hesiod beginnt seinen Gesang, indem er die helikonischen Musen preist:

Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώμεθ‘ ἀείδειν,

αἵ θ‘ Ἑλικῶνος ἔχουσιν ὄρος μέγα τε ζάθεόν τε,

καί τε περὶ κρήνην ἰοειδέα πόσσ’ ἁπαλοῖσιν

ὀρχεῦνται καὶ βωμὸν ἐρισθενέος Κρονίωνος·

Die Musen des Helikon lasst mich beginnen zu singen Die auf des Helikons Höhn, den erhabenen, heiligen, wohnen Und um den bläulichen Quell mit sanft hingleitendem Fuße Schlingen den Tanz am Altare des Zeus, des gewaltigen Herrschers.

In allen Gesängen der frühen Zeit nennt das erste Wort den Gegenstand des Gesanges, hier also die Musen des Helikon. Aber der Gesang ist nicht das Ergebnis einer individuellen Bemühung des Sängers. Er ist der Gesang der Musen selbst.

Homers Ilias beginnt mit der Anrufung der ‚Göttin‘

Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληιάδεω Ἀχιλῆος

Der Zorn singe Göttin des Peliden Achill

Gegenstand des Gesanges ist nicht der Krieg um Troja, sondern der Zorn des Achill. Der entsteht, als Agamemnon die schöne Briseis, die Zeltgenossin des Achill, für sich beansprucht. Als der Zorn des Achilleus verschwunden ist, endet der Gesang. Dieser Gesang ist nicht Homers eigene Leistung. Die ‚Göttin‘ wird gerufen, den Zorn des Achilleus zu singen. Alles, was folgt, ist der Gesang der Göttin.

Die Odyssee, der Gesang vom Schicksal des Odysseus auf seinen Irrwegen nach dem Ende des trojanischen Krieges beginnt ebenfalls mit der Nennung des Themas des Gesanges:

Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον,

Den Mann nenne mir Muse, den vielwendigen

Hesiod scheint sich an die gängige Konvention zu halten, indem er den Gegenstand seines Gesanges nennt.

Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώμεθ‘ ἀείδειν

Die Musen des Helikon lass mich beginnen zu singen

Aber Hesiod bricht in mehrfacher Weise mit der homerischen Tradition. Der Gesang gilt den Musen des Helikon. Vermutlich sind die helikonischen Musen eine Neuerung des Hesiod. Bisher galten die Musen als Bewohnerinnen des Olymp, des Götterberges, auf dem auch Zeus und die anderen olympischen Gottheiten residieren. Die Musen sind olympische Musen, die direkt am Haus des Zeus wohnen. Wohl niemand kannte vor Hesiod die Musen des Helikon, des Gebirges, in dessen Gebiet Hesiod lebte und seine Schafe hütete.

Hesiod bittet in diesem Prooimion, dem Vorgesang vor der eigentlichen Theogonie, die Musen nicht darum zu singen, er singt selber. Er singt, wie ihn die Musen des Helikon, denen er am Hang des Helikon beim Schafehüten begegnet, zum Sprecher machen, der wie ein alttestamentlicher Prophet die Wahrheit kündet.

αἵ νύ ποθ‘ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν,

ἄρνας ποιμαίνονθ‘ Ἑλικῶνος ὕπο ζαθέοιο.

Diese nun lehrten einst den Hesiodos schöne Gesänge,

Während er Lämmer am Fuß des geheiligten Helikon weidet‘.

Der Helikon ist der Gebirgszug unweit von Theben. Heute ist das eine abgeschiedene Gegend, weitab von den Zentren des Tourismus. Die meisten Besucher zieht es weiter nach Norden an den Abhang des Parnass mit den Ruinen von Delphi.

Vermutlich dort, wo Hesiod den Musen begegnet sein will, entstand später ein großes Musenheiligtum. Dort gab es einen Tempel und ein Theater und viele kleinere Gebäude. Vom Heimatort Hesiods Askra existierte schon in der Antike nur noch ein viereckiger Steinturm. Das Musenheiligtum an einem Abhang gelegen, schlummert immer noch unter der Erde. Kein Archäologe hat die Stätte durch seine Grabungen entweiht. Immer noch weiden Schafe und Ziegen an den Hängen. Zu Fuß ist man fast zwei Stunden von der letzten Siedlung bis zum Musenheiligtum unterwegs. Nur wenn man genau hinschaut, kann man die Spuren von Tempeln und von einem kleinen Theater unter den Formen des Hanges erkennen. Dort schläft in den verborgenen Ruinen als Zeugnis einer großen Vergangenheit der Geist der Musen.

3.1 Mythos und Logos

Dort hatte Hesiod die Schafe geweidet, als ihn die Musen ansprachen. Aber sie sind nicht besonders freundlich. Im Gegenteil, sie beginnen die Begegnung mit einer heftigen Beschimpfung.

τόνδε δέ με πρώτιστα θεαὶ πρὸς μῦθον ἔειπον,

Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο·

„ποιμένες ἄγραυλοι, κάκ‘ ἐλέγχεα, γαστέρες οἶον,

Dies Wort sprachen jedoch zu mir die olympischen Musen Dort vor allem, die Töchter des aigistragenden Herrschers: „Hirten der Flur, unwürdiges Volk, nichts weiter als Bäuche!

Hesiod wird aus dem Gewohnten herausgerissen mit dem Vorwurf, dass er und die anderen Hirten lediglich an ihre Bäuche denken, aber das Göttliche vergessen. Wie sehr würden uns die Musen heute beschimpfen, wenn sie unsere materialistische Welt erleben würden. Aber sie sind schon längst zusammen mit den anderen antiken Göttern im Vergessen versunken.

Nach diesem heftigen Beginn stellen sie sich selbst und ihre Tätigkeiten vor.

ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα,

ἴδμεν δ‘ εὖτ‘ ἐθέλωμεν ἀληθέα γηρύσασθαι.“1

ὣς ἔφασαν κοῦραι μεγάλου Διὸς ἀρτιέπειαι

Wir verstehn viel Falsches zu sagen, das Wirklichem gleichet,

Wir verstehen jedoch, so wir wollen, zu künden auch Wahrheit.“

Also sprachen die Musen, des Zeus wohlredende Töchter

Sie treten keineswegs mit dem Anspruch auf, die Wahrheit zu künden. Viel eher noch aber wissen sie, viel Pseudos zu sagen (ψεύδεα πολλὰ λέγειν) das so aussieht, als sei es die Wahrheit. Aber sie können auch – wenn sie es denn wollen – die Wahrheit künden ἀληθέα γηρύσασθαι- aletheia gerysasthai. Sie lassen die Wahrheit ‚erklingen‘ - γηρύσασθαι gerysasthai. In einem anderen Manuskript steht stattdessen das Verb μυθήσασθαι – mythäsasthai, Infinitiv von μῡθέομαι • (mūthéomai) - sagen.

μόσχος γαρύεται

Beide Worte, sowohl Logos als auch Mythos bedeuten das Wort. Als dritte Bezeichnung für eine spezielle Art des Wortes ist Epos, das Wort, das von historischen Geschehnissen berichtet. So sind etwa die Ilias und die Odyssee Epos. In der späteren Philosophie wird der Logos, das logische Wort mit der Wahrheit gleichgesetzt. Mythos dagegen ist eher ein verworrenes und falsches Wort. Es sagt Geschichten von Göttern, die sich als gelogen oder erfunden erweisen. Die Sonne gilt nicht mehr als der feurige Wagen, mit dem der Gott Helios über den Himmel zieht. Helios steigt am Abend nicht mehr in einen Dreifuß im Okeanos, dem Urmeer, das die Erdscheibe ringförmig umspannt und kommt nicht mehr am Morgen auf der anderen Seite des Okeanos wieder aus dem Meer hervor. Vielmehr wird die Sonne als ein glühender Stein gesehen, der seine Kreisbahn um die Erdkugel zieht, die kein fester Sitz für Götter und Menschen mehr ist. Im mythischen Denken weiß man, dass Poseidon wütend ist, weil das Meer tobt. „Poseidon ist wütend. Woher weißt du das? Weil das Meer tobt. Warum tobt das Meer? Weil Poseidon wütend ist.“

Das Sagen der Musen ist ausgespannt zwischen dem Logos, dem legein, dem ‚sagen‘ und dem Unverborgenen, der Aletheia, der Wahrheit, die im mythischen Wort verkündet wird.

Damit stehen sie im Gegensatz zum gesamten Denken des Abendlandes, das den Logos höher schätzt als den Mythos. Für Hesiod sagen die Musen im Logos das Pseudos, das so aussieht, als wäre es wahr, aber das absichtlich in die Irre führt. Logos ist verwandt mit legein, das sich im deutschen Wort ‚legen‘ findet. Logos legt zurecht, indem er ordnet, was zusammengehört. Es ist die ‚Lese‘, in der Zusammengehöriges zusammen gelesen, ausgelesen und ausgelegt wird. Dazu ist eine Überlegung nötig, die logische Zusammenhänge voraussetzt. Aber sind unsere Überlegungen immer rein rational, frei von persönlichen Vorurteilen, Ängsten und Vorlieben?

Auch im deutschen Wort ‚lügen‘ ist das legein enthalten. Um gut lügen zu können, muss man sehr logisch denken, andernfalls verwickelt man sich in Widersprüche und die Lüge wird aufgedeckt.

Als Odysseus nach zwanzig Jahren Abwesenheit wieder nach Hause kommt, erkennt ihn seine Gattin Penelope nicht wieder. Odysseus muss sich zunächst noch versteckt halten, weil die Freier nach seinem Leben trachten würden. Deshalb erzählt er Penelope, er sein ein kretischer Prinz, der Odysseus getroffen hat, der also noch am Leben ist. Dabei schildert er alles streng nach der Wahrheit. Er beschreibt genau das Gewand des Odysseus, das einst Penelope selbst gewebt hatte. Er hält sich ganz eng an die Wahrheit, aber der entscheidende Punkt seiner Lüge ist es, dass er nicht sagt, dass er selbst Odysseus ist. Er sagt vieles pseudos, das so klingt, als sei es die Wahrheit, aber alles ist gelogen. Aber das bringt sein Gegenüber nicht in die Befreiung vom Leid, sondern hält es fest in der Trauer.

Die persönliche Betroffenheit bringt Odysseus dazu, die Wahrheit so zu verbiegen, dass seine Worte wie die Wahrheit klingen, aber sie sind gelogen. Die Polizei weiß bei den Vernehmungen, dass die Aussagen von Augenzeugen oft ungenau sind. Sie sind eine Mischung aus tatsächlich Gesehenem und der persönlichen Wahrnehmung, die durch individuelle Einflüsse verbogen ist und die Wahrheit verstellt. Dabei hat oft jeder Augenzeuge eine ganz persönlich gefärbte Wahrnehmung und Erinnerung an das scheinbar Gesehene. Unterschiedliche Augenzeugen ‚sehen‘ ganz andere Dinge.

In der altgriechischen Welt bietet nur der Sänger oder der Seher die Gewähr dafür, dass sein Sagen frei ist von persönlicher Färbung. Deshalb sind oft sowohl der Seher als auch der Sänger blind. Sie sehen nicht das, was direkt vor Augen liegt und deshalb von Persönlichem gefärbt ist. Die Wahrheit zu künden verlangt, dass der Künder frei vom Ego und frei von eigener Betroffenheit ist.

In der Odyssee ist es der blinde Sänger Demodokos am Hofe des Phäaken Königs Alkinoos, der die wahre Identität des unbekannten Gastes offenbart. Odysseus ist unerkannt bei Alkinoos angekommen und die Gesellschaft sitzt beim Mahl. Nach dem Mahl wird der blinde Demodokos von der Muse getrieben. Er greift zur Leier und singt die Geschichte vom trojanischen Pferd, mit dem Odysseus geholfen hat, den Krieg um Troja zu beenden. Er, der blinde Sänger, ist der Einzige, der ‚sieht‘, wer der Fremde wirklich ist.

Es ist bezeichnend, dass sich Odysseus das Gewand über den Kopf zieht, damit niemand sieht, dass er weint. Er wird als gegenwärtige Person unsichtbar. Aber dadurch, dass er sich der Sichtbarkeit entzieht, macht er sichtbar, wer er wirklich ist. Erst der Gesang und sein schluchzendes Weinen decken auf, wer er wirklich ist, denn nun fragt Alkinoos nach, wer denn sein Gast ist, der da bei den Geschichten um Troja so heftig weint. Der Sänger holt, von der Muse getrieben mit seinem Gesang das Vergessene und Verdeckte hervor aus der Lethe, ‚der Vergessen‘ in die A-letheia, das Nicht-Vergessen, die Wahrheit.

Wahrheit im altgriechischen Sinne ist a-letheia, die Ἀλήθεια Aletheia. Martin Heidegger hat als Erster die Etymologie des Wortes gedeutet. Nach ihm ist das Wort zusammengesetzt aus dem Alpha privativum, ein ‚beraubendes Alpha‘, das dem nachstehenden Wort die Existenz ‚raubt. Damit ist das Alpha privativum eine Verneinung. Der zweite Teil des Wortes nennt die Lethe Λήθη, die Göttin des Vergessens. In der Unterwelt fließt der Fluss Lethe, der nach ihr benannt ist. Die toten Seelen, die diesen Fluss auf ihrem Weg in die Unterwelt überqueren müssen, vergessen alles, was sie vorher erlebt haben. Als Schatten leben sie dann ohne Erinnerung in der Unterwelt. Sie haben sogar ihren Namen und ihr Selbst vergessen. Die Sänger und die Seher sorgen durch ihr Wort dafür, dass die Dinge nicht in dieses tödliche Vergessen absinken. Das Gegenteil des Vergessens ist das Nicht-Vergessen, die A-letheia A-λήθεια. Es ist die große kulturelle Leistung des Sängers, die Dinge vor dem Vergessen zu bewahren, indem sie immer wieder in Erinnerung gerufen werden, auch wenn das manchmal sehr schmerzhaft ist.

Der homerische Hymnus an Apollon beginnt genau mit dieser Kulturleistung des Erinnerns:

Μγήσομαι οὐδὲ λάθωμαι ςιλλ ιψη Ἀπόλλωνος ἐκάτοιο Gedenken und nimmer vergessen Apollons des Schützen ins Weite

Der Gesang des Sängers entspringt nicht der persönlichen Betroffenheit oder dem persönlichen Interesse des Sängers. Er ist getrieben, das, was ihn nicht persönlich, sondern die Allgemeinheit betrifft zu künden. Sie künden nicht im logos, der dem eigenen Überlegen entspringt, sie künden im mythischen Wort, im Mythos.

3.2 Der Seher und Künder

Hesiod beendet seinen Bericht von der Begegnung mit den Musen, indem er berichtet, wie er den Stab des Sehers oder des Redners bekommt.

καί μοι σκῆπτρον ἔδον δάφνης ἐριθηλέος ὄζον

δρέψασαι, θηητόν· ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν

θέσπιν, ἵνα κλείοιμι τά τ‘ ἐσσόμενα πρό τ‘ ἐόντα,

καί μ‘ ἐκέλονθ‘ ὑμνεῖν μακάρων γένος αἰὲν ἐόντων,

σφᾶς δ‘ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν.

ἀλλὰ τίη μοι ταῦτα περὶ δρῦν ἢ περὶ πέτρην;

Ließen zum Stabe mich dann vom frisch auf grünenden Lorbeer Brechen den herrlichsten Spross und hauchten des göttlichen Sanges

Kraft mir ein, zu verkünden die Zukunft wie das Vergangne,

Hießen mich dann, die Geschlechter der ewigen Götter besingen,

Doch ihr eigenes Lob als Anfang nehmen und Ende. - Aber wie komm‘ ich da auf den Eichbaum oder den Felsen? -

Offenbar mit Erlaubnis oder sogar nach Aufforderung durch die Musen bricht sich Hesiod den Stab aus Lorbeer. Damit unterscheidet er sich deutlich vom homerischen Rhapsoden oder Kitharöden, die ihren Gesang mit der Leier begleiten. Man hat vermutet, dass Hesiod deshalb den Stab des Sprechers wählt, weil er in seinem eher bäuerlichen Umfeld das Spiel der Leier nie gelernt hat. Der Stab dagegen ist bekannt aus der Ratsversammlung der Bürger. Wer in der Mitte der Versammlung stand und den Stab in der Hand hatte, der hatte das Rederecht. Der nächste Redner durfte erst dann sprechen, wenn ihm zuvor der Rednerstab übergeben wurde. Der Stab heißt σκῆπτρον skēptron. Meistens gilt das Zepter als ein Zeichen der Macht.

Der Stab aus dem Lorbeerbaum geschnitten rückt Hesiod durchaus in die Nähe Apollons und der delphischen Pythia, der Priesterin des Apoll, die aus dem Lorbeer ihre Spräche verkündet. Die Wahl des Stabes an Stelle der Leier ist kein Zeichen der Bescheidenheit. Vielmehr beansprucht Hesiod für sich, mit den heiligen Sehern gleichgestellt zu werden.

Tatsächlich waren die Hirten, die allein mit ihren Herden in der Einsamkeit der Berge lebten, ganz besondere Menschen. Es mag nun gut fünfzig Jahre her sein, dass ich eine berührende Begegnung mit einem Hirten hatte. Es war auf dem Weg oberhalb der Festung Mykene. Wir waren auf der Wanderung zum Berggipfel, auf dem die Überreste eines mykenischen Wachpostens zu finden sind. Die Landschaft um die antike Festung ist fast magisch. Das bemerkt man nicht, wenn tagsüber Scharen von Touristen durch die Ruinen klettern.

Aber einmal waren wir bei Einbruch der Nacht in der Burg. Wir konnten durch einen alten, verborgen gelegenen Ausfallsgang in die Festung kriechen. Es war totenstill. Nur auf der Mauerkrone saß ein Käuzchen oder eine Eule, die mit ihren Rufen die Stille brach. Die Stimmung war unheimlich. Es war, als wäre Agamemnon selbst aus dem Grabe gestiegen und er machte seinen nächtlichen Rundgang durch seine Festung. Wir flohen förmlich aus dem unheimlichen Ort. Aber zu allem Unglück führt der Weg zurück ins Dorf vorbei an einem Friedhof, auf dem die Totenlichter flackerten. Die ganze Nacht rüttelte der Sturm an den Fensterläden. Erst in der Morgendämmerung wurde es still. Das Licht kehrte zurück.

Der Hirt, den wir trafen, hütete seine Schafe und Ziegen an einer kleinen Quelle, die einen Wassertrog speiste. Freundlich fragte er nach unserem Weg und erklärte, wie wir am besten zum Gipfel kämen. Plötzlich veränderte er sich. Er sprang auf den Wassertrog und von dort auf einen großen Felsen. Dort reckte er seinen Hirtenstab weit in den Himmel und begann mit einer Predigt, die er scheinbar schon oft in der Einsamkeit der Berge gesungen hatte. Wie ein alttestamentlicher Prophet stand er da mit seinem drohend erhobenen Stab und predigte von der Zerstörung der Natur. Wir zerstören mit unseren Traktoren und Maschinen die Natur. Aber die wird sich an den Menschen rächen und es wird fürchterliche Hungersnöte geben, weil die Erde keine Früchte mehr tragen wird. Als er mit seiner Predigt fertig war, stieg er wieder vom Felsen herunter und war wieder der freundliche Hirt von vorher. Waren ihm etwa in den Bergen die Musen begegnet?

Eine andere, fast mystische Begegnung hatten wir im Psiloritis Gebirge in Kreta auf dem Weg zur idäischen Grotte, in das Zeus – Baby vor den Nachstellungen des Kronos verborgen worden war. Wir hatten den Weg verpasst und es wurde dunkel. Mitten in der Wildnis fanden wir einen Unterstand eines Hirten, der zwar verlassen, aber der weich mit Decken ausgelegt war. Mitten in der finsteren Nacht ertönte plötzlich eine wundervolle, absolut virtuos gespielte Melodie einer Hirtenflöte. Es war eine geheimnisvolle, fast göttliche Stimmung. Kein Mensch war zu sehen, nur die zauberhaften Klänge der Hirtenflöte füllte die Nacht. Die Felsen reflektierten den hellen Klang der Flöte und es war keine Richtung festzustellen, aus der die Klänge kamen. Es war, als würde der gesamte Nachthimmel singen und tönen.

Die Hirten fertigten sich früher selbst solche Flöten aus großen Vogelknochen, vielleicht sogar einem Adlerknochen. Die Töne waren in reinen Quinten abgestimmt. Diese reinen Töne sind über viele Kilometer in den einsamen Bergen zu hören zugleich bearbeitet der Hirt in jahrelanger Arbeit die Glocken seiner Schafherde, bis sie absolut rein mir seiner Flöte zusammenklangen. Wir hatten einmal auf der Hochebene des Parnass über Delphi bei einem Hirten übernachtet. Am Morgen zog er mit seiner Herde los. Dann traf er auf einen anderen Hirten mit dessen Herde. Die Glocken der beiden Herden erzeugte schmerzhafte Misstöne, aber langsam trennten sich die beiden Herden wieder. Nun klangen beide Herden wieder in ihrer reinen Melodie. Die Hirten hatten niemals eine musikalische Ausbildung genossen. Es war nur die Natur (und die Musen – ?), die sie lehrten und zu virtuosen Musikern werden ließ.

Hesiod bekommt von den Musen den Stab des Sprechers nicht einfach überreicht. Sie erlauben ihm, den Stab selbst zu brechen und zuzuschneiden. Das ist teilweise heute noch unter den Hirten und Musikern in Griechenland üblich. Ich kannte einen Hirten in Kreta, der wundervoll die Lyra spielte. Ich war so fasziniert, dass ich ihn fragte, ob ich das auch erlernen könnte. Aber der Hirte sagte mir, dass es ein Problem sei, eine geeignete Lyra zu finden. Er selbst wusste schon als Kind, dass er einmal die Lyra spielen würde. Ein anderer Hirt unterrichtete ihn, aber er hatte kein eigenes Instrument. Dazu wanderte er viele Jahre in den Bergen und Suchtee nach einem geeigneten Baum, aus dem er selbst das Instrument schnitzen könnte. Es dauerte fast zehn Jahre, bis er endlich den richtigen Baum fand. Auch Lyra-Spieler auf der Insel Karpathos erzählten mir dieselbe Geschichte. Es hatte viele Jahre gedauert, bis sie den richtigen Baum für ihr Instrument fanden. Nachdem sie ihr Instrument gebaut hatten, waren sie auch bereit, Anderen das Spiel zu zeigen.

3.3 Be-Geisterung

Die Berufung als Seher und Künder ist erst vollständig, nachdem die Musen dem Hesiod den Atem in die Kehle blasen, mit dem er den Gesang formen und ihm Stimme geben kann.

ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν θέσπιν,

(sie) hauchten mir Athem ein für den göttlichen Gesang.

Das ‚Einhauchen‘ – das ἐνέπνευσαν δέ μοι - ennepneusan de moi ist das Einhauchen des Pneuma - πνεύμα. Pneuma ist der Wind, Luft, der Atem, der durch die Kehle strömt. Wenn der Atem die Kehle durchströmt, ist der Mensch lebendig und kann denken und wahrnehmen. Dann ist Pneuma auch der ‚Geist‘.

Als die Apostel an Pfingsten versammelt sind, kommt der Heilige Geist, der Pneumatos Hagios wie ein heftiges Brausen in Form von feurigen Zungen über sie und sie beginnen, in Zungen zu reden.

Und erfüllt wurden alle vom Heiligen Geistatem (Pneumatos Hagios) und begannen zu sprechen in verschiedenen Zungen wie der Geistatem es ihnen auszusprechen gab.

Die Zungen, in denen sie reden, sind keine fremden Sprachen, so wie sie in unterschiedlichen Weltengegenden gesprochen werden. Es ist wohl eher ein Stammeln, ähnlich wie die Pythia in Delphi nur noch stammeln kann, wenn sie vom Geist der Wahrsagung ergriffen ist. Nur die geschulten Priester können die Sprache der Pythia verstehen und übersetzen. Speziell geschulte Priester übertragen dann die Worte in wohlgeformte Hexameter. Das klingt einfach schöner als das Gestammel einer vom Braus erfüllten.

Das birgt einige Gefahren in sich, in denen die ‚Botschaft‘ verfälscht werden kann. In Platons Dialog Ion unterhält sich Sokrates mit dem Rhapsoden Ion, der zugesteht, dass er selbst nicht derart von der Muse ergriffen ist, dass er zum Dichter würde. Aber indem er Homers Gesänge vorträgt, ergreift ihn bei traurigen oder schrecklichen Stellen die Furcht. Er beginnt zu zittern. Durch seinen professionellen Vortrag überträgt er diese Furcht und den Schrecken auf seine Zuhörer. Würde er sie stattdessen zum Lachen bringen, so würde er sein Geld verlieren. Es ist also ein rein kommerzielles Interesse, dass der die Stimmungen des Gesanges auf das Publikum überträgt.

Sokrates vergleicht den Vorgang mit den eisernen Ringen, die von den Eingeweihten im Mysterienkult der Kabiren1 auf der Insel Samothrake getragen werden. Wird einer der Eingeweihten vom Geist ergriffen, so wird er wie der eiserne Ring, der mit einem Magneten in Kontakt kommt, von einer mysteriösen Kraft ergriffen. Berührt er mit seinem Ring den eines anderen Menschen, so wird auch der magnetisch. So wird die göttliche Kraft auch auf weit entfernte Menschen übertragen. Ist aber auch nur einer der Ringe nicht aus dem entsprechendem magnetischen Material, so wird die Kette der Übertragung der göttlichen Kraft unterbrochen. Auch wenn der Ring aus scheinbar kostbarem Material, wie Gold oder Messing besteht, so sieht er zwar edel aus, aber die göttliche Kraft wohnt nicht in ihm.

Wenn dann einer der Rhapsoden nur so tut, als sei er vom Geist ergriffen, sei es aus kommerziellem Interesse oder weil er einfach die Kraft nicht in sich spürt, so wird die Gemeinschaft der Zuhörer in die Irre, in den Pseudos geführt. Es ist schwer zu erkennen, ob der Redner oder der Sänger von der echten göttlichen Kraft ergriffen ist, oder ab er lediglich so tut. Schließlich gibt es keine Ausweispapiere, mit denen man seine authentische Erfahrung belegen kann. Es bleibt immer der Woche Geist nötig, mit dem man das Pseudos erkennt. Auch wenn die Gefahr besteht, sich zu ver-hören.

Im Alten Testament ist der Geist Gottes der Ruach, der Wind. Martin Buber übersetzt den Ruach Gottes nicht als Geist, der sanft über den Wassern schwebt. Es ist der Sturmbraus, schwingend über dem Antlitz der Wasser.

Buber schreibt zu Luthers Übersetzung in seinen Schriften zur Bibelübersetzung:

In Luthers Übersetzung des Alten Testaments endet in den 1528 erschienenen Ausgaben der 2. Vers der Genesis so:

»und der Wind Gottes schwebet auff dem wasser«; aber am Rand steht: »Wind oder Geist«. Diese Randbemerkung ist eine Frage. Sie hat Luther noch lang beschäftigt. In den Genesis-Predigten von 1527 sagt er:

»Fein were es, das es geist hiesse, so kuend mans also verstehen, das Gott die Creatur, die ergeschaffen hatte, unter sich genommen habe, wie eine henne ein eye untersich nympt und Huenlein ausbruet. Doch ich wil es lieber also lassen blei-ben, das es ein wind heysse. Denn ich wollt gerne, das die drey Person ynn der Gottheit hie oerdentlich nach einander angezeyget würden.“1

Gott bläst Adam diesen Ruach in die Nase, so daß er fortan lebendig ist und vom Geist erfüllt bleibt. Wenn der Atem, der Ruach oder das Pneuma aufhört, durch die Kehle zuströmen, so gibt es auch kein Wort mehr, denn nicht nur die Stimme verschwindet, sondern auch das Leben und damit der Geist selbst, der vernimmt und erkennt.

Die Ruach Gottes ist im Alten Testament keineswegs ein sanftes Lüftchen. Es ist nicht der Geist, der über den Wassern schwebt, es ist ein Sturmbraus. Buber übersetzt:

Aus Band 14 Schriften zur Bibelübersetzung, Martin Buber

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.

Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.

Dieser Braus ist es auch, der die Propheten vom Erdboden hochreißt, wenn sie Gottes Stimme hören. Rilke dichtet in seiner ersten Duineser Elegie:

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur

Heilige hörten: Daß sie der riesige Ruf

Aufhob vom Boden; sie aber knieten,

Unmögliche, weiter und achtetens nicht:

So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest

die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre,

die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.

Die Begegnung mit den Musen, wie auch immer sie in der Realität ausgesehen haben mag, ist kein sonntagnachmittags Spaziergang. Sie verändert das Leben Hesiods, der nun nicht mehr als anonymer Ziegenhirte durch die Berge zieht. Fortan steht er mit dem Stab des Sehers erfüllt vom Geist der Musen da und erhebt seine Stimme zum Lobgesang auf die Götter.

Auch Moses, der nach seiner Flucht aus Ägypten die Schafe seines Schwähers hütet, wird herausgerufen. Moses sieht den brennenden Dornbusch. Neugierig tritt er näher, aber da hört er die Stimme, die ihn beschimpft. Vor allem aber hört er seinen Namen rufen: „Moshe, Moshe!“ Und Moses erstarrt und kann nur noch sagen: „Da bin ich!“ Jetzt ist er gerufen und bekommt eine Aufgabe, die er aber für unmöglich hält. Er soll das Volk der Israeliten aus Ägypten herausführen.

Würden wir heute den Namen Hesiod kennen, wenn er nicht von den Musen herausgerufen worden wäre?

Hesiod bricht seinen Bericht von der Begegnung mit den Musen abrupt ab mit den Worten: “Aber was red ich da von Eichbaum oder Felsen.“

Vermutlich hat er schon viel zu viel über sich selbst geredet. Nun geht es darum, die Musen zu preisen.

Dann beginnt Hesiod damit, seinen Auftrag auszuführen, die heli-konischen Musen zuerst und zuletzt zu preisen:

Μουσάων ἀρχώμεθα, ταὶ Διὶ πατρὶ

ὑμνεῦσαι τέρπουσι μέγαν νόον ἐντὸς Ὀλύμπου,

εἴρουσαι τά τ‘ ἐόντα τά τ‘ ἐσσόμενα πρό τ‘ ἐόντα,

φωνῇ ὁμηρεῦσαι, τῶν δ‘ ἀκάματος ῥέει αὐδὴ

ἐκ στομάτων ἡδεῖα· γελᾷ δέ τε δώματα πατρὸς

Ζηνὸς 1

Auf du, lass von den Musen beginnen uns, welche dem Vater Zeus den erhabenen Sinn mit Sang im Olympos vergnügen, Kündend die Gegenwart und die Zukunft und das Vergangne, lieblichen Einklangs voll; und nimmer ermüdender Wohllaut Strömt vom Munde; der Saal des gewaltigen Donnerers lachet

Die Musen, die nun die olympischen Musen heißen, künden das, was ist, was sein wird und was gewesen – εἴρουσαι τά τ‘ ἐόντα τά τ‘ ἐσσόμενα πρό τ‘ ἐόντα – eirousai ta t‘ essomena pro t‘ eonta. Damit sind sie keine ‚Unterhalterinnen, die lediglich zur Unterhaltung singen, sie sind wie die Seher, von denen immer in derselben Formel berichtet wird. Der Seher Teiresias in Theben sieht ebenfalls, was war, was ist und was sein wird. Das, was ist, liegt unmittelbar vor Augen, aber die meisten Menschen können es nicht sehen, weil sie in ihrem persönlichen Wollen blind sind, für das, was wirklich ist. Die Musen singen nicht nur das, was ist, sondern auch das, was gewesen ist. Das, was ist, besteht ja nicht unabhängig für sich. Es entspringt dem Vergangenen. Man kann das, was ist eigentlich nur zu verstehen, wenn man das Gewesene erkennt. Darum ist das Studium der Geschichte so wichtig. Es geht dabei nicht nur um die Vergangenheit. Sie ist es, die zugleich die Gegenwart, aber auch die Zukunft bestimmt.

Es sind zwar neun Musen, wie Hesiod später berichten wird, aber ihre Stimme klingt wie eine: φωνῇ ὁμηρεῦσαι – phone homereusai. Die Musen geben dem Hesiod den Auftrag, genau das zu tun, was sie selbst auch tun, nämlich zu künden, was war, was ist und was sein wird. Und ihre Stimmen klingen zusammen wie eine: φωνῇ ὁμηρεῦσαι Die Stimme, die nun nämlich kündet, stammt zwar von den Musen, aber es ist die Stimme, die sie dem Hesiod als Pneuma in die Kehle gehaucht haben.

3.4 Die Musen: Vermittler von Himmel und Erde

Wie jeder klassische Hymnus, der die Götter preist, beginnt der Gesang nun, von den Taten und Fähigkeiten der Musen zu berichten. Die Musen singen und tanzen und preisen die Götter, aber auch die Menschen.

Hesiod muss nun auch von der Geburt der Musen berichtet.

τὰς ἐν Πιερίῃ Κρονίδῃ τέκε πατρὶ μιγεῖσα

Μνημοσύνη, γουνοῖσιν Ἐλευθῆρος μεδέουσα,

λησμοσύνην τε κακῶν ἄμπαυμά τε μερμηράων.

Diese gebar, vom Vater umarmt, auf Pieriens Fluren,

Mnemosyne einstmals, die beherrscht des Eleuthers Höhen,

Dass sie Vergessen dem Leid und Lindrung sängen der Sorge. 1

Der Geburtsort der Musen ist Eleutherai, das an der einzig befahrbaren Passstraße zwischen Athen und Theben lag. Dort liegt auf einer Anhöhe über einer Schlucht eine der am besten erhaltenen Festungen Griechenlands. Der Name der Stadt leitet sich vermutlich von Dionysos Eleuthereus,2 dem Befreier Dionysos ab. Eleutherai lag an der Grenze des Einflussbereiches von Athen und Theben. Die Bürger entschieden sich in freier Wahl, zu Athen zu gehören.

Abb. 1 Schiffskarren mit Dionysos Eleutheros

Von Eleutherai aus wurde eine hölzerne Statue des sitzenden Dionysos Eleutheros nach Athen gebracht, wo sie am Dionysos Heiligtum unterhalb der Akropolis aufbewahrt wurde. Beim attischen Fest der Anthestherien im Februar wurde die Figur im Schiffskarren – vermutlich späte in Italien im Car-navala - durch die Stadt gezogen und Dionysos übernahm für drei Tage die Herrschaft über die Stadt. Am Beginn der Feiern wurde der neue Wein ausgeschenkt, der noch am selben Tag getrunken werden musste. Beim Empfang betete man, dass der Wein ein kalon pharmakon, eine gute Medizin sei, die von den engen Grenzen und den Sorgen des Alltags wenigstens für einen Tag befreit. Der Wein könnte auch ein kakon pharmakon, ein Gift sein, das die Menschen zu Streit und Schlägereien führt.

Die Musen sind in ihrem Wirken eng verwand mit dem Dionysos Eleutheros, denn sie befreien von den Alltagssorgen. Sie schenken Vergessen von Leid, nämlich λησμοσύνην Lesmosyne, die Vergessen, dem Gegenstück von Mnemosyne, der Gedenken.

Die Mnemosyne hat ihren Sitz in Eleutherai. Ich werde diesen Ort niemals vergessen. Wir waren dort an einem kalten und verregneten Frühlingstag. Nachdem wir auf der Festung herumgeklettert waren, lud eine Taverne am Straßenrand ein. Mitten in einer schlecht isolierten

Glashalle stand ein Kanonenöfchen, das vergeblich versuchte, ein wenig Wärme im Raum zu verbreiten. Immer wieder kam ein Bauer oder ein Hirt von draußen, riss die Außentür sperrangelweit auf und strömte frierend zum Ofen. Aber durch die offene Tür stürmte der Regen und die Kälte hinein. Es war eindeutig, dass niemand gewohnt war, auch nicht in der winterlichen Kälte die Tür zu schließen. In Griechenland ist es heiß. Das weiß doch jeder!

Zeus kommt in neun Nächten und liegt bei Mnemosyne und zeugt neun Töchter. Nachdem sich das Jahr vollendet hat, bringt Mnemosyne die neun Musen zur Welt. Es ist sicher kein Zufall, dass es genau neun Musen sind.

Genau besehen sind es in Hesiods Theogonie nicht neun Musen, sondern zwei mal vier plus eine. Zeus zeugt in neun aufeinander folgenden Nächten mit der Mnemosyne neun Töchter, damit sie preisen, was war, was ist und was sein wird.1 Ihre Stimmen klingen wie eine.2 Hesiod zählt die neun Musen in drei Versen auf. Es sind zwei mal vier und eine:

Κλειώ τ‘ Εὐτέρπη τε Θάλειά τε Μελπομένη τε

Τερψιχόρη τ‘ Ἐρατώ τε Πολύμνιά τ‘ Οὐρανίη τε

Καλλιόπη

Kleio, Terpsichore, Melpomene, Thalia,

Erato, Polhymnia, Urania, Euterpe und

Kalliope;3

Hesiod kennt noch nicht die Aufteilung der Musen auf die unterschiedlichen Künste. Seine Reihe folgt einer eigenen Systematik.

Die Gruppe der ersten vier Musen ist irdisch. Kleio, die Rühmerin, bewahrt das Gedenken an große Menschen. Terpsichore, die Reigenfrohe und Melpomene, die Singende begleiten das festliche Mahl. So wie Odysseus bei den Phaiaken mit Speise und Trank, Erzählungen vom Ruhm sowie Gesang und Tanz erfreut wird. Diese Sitte bringt alles zum Blühen, wie die Thalia, die Blühende.

Die zweite Reihe der Musen weist bereits nach oben zum Himmel. Erato, sie Sehnsuchterweckende weckt die Sehnsucht über das Irdische hinaus zum Reich der Unsterblichen, die in Hymnen der Polyhymnia besungen werden. Die himmlische Urania, wird erfreut von Euterpe, der Erfreuerin. Alle zusammen habe eine schöne Stimme, denn ihr Gesang klingt wie eine Stimme, die Stimme der Kalliope, der schönstimmigen. Kalliope nimmt damit eine Sonderstellung ein. Sie vereint in sich alle anderen Acht zu Einer. Die Stimmen der Musen klingen wie eine, nämlich wie die der Kalliope, der Schönstimmigen. Aber diese Stimme ist die Stimme des Sängers, durch dessen Kehle der göttliche Pneuma, der Geist-Atem strömt.

In ihrem Gesang preisen die Musen die Schöpfung. Erst mit ihrem Gesang wird die Welt vollkommen und wird die Welt der Götter mit der Welt der Menschen verbunden. Der Dichter und Sänger aber ist es, der ihnen Stimme verleiht. Ohne ihn und ohne seinen Gesang wäre der Musengesang nicht hörbar und würde die Welt zerfallen in die gottlose Welt der Menschen, die ohne Erlösung in ihrem Leiden verharren.

1 γηρύω, dor. γᾱρύω ertönen lassen, singen, aber auch vom Geblöke der Rinder, ἁδὺ δὲ χὡ

1 Schelling hat sich ausführlich mit den Kulten der Megaloi Theoi befasst, der großen Götter, die aber in der Gestalt von grotesk gestalteten Zwergen erscheinen. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber die Gottheiten von Samothrace. Schellings Text ist auch heute noch lesenswert. Kabiren Heiligtümer, in denen Mysterienkulte gefeiert wurden, hat es überall in Griechenland gegeben. Berühmt war das Kabiren Heiligtum in der Nähe von Theben. Das Heiligtum von Samothrake erlebte nach dem Besuch von Alexander dem Großen, der sich dort einweihen ließ einen gewaltigen Boom. Die berühmte Nike von Samothrake stammt aus eben diesem Heiligtum.

1 zitiert nach Martin Buber, Zu Luthers Übertragung von Ruach (1926)

1 Theogonie 36 – 40

1 Theogonie 53 f

2 Dionysos Eleuthereus von Ελευθερία, der Freiheit

1 Hesiod Theogonie 37 ff , εἴρουσαι τά τ‘ ἐόντα τά τ‘ ἐσσόμενα πρό τ‘ ἐόντα, φωνῇ ὁμηρεῦσαι

2 ὁμηρεύω: zusammentreffen, zusammenstimmen, übereinstimmen.

3 Theogonie 77 f

4.  DAŌ – der WEG

Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man sagt, dass in Ostasien das Denken durch die Philosophie des DAŌ, des WEG-es geprägt ist. Aber auch Hölderlin hat von den Wegen des Wanderers gesprochen und für Martin Heidegger ist das Bild des Weges kennzeichnend für sein Denken.

Wege sind für Heidegger zum Beispiel der Holzweg, der durch das Holz, den Wald führt. Scheinbar führt der Holzweg durch den ungeordneten Wald. Wenn man den Weg geht, erschließen sich bisher unbekannte Gegenden. Aber es kann sein, dass sich zeigt, dass der Weg ein Holzweg war. Er endet ganz plötzlich und man muss wieder zurückgehen. Aber immerhin haben sich auf dem Holzweg neue Perspektiven gezeigt.