Im Garten der Stille - Gerhardt Staufenbiel - E-Book

Im Garten der Stille E-Book

Gerhardt Staufenbiel

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Beschreibung

Es gibt Zeiten im Leben, in denen scheinbar alles zerbricht und es keinen Ausweg aus dem Irrsal mehr zu geben scheint. Entweder verfällt man in tatenlos tiefe Depression oder in blindes hektisches Tun. Aber oft ist der Schritt zurück in die Stille der einzige Weg, der neue Kraft und Zuversicht verleihen kann. Im japanischen Buddhismus weiß man um die Vergänglichkeit aller Dinge und um die Kraft, die aus der stillen Sammlung entspringt. Aber auch im Abendland sind Wege in die Stille nicht unbekannt. In diesem Buch wird der schon lange notwendige Dialog zwischen Denkern des Abendlandes und dem fernöstlich japanischen Denken geführt. Besondere Vertreter sind Friedrich Hölderlin und Zenmeister Dōgen. Dōgen ist der vielleicht tiefsinnigste Denker der Menschheit, der im Abendland weitestgehend unbekannt ist. Auch der urdeutsche Dichter Hölderlin hat Gedanken, die an die Erfahrungen im Zen erinnern. Damit wird das Buch wie ein Spaziergang im Garten der östlichen und der westlichen Weisheit. Es werden nicht nur denkerische Antworten im Umgang mit der »reißenden Zeit und dem Irrsal« dargestellt. Im dritten Teil werden einfache praktische Anleitungen aus den östlichen meditativen Wegen vorgestellt, die zur Einkehr in die Stille und Sammlung einladen. Damit ist das Buch ein Dialog zwischen Ost und West, zwischen Philosophie und Dichtung und den praktischen Wegen der Meditation.

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Gewidmet allen Suchenden und Irrenden und allen Wanderern zwischen den Welten

Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,

Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben

Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt

Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden

Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer

Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

Bis erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen …

Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang schon

Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Wogen, o Meergott!

Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern

Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken

Frischem Glücke sich üb‘ und die Göttersprache das Wechseln

Und das Werden versteh‘ und wenn die reißende Zeit mir

Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal

Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,

Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.

Friedrich Hölderlin: Archipelagos

IM GARTEN DER STILLE

Hölderlin im Gespräch mit Zenmeister Dōgen

Gedanken zur reißenden Zeit und der Stille im Abendland und in Japan

von

Gerhardt Staufenbiel

© 2015 Autor: Gerhardt Staufenbiel

Verlag: tredition GmbH

www.tredition.de

ISBN:

978-3-8495-7887-9 (Paperback)

978-3-7323-3252-6 (Hardcover)

978-3-7323-3253-3 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Viel hat erfahren der Mensch,

der Himmlischen viele genannt,

seit ein Gespräch wir sind

und hören können voneinander.

Die Gesetze aber,

die unter den Liebenden gelten,

die schönausgleichenden sie sind dann allgeltend

von der Erde bis hoch in den Himmel.

Friedrich Hölderlin.

Titelbild: Garten des Myōshin-An

Vorwort: Zenmeisterin Doris Zölls, Benediktushof

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Einleitung

2.1 Die reißende Zeit und die Stille

Teil I ABENDLAND

3. Hölderlin: Die Apriorität des Individuellen

4. Die Vergänglichkeit.

4.1 Hyperions Schicksalslied

5. Das Irrsal und die »reißende Zeit«

5.1 Der Archipelagos

5.2 Der Traum vom goldenen Zeitalter

5.3 Der Fehl

5.4 Der Tod Gottes

5.5 Stille und das »rasende Handeln«

5.6 Der Schritt zurück und die Stille

6. Die bleierne Zeit - Mut

6.1 Hofmeister Hölderlin

6.2 Die bleierne Zeit

6.3 Der Geist der Schwere

6.4 Der Wunsch und das Ver-Wünschen

6.5 Der Gang aufs Land

6.6 Das Fest

6.7 Das menschenfreundliche Mailicht

6.8 Das Mahl im Angesicht Gottes

6.9 Götter im Gasthaus

TEIL II JAPAN UND DER ZEN

6.10 Jittoku shigetsu

7. Mujō - Die Vergänglichkeit der Dinge

7.1 Das Iroha

7.2 Farbe und Leidenschaft

7.2.1 Mono no aware und Ukiyo

7.2.2 Entstehen und Vergehen: Samsara

7.2.3 Die Sala-Blüte

7.2.4 Das Erwachen und der Traum

8. Leben und Handeln im Jetzt

8.1 Konnichi-an: Heute - Hütte

8.2 Jōshū und die Reisschale

8.3 Zeit und Gegenwart

8.3.1 Zeitlichkeit in unseren Vorstellungen

8.3.2 Wahrheit und Täuschung

8.3.3 Heidegger: Dasein und Zeitlichkeit - Die Sorge

8.3.4 Kairos: der rechte Zeitpunkt

9. Zen-Meister Dōgen und das Üben der Zeit

9.1 Dōgen und die Zeit: U-JI

9.1.1 Die Zeit: Üben der Zwölf Stunden

9.1.2 Das Üben - Theorie

9.1.3 Eigenschaften der Tageszeiten

9.1.4 Üben des Alltags

9.2 U-Ji - Das Gedicht

9.2.1 Klarheit und das Wälzen im Grase

9.2.2 Ohne Tor: Hin- und Hergehen

9.2.3 Erweisen durch die Dinge

9.2.4 Die Zypresse im Garten

9.3 Exkurs: Heidegger - Das Ding

9.3.1 Das dingende Ding

9.4 Dōgen: Sich Selbst erlernen

9.4.1 Hinz und Kunz und die „übernatürlichen Kräfte“

9.4.2 Die weite Erde und der leere Himmel

9.4.3 Das Üben der Leere: der Atem

Teil III Das Üben

9.5 Das Erwachen und der Mond

9.5.1 Hakuin: Lobpreisung des Zazen

9.6 Verwirklichung der Buddhanatur

9.6.1 Mit Leib und Geist üben

9.6.2 Der Herzgeist

9.6.3 Shittashin - der bewusste Geist

9.6.4 Karidashin - Geist der Gräser und Bäume

10. Praxis des Übens

10.1 Das Üben der Leere

10.1.1 Üben im Sitzen

10.1.2 Üben im Liegen

10.1.3 Das Hören der Stille

10.2 Philosophie und Zen - oder: Was ist Zen?

10.3 Dōgen: Biografie

11. Anhang - Ein Gespräch über Hölderlin

11.1 In lieblicher Bläue

11.2 Denken in Bildern – Denken in Begriffen

11.3 Herudaarin: akarui aosora no naka ni

11.4 Wohlgebaute Stege

11.4.1 Hölderlin: Der Frühling

11.5 Danksagung

12. Literaturverzeichnis

West-östlicher Archipelagos (für GS)

Meisterschaft ist jene Unbekümmertheit,

die schwer erreichbar zwar, jedoch am Ende

bedenkenlos sich selbst verschenkt,

alles mit allem fügend.

Das Meer, die Wellen, Sonnenglitzern,

Dionysos, die Zeit, als wir noch Götter waren.

Denn zuerst tanzten wir, dann beteten die Stirnen

zu den Göttern, dann trennten sich die Wege

der Rasenden von jenen, die im Gefolge des Theiresias,

auf dem Abfallhaufen Thebens bis heute Flöte spielen.

Hölderlin und Dogen! Das Meer der Griechen und der tote Gott!

Eins kann das andere sein. Ein Buch sei wie ein Garten,

nach dem wir Sehnsucht haben, heißt es,

und unsere Übung heißt: Die Zeit erlösen! Uns!

Abschreiten die Pfade zwischen Meeresinseln,

Steinen, Pflanzen, Wasserbrunnen und Gedichten!

Ich kenn’ ein Haus, durch dessen Dach es regnet,

ein Mahl, bei dem der Hunger bleibt,

und Einen – flötenspielend abends, schreibend,

der in dem Garten wohnt.

Das Buch des Meisters zeigt den Mond.

RK

1. Vorwort

Als Mahatma Gandhi nach England kam, lernte er dort Theosophen kennen, die sich mit ihm über die Bagavathgita austauschen wollten. Mit Beschämung musste er zugeben, dass er sie nicht wirklich kannte. Dieses Erlebnis befeuerte ihn, sich mit seiner Kultur „im Ausland“ auseinanderzusetzen. Mahatma Gandhi ist keine Ausnahme. Oft müssen wir auswandern, um das Eigene zu finden. Anscheinend begegnen wir uns selbst in der größten Entfernung.

Dieses Buch zeigt den Weg auf, im Fremden das Eigene zu finden und umgekehrt im Eigenen das Fremde zu entdecken. Es ist der Weg in den Osten, auf den sich der Buchautor aufgemacht und das Terrain des Zen im Tee Weg betreten hat, doch nicht nur das, er machte sich dort auch heimisch. Dieser Aufbruch in eine andere kulturelle Welt führte ihn jedoch nicht weg von sich selbst und seiner Kultur, im Gegenteil. Das Fremde ließ ihn seine eigene Kultur neu entdecken.

Das Buch zeigt wunderbar auf, der Mut neue Wege zu beschreiten, entfaltet eine neue Freiheit mit unerwarteten Fähigkeiten und Möglichkeiten. Der Weg führte zur Entdeckung des Dichters Hölderlin und mit ihm der Schätze der eigenen Kultur.

Auf einmal tauchen in Zusammenhang mit Zen neben Hölderlin Namen auf, wie Schopenhauer, Heidegger, Rilke, Nietzsche u.a., deren Schriften von Erfahrungen erzählen und mit feinen Worten das andeuten, was im Zen und in seinen Wegen bewusst praktiziert und ausgedrückt wird, nämlich im Augenblick ohne unterscheidenden Geist ganz bei den Dingen des Alltags zu sein. Denn, so heißt es im Zen, dann können wir die große Freiheit des Geistes finden. Diesen großen Geist entdeckte der Buchautor ebenso in der westlichen Poesie und Philosophie. Sie spiegeln nach ihm die Erfahrungen wider, von denen Dogen Zenji schreibt.

Zen, als die Kultur der Stille ruft uns Menschen auf, aus dem hektischen Getriebe des Machen-müssens zurückzutreten. In der Stille, so zeigt Zen auf, erwachsen “übernatürliche” Kräfte, die nichts anderes sind als die alltäglichsten Handlungen, doch mit wachem Bewusstsein in jedem Augenblick neu.

Dass diese Kultur nicht nur dem Osten vorbehalten ist, zeigt dieses Buch anhand von Gedichten Hölderlins, Rilkes, philosophischen Texten von Heidegger, Nietzsche, Schelling und anderen. Ihre Texte können Brücken sein, die scheinbar die sich gegenüberstehenden Kulturen Ost und West zusammenführen, doch nicht nur dies. Die Erfahrungen der Menschen, die in der Stille verweilen, scheinen sich sehr zu gleichen. Die Ausdrucksformen, die Interpretationen der Erfahrungen mögen unterschiedlich und unvereinbar sein. Doch blicken wir auf die Erfahrungen, dann können sie zum Boden des gegenseitigen Verstehens und der Begegnung werden.

So kennen z. B. alle Menschen auf dieser Erde das Erleben der Trauer über die Vergänglichkeit allen Seins. Mag sie in der einen Kultur zur Weltverneinung führen, kann sie auf einem anderen Boden zur Entfaltung einer Kultur der Freude über die Schönheit des Augenblicks führen. Das Erleben der Vergänglichkeit ist jedoch beiden zu eigen und darüber ist ein Verstehen des jeweiligen Ausdrucks des anderen möglich. So ist der Untergang des Alten für Hölderlin ein notwendiger Prozess der Erneuerung, ja, ein Prozess, der uns aus dem Gewohnten, das zum Gewöhnlichen geworden ist, herausreißt. Natürlich kommt zunächst der Schmerz, aber das ist ein Schmerz, der uns erwachen lässt und der uns zwingt, wach und offen dem Neuen zu begegnen. Erlebe ich in mir diesen Schmerz des Untergangs, verstehe ich die Sorge des anderen, sich absichern zu wollen.

In dem Verstehen des Anderen spielt die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle.

So wird in der Meditation und in den Übungswegen, wie dem Teeweg versucht, das Herz zu reinigen, damit wir die Dinge so wahrnehmen, wie sie sind. Unser Geist soll zu einem klaren Spiegel werden, der die Welt so wiedergibt, wie sie ist.

In diesem Buch wird sehr deutlich, dass sinnliche Erfahrungen nicht ohne Empfindungen wie Freude, Wohlbefinden oder Kummer und Schmerz gemacht werden können. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis des Allgemeinen und Ganzen. Die Menschen schreiben ihr Erlebtes in Geschichte und diese wiederum prägt die Menschen. So geht einerseits dem Allgemeinen das Individuelle voraus und gleichzeitig findet sich das Allgemeine im Individuellen. Nur so ist es möglich, dass sich die Menschen unterschiedlicher Kulturen begegnen und verstehen können. Weil wir selbst empfindende Wesen sind, können wir in anderen deren Empfindungen nachvollziehen. Zugleich üben wir unser Mitgefühl mit anderen und uns selbst, wenn wir fremden Ereignissen in uns selbst nachspüren.

Bei all dem geht es in diesem Buch nicht um Schöngeisterei, einer Beschäftigung mit dem Ästhetischen als Zeitvertreib, sondern das Ästhetisch wird zum entscheidenden Faktor des Weltverständnisses und damit des eigenen Lebens. So wie Schelling es beschreibt, werden dann erst die Kräfte des Menschlichen voll ausgebildet.

Dieses Buch gibt uns daher nicht nur einen Einblick in Hölderlins Dichtkunst und der Philosophie Dogen Zenjis, es ist nicht nur eine Beschreibung der Zen-Praxis, wie sie auf dem Tee Weg geübt wird, sondern es ist ein Beitrag zum Verständnis von östlicher und westlicher Kultur, die in ihrem Erleben verbunden sind, nicht nur durch einen Steg, sondern durch die Innigkeit des Erlebens werden sie zu einem Miteinander, wo die Menschen um das Begreifen der Wirklichkeit ringen.

Doris Zölls

Anmerkung zur Rechtschreibung:

In diesem Buch wird bei deutschen Zitaten durchgehend die originale Rechtschreibung der Handschriften oder der Erstausgaben verwendet, die z.T. erheblich von der modernen Rechtschreibung abweicht. Damit soll versucht werden, die Atmosphäre der alten Texte möglichst getreu wiederzugeben.

2. Einleitung

2.1 Die reißende Zeit und die Stille

Manchmal reißen uns die Ereignisse mit schrecklichen Veränderungen aus der scheinbaren Sicherheit und Geborgenheit unseres gewohnten Lebens. Sei es, dass wir den Arbeitsplatz verlieren, dass die Partnerschaft scheitert, ein Unfall das Leben ganz plötzlich verändert oder eine unheilbare Krankheit auftritt. Dann fragen wir uns ganz verstört: »Warum gerade ich?« Aber die Zeit kennt kein Mitleid, sie zieht niemanden vor oder benachteiligt andere. Im Daodejing1 heißt es:

Himmel und Erde sind unparteiisch.

Strohhunde sind ihnen alle Dinge.

Strohhunde wurden im alten China bei bestimmten Opferritualen verwendet. Die Stroh-Hunde oder vielleicht Hunde aus geschnittenem Gras wurden im alten China als Opfertiere genommen. Im Buch des Zhuangzi2 wird berichtet, das einmal Meister Kong (Konfuzius) in das Land Wey wandern wollte. Der Musikmeister Jin sagt voraus, dass diese Reise zum Scheitern verurteilt sein würde und er erzählt das Gleichnis von den Strohhunden:

Die Strohhunde sind, wenn die Zeit für die Opfer - offenbar Opfer für die Toten - gekommen sind, so heilig und wichtig, dass selbst die Priester und derjenige, der bei den Riten die Toten repräsentiert - sich reinigen und fasten müssen, um sich ihnen zu nähern. Aber wenn die Zeit der Riten vorbei ist, tritt man achtlos auf die Überreste, kehrt sie zusammen und verbrennt sie. Würde man sie weiterhin hochhalten und verehren, so würden Alpträume entstehen. Der Musikmeister Jin wirf Konfuzius vor, dass er an den alten Bildern der alten Zeiten festhält.

Genauso hat euer Meister die von früheren Königen zur Schau gestellten Strohhunde aufgesammelt und trägt sie ständig bei sich, während er durch fremde Länder wandert, zu Hause bleibt und im Kreise seiner versammelten Schüler schläft.

Die Strohhunde sind die Bilder und Ideale einer Zeit, die längst vorbei ist. Hält man an ihnen fest, nachdem ihre Zeit vorüber ist, erzeugen sie nur noch Alpträume. Die 10.000 Dinge haben ebenso wie die Geschlechter der Menschen ihre Zeit. Wenn die Zeit vorbei ist, lässt sie der Weise ziehen, ohne weiter an ihnen festzuhalten. Würde er am Vergangenen festhalten, so würden die Dinge der Vergangenheit nur noch schlechte Träume erzeugen.

»Ehe die Strohhunde auf dem Altar dargeboten werden«, antwortete Musikmeister Jin, »werden sie in Bambuskästen verschlossen gehalten, unter einer Hülle von Brokat. Sie sind so heilig, dass der Totenknabe und der Beschwörer sich erst durch Fasten und Enthaltsamkeit reinigen müssen, ehe sie die Hunde anfassen dürfen. Sind sie aber dargeboten worden, so vernichtet ein Tempeldiener sie und tritt darauf, die Straßenkehrer fegen alles zusammen und verbrennen sie, so sind sie für alle Zeiten dahin. Denn man weiß, dass, wenn sie nach ihrer Weihe in den Kasten zurückgelegt würden, unter die Hülle aus Brokat, so würde jeder, der in ihrer Gegenwart wohnte oder schliefe, fortgesetzt von Dämonen besessen sein, statt die erwünschten Träume zu erlangen.

Was sind die alten Könige, denen dein Meister Beifall zollt, anderes als Strohhunde, die ihre Rolle ausgespielt haben?

Wir können nicht an den Strohhunden vergangener Zeiten festhalten, das würde nur schlechte Träume und einen betrübten Geist erzeugen. So bleibt uns nur, in der reißenden Zeit die Gelassenheit und Kraft zu finden, unseren Lebensweg weiter zu gehen, unabhängig davon, wie schwierig oder tiefgreifend die Veränderungen waren.

Nur die Stille tief in unserem Inneren kann da oft helfen. Wir wollen in diesem Buch versuchen, diese Stille zu hören.

Eigentlich hätte es ein stilles und häusliches »Jahr des Hasen«3 werden sollen. Aber dann kam das seit langem befürchtete Erdbeben in Japan und der Tsunami. Und zu allem Überfluss auch noch der Super - GAU in Fukushima, der Region, die ironischerweise wörtlich „Glücksinsel“ - Fuku shima - heißt.

Abb. 1 Tsunami - Japan 13. Jh.

Das Entsetzen über die schrecklichen Vorgänge hat uns lange stumm gemacht vor Schmerz. Unser ganzes Mitgefühl galt und gilt noch den Menschen in den Katastrophengebieten, die alles verloren und nur ihr eigenes Leben gerettet haben. Weihnachten 2013 habe ich einen Bericht von einem befreundeten Musiker bekommen, der für die Menschen in den radioaktiv verseuchten Gebieten ein Konzert gegeben hat. Die Menschen hoffen heute noch auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat und ihre Häuser. Sie verstehen nicht, dass ihre Heimat vermutlich für lange Zeit unbewohnbar bleiben wird.

Vielleicht aber - so kann man nur hoffen - haben die Ereignisse von Fukushima die Welt auf Dauer verändert: Atomkraft kann nicht mehr als sichere Energie gelten. So können manchmal schreckliche Ereignisse die künftigen Zeiten verändern.

Kürzlich habe ich von einer Gruppe von Bauern aus der Gegend von Fukushima erfahren. Niemand kauft mehr das dort traditionell angebaute Gemüse, obwohl es nicht mehr als radioaktiv belastet gilt. Jetzt haben die Bauern auf den Anbau von Baumwolle umgestellt, die sogar das Bio-Siegel bekommen hat. Sie fertigen daraus T-Shirts und versuchen, einen neuen Markt zu finden. Mit Schulkindern basteln die Menschen dort mit primitiven Mitteln Windräder und kleine Solaranlagen, um den Strom aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Vor der Katastrophe war in Japan völlig unbefragt die Atomkraft die einzige Energiequelle. So erwachsen aus der Katastrophe eine neue Besinnung und eine ungeheure Kraft der Veränderung zum Positiven.

Die japanische Kultur ist tief geprägt von der Vergänglichkeit der Dinge. Diese Vergänglichkeit ist nicht nur eine schmerzliche Erfahrung, aus ihr entspringt die Schönheit des Augenblickes. Vermutlich stammt diese Einstellung zu Zeit und Vergänglichkeit in Japan nicht nur aus dem Buddhismus. Auch die Natur Japans mit den Vulkanausbrüchen, Taifunen und Erdbeben konfrontiert die Menschen ständig mit der Vergänglichkeit. So hat das Volk schon von jeher gelernt, mit Katastrophen und gewaltsamen Veränderungen zu leben.

Hier im Myōshinan4 pflegen wir die Begegnung der Kulturen und das Gespräch zwischen Ost und West. Das spiegelt sich in diesem Buch. Es werden nicht nur abendländische Texte wie Werke von Hölderlin besprochen, sondern auch Texte aus dem Buddhismus und der japanischen Kultur. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Philosophie des Zen - Meisters Dōgen (*1200). Dōgen ist einer der wichtigsten Denker Japans und - wenn auch im Westen weithin unbekannt - einer der größten Denker der Menschheit. Weil Dōgen außer in den entsprechenden Kreisen der Zen-Übenden recht unbekannt ist, sind einige Erläuterungen hinzugefügt, die den Umkreis von Dōgen‘s Denken erhellen mögen.

Manche der Texte in diesem Buch sind aus konkretem Anlass entstanden, z.B. dem Tsunami in Nordjapan und dem anschließenden Atomunfall in Fukushima. Aber es sind keine Texte, die nur an eine bestimmte Situation geknüpft wären. Sie befassen sich mit der Vergänglichkeit und dem menschlichen Leiden daran. Aber es wäre keine Beschäftigung mit dem Buddhismus, wenn nicht auch die Lösung aus diesem Leiden angedacht wäre.

Beginnen wir den für unsere Zeit unbedingt nötigen Dialog der Welten mit einer Diskussion über die Vergänglichkeit der Zeit. Im Untertitel dieser Überlegungen heißt es: Hölderlin im Gespräch mit Zen-Meister Dōgen. Dōgen hat im 13. Jh. gelebt und Hölderlin im 18. Jh. Sie sind durch eine lange Zeit getrennt und sie haben in vollkommen anderen Kulturen gelebt. Aber beim Studium von Hölderlins Texten hatte ich immer wieder den Eindruck, dass der durch und durch deutsche Dichter Erfahrungen gemacht hat, die sich mit den Erfahrungen der Zen-Meister vergleichen lassen. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung wird sich mit dem Denken der Zeit in den beiden Kulturkreisen in Deutschland und in Japan befassen. Eine ausführliche Untersuchung zu Hölderlins Dichtung wird an anderer Stelle vorgelegt.5 Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit Dōgens Denken liegt in diesem Buch auf der Interpretation seiner wohl ‚philosophischsten‘ Schrift U-Ji 有時 - ‚Sein -Zeit‘.

1 Daodejing, Nr.: 5 Himmel und Erde sind unparteiisch. Strohhunde sind ihnen alle Dinge. Der Edle ist unparteiisch; Strohhunde sind ihm alle Menschen.

2 Zhuangzi, das klassische Buch der chinesischen daoistischen Weisheit, Kapitel 14.4

3 Das Jahr des Hasen (2011) nach dem chinesischen Kalender soll nach der chinesischen Astrologie eher häuslich und friedlich verlaufen. Aber es war anders als erwartet durchaus von einigen Katastrophen gekennzeichnet. Schon Anfang März gab es das große Erdbeben in der japanischen Tohoku Region mit den nachfolgenden Katastrophen des Tsunami und der atomaren Unfälle in Fukushima. Der Grundstock für die Texte in diesem Band wurde in diesem Jahr des Hasen, geschrieben, dem Jahr das so viele Veränderungen gebracht hat.

4 Myōshinan: 妙心庵 Myō: Geheimnis, Shin: Herz, Geist, An: Hütte. Myōshin bezeichnet im Buddhismus das Herz des Geheimnisses, den innersten Kern der Lehre. An ist die typische Untertreibung des Zen: Es ist nur eine kleine Hütte, nicht Großes. Das Myōshinan ist ein Zentrum der japanischen Teezeremonie, der Meditation und der Philosophie. Homepage: www.teeweg.de

5 Hälfte des Lebens, Auf der Suche nach der Ganzheit. Untersuchungen zu Hölderlins Dichtung; geplant Frühjahr 2015

Teil I ABENDLAND

Denn immer lebt die Natur. Wo aber allzu sehr sich Das Ungebundene zum Tode sehnet, Himmlisches einschläft, und die Treue Gottes, Das Verständige fehlt.

Aber wie der Reigen zur Hochzeit, zu Geringem auch kann kommen

3. Hölderlin: Die Apriorität des Individuellen

Das Wort von der reißenden Zeit entstammt Hölderlins Gesang ‚Der Archipelagos‘.

In einem Gespräch mit D. E. Sattler, dem Herausgeber der großen Frankfurter Hölderlinausgabe sagte mir Sattler einmal, ‚Der Archipelagos‘ habe lediglich ein rein historisches Thema. Zwar spricht Hölderlin in diesem Gesang vom historischen Untergang des antiken Griechenland. Aber damit verbunden ist das Verschwinden des Heiligen, die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen und die Erfahrung des Fehls1 wie Hölderlin sagt. Das ist keineswegs nur ein historisches Thema, es spiegelt die individuelle Erfahrung eines jeden Menschen, dass einstmals große Zeiten zerbrechen und nur noch die Trümmer übrig bleiben.

Im Gesang über das Griechenmeer spricht Hölderlin in historischen Zusammenhängen. Die alte Kultur Griechenlands ist vergangen. Was bleibt, sind nur noch Erinnerungen an die einstige Größe wie Träume. Aber es ist sein Traum, dass die deutsche Kultur und das deutsche Geistesleben aus dem Geist des Griechentums wieder neu erwachen werden. Diese Hoffnung betraf damals nicht nur das Individuum Hölderlin, sondern eine ganze Generation. Es ist ein ganz persönliches Leiden und Hoffen, das nicht nur intellektuell erlebt wird. Es ist die Hoffnung, dass es künftig wieder Menschen geben würde in einer unmenschlich gewordenen Zeit. Wie sagte Hyperion von den Deutschen?

(Sie sind) Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarisch geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls.

Handwerker siehst du aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen.

Es ist nicht die Rede von einem individuellen Geschick, sondern vom geschichtlichen Geschick des Abendlandes. Aber geschichtliche Ereignisse prägen immer auch das individuelle Leben. Wir sind keine geschichtslosen Wesen. Die jeweilige Epoche prägt das Geschick ganzer Generationen. So ist das allgemeine Geschick immer auch ein individuelles. Ja, vielleicht ist es sogar umgekehrt: Wir erfahren immer zuerst unser Individuelles und erkennen erst danach, dass wir in einem allgemeinen verwurzelt sind.

In einem fragmentarischen Gedichtentwurf »Vom Abgrund nämlich haben wir angefangen« steht ganz oben auf der Seite wie ein Motto oder eine Überschrift der Satz:

Die Apriorität des Individuellen

über das Ganze2

Das Wort von der Apriorität stammt aus der Philosophie Kants. Das Apriori ist dasjenige, das jeder Erfahrung vorausgeht.

Die Apriorität des Individuellen über das Ganze heißt, dass zunächst jedes Individuum für sich sich selbst erfährt. Erst dann kann aus dieser Erfahrung des Individuellen das Allgemeine oder das Ganzen gewonnen werden. Die sinnliche Erfahrung des Individuums in seinem persönlichen Umfeld lässt später die Erkenntnis reifen, dass das Individuelle eingebettet ist in das Ganze. Mein persönliches Schicksal ist zugleich das Schicksal des Volkes, der Nation, der Epoche. Viele oder sogar alle Individuen einer Epoche haben ein gleiches oder ähnliches Schicksal. Mein individuelles Schicksal ist nicht unabhängig von dem Land oder der Zeit, in die ich hineingeboren werde. Aber als Erstes erfahre ich mein ganz persönliches Schicksal, erst später lerne ich, dass eine ganze Generation Ähnliches erlebt oder erleidet. Das Erste aber ist immer das eigene Erleben.

Geschichte kann nur verstanden werden aus dem eigenen Erleben, dem eigenen Erleiden oder dem individuellen Glück. In einem Papier, das man als den Systementwurf des deutschen Idealismus3 bezeichnet und in dem viele Ideen Hölderlins enthalten sind, heißt es:

Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.

Weder Gott noch die Unsterblichkeit sind außerhalb des Menschen zu suchen. Gott ist nach diesem Papier nicht etwas außerhalb von uns selbst, er entspringt der absoluten Freiheit der Geister, der denkenden und fühlenden Wesen.

In feuriger Rede fährt das Papier fort, dass ohne die Idee der Schönheit und ohne Ästhetik kein wirkliches Denken möglich ist. Ästhetik ist dabei nicht die Lehre von der Schönheit und den ästhetischen Gesetzen. Das Wort ist im ursprünglich griechischen Sinne gemeint und gedacht. Aisthesis αἴσθησις ist die sinnliche Wahrnehmung. Schönheit ist das Erscheinen der Dinge in ihrem eigenen Licht. Schönheit ist das von sich aus Scheinende, das deshalb in der Wahrnehmung aufschienen kann. Ohne die Sinne kann nichts erscheinen. Deshalb ist die Sinnlichkeit zugleich die Schönheit, die Ästhetik.

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen.

Die ‚Buchstabenphilosophen‘ denken nur aus dem Verstand ohne sinnliche Erfahrung. Die neue Philosophie, die in diesem Papier deklariert wird, darf und kann nicht ohne sinnliche Erfahrung sein. Die unmittelbare sinnliche Erfahrung enthält nicht nur sinnliche Wahrnehmungen wie Hören oder Sehen. Sinnliche Erfahrung kann nicht sein ohne Empfindungen wie Freude, Wohlbefinden oder Kummer und Schmerz. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis des Allgemeinen und Ganzen.

In der modernen Hirnforschung wurden durch einen Zufall die Spiegelneuronen entdeckt. Der Italiener Giacomo Rizzolatti und seine Mitarbeiter entdeckten bei einem Schimpansen, dass bestimmte Hirnregionen so auf äußere Reize reagieren, als würde der Affe selbst die Tätigkeit ausführen. Die Hirnregion, die für das Ergreifen von Erdnüssen zuständig war, reagierte auch, wenn einer der Mitarbeiter eine Erdnuss nahm. Die Reaktion trat sogar dann auf, wenn der Affe das Geräusch von geöffneten Erdnüssen hörte. Auch wir Menschen reagieren auf Handlungen oder sogar nur Gesichtsausdrücke von Anderen, indem wir die Empfindungen der Anderen in uns selbst spüren. Wenn andere Kleinkinder weinen, reagieren Säuglinge, indem sie selbst in Weinen ausbrechen. Wenn wir bei stürmischem Wetter auf einem Schiff fahren und sehen, wie es anderen Mitreisenden übel wird, stellt sich fast sicher bei uns selbst ebenfalls die Übelkeit ein.

Sogar wenn wir von traurigen Ereignissen nur hören oder lesen, empfinden wir Trauer in uns selbst. Darum weinen so viele Menschen bei traurigen Filmen. Für Aristoteles leitet dieses Mit-Leiden eine Katharsis, eine Reinigung ein, die unser eigenes Leiden lösen kann. Das Mit-Leiden muss aber so sein, dass die Katastrophe auf der Bühne unabwendbar ist und dass wir in eben derselben Situation auch nicht anders handeln könnten. Die Situation des Oidipus, der seine eigene Mutter heiratet, ohne es zu wissen, ist auch ein allgemeines Schicksal, mindestens der Möglichkeit nach. Wenn das Schicksal der Leidenden auf der Bühne dergestalt ist, dass der Zuschauer sagt: »Das geschieht ihm recht!«, dann stellt sich nur ‚Philanthropie‘ - Menschenliebe aber keine Katharsis ein.4

Weil wir selbst empfindende Wesen sind, können wir in Anderen deren Empfindungen nachvollziehen. Zugleich üben wir unser Mitgefühl mit Anderen und uns selbst, wenn wir fremden Ereignissen in uns selbst nachspüren.

Wenn darum im Folgenden oft von Geschichtlichem die Rede ist, dann kann die Geschichte nur verstanden werden aus dem eigenen sinnlichen Erleben. Umgekehrt kann auch die Geschichte das eigene Empfinden und die eigene sinnliche Erfahrung deuten helfen, indem unser eigenes Empfinden in einen größeren Zusammenhang gestellt wird.

1 Der Fehl Gottes, Dichterberuf

2 Anmerkung zur Rechtschreibung: Hölderlins Texte sind in der Schreibweise Hölderlins wiedergegeben, die häufig von der modernen Rechtschreibung abweicht.

3 Das Papier wurde in den Schriften Hegels gefunden und ist in Hegels Handschrift geschrieben. Aber viele Ideen in diesem Papier sind eindeutig Schellings Gedanken. Der letzte Teil propagiert die ‚Poesie als Lehrerin der Menschheit‘, d.h. der Menschlichkeit und ist eindeutig auf Hölderlin zurückzuführen. Möglicherweise haben die drei Freunde zusammengesessen und einen Entwurf ihrer künftigen Aufgaben geplant. Der begeisterte Ton des Papiers deutet daraufhin, dass Hegel eine feurige Rede Schellings niedergeschrieben hat.

4 Aristoteles, Poetik Kap. 6, 1449b24ff. Eleosἔλεος ist das Mit-Leiden, Jammer, Klage. Dies erzeugt phobos, φóβoς Furcht und Schrecken. Phobos ist die panische Flucht, aber man kann nicht entfliehen, muss also den ganzen Schrecken mit leiden.

4. Die Vergänglichkeit

4.1 Hyperions Schicksalslied

In Hölderlins Briefroman Hyperion findet sich das berühmte Schicksalslied, in dem die Vergänglichkeit des Menschen beklagt wird.

Ihr wandelt droben im Licht

Auf weichem Boden, selige Genien!

Glänzende Götterlüfte

Rühren euch leicht,

Wie die Finger der Künstlerin

Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende

Säugling, atmen die Himmlischen;

Keusch bewahrt

In bescheidener Knospe,

Blühet ewig

Ihnen der Geist,

Und die seligen Augen

Blicken in stiller

Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,

Auf keiner Stätte zu ruhn,

Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahr lang ins Ungewisse hinab.

In den ersten beiden Strophen zeichnet Hölderlin ein idealisches Bild der himmlischen Genien, die schicksalslos wie schlafende Säuglinge immer auf weichem Boden im Licht wandeln. Die Menschen dagegen haben ein Schicksal, schwinden und fallen ruhelos wie Wasser von Klippe zu Klippe.

Die Genien sind namenlose Geister, die im ewigen Licht leben. Hölderlin nennt in diesem Lied keine Namen der griechischen oder römischen antiken Götter und auch nicht den christlichen Gott. Vielleicht deshalb, weil ihre Zeit vorbei ist, und sie nur noch wie ein Traum in unserem Geist weilen. In der Hymne Heimkunft heißt es:

Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen,

Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück.

Hölderlins Hyperion lebt zur Zeit der Freiheitskämpfe von der türkischen Besatzung Griechenlands. Er leidet daran, dass die Zeit des klassischen Athen mit seiner vorbildhaften Hochkultur schon längst vergangen ist. Zur Zeit Hyperions gibt es nur ein klägliches Abbild längst vergangener Größe. Er kämpft auf der Seite der Russen gegen die Türken in der Seeschlacht von Cesme und kommt nur mit Mühe mit dem Leben davon. Desillusioniert wendet er sich von den Freiheitskriegen ab. Schließlich erfährt er, dass seine Geliebte Diotima schwermütig gestorben ist, weil sie vermutete, Hyperion sei in der Schlacht getötet worden. Als er schließlich nach Deutschland kommt, um sich weiterzubilden, findet er dort nur »Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarisch geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls«.

Handwerker siehst du aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen.

Alle Ideale sind ihm zu Strohhunden geworden und enttäuscht sucht er seine Ruhe in der Natur.

O du, so dachte ich, mit deinen Göttern, Natur! ich hab ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedlosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs.

Die leidenden Menschen fallen, so heißt es im Schicksalslied, blindlings von einer Stunde zur anderen. Sie fallen blindlings, weil das Schicksal nicht auswählt, ob einer gut oder schlecht ist. Himmel und Erde sind unparteiisch, wie es im Daodejing heißt. Ereilt uns das Schicksal der Veränderung unversehens und gegen jede Vorausplanung, kann man sich zwar fragen: warum gerade ich! Aber man wird auf diese Frage keine Antwort bekommen. Die Menschen fallen wie Wasser von einer Klippe zur anderen geworfen ins Ungewisse. Da helfen keine Lebensversicherungen oder andere Absicherungen. Wenn die Zeit da ist, ereilt uns das Schicksal.

Rilke nimmt in einem späten Gedicht das Bild Hölderlins in einer sehr dichten Sprache auf. Das Gedicht ist überschrieben: An Hölderlin

An Hölderlin

VERWEILUNG, auch am Vertrautesten nicht,

ist uns gegeben; aus den erfüllten

Bildern stürzt der Geist zu plötzlich zu füllenden; Seeen

sind erst im Ewigen. Hier ist Fallen

das Tüchtigste. Aus dem gekonnten Gefühl

überfallen hinab ins geahndete, weiter.

Verweilung ist uns Menschen nicht gegeben. Auch das Vertrauteste endet plötzlich und unerwartet. Kaum hat sich der Geist auf eine Situation, ein Bild eingestellt, das er ganz erfüllt und in der er sich bequem eingerichtet hat, stürzen plötzlich neue Bilder und Situationen auf uns ein, die es nun wieder zu füllen gilt. Es ist wie das Wasser in Hyperions Schicksalslied, das ohne Rast von einem zum nächsten Felsen stürzt. Kaum meint man, sich in einer Situation eingerichtet zu haben und endlich Ruhe finden zu können, stürzt man schon wieder hinunter zur nächsten Klippe des Lebens. Das Wasser unseres Lebensschicksals sammelt sich niemals in Seeen, die still in sich ruhen.

Das Bild des Sees, der in sich ruht, hat Rilke neu in das Bild des stürzenden Wassers eingefügt. Es ist, als würde hier plötzlich mitten im tosenden Stürzen die Stille eines gestillten und in sich ruhenden Lebens aufscheinen. Rilke meint, dass diese Stille erst im Ewigen sein kann. Aber vielleicht ist es ja gerade die Fähigkeit der Meditation, mitten im Fallen und Stürzen innezuhalten und die Stille in uns selbst zu erleben. Aber das bedeutet nicht, dass wir den steten Wandel unseres Lebens damit aufhalten können. Es ist ein Innehalten und Vernehmen der Stille, um selbst still zu werden. Dies Innehalten gibt uns die Möglichkeit, zurückzutreten aus dem rasenden Machen - Müssen und wieder zum inneren Frieden zu finden.

Eine Veränderung des Fallens ist mit der Besinnung auf den stillen See dennoch geschehen. Zunächst stürzt der Geist von einem Bild zum anderen. Aber nun hat sich das Stürzen in ein Fallen verwandelt, das gekonnt ist:

Hier (im Gegensatz zum Ewigen) ist Fallen

das Tüchtigste. Aus dem gekonnten Gefühl

überfallen hinab ins geahndete, weiter.

Fallen ist das Tüchtigste. Es ist ein Los-lassen des Gewohnten und ein Zu-lassen des Neuen. Eine Verweigerung der Veränderung würde bedeuten, dass wir die alten Strohhunde weiter benutzen, die schon längst nicht mehr zeitgemäß sind und die nur noch Alpträume erzeugen.

Im Zen gibt es die Geschichte eines Mönchs, der in einem gewaltigen Baum hängt und sich mit den Zähnen verzweifelt an einem Ast festhält. Er kann weder mit den Armen noch den Beinen irgendeinen anderen Teil des Baumes erreichen. Da kommt ein anderer Mönch unten am Baum vorbei und fragt unseren Mönch, der mit den Zähnen am Ast festhängt nach dem Sinn des Kommens von Bodhidharma in den Osten.1 Bodhidharma war von Indien nach China gekommen, um den Menschen das Los-lassen zu lehren, ein Los-Lassen, das zu sich selbst führt. Die Frage in unserer Geschichte ist nun, ob der Mönch im Baum antworten soll oder nicht.

Antwortet er nicht, so weiß man nicht, was weiter mit ihm geschehen wird.

Aber es ist völlig unhöflich, auf eine Frage nicht zu antworten. Er kann ohnehin nicht auf Dauer mit den Zähnen am Ast angeklammert verweilen, irgendwann stürzt er ab oder er verhungert. Ihm bleibt nur das Los-lassen. Dann aber stürzt er mit Sicherheit. Es ist nur die Frage, wohin er stürzt. Vermutlich nur auf den Boden, auf dem er leben kann, der sogar unmittelbar unter seinen Füßen liegt, den er aber vorher nicht sehen konnte, weil er vor lauter Anklammern nicht auf den Boden schauen konnte. Das Festhalten und Verweilen dagegen würde seinen sicheren Tod bedeuten.

Aber wie oft klammern wir uns an eine Situation, die unhaltbar ist. Nur weil wir die Situation kennen und weil das Neue unbekannt ist und Angst macht. So fallen wir aus dem ‚gekonnten Gefühl’ hinab in das ‚geahndete‘. Das geahndete‘ Gefühl ist noch nicht gekonnt, nur geahnt. Wir kennen die neue Situation noch nicht, wir können nur ahnen, wie sie sein wird. Aber allmählich richten wir uns in der neuen Situation ein und unser Gefühl für diese Situation wird allmählich ‚gekonnt‘. Bis eine neue Wende in unserem Schicksal eintritt, die wieder ins Offene und Unbekannte führt.

Georg Christoph Lichtenberg hat es einmal in einem unnachahmlichen Bonmot gesagt:

Ich weiss nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.

1 Bodhidharma hat der Legende nach den Zen von Indien nach China gebracht. Die Geschichte wird ausführlich erläutert in meinem Buch: Mukshai mukashi, Seite 183. Zu Bodhidharma oder japanisch Daruma ebd. ab Seite 190

5. Das Irrsal und die »reißende Zeit«

5.1 Der Archipelagos

… Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,

ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben

sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt

Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden

Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer

Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

Bis erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen …

Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang schon

Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Wogen, o Meergott!

Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern

Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken

Frischem Glücke sich üb‘ und die Göttersprache das Wechseln

Und das Werden versteh‘ und wenn die reißende Zeit mir

Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal

Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,

Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.

»Unser Geschlecht«, die Sterblichen, ist in den Zeiten des Wandels und des „Wechsels in der Not und dem Irrsal“, wie Hölderlin schreibt. Die “reißende Zeit” ist ein Wort Hölderlins. Im Hymnus an den Archipelagos, das Meer der Griechen, spricht Hölderlin das Griechenmeer an:

Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken Frischem Glücke sich üb, und die Göttersprache, das Wechseln Und das Werden versteh

Das Wechseln und das Werden in der Zeit reißt alles weg und bringt Neues hervor, ob wir es wollen oder nicht. Der Schwimmer kennt die Gefahren über dem Abgrund und er genießt das Glück des Wechselns und Werdens, wir anderen haben oft Angst vor der unbekannten Tiefe, die alles verschlingt.

Die Dichtung »Archipelagos« ist vermutlich um 1800 entstanden, also in einer Zeit, in der die Französische Revolution die alte Welt der Aristokratie hinweg gerafft hatte und in der Napoleon das Erbe der Revolution, die in Blut untergegangen war, übernahm. Für Hölderlin und seine Freunde waren damit die Hoffnungen auf die Erneuerungen im politischen Leben zerbrochen.

Dennoch lebte er in der Erwartung einer positiven Veränderung. Das zeigen schon die Anfangszeilen des Archipelagos:

Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu deinen

Ufern wieder die Schiffe den Lauf, umatmen erwünschte

Lüfte dir die beruhigte Flut, und sonnet der Delphin

Aus der Tiefe gelockt am neuen Lichte den Rücken?

Blüht Ionien? ists die Zeit? denn immer im Frühling,

Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die erste

Liebe den Menschen erwacht und goldner Zeiten Erinnerung,

Komm ich zu dir und grüß‘ in deiner Stille dich, Alter!

Der »Alte« ist der Archipelagos, das Meer der Griechen. Archipelagos ist kein antiker Name für dieses Meer von Ionien im Westen bis Kleinasien im Osten. Zur Zeit der Kreuzzüge kamen italienische Kreuzritter nach Griechenland und sie hatten einen festen Sitz in Naxos, der größten Kykladeninsel. Naxos war der Sitz des venezianischen Herzogtums Archipelagos. Marco Sanudo1, ein Neffe des venezianischen Dgen Dandario hatte während des vierten Kreuzzuges unerlaubt mit einer geliehenen Flotte Naxos erobert und dort eine feste Burg errichtet. Von hier aus beherrschten die Italiener das Herzogtum Archipelagos mit der gesamten Inselgruppe der Kykladen.

Abb. 2 Dionysos und Ariadne auf Naxos auf einer schwarzfigurigen attischen Vase

Noch heute spürt man auf Naxos den italienischen Einfluss. Der italienische Adel auf Naxos baute und verzierte seine Häuser mit denselben Zinnen, wie man sie in Venetien findet. Noch Kaiser Wilhelm hatte einen der letzten Nachkommen von Marco Sanudo auf Naxos in seinem Landsitz auf Naxos besucht. Eine Zeitlang spielte ich mit der Idee, einen der alten italienischen Landsitze zu kaufen und zu restaurieren. Es war eine Mühle in einem Bachbett. Der Bach wird von starken Quellen gespeist und hat das ganze Jahr über Wasser. Die tiefen Fenster des Hauses hatten wie in alten italienischen Häusern zu beiden Seiten steinerne Sitze, so dass man hier bequem sitzen und den Ausblick genießen konnte. Draußen lärmten die Nachtigallen und etwas oberhalb des Hauses blühten und dufteten die Orangenbäume. Es war eine lärmende aber absolut heilig-tiefe Stille.

Im Hauptort Chōra, oben auf der Burg, ist der Sitz eines katholischen Bischhofs mit der Kirche des heiligen Antonius von Padua, also einem italienischen und keinem griechisch orthodoxen Heiligen. In der Kirche haben wir einmal die alte Mutter des Bischofs getroffen. Sie sprach einen merkwürdigen Dialekt aus einer Mischung von einem altertümlichen Italienisch und Neugriechisch. Verächtlich sagte sie, dass »die da unten«, also die orthodoxen Griechen im Ort, Ostern ganz falsch feiern, weil sie keine Ahnung vom rechten Glauben haben. Es ist, als wäre hier in der Oberstadt die Zeit stehen geblieben.

Unbehelligt von der katholischen Hoheit lebte die Bevölkerung ihre alten Traditionen. Einer der wichtigsten Heiligen der Inseln ist der Heilige Bachumios, der als Einsiedler in Ägypten gelebt hatte. Aber die Naxioten sprechen seinen Namen als Agios Vachys - der heilige Bakchos - aus. Bacchos aber ist ein anderer Name des Dionysos.

Naxos ist im griechischen Mythos die Insel des Dionysos und der Ariadne. Dort leben sie innig vereint wie auf einer Insel der Seligen. Theseus hatte Ariadne aus dem kretischen Labyrinth entführt und er machte auf Naxos einen Zwischenhalt, bevor er weiter nach Athen zurückreisen wollte. In der Nacht erschien ihm Dionysos und meldete seinen festen Anspruch auf Ariadne an. Diese Geschichte spiegelt sicher den alten Kulturtransfer wieder, der von Ägypten über Kreta, Naxos bis nach Athen reichte. Aber Naxos war auch eine Brücke nach Kleinasien. Die ältesten Skulpturen des Abendlandes aus Marmor sind hier unter dem Einfluss von Kleinasien entstanden.

Aber Hölderlin erwähnt nichts von diesen historischen Zusammenhängen. Er kannte Griechenland nur aus Reisebeschreibungen. Vor allem der Engländer Richard Chandler, ‚Doktor der Gottesgelahrtheit, Mitglied des Magdalenenkollegiums zu Oxford und der Gesellschaft der Altherthümer zu London‘ hatte mit seinen Reisebeschreibungen großen Einfluss auf Hölderlin. Aber Chandler hatte keine Beschreibung von Naxos und dem eigentlichen Archipelagos niedergeschrieben. Er bezeichnet das Meer der Griechen insgesamt als Archipelagos. Im dritten Kapitel seiner Beschreibungen von Kleinasien2 beschreibt er die Schiffsfahrt von Livorno ‚nach dem Archipelagos‘ und weiter nach Sunion.

Die Einfahrt in das Mittelmeer an der Straße von Gibraltar, wie sie Chandler schildert, spiegelt sich in Hölderlins Gedicht Archipelagos wieder.

Seevögel flogen, und zu allen Seiten bewegte sich eine Menge kleiner Schiffchen hin und her. Wir hatten ein sanftes Lüftchen, alle Segel beygesetzt … In diesem war das Wasser unruhig, und es machte ein Geräusch wie ein sanfter Bach, der über Kiesel hinrollt, da in den Gegenströmen es eben und glatt war, wie in einem Mühlenteiche, außer wo Albikoren, Delphine und andere Seeungeheuer, die zahllos um uns herumspielten, es in Bewegung setzten. Ihre glatten Seiten warfen die Strahlen der Sonne zurück, die an einem malerischen Himmel von hellem Blau, durch flockige, dünne Wolken gemildert, glänzte, und den Wellen, die uns anzulächeln schienen, ihre Heiterkeit mittheilte.

Zu den beiden ‚Seeungeheuern‘ ist in der deutschen Ausgabe von 1776 angemerkt: Albikoren: Thynnus oder Tonfisch und Delphine -Porpus, Delphinus phocaena. Die ‚Seeungeheur‘ sind also Delphine, die »aus der Tiefe gelockt am neuen Lichte den Rücken« sonnen.

Diese Schilderung hat Hölderlin offenbar tief beeindruckt, denn das Bild der Einfahrt in das Mittelmeer findet sich fast wörtlich im Archipelagos wieder. Aber ach, wie viel schöner sagt das doch der Dichter Hölderlin:

Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu deinen

Ufern wieder die Schiffe den Lauf, umatmen erwünschte

Lüfte dir die beruhigte Flut, und sonnet der Delphin

Aus der Tiefe gelockt am neuen Lichte den Rücken?

Die Schilderung Chandlers ist eine Reisebeschreibung, aber die Verse Hölderlin bekommen eine völlig andere Bedeutung. Sie schildern einen Neuanfang, einen Frühling nach einem langen, historischen Winter. Die Kraniche kehren, wie schon seit den Zeiten der Antike wieder zu dem lange vergessenen Meer der Griechen und künden einen neuen Frühling an. Aber für Hölderlin ist es nicht nur der Frühling des Jahres, sondern ein Frühling der Geschichte.

D.E. Sattler, der Herausgeber der historisch kritischen Frankfurter Hölderlin Ausgabe meinte Sattler, dass dieser Hymnus „nur“ historisch sei. Historisch ist er insofern, als er die Vergänglichkeit und die „reißende Zeit“ am Beispiel des antiken Griechenland schildert, die alles Bestehende wegreißt. Aber das Thema ist nicht nur historisch, es beschreibt die Not der reißenden Zeit. Im letzten Teil des Gedichtes gestaltet Hölderlin eine visionäre Lösung des Leidens an der reißenden Zeit aus der Stille in der Tiefe.

Genau genommen bezeichnet ja »Archipelagos« nur die Gruppe der griechischen Inseln vor der kleinasiatischen Küste. Aber Hölderlin gebraucht den Namen für das gesamte Griechenmeer. Der Archipelagos ist für Hölderlin wie für Chandler das Meer der Griechen, nicht eine bestimmte Region wie das Herzogtum Archipelagos. Die Herkunft des Namens ist unbekannt, aber Hölderlin hat die alte Bedeutung des Wortes πέλαγος Pelagos für das offene Meer gekannt. ἀρχή archē ist der Ursprung, der Anfang. Archipelagos meint dann das Meer, das der Ursprung von allem ist. Erst seit dem 13. Jhdt. wird das Wort für ein Meer mit vielen Inseln gebraucht.

Der Name Archipelagos ist aus zwei Bestandteilen gebildet: ‚Archē‘ ist die Herrschaft, ‚Pelagos‘ das Meer als das, was sich stetig bewegt und verändert. Das altertümliche griechische Verb πελωρ - pelōr meint ein ständig ruheloses in sich Kreisen. Der ’Ωρíωv πελωριον - Orion pelō