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Sarah und Quirin sind Freunde Plus.Doch macht diese Konstellation Sarah wirklich glücklich? Zumindest Quirin scheint zufrieden mit diesem Arrangement, bis Sarah ihren Job verliert, ein Telefonat belauscht und ihr Leben neu aufstellt. Nun droht auch seine heile Welt zusammenzufallen.Ein neuer Job, neue Pläne, neues Selbstbewusstsein und eine extra Portion Frauenpower Sarahs Follower auf Instagram feiern sie dafür, auch wenn ihr das zunehmend unwichtiger wird. Wie aber wird Quirin diesen Wandel auffassen? Werden er und Sarah einen Weg finden, ihr Arrangement in eine echte Beziehung zu führen, oder rufen diese Ereignisse nun auch nach dem Ende dieser Situationship?
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Claudia und Sassi
Ein kleines Hallo an dich
Hallo und herzlich willkommen in Einsiedl – oder eher »Pfiat di«, wie man hier in der Region zu sagen pflegt. Ich freue mich, dass du dich entschieden hast, deine Lesezeit mit meinem Buch zu verbringen, und wünsche dir dabei viel Freude und gemütliche Stunden.
Es wird nicht immer ganz einfach zugehen, denn Sarah und Quirin haben ganz schön viel zu regeln. Aber Gott sei Dank betreibt Julia in Einsiedl mit viel Herzblut das Café Seelenzauber, das seinen Besuchern eine ordentliche Prise Seelenzauber schenkt. Genau, du liest richtig. Julias Café bietet Zauber für die Seele.
Aber lies selbst, was es damit alles auf sich hat. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Spaß dabei.
Deine Sandra
1
Enttäuschungen
Das immer wiederkehrende Geräusch einer anfahrenden Trambahn holt mich aus dem Schlaf und vermischt sich mit dem Gefühl des Wachwerdens. Durch das Fenster scheint mir gnadenlos das helle Tageslicht ins Gesicht, sodass ich mich auf der unbequemen alten Ledercouch, auf der ich gestern bei meiner Freundin Tessa eingeschlafen bin, auf die andere Seite drehe und mir die kratzige Sofadecke über den Kopf ziehe.
Warum bin ich nicht einfach zu Hause in Kochel geblieben? Der Abend war ein absoluter Reinfall – wieder mal. Dabei hätte ich es dieses Mal wirklich besser wissen müssen. Die Abende in München sind nichts für mich – und mit Tessa im Schlepptau oder besser gesagt als deren Anhängsel erst recht nicht.
Für einen kleinen Moment verharre ich weiter unter der viel zu kurzen Decke, die nun zwar meine Augen, dafür aber nicht mehr meine Füße bedeckt, und realisiere, dass an Einschlafen nicht mehr zu denken ist. Nicht sonderlich erholt erhebe ich mich von meiner provisorischen Schlafstätte und greife nach meinem Handy, das unter mir auf dem Parkettboden liegt. Akku leer, Display schwarz. Mist! Heute ist Mittwoch, und ich muss zur Arbeit, weshalb ich dringend herausfinden sollte, wie spät es ist. Da ja schon die Sonne durchs Fenster scheint, ist es definitiv zu spät.
Vorsichtig schleiche ich an meiner schlafenden Freundin vorbei in die WG-Küche, wo die Uhr an der Wand acht Minuten nach sieben anzeigt. Es fühlt sich an, als würde mir jedes Ticken des Sekundenzeigers zugleich einen lauten Vorwurf mitschicken. Toll gemacht, Sarah, wirklich wunderbar. 7.08 Uhr ist bereits viel zu spät. Jetzt heißt es Gas geben.
Wo sind denn die anderen alle? Muss heute außer mir keiner zur Arbeit, oder warum sonst ist hier noch niemand auf den Beinen? Ich reibe mir die Schläfen und gehe meine Tagesplanung durch. Mittwochs steht nach der Arbeit im Kindergarten abends die Schicht bei Jake’s Burger in Garmisch an.
Wenn der Tag schon mit so einer Hetze beginnt, kann er gar nicht gut werden. Argh. Wie um alles in der Welt soll ich es pünktlich nach Kochel schaffen? Ich bin hier mitten in der Münchner Innenstadt, und mir bleiben weniger als zweiundfünfzig Minuten bis zu meinem Arbeitsbeginn. Ausgeschlossen.
Ich greife nach einem offenbar gespülten Glas, das umgedreht neben dem Spülbecken steht, fülle es mit Leitungswasser und trinke ein paar Schlucke daraus. Als ich anschließend ins Badezimmer eile, werfe ich im Vorbeigehen einen erneuten Blick auf Tessa, aber sie schläft nach wie vor selig.
Jetzt wird geduscht. So viel Zeit muss immer sein, sonst kann ich mich heute nicht ausstehen. Dann wäre es wahrlich das Beste, wenn ich mich direkt wieder auf die Couch verziehe und meinen Kopf unter der Decke verstecke. Bemüht, möglichst keinen Lärm zu machen, schließe ich vorsichtig die Badezimmertür hinter mir und atme erst dann laut aus. Nun kann ich mich etwas normaler bewegen.
Mein Blick gleitet durch den Raum, der sich am anderen Ende der WG-Wohnung befindet und damit weit genug entfernt von Tessas Zimmer, um sie mit meiner Morgenhygiene nicht doch noch aus dem Schlaf zu reißen. Ich möchte sie nicht sehen. Nicht im wachen Zustand. Aber vermutlich ist sie es gewohnt, dass ihre Mitbewohner Lärm verursachen. Ich hingegen wäre sicher wach geworden, wenn einer von ihnen die Wohnung verlassen hätte, solange ich noch geschlafen habe.
Es erschließt sich mir nicht, warum Tessa es bevorzugt, direkt in München zu wohnen und dafür gemeinsam mit den anderen Dauer-Single-Erwachsenen der WG die teure Miete zu bestreiten. Ich mag keine WG-Küchen und auch keine WG-Badezimmer. Irgendwie sind die immer schmuddelig, und von allem gibt es viel zu viel. Zu viel Haarshampoo, zu viele Zahnbürsten, zu viele unterschiedliche Handtücher, Tassen, Töpfe und Gewürze. Hat man mit neunundzwanzig nicht mal das Bedürfnis nach Ruhe und seinen eigenen vier Wänden? Mit Anfang zwanzig rochen auch für mich all diese verschiedenen Cremes und Duschgele nach Freiheit. Aber mittlerweile freue ich mich, dass ich mir mit niemandem mehr den Platz im Kühlschrank teilen und Putzpläne aufstellen muss, die am Ende dann doch immer nur ich eingehalten habe.
Ich liebe meine Wohnung in Kochel. Stelle ich Tessa allerdings diese Frage, bekomme ich stets dieselbe Antwort: »Wenn ich den Typ schlechthin kennenlerne, bin ich hier schneller raus, als du bis drei zählen kannst. Ich sehe es als notwendiges Übel.« Mehr und mehr durchschaue ich ihre Strategie dahinter – erst recht nach dem gestrigen Abend, bei dem sie ihrer Aussage noch das Krönchen aufsetzte. »Klar wäre es draußen am See günstiger, aber dort ist auch die Auswahl an Typen eher von der billigen Sorte.« Spätestens da hätte ich einfach in den Zug steigen und sie an der Theke ihrem Schicksal überlassen sollen. Zumal ich mich ja – ihrer Definition nach – auf einen dieser billigen Typen eingelassen habe. Doch die brave Sarah in mir ermahnte mich, über diese unterirdische Aussage hinwegzusehen.
Ich seufze müde bei dem Gedanken daran und steige trotz meiner Aversion in die WG-Dusche. Dabei streife ich den Duschvorhang, der mit hundertprozentiger Sicherheit gleich an mir kleben wird. Auch Duschvorhänge sind eine Sache für sich. Ich stelle das Wasser an und warte, dass es sich aufwärmt. Währenddessen binde ich mir meine hellbraunen, welligen Haare nach oben und lasse mich dann von dem heißen Wasser umspülen. Puh, das tut gut. Ich versuche, ruhig und tief zu atmen, um den Schreck des Verschlafens und die Auswirkungen der Hetze etwas von mir zu schütteln. Für einen kleinen Moment gelingt es mir auch. Das war wirklich das allerletzte Mal, dass ich mich von Tessa überreden ließ, zu ihr in die Stadt zu kommen, um Trostpflaster zu spielen.
Noch tropfend tapse ich aus der Dusche und nehme mir eines der sauberen Handtücher vom Stapel unter dem Waschbecken. Es ist zwar klein, tut aber dennoch seinen Job. Beim Blick in den Spiegel sehe ich gleich viel frischer aus, und die rötliche Verfärbung, die sich durch die Müdigkeit um das Weiß in meinen Augen gelegt hatte, ist auch verschwunden. Wenigstens kann ich etwas frischer in den Tag starten, als ich mich vor wenigen Minuten noch gefühlt habe. Ich tupfe mich grob mit dem Handtuch ab und wickle mich dann darin ein, ehe ich zurück in Tessas Zimmer flitze, um mich anzuziehen. Tessa, die mit einem außerordentlich guten Schlaf und, wie man meinen könnte, mit keinerlei Problemen gesegnet ist, bekommt davon nichts mit. Noch schnell meinen Rucksack zusammenpacken und los geht’s.
Leise ziehe ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss und eile auf die Straße hinaus. Die frische Morgenluft empfängt mich und sorgt dafür, dass ich vollends wach werde. Ich öffne auf meinem Handy die Bahn-App und gebe als Startort München Sonnenstraße und als Zielort Bahnhof Kochel ein. Es dauert nicht lange, bis die nächste passende Verbindung auf dem Display aufblinkt. Jetzt ist Rennen angesagt. Und zwar zum Hauptbahnhof.
Mit schnellen Schritten gehe ich die Sonnenstraße entlang und durch das Bahnhofsviertel. Ich betrete den Hauptbahnhof durch den Seiteneingang, renne quer durch die Bahnhofshalle bis zum Gleis 19 und erwische gerade noch den Zug, der mich nun in einer Stunde und siebzehn Minuten nach Kochel bringen wird. Ein Glück, dass er überhaupt fährt. Die Odyssee über Garmisch, die ich an manchen Tagen schon in Kauf nehmen musste, wenn es Probleme bei der Bahn gab, würde mir heute arbeitstechnisch einen Genickbruch bescheren.
Dennoch seufze ich laut, als ich endlich im Zug sitze. Nie wieder werde ich das tun, und ich ärgere mich am meisten über mich selbst. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich von Tessa dazu überreden ließ, zu ihr in die Stadt zu kommen, nur um dann durch irgendwelche Bars oder Kneipen zu ziehen, die mich überhaupt nicht interessieren. Es ist immer dasselbe Spielchen zwischen uns.
Wir kennen uns durch unsere Eltern und verbrachten früher als Familien so manchen Urlaub zusammen. Mittlerweile sind sowohl Tessas als auch meine Eltern getrennt und nicht mehr miteinander befreundet. Ich hingegen bin zu Tessas Spielball mutiert. Manchmal hänge ich an Zeiten und Erinnerungen, die ich festhalten möchte, also bemühe ich mich, unsere Verbindung aufrechtzuerhalten. Und Tessa tut das ebenfalls, zumindest auf ihre Art und Weise: Wenn sie niemanden mehr anrufen kann, um ihr Leid zu klagen, komme ich ins Spiel. Und was mache ich? Ich erhöre ihren Ruf, da ich mich irgendwie immer für den Gemütszustand meiner Mitmenschen verantwortlich fühle. Und wenn wir dann um die Häuser ziehen, ist es jedes Mal dasselbe: Tessa hat den Spaß ihres Lebens und poliert ihr Selbstbewusstsein durch zahlreiche Flirts auf, und ich komme mir neben ihr einfach nur doof vor.
Natürlich liegt das auch daran, dass ich theoretisch vergeben bin, doch was heißt das heutzutage schon? Für Quirin womöglich etwas anderes als für mich. Aber vielleicht braucht er einfach noch etwas Zeit. Zumindest hoffe ich das schon seit einer ganzen Weile.
»Jetzt hab dich nicht so. Von mir erfährt niemand was, und hier bekommt es doch eh keiner mit, wenn du mal ordentlich flirtest«, ermutigte mich Tessa gestern Abend immer wieder, während sie sich von verschiedenen Typen in ein Gespräch verwickeln ließ. Doch je öfter sie das tat, umso weniger wohl fühlte ich mich.
Letztlich endete unser Abend in einem Streit, weil ich mich endlich einmal traute, meinem angestauten Ärger Luft zu machen. »Jedes Mal, wenn du Bestätigung brauchst und sonst niemanden finden kannst, der mit dir loszieht, klopfst du bei mir an. Und sobald wieder alles glattläuft, bin ich für Wochen, manchmal sogar für Monate vergessen«, warf ich ihr vor und konnte zusehen, wie ihre Gesichtszüge immer mehr entgleisten.
»Das stimmt überhaupt nicht«, setzte sie zu einer faden Verteidigung an. »Du weißt doch, wie wichtig du mir bist. Was kann ich denn dafür, dass du in der Bar nicht so oft angesprochen wirst wie ich?«
Autsch. Das war unnötig. Denn sie wusste genau, dass ich mir neben ihr schon immer wie ein graues Mäuschen vorgekommen war. Mit ihren 1,78 Meter und geschätzten fünfzig Kilo ist sie ein echter Hingucker, und ihre überlangen braunen Haare glänzen mit ihrem Lipgloss und dem Nagellack um die Wette.
»Hast du dir schon mal überlegt, wie ich mich fühle, wenn ich stets aufs Neue feststellen muss, dass ich nur dein Lückenfüller bin, der dir deine zerplatzten Träume schönredet und dein Selbstwertgefühl aufpäppelt?« Wütend drehte ich mich weg und weinte in mein Kissen. Tessa hingegen schlief doch tatsächlich über meine Worte hinweg ein und tut das womöglich jetzt noch. Schön für sie.
Ich für meinen Teil werde meine Konsequenzen daraus ziehen. Das war mein letzter Besuch bei ihr in der Stadt. Soll sie sich doch ihre Bestätigung im Schoß ihrer neuen Verehrer suchen. München ist ohnehin nicht mein Pflaster, ich bin und bleibe ein See-Kind.
Genervt öffne ich die Instagram-App und betrachte meine Story vom Vorabend. Ein Foto von uns beiden an der Bar, wie wir die Köpfe zusammenstecken und aufgesetzt lächeln. Darüber ein wackelnder Sticker mit den Worten »Oldest friends«, und darunter tanzen sich viele rote Herzchen ihren Weg nach oben. Meine Freunde und Storyviewer haben das Foto mit einem Like versehen. Wenn die wüssten!
2
Wer zu spät kommt
Es ist 9.05 Uhr, als ich mit einer Stunde und fünf Minuten Verspätung auf den Parkplatz des privaten Kindergartens Die kunterbunten Fledermäuse einbiege. Gut, dass ich mein Auto direkt am Bahnsteig in Kochel geparkt hatte. Ursprünglich hatte ich angenommen, noch am Abend pünktlich nach Hause zurückzukehren, doch das hat sich ja durch unsere Diskussionen nach dem Barbesuch und meinen anschließenden Weinkrampf zerschlagen. Umso gelegener kommt mir diese Tatsache jetzt, sonst hätte ich den Bus nehmen müssen, und mein Zuspätkomm-Konto wäre um eine weitere Viertelstunde angewachsen.
Ich betätige den Türöffner mit meinem Chip und husche durch die Tür. Elvira aus der Küche ist bereits daran, den Salat zu waschen, und aus dem ersten Gruppenraum höre ich Kindergesang. Okay, sie sind beim Morgenkreis.
Die ganze Fahrt über habe ich krampfhaft überlegt, was ich zu meiner Entschuldigung vorbringen könnte. Aber nachdem auch mein komplett schwarzes Outfit trotz der schnellen Morgendusche nicht gerade dafürspricht, dass ich von zu Hause komme, habe ich mir vorgenommen, bei der Wahrheit zu bleiben. Das ist ohnehin besser.
Ich räuspere mich, klopfe an die Gruppentür, und als der Gesang dahinter verstummt, stecke ich meinen Kopf durch den Türspalt. »Hey, guten Morgen, ihr Mäuse!«, rufe ich gespielt fröhlich in die Runde und blicke dabei in freudige Kinderaugen. Herzzerreißend, wie wenig nachtragend, geschweige denn zeitorientiert Kinder sind. Ich bin jetzt da, und alle freuen sich – ganz im Gegensatz zu Kora, der Leiterin der Einrichtung, die mich über ihre Gitarre hinweg böse anfunkelt. Bettina, die Dritte im Bunde, meidet meinen Blick gänzlich. Jedoch nicht aus Missgunst, da bin ich mir sicher, sondern vermutlich aus Scham.
Ich setze mich in den Kreis, und wir singen weiter. Doch die vermeintliche Harmonie hält nicht lange an, denn schon bald nach dem gemeinsamen Gesang winkt Kora mich zu sich und bittet Bettina, inzwischen ein Auge auf die Kinder zu haben.
Mein Herzschlag schnellt in die Höhe, während ich auf Zehenspitzen über die noch am Boden liegenden Sitzkissen steige und zu meiner Chefin an den Schreibtisch gehe.
»Sarah«, zischt sie leise, als ich vor ihr stehe. »Das ist nun schon das zweite Mal in diesem Monat, dass du nicht nur ein bisschen, sondern eindeutig zu spät zur Arbeit erscheinst!« Ihre Augen mustern mich scharf.
Ich nicke vage und schlucke. »Bitte entschuldige, Kora, das war wirklich keine Absicht, ich …«
Doch Kora unterbricht mich barsch. »Spar dir deine Entschuldigungen, ich möchte nichts mehr hören. Zweimal ist einmal zu viel! Und außerdem … hattest du gestern Abend offenbar auch genügend Zeit, dich in der Stadt zu vergnügen, da verstehe ich, dass das Aufstehen morgens schwerfällt.« Abschätzig blickt sie auf mein Outfit. Na ja, so aufreizend ist das nun wirklich nicht, um mir eine durchzechte Nacht zu unterstellen.
Mir stockt der Atem. Meine Story! Sie muss meine Story gesehen haben. Schließlich folgt sie mir, seit ich ihr kürzlich gezeigt habe, wie sie am besten ihre Instagram-App bedient, um dort über Aktuelles aus dem Kindergarten zu berichten. Sie staunte nicht schlecht über meine Fähigkeiten und meine stattliche Anzahl von knapp elftausend Followern und folgte mir dann auch umgehend. Da habe ich nun den Salat.
Ein dicker Kloß wandert meinen Hals entlang nach oben. »Aber in der letzten Woche war doch der Schichtplan vertauscht«, versuche ich, mich zu verteidigen.
»Es gibt keine weiteren Entschuldigungen und basta!«, herrscht Kora mich nun so streng an, dass selbst Bettina etwas neugierig aus der Bastelecke zu uns herüberschielt. »Ich führe hier eine private Einrichtung. Die Eltern dieser Kinder zahlen viel Geld nicht für dein Zuspätkommen, sondern für eine optimale Versorgung ihrer Kinder. Doch mit dieser Arbeitseinstellung, die du an den Tag legst, kann ich das nicht garantieren. Ich denke, wir haben uns verstanden.«
Nun ruht Bettinas Blick etwas länger auf mir, und ich meine, darin auch Schrecken erkennen zu können. Ob Kora das sagen will, was ich in Bettinas Gesicht zu lesen glaube?
»Ähm, aber … heißt das, ich kann doch bleiben, oder?«, stottere ich verdutzt.
Kora schenkt mir ein selbstgefälliges Lächeln. »Du kannst gerne noch bis Ende Mai bleiben, dann endet deine Probezeit und damit auch deine Anstellung bei mir. Ich denke, du warst in der städtischen Einrichtung in Garmisch besser aufgehoben, dort kann man sich solche Späße vielleicht eher erlauben.« Auf welche Späße sie genau anspielt, erschließt sich mir nicht so ganz.
Ohne Erfolg versuche ich, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, und entschuldige mich, um aus dem Raum zu gehen und mich für einen Moment auf die Toilette zurückzuziehen.
Was für ein widerlicher Mensch Kora doch ist! Seit meinem ersten Tag hier hat sie mich immer wieder auf dem Kieker und mich dennoch stets mit ihren Anflügen von Nettigkeit überlistet. Nicht einmal ließ sie mich zu Wort kommen, wenn ich etwas Wichtiges zu sagen hatte. Was denkt sie eigentlich, wer sie ist? Tessas Mutter? Zwei solche Menschen innerhalb von vierundzwanzig Stunden sind eindeutig zwei zu viel.
Mir wird schwindelig. Ich setze mich auf die zugeklappte Toilettenschüssel, nehme ein paar tiefe Atemzüge und versuche, mich zu beruhigen. Gott sei Dank hatte Bettina die Kinder gerade gut damit eingespannt, Tierformen zum Ausschneiden zu malen, sodass sie von unserer Unterredung nichts mitbekamen.
Koras ganze Aura ist so unangenehm. Wie schafft sie es mit diesem Charakter überhaupt, so erfolgreich einen Kindergarten zu leiten? Das kann nur am akuten Platzmangel der gemeindlichen Einrichtungen liegen. Plötzlich sehe ich in meinen Gedanken Dollarzeichen hinter ihren Augen. Jawohl, das allein wird der Grund sein. Wahrscheinlich hat sie eine dümmere und noch günstigere Arbeitskraft als mich gefunden, um ihre Farce von den bunten Fledermäusen aufrechtzuerhalten. Sie ist definitiv die am wenigsten bunte Fledermaus von allen. Ja, rabenschwarz ist sie.
Wütend wische ich mir eine Träne weg, die sich in der Zwischenzeit ihren Weg auf meine Wange gebahnt hat. Puh, jetzt heißt es, erneut auf Stellensuche zu gehen. Oder auf die Suche nach mir selbst? Dieser zweite Gedanke zieht mich noch weiter hinunter, als mir lieb ist. Suchend, als würde ich in dieser Toilettenkabine die Antwort auf all meine Fragen finden, fällt mein Blick auf die Papierrolle und die Klobürste neben mir. Wie einladend. Und wie sinnbildlich. Soll sich ein Neuanfang nicht anders anfühlen? Eigentlich sollte ich diesen jämmerlichen Anblick von mir meinen Followern zeigen, aber wer möchte schon der Realität ins Auge blicken? Offenbar nicht einmal ich selbst.
Ich raffe mich auf und verlasse die Toilettenkabine. Schluss damit. Nachdem ich mir mein Gesicht mit kühlem Wasser gewaschen habe, gehe ich zurück in den Gruppenraum. Wenn ich schon hier aufhören muss, dann verabschiede ich mich gebührend von meinen Kleinen, indem ich uns eine innige letzte Woche zusammen schenke. Sollen sie danach ruhig Kora ihren fiesen Kopf vollheulen, wenn sie mich vermissen. Sie wird schon noch sehen, was sie davon hat, mich ziehen zu lassen.
»So, welche kleinen Hände brauchen Hilfe beim Ausschneiden?«, flöte ich in die Runde, als ich die Tür öffne. Die vielen kleinen Kinderarme, die nun in die Höhe schnellen, legen sich wie ein Pflaster um mein Herz. Immer wird es mir nicht gelingen, es zu flicken, doch ich werde zukünftig versuchen, besser darauf Acht zu geben.
Und wie so oft mischt sich eine ordentliche Portion Selbstzweifel unter meine Schutzfassade. Was, wenn ich so, wie ich bin, wirklich verkehrt bin?
3
Neuigkeiten
Du bist was?«, fragt Quirin mich lachend. »Bei den Fledermäusen rausgeflogen?!«
Während ich nach meiner Schicht im Kindergarten von Kochel nach Garmisch fahre, habe ich ihn vom Auto aus angerufen, um ihm von Koras Kündigung zu erzählen.
»Rufe es doch am besten noch lauter über den Sportplatz«, motze ich.
»Ja, okay, aber entschuldige, das muss man echt erst einmal schaffen. Als Erzieherin aus dem Kindergarten zu fliegen«, scherzt er in typischer Quirin-Manier. Auf mich wirkt es, als wolle er diese Neuigkeit für mögliche Zuhörer auf seiner Seite der Telefonleitung wiederholen.
Diese Reaktion passt zu ihm. Als Nächstes lässt er sich bestimmt über meine Social-Media-Aktivitäten aus und schlägt mir vor, es dort zu posten. Doch Gott sei Dank hütet er sich davor. Wäre er nicht so unglaublich gut aussehend und manchmal auch charmant, hätte ich mich schon lange aus der Verbindung mit ihm gelöst. Aber wir sind schon seit einigen Jahren Freunde. Erst kannten wir uns nur flüchtig, dann begegneten wir uns immer mal wieder, und seit geraumer Zeit sind wir auch etwas mehr. Zumindest für mich. Und manchmal auch für ihn. Es ist kompliziert. »Und ziemlich normal heutzutage«, wie mich Tessa gestern bei meinem Versuch, mich ihr anzuvertrauen, wissen ließ. Aber mein Vertrauen werde ich ihr fortan nicht mehr schenken. Nicht einen einzigen Anruf von ihr – auch keinen verpassten – hatte ich heute auf meinem Handy. Beim Gedanken daran spüre ich einen fiesen Stich in meiner Magengegend.
»Ich erkläre es dir später«, wiegele ich schnell ab. Wenn Quirin mit seinen Jungs zusammen ist, macht es generell keinen Sinn, mit ihm zu sprechen. So viel habe ich schon verstanden, seit da mehr ist zwischen uns.
Nachdem ich mein Auto vor Jake’s Burger Bar geparkt habe, zwinge ich mich dazu, Tessas Nummer zu archivieren, um nicht Gefahr zu laufen, mich doch wieder bei ihr zu entschuldigen. Ich möchte sie nicht gleich löschen, aber sie zu archivieren, ist sicher ein guter Anfang, um mich endlich ein wenig von ihr zu distanzieren.
Im Moment steht mir der Sinn danach, Quirins Nummer ebenfalls zu archivieren. Seine Reaktion eben hat nicht gerade dafür gesorgt, dass ich mich besser, geschweige denn selbstbewusster fühle. Er weiß doch wirklich am allerbesten, wie ätzend Kora sein kann! Seit Wochen klage ich ihm tagtäglich mein Leid über ihre miese Art. Wie kann er nun so höhnisch darauf reagieren?
Während ich aus dem Auto aussteige, schiebe ich diesen Gedanken vorerst beiseite. Ich werde Quirin morgen Abend, wenn wir uns treffen, noch einmal darauf ansprechen und ihm außerdem von dem unschönen Ausgang mit Tessa berichten. Mit ein bisschen Einsicht wird er sich bestimmt auf seine ganz eigene Art und Weise bei mir entschuldigen. Und dennoch sollte ich auch ihm endlich mal seine Grenzen aufzeigen. Jetzt aber nicht. Jetzt heißt es erst einmal volle Konzentration auf meine Schicht in Jake’s Burger Bar, nicht, dass ich mir diesen Job auch noch verpatze. So, wie der Tag bislang verlaufen ist, würde mich das absolut nicht wundern.
Ich gehe geradewegs zu meinem Platz hinter dem Tresen und begrüße Jake, den Inhaber der Bar, der mich schon freudig erwartet. Er heißt eigentlich Jakob, doch so nennt ihn keiner. Jake ist ein herzensguter und zugleich lässiger Kerl. Schon seit ich ihn kenne, wundere ich mich, wie er es schafft, immer so frisch und fit auszusehen. Das muss an seinen Genen liegen – und an dem gepflegten Dreitagebart. Wenigstens hier passt mein schwarzes Ausgehoutfit von gestern Abend perfekt.
»Schau mal da drüben, die müsstest du doch kennen. Ist das nicht Lisa, die in Einsiedl das Blumengeschäft hat?« Er deutet mit dem Kopf zu einem Tisch, und ich staune nicht schlecht, als ich Xavers Freundin Lisa mit einer anderen jungen Frau dort sitzen sehe.
Xaver ist einer von Quirins Fußballkumpeln, die regelmäßig Jake’s Burger Bar besuchen. Lisa und Xaver sind ein Herz und eine Seele. Sie in Begleitung einer Freundin und vor allem ohne Xaver hier zu sehen, ist äußerst ungewöhnlich.
»Ich sage nur mal eben Hallo«, lasse ich Jake wissen und lege die Schürze, die ich mir gerade umbinden wollte, noch einmal auf die Seite. Eilig gehe ich um die Theke herum und zu den beiden Mädels an den Tisch. Allem Anschein nach sind sie bereits am Aufbrechen, da meine Kollegin Antonia gerade bei ihnen abkassiert.
Als Antonia fertig ist, trete ich näher, sodass Lisa mich jetzt auch erkennt. Freudig steht sie von ihrer Sitzbank auf und zieht mich in eine kurze Umarmung. »Hey, Sarah, darf ich vorstellen? Das ist Julia, meine beste Freundin aus Kindheitstagen. Sie ist neu hier draußen bei uns am See und steht kurz vor der Eröffnung ihres Cafés in Einsiedl.«
Ach, das ist Julia? Quirin hat diesen Namen erst neulich erwähnt, als ich ihn in seiner Werkstatt besuchte – wenn ich mich recht erinnere, war es im Zusammenhang mit dem alten Kiosk neben dem Bootshaus, das sein Fußballfreund Fabio neuerdings gepachtet hat. Freundlich winke ich Julia zu.
»Und das ist Sarah, Quirins Freundin. Sie arbeitet hier in der Küche«, schließt Lisa die kleine Vorstellungsrunde ab.
»Freut mich!« Ich strecke Julia meine Hand entgegen. »Ich glaube, ich habe kürzlich über Quirin von dir erfahren. Kann es sein, dass er dir gerade ein Schild für dein Café schreinert? Er hat in den letzten Tagen in seiner Werkstatt schon daran gearbeitet, und der Name Seelenzauber hat mich neugierig gestimmt.«
Es war tatsächlich so. Als er mir in seiner Schreinerei davon berichtete, dass in Einsiedl ein neues cooles Café entsteht, war ich direkt Feuer und Flamme.
Julias Augen weiten sich, und ein breites Lächeln legt sich über ihr Gesicht – womöglich das herzlichste Lächeln, das ich heute, wenn nicht sogar seit Tagen empfangen habe.
Hinter vorgehaltener Hand grinse ich. »Ich beklage mich immerzu, wie schrecklich schwierig es ist, hier draußen am See mal ein hippes Café zu finden, das nicht nur Brezn, Ei und Käseplatte anbietet.« Ich hoffe, ich präsentiere mich gerade nicht zu redselig. Mein Blick fällt auf Jake. Ich sollte sowieso schnell zurück hinter die Theke.
Doch meine Zweifel in Bezug auf das, was ich soeben von mir gegeben habe, waren offenbar umsonst, denn Lisa klatscht nun fröhlich in die Hände. »Na, dann haben sich ja zwei gefunden«, schlussfolgert sie und wackelt verschwörerisch mit dem Kopf.
»Ja, komm unbedingt vorbei«, lädt Julia mich ein. »Ich eröffne am 1. Juni, und eine kleine Einweihungsparty möchten Fabio und ich auch noch veranstalten.«
Ah, sie gehört also wirklich zu Fabio. Ja klar, das macht Sinn. Bootsverleih und Café – das passt perfekt zusammen.
»Aber das wirst du ja dann durch Quirin erfahren, falls du es vorher nicht schaffst«, fügt Julia noch hinzu.
Bei ihren Worten zucke ich ein wenig zusammen. Womöglich schon, vielleicht aber auch nicht. Das hängt von Quirin ab. Manchmal selektiert er, was er mir sagen beziehungsweise wo er mich dabeihaben möchte. Ich überspiele die Situation mit einem Lächeln, und wir verabschieden uns voneinander.
Schnell eile ich zurück zu Jake und nehme meine Arbeit auf. Die Burger Bar füllt sich für den Abendbetrieb, und die ersten Getränkebestellungen gehen ein. Julia und Lisa, Julia und Fabio, Lisa und Xaver – die Gedanken schwirren mir im Kopf herum, während ich Milch für den Kaffee aufschäume, Softdrinks eingieße und fruchtige Cocktails mixe.
Lisas Worte von vorhin hallen erneut durch meinen Kopf: Und das ist Sarah, Quirins Freundin … Lisa scheint Quirin und mich doch irgendwie als Einheit zu sehen, denke ich mir und spüre ein kleines Zucken am Mundwinkel. Vielleicht ist das mit uns beiden ja doch vielversprechender, als es mir manchmal scheint.
4
Die richtigen Freunde
Als ich am nächsten Morgen vom aggressiven Piepsen meines Weckers aus dem Schlaf gerissen werde, steckt mir die Spätschicht vom Vorabend noch in den Gliedern. Für einen kurzen Moment überlege ich, die Arbeit bei den Fledermäusen für die kommende Woche – die seit gestern zugleich auch meine letzte Woche ist – einfach sausen zu lassen und mir eine Krankmeldung zu beschaffen. Nach Koras mieser Kündigungstaktik steht mir wirklich der Sinn danach. Doch dann denke ich an meine kleinen Mäuse in der Einrichtung und beschließe, die verbleibende Woche durchzuziehen und mein Bestes zu geben. Jede Minute und jedes liebe Wörtchen, das ich den Kleinen in den kommenden Tagen noch schenken kann, sind es wert.
Ich recke mich und setze mich auf die Bettkante. Heute nach der Dusche kann ich wenigstens in frische Kleidung schlüpfen – ein herrlicher Gedanke! Aber den Wecker muss ich dringend entsorgen. Wer lässt sich heutzutage noch so unspektakulär wie ich von einem Oldschool-Gerät wecken? Gibt es diese Menschen überhaupt noch da draußen?
Ich nutze den Moment für eine kleine Fragerunde in meiner Instagram-Story. Zack, und ein Foto des Weckers ist gemacht. Davor blitzt der Fragesticker: »Wie lässt du dich wecken?« Ich bin mal gespannt, was für Empfehlungen ich bekomme. Es kann ja nur besser werden.
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen mache ich mich auf den Weg ins Bad. Ich mag Kochel und meine kleine Wohnung. Schon bei der Besichtigung habe ich mich direkt in den Grundriss verliebt. Vom Balkon aus habe ich gerade noch Sicht auf den herrlichen Kochelsee, und das Gebäude, in dem sich die Wohnung befindet, gehört zur Kategorie moderner Traditionsbau. Überall ist helles Holz verbaut: am Dachstuhl, der das massive rote Ziegeldach trägt, an den Fensterläden und den Balkonen. Dadurch harmoniert alles wunderbar mit dem Inneren der Wohnung, wo die Fußböden und Türen aus demselben hellen Holz gefertigt sind.
Dass ich Quirin erst zu Berufsschulzeiten auf verschiedenen Partys kennenlernte, grenzt an ein Wunder. Einsiedl und Kochel sind unweit voneinander wunderschön am See gelegen. Einsiedl verfügt über keine eigene Grundschule, und so besuchen die meisten Kinder aus dem Dorf die Schule in Kochel. Da Quirins Mutter aber in Garmisch arbeitet, ging er dort zur Schule, weshalb wir uns erst später im Leben begegnet sind.
Heute betreibt er seinen eigenen Schreinereibetrieb in Einsiedl, und seine Auftragsbücher sind voll. »Die Leute legen wieder mehr Wert auf ordentliche Handarbeit und vor allem auf ausgezeichnete Qualität«, pflegt er immer zu sagen, wenn ihn jemand auf seinen Beruf anspricht. Ich muss zugeben, auch ich war zuerst etwas verwundert über seinen Traum von einer eigenen Schreinerei, doch wenn ich bei ihm in der Werkstatt stehe und mir seine individuellen Designanfertigungen anschaue, leuchtet es mir voll und ganz ein. Am meisten jedoch liebe ich dort den Geruch nach Holz und Sägespänen.
Wenn ich dann mit diesem Duft in der Nase die Werkstatt verlasse, über den Hof gehe und am Ende der von schmucken Fachwerkhäusern gesäumten Straße das Alpenpanorama vor mir sehe, macht dies immer etwas mit mir. Und das, obwohl ich mich eigentlich so oft wie möglich ans Meer träume. Der Gedanke an Sand zwischen den Zehen und sanfte Wellen, die meine Füße umspülen, ist einer meiner häufigsten Tagträume. So konnte Quirin mein Herz im letzten Sommer schnell erobern, als er mich nach Feierabend aus einer Laune heraus an eine romantische Stelle am See zwischen Einsiedl und Niedernach entführte, wo es den einzigen Sandstrand am See gibt. Herrlich. Barfuß und mit feinem Sand an den Füßen verbrachten wir dort einen lauen Sommerabend. Die Sterne standen hell am Himmel, und die Funken sprühten nur so zwischen uns.
Nun ja, vielleicht vertage ich mein Vorhaben, ihn heute Abend etwas forscher zur Rede zu stellen, doch lieber noch ein wenig. Schließlich sieht auch Lisa uns als Pärchen, da bin ich bestimmt nur zu kritisch. Wer sagt, dass es nicht genau heute wieder so angenehm knistern wird zwischen uns? Quirin ist jedenfalls unberechenbar. Nur in einer Sache nicht: Auf meinem erfolgreichen Instagram-Kanal möchte er unerwähnt bleiben. Das gefällt mir nicht so sehr, ich muss es jedoch akzeptieren.
Nach einer ausgiebigen Dusche, die meine Verspannungen vom Vorabend ein wenig löst, ziehe ich mich zügig an und mache mir einen Früchtetee zum Mitnehmen. Für ein Frühstück bleibt keine Zeit mehr – das ist wirklich eine schlechte Angewohnheit, die ich bei meinem nächsten Job besser in den Griff bekommen muss.
Als ich kurz vor dem Verlassen der Wohnung meine Instagram-Story checke, freue ich mich über die unzähligen Nachrichten, vor allem aber über die beiden von Vanessa und Lena. Vanessa ist die einzige wirklich enge Freundin, die ich hier in Kochel habe, und Lena ihre Cousine. Die beiden sind wie Schwestern, und wir ziehen regelmäßig, zumindest wenn es unsere Zeitpläne zulassen, gemeinsam los. Mit Vanessa und Lena fühle ich mich immer pudelwohl, denn in ihrer Gegenwart kann ich mich einfach geben, wie ich bin. Meist fühle ich mich dann wie die dritte Schwester oder Cousine im Bunde.
»Es wird Zeit, dass du Geburtstag hast. Ich weiß, was ich dir schenken werde«, droht mir Vanessa in ihrer Sticker-Antwort, und Lenas Emoji einer strahlend gelben Sonne spricht für sich. Vielleicht die einfachste Idee – nur nicht, wenn ich auf jeden Fall pünktlich sein muss.
Ich schiebe mein Handy in den Rucksack, schnappe mir meinen Tee und die Autoschlüssel und düse los zu den kunterbunten Fledermäusen. Wenn meine Follower wüssten, wie es gerade wirklich um mich steht, würde ich womöglich gleich einmal die Hälfte von ihnen verlieren. Wie gut, dass man die Realität nicht immer preisgeben muss, erst recht nicht in den sozialen Medien.
5
Allerlei Eindrücke
Nach der Arbeit im Kindergarten, während der ich auch meine Unterschrift auf Koras offizielles Kündigungsschreiben setze, fahre ich am frühen Abend nach Einsiedl und mache an dem kleinen Biomarkt Halt. Gerade als ich aussteige, laufe ich Freddi, einem weiteren Freund von Quirin, in die Arme. Ihm gehört die Bäckerei Mehlzauber am Marktplatz.
»Na, schon Feierabend?«, rufe ich ihm fröhlich zu.
Wir begrüßen uns mit einer kurzen Umarmung, und Freddi berichtet mir, dass er auf dem Weg zum Bootshaus ist, um sich mit Julia, der neuen Besitzerin des Cafés, zu treffen und zukünftige Bestellungen zu besprechen.
Schon wieder Julia. Sie scheint hier mächtig Wellen zu schlagen. Aber wieso auch nicht? Ich fand sie gestern Abend unheimlich sympathisch und hätte am liebsten noch länger mit ihr geplaudert.
Wir verabschieden uns voneinander, und ich blicke Freddi noch nach, wie er sich über den kleinen Marktplatz in Richtung der Treppe aufmacht, die zum See hinunterführt.
Quirins Freunde Fabio, Freddi, Xaver und Dante sind wirklich süß – und stattliche Kerle, die sich allesamt etwas aufgebaut haben. Fabio spielte bis vor zwei Jahren professionell Fußball in Mailand, landete dann aber nach einer schweren Verletzung hier bei seinem Onkel Maurizio. Er betreibt seit Kurzem das Walchensee Watersports und Meer, Freddi führt die Bäckerei im Ort, Xaver ist Snowboardlehrer und arbeitet in Garmisch in einem Sportgeschäft, und Dante baut erfolgreich Webseiten.
Und auch Einsiedl habe ich ins Herz geschlossen. Die Gemeinde hat sich in den letzten Jahren vorbildlich entwickelt. Gleich zu Beginn, wenn man das Ortseingangsschild hinter sich gelassen hat, passiert man Lisas Blütenmeer, den Blumenladen von Lisa. Nach der ersten Kurve kommt man an einem Friseursalon vorbei, der im Erdgeschoss eines modernisierten Fachwerkhauses angesiedelt ist, und nach ein paar hundert Metern hat man schon den Marktplatz und damit das Zentrum von Einsiedl erreicht. Um den kleinen Brunnen mit der Wasserfontäne in der Mitte des Platzes haben sich verschiedene Geschäfte angesiedelt. So findet sich gleich neben Freddis moderner Bäckerei ein süßer Buchladen, dazu ein kleiner Bio-Supermarkt, das in seiner Größe sehr überschaubare Rathaus und zur Seeseite gelegen eine Eisdiele, die in einem hellen Fachwerkhäuschen beheimatet ist. Platzhirsch ist hier das Ristorante di Maurizio. Das Lokal inklusive ein paar Gästezimmern gehört Fabios Onkel Maurizio und befindet sich in einem großen hellgelben Haus mit weißen und dunkelbraunen Holzelementen und einladender Beleuchtung ringsherum. Von der Terrasse des Restaurants hat man einen imposanten Blick auf die Alpen, die den türkisblauen Walchensee von allen Seiten umgeben. Gleich neben dem Restaurant führt eine Treppe hinunter zu Fabios Bootshaus und Julias zukünftigem Café. Der Wasserzugang dort unten ist ein beliebter Ort bei Spaziergängern und über eine kleine Straße, die in einen Parkplatz mündet, auch von der Hauptstraße aus zu erreichen.
Ich seufze kurz und gehe dann wieder meinem eigentlichen Vorhaben nach: frischen Spinat, Lachs und Pasta zu kaufen. Vorhin auf Instagram habe ich ein entsprechendes Rezept gesehen, das ich später bei Quirin für uns beide kochen möchte.
Wenig später fahre ich auch schon auf dem Parkplatz seiner Schreinerei vor. Ganz zu meiner Freude begrüßt Quirin mich heute stürmischer als erwartet, und ich bin augenblicklich froh darüber, dass ich mein Vorhaben, ihn heute Abend zur Rede zu stellen, bereits nach dem Treffen mit Freddi ad acta gelegt habe. Reden ist sowieso nicht sein Ding, und am besten ködert man Männer doch immer mit einem guten Essen und entspannter Stimmung. Wenn ich eines aus unserer Zeit als Freunde ohne Zusatz gelernt habe, dann ist es die Erkenntnis, dass Männer keinen Bock auf Drama haben. Mit ewigem Reden werde ich Quirins Herz niemals ganz für mich gewinnen. Also habe ich mich auch heute wieder dazu entschlossen, den Fokus auf Kochen und Zärtlichkeiten zu lenken, und als ich diese Schwingungen auch von seiner Seite spüre, schalte ich in den Genussmodus.
»Dein Genuss wird nicht von langer Dauer sein, wenn du so weitermachst«, ermahnt mich Vanessa am nächsten Morgen, als ich sie auf dem Weg zur Arbeit anrufe.
Mist, mit ihren pragmatischen Worten macht sie den ganzen Vibe direkt wieder zunichte. Ich hätte still sein sollen. Das war ich ja eigentlich auch, doch anhand der Fotos von Tellern und Speisen in meiner Story vom Vorabend hatte Vanessa erkannt, dass ich den Abend mit Quirin verbracht haben musste. Daraufhin bat sie mich in einer mit einem Ausrufezeichen versehenen WhatsApp-Nachricht um einen Rückruf. Vanessa weiß um meine Probleme mit Quirin. Nicht selten klage ich ihr mein Leid, seit er und ich uns auf intimerer Ebene begegnen.
»Aber Nessi«, so nenne ich sie liebevoll, wenn ich um ihr Wohlwollen buhle, »du weißt, wie sehr er mir den Kopf verdreht hat. Wenn ich ihn jetzt zur Rede stelle, macht er ganz schnell einen Rückzieher, und dann habe ich nicht nur die Liebe meines Lebens verloren, sondern zugleich auch meinen besten Freund.«
Vanessa rollt nun mit den Augen, da bin ich mir ganz sicher. »Die Liebe deines Lebens würde sich nicht immer wieder mit dir vor der Öffentlichkeit verstecken, und ein guter Freund lässt einen so oder so nicht im Stich«, erwidert sie barsch. »Zumindest sollte er einen nicht im Stich lassen.«
»Du hast so gar kein Vertrauen in ihn, oder?« Mit dieser Frage gehe ich erneut in die Verteidigung. Verdammt. Dabei weiß ich, wie gut sie es doch mit mir meint. Davon könnte sich Tessa eine dicke Scheibe abschneiden. »Und außerdem versteckt er mich nicht vor der Öffentlichkeit«, füge ich hinzu, als ich mich bereits dem Kindergartengebäude nähere und den Blinker setze. »Ich kenne alle seine Freunde. Vor denen versteckt er mich schon einmal nicht, und ich denke, das ist doch ein gutes Zeichen.« Ich komme auf dem Parkplatz zum Stehen und schnalle mich ab.
»Okay, wie ich höre, bist du jetzt da. Lass uns später noch mal sprechen, ich sehe das etwas anders«, verabschiedet sich Vanessa. »Hab ein paar schöne letzte Stunden mit deinen Kids, Süße!«
Wir legen auf, und ich mache mich an die Arbeit. Heute steht ein großer Spaziergang mit den Kindern am Seeufer an, und ich freue mich jetzt schon auf die herrlichen Fotos, die ich dabei am See für mein nächstes Reel aufnehmen kann. An diesem Vormittag ist das Wasser viel ruhiger als am Wochenende, wenn ich sonst dazu komme. Und die Eltern werden es sowieso lieben, wenn ich ihnen zu meinem Abschied ein paar besondere Bilddateien ihrer Kinder mit dem kristallklaren Wasser und dem Alpenpanorama zukommen lasse.
Als ich die Fledermäuse kurz nach fünfzehn Uhr zum letzten Mal verlasse, spüre ich einen kleinen Druck auf dem Herzen. Die Verabschiedung durch die Eltern, die ihre Kinder bereits abgeholt und dabei von meinem plötzlichen Weggang erfahren haben, war so herzlich, dass es mir richtiggehend schwerfällt, heute von hier fortzugehen. Im Nachhinein bin ich sehr froh darüber, dass die Kündigung so abrupt vonstattenging. Eine längere Verabschiedung inklusive einer Geschenkübergabe oder gar Ansprache hätte mich in ein heulendes Häufchen Elend verwandelt, und das hätte ich den süßen Kleinen zum Abschied wahrlich nicht gern präsentiert.
Als ich mich meinem Auto nähere, klemmt ein sandfarbener Flyer hinter dem Scheibenwischer. Verwundert wende ich ihn in meinen Händen und freue mich, als ich darauf das Logo von Julias Café erkenne, das Quirin auch auf das Schild geprägt hat. Café Seelenzauber – Öffnungszeiten und Kursplan.
Wie cool, was für ein Kursplan? Ich setze mich ins Auto und überfliege die Informationen.
Dienstag, Mittwoch und Freitag, 7.30 Uhr: aktive Entspannung
Dienstag und Donnerstag, 17.00 Uhr: Entspannung pur
Sonderprogramm siehe Aushang
Darunter stehen die Öffnungszeiten des Cafés:
Dienstag bis Sonntag 9.30 Uhr bis 16.30 Uhr
Montag Ruhetag
Julia bietet in ihrem Café Seelenzauber ab der kommenden Woche nicht nur leckere Speisen an, sondern auch ein Kursprogramm zum Thema Entspannung? Ein Volltreffer für mich. Die Frau kommt wirklich wie gerufen. Ob sie wohl eine helfende Hand braucht?
Schnell verwerfe ich den Gedanken wieder. Zuerst einmal muss sie das Café eröffnen, und dann sollte ich sie noch ein wenig besser kennenlernen. Und wer weiß, vielleicht hat sie auch schon jemand anderen, der für sie arbeitet.
Ich überfliege erneut die auf dem Flyer abgedruckte Speisekarte, und bereits beim Lesen läuft mir das Wasser im Mund zusammen: Avocadobrot, Bowls, Banana Bread, Smoothies und feine Heißgetränke. Hätte Julia doch nur schon geöffnet, dann könnte ich jetzt direkt zu ihr fahren. Hungrig überprüfe ich noch einmal das Eröffnungsdatum, aber es ist immer noch dasselbe: Dienstag, 1. Juni. Immerhin gleich nächste Woche, da muss ich mich ja wirklich nur noch ein paar Tage gedulden.