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Neuanfang fernab der Großstadt Julia, Paartherapeutin aus München, sieht sich nach dem Ende ihrer zehnjährigen Beziehung einem Neuanfang gegenüber. Ursprünglich plant sie, nach Hawaii zu reisen, um an einem Retreat teilzunehmen, doch das Schicksal führt sie stattdessen an den Walchensee, in das fiktive, lebhafte Örtchen Einsiedl außerhalb von München. Ein neues Leben am Walchensee In Einsiedl, wohin sie dank ihrer Freundin Lisa gelangt, macht Julia bedeutende neue Bekanntschaften, die ihr Leben nachhaltig verändern. Sie übernimmt einen stillgelegten Kiosk mit einem angrenzenden Apartment direkt am See und verwandelt diesen in das Café Seelenzauber. Neben einer verlockenden Speisekarte bietet das Café Entspannungskurse an, die Julia selbst leitet. Es entwickelt sich schnell zu einem neuen Anziehungspunkt für Einheimische und Besucher aus der Ferne. Romantische Verwicklungen Julia teilt sich den Zugang zum See mit dem attraktiven italienischen Fußballer Fabio, der nach einer Verletzung und einer Trennung ebenfalls in Einsiedl einen Neustart wagt. Zwischen den beiden entflammt die Liebe. Trotz Julias anfänglicher Zurückhaltung, beginnen sich ihre Gefühle zu vertiefen. Doch das junge Glück wird von Patrizia, Fabios eifersüchtiger Ex-Freundin, auf die Probe gestellt. Begleite Julia in Band 1 von "Café Seelenzauber am See" umgeben von Sommerluft, einem Cozy-Setting, Flirts in See-Atmosphäre und ein Neubeginn umgeben von schönster Natur.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2024
Für Müller-Oma und -Opa
sowie Diemer-Oma und -Opa.
Danke für eure Liebe und alles andere.
Ein kleines Hallo
an dich
Ich freue mich, dass du dich dazu entschieden hast, mein Buch zu lesen, und wünsche dir ganz viel Lesefreude und kuschelige Lesemomente. Ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen, aber ich freue mich, wenn du dich von mir einfach mal entführen lässt und voll und ganz in diese Geschichte eintauchen kannst. Mein größtes Glück ist es, wenn du am Ende das Buch mit einem Lächeln auf den Lippen zuklappst und dich auf ein Nachhausekommen in Band zwei freust. Denn diesen wird es geben. Und auch einen dritten Band und … wer weiß.
Nun wünsche ich dir viel Freude, Herzklopfen und eine tolle Lesereise mit meiner lieben Julia und all den anderen Figuren der Geschichte. Es geht nach Bayern an den Walchensee in einen fiktiven Ort, den es zwar namentlich gibt, aber so, wie du ihn hier kennenlernst, nur in meinen Büchern erleben wirst.
Deine Sandra
1
Die große Reise
Nachdenklich mustere ich die wenigen Umzugskartons, die vor mir auf dem Boden stehen und sich seitlich an der Wand stapeln. Zwei Monate ist es nun schon her, dass Tim und ich uns nach zwölf Jahren Beziehung getrennt haben. Zwölf Jahre – bei diesem langen Zeitraum und angesichts dessen, was wir zusammen erlebt haben, kann man eigentlich schon fast von einer Scheidung sprechen, auch wenn wir nie verheiratet waren. Aber es fühlt sich so an.
Tim und Julia, Julia und Tim. Das war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Wo er war, war ich nicht weit, und umgekehrt galt das natürlich genauso. Jetzt ist dieses Wir allerdings Geschichte. Obwohl ich als selbständige Paartherapeutin tätig bin, habe ich es trotzdem nicht geschafft, uns beiden und unserer Beziehung eine zweite Chance zu geben. Tim hatte mich betrogen, und das saß tief. Tiefer, als mir lieb war, und so sollte es mir nicht gelingen, ihm zu verzeihen. Gut, er legte sich auch nicht außerordentlich ins Zeug, um mir das Verzeihen leicht zu machen. Dennoch war ich versucht, es zu schaffen. Ich haderte lange mit mir, ob ich an einem falschen Stolz festhalte, und zweifelte meine Entschlossenheit, mich zu trennen, an. Doch ich wollte unter diesen Umständen nicht länger an eine Beziehung anknüpfen, in der mein Partner zu einem Betrug in der Lage gewesen war und kein ernsthaftes Bedauern zeigte. Ich spürte, dass ich mir damit Türen verschlossen hielt, hinter denen womöglich Großes verborgen lag. Weitaus früher hätte ich schon in diese Richtung denken sollen. Aber manchmal hapert es bei mir mit dem Selbstwert, das ist mir nun durchaus klargeworden.
Ich nippe an meinem Tee, der inzwischen kalt geworden ist, und lasse mich auf einem der Kartons nieder. Ein tiefer Seufzer entfährt mir. Noch fünf Minuten, dann ist das alles Geschichte, denn dann wird der Umzugswagen hier sein. In den letzten beiden Stunden habe ich mich bemüht, auch noch die letzten Kleinigkeiten aus der Wohnung zusammenzutragen und alles ordentlich zu beschriften. Nichts liegt mir ferner als Chaos, erst recht, wenn es darum geht, die Weichen neu zu stellen. »Chaos im Inneren darf sich niemals im Äußeren zeigen, sonst wird das Chaos stärker als du«, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Noch nie habe ich diesen Satz so gut verstanden wie in diesem Moment.
Tim ist bereits vor zwei Wochen zu seinen Eltern gefahren und hat sich dort breitgemacht, bis mein Auszug vollständig über die Bühne ist. So haben wir es besprochen. Das und noch einiges andere.
Meine Zeiger stehen trotz einer Portion Melancholie auf Neubeginn, und dieser soll jetzt starten. Heute, gleich und in wenigen Minuten. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich ausziehe und Tim die Wohnung überlasse. Ich habe meine Praxisräume aufgegeben und erfolgreich eine Nachmieterin gefunden. Wegen der Prüfungen, die im Rahmen meiner Weiterbildung zur Entspannungstherapeutin in den letzten Wochen anstanden, hatte ich ohnehin keine neuen Patienten aufgenommen, und die bestehenden konnte ich an liebe Kollegen aufteilen. Ich muss und will hier raus – aus dieser Wohnung und aus meiner Dunstglocke München.
Die Kartons wird das Umzugsunternehmen nun in eine Halle bringen, in der man persönliche Gegenstände einlagern kann. Wie unpersönlich das doch klingt. Dennoch fühle ich mich ein Stück weit wie zu Hause, als ich gute zwei Stunden später in genau dieser Halle das Gitter vor dem Lagerraum verschließe, in dem nun also mein restliches Hab und Gut steht.
Die Einrichtung habe ich Tim überlassen – gegen einen ansehnlichen Geldbetrag, den er als »ein großzügiges Taschengeld für den Aufbau meiner Zukunft« betitelte. Wie immer haben wir auch hier wunderbar funktioniert und eine praktische Lösung gefunden. Pragmatisch sein, das konnten wir schon immer gut, und auch wenn uns das offensichtlich die Leidenschaft kostete, kam es uns in dieser Situation entgegen. Ich bin froh und dankbar darüber, dass unsere Trennung trotz all der Traurigkeit und Verletzungen nicht in einem Rosenkrieg endet. Nein, dafür habe ich keine Energie übrig und auch kein Interesse.
Nach all der Enttäuschung, dem Kummer und der Erkenntnis, dass es ein Wir, wie es einmal war, nicht mehr geben kann und wird, ruft mich mein neuer Lebensabschnitt jetzt ganz schön laut. Ich spüre sogar ein wenig Aufgeregtheit und Freude in mir aufsteigen, als ich mich mit meinem großen Koffer und einem äußerst prall gefüllten Rucksack in Richtung Flughafen aufmache. Ich möchte einfach nur raus und alles hinter mir lassen, und aus diesem Grund habe ich mir in der vergangenen Woche einen Flug nach Hawaii gebucht. Dort möchte ich ein Retreat besuchen, in dem es darum geht, wie man alte Wunden loslassen, heilen und neue Energie gewinnen kann. Meine Freundin Lisa hatte mir dazu einen Storybeitrag auf Instagram geschickt, und den Zeitpunkt hätte sie perfekter nicht wählen können. An nur einem Nachmittag entschloss ich mich dazu, daran teilzunehmen, buchte diese Reise und bezahlte dafür ein kleines Vermögen. Ich sehne mich geradezu danach, mich weit entfernt von meinem gewohnten Umfeld von dem Stress und der Trauer der vergangenen Monate zu befreien.
Nervös sitze ich nun in der S-Bahn, versichere mich im Minutentakt, ob mein Gepäck noch bei mir steht, und starre dann wieder gebannt auf den Monitor, der die noch verbleibenden Haltestellen anzeigt. Nach einer Dreiviertelstunde fährt der Zug im Terminal 2 am Flughafen München ein, und ich begebe mich zum Check-in-Schalter.
Zehn Tage auf Hawaii. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und träume von prächtigen Blütenkränzen, Sonne, Meeresrauschen, Kokosnuss, Ananas und Surfern. Beim Gedanken an eine wohltuende Lomi-Lomi-Massage und duftende Öle auf meiner Haut breitet sich bereits die erste Entspannung in mir aus.
Nun bin ich an der Reihe. Eifrig schiebe ich meinen Koffer an den Schalter und stelle meinen Rucksack darauf ab.
»Guten Tag, wohin darf ich Sie einchecken?«, fragt mich die Dame vom Bodenpersonal und schenkt mir ein herzliches Lächeln.
Ich zücke mein Handy und zeige ihr meinen Buchungscode.
»Maui, wie wundervoll.« Die Dame nickt. »Nun bräuchte ich aber dennoch Ihren Reisepass, Frau Faber.«
Ich zucke zusammen. Logisch, wo war ich nur mit meinen Gedanken? Wenn ich früher mit Tim unterwegs war, hatte er immer unsere Reisedokumente bei sich, während ich für den Proviant zuständig war.
Etwas fahrig öffne ich den Reißverschluss meines Rucksacks und wühle darin herum. »Entschuldigen Sie, ich habe ihn gleich.« Während ich der Dame diese kurze Zwischenmeldung gebe, spüre ich Unruhe in mir aufsteigen. Wo ist nur dieser Pass? Mist. Ausgerechnet jetzt bin ich nicht richtig organisiert, dabei verlief der Tag bisher absolut reibungslos. Er kann nicht weit sein, ich habe ihn doch gestern Abend als eine meiner letzten Aktionen noch aus der Schublade genommen und auf mein Portemonnaie gelegt. Und dieses habe ich heute Morgen, als ich die Wohnung verließ, in die Hand genommen, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich genügend Bargeld für das Umzugsunternehmen habe. Und dann …
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Verdammt. Dann bin ich an die Tür gegangen, um meine Laufschuhe zu holen, habe diese außen an den Rucksack gepackt und mir anschließend einen Tee zubereitet. Den Geldbeutel habe ich dabei auf die Küchenarbeitsplatte gelegt und anschließend in meine Jackentasche gesteckt. Doch den Reisepass … ja, den habe ich in all der Aufregung einfach vergessen. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn, wie er einsam auf der kleinen Kommode neben der Wohnungstür liegt und sich auf unsere gemeinsame Reise freut.
In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß, und ich spüre ein Gefühl der Benommenheit, als ich der Dame hinter dem Schalter nun erklären muss, wo mein Reisepass abgeblieben ist.
»Das tut mir unglaublich leid für Sie, aber ohne Reisepass können wir Sie nicht befördern.« Mitfühlend sieht sie mich an und wirkt, als würde sie dennoch überlegen, was sie für mich tun kann.
Ihr Blick lässt ein klein wenig Hoffnung in mir aufkeimen. »Gibt es denn eine andere Möglichkeit?«, frage ich verzweifelt. »Kann ich vielleicht mit meinem Personalausweis einchecken und den Pass nachreichen? Oder nein, ich habe eine bessere Idee: Ist es möglich, dass ich Ihnen einfach ein Foto meines Reisepasses auf dem Handy zeige?«
Doch die Dame schüttelt erneut den Kopf. »So leid es mir tut, erst recht bei einer Reise in die USA müssen Sie einen Reisepass mit sich führen. Dort wird extrem streng kontrolliert. Selbst wenn ich Sie hier irgendwie durchließe, können Sie drüben nach der Ankunft direkt in den nächsten Flieger zurück nach Deutschland steigen. Da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen, so gern ich das möchte.«
Frustriert schaue ich mich um und spüre die ungeduldigen Blicke der anderen Reisenden auf mir. Die ersten Tränen bahnen sich ihren Weg und steigen unaufhörlich weiter auf. Als meine Augen so sehr mit Tränenflüssigkeit gefüllt sind, dass ein einfaches Blinzeln einen ganzen Schwall davon loslöst, reibe ich mir beschämt mit dem Jackenärmel über die Wangen und nicke der Dame zu.
Kurz bevor ich mich ganz abwende, keimt noch einmal ein kleiner Funken Hoffnung in mir auf. »Wann geht denn die nächste Maschine nach Maui?«, frage ich gebannt.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, dafür müssen Sie zum Serviceschalter der Airline gehen. Aber versuchen Sie das doch, vielleicht können Sie ja noch umbuchen«, ermutigt sie mich.
Augenblicklich eile ich los. Allerdings nur, um zehn Minuten später um fünftausend Euro ärmer und mit verquollenen Augen mein Gepäck und mich wieder in Richtung S-Bahn zu bewegen. »Hawaii fliegen wir nur alle zwei Tage an«, erklärte man mir am Serviceschalter der Airline, »aber die nächste Maschine ist bereits restlos ausgebucht.« Vier Tage müsste ich also warten – bis dahin ist mein gebuchter Kurs schon fast vorbei. Auf meine Bitte nach einer Rück- oder Teilerstattung des Flugpreises schenkte man mir nur ein mitleidiges Lächeln. Selten bin ich mir so blöd vorgekommen. Wie konnte ich mit dreißig Jahren ohne Reisepass zum Flughafen fahren und es nicht einmal bemerken?
Als die S-Bahn einfährt und ich ein zweites Mal an diesem Tag mit meinem Gepäck dort einsteige, kann ich es noch immer kaum glauben, dass mir eine solche Dummheit widerfahren ist. Mensch, Julia, du verreist doch nicht zum ersten Mal, rüge ich mich selbst und lasse mich erschöpft vom Weinen und mit leerem Kopf auf den Sitz plumpsen.
Just in diesem Moment blinkt mein Handy auf, und ich erkenne Lisas Namen auf dem Display. Na toll, gleich die Erste, vor der ich mir die Blöße geben darf. Ich öffne ihre Nachricht und sehe ein Meme von einer auf dem Rücken schlafenden Schildkröte am Meer. Make it the time of your life, steht darauf geschrieben, und darunter blinken ganz viele Sonnen- und Herz-Emojis auf.
Frustriert tippe ich auf das Hörer-Symbol, das mir neben Lisas Namen angezeigt wird. »Hey. Na, schon am Gate?«, begrüßt sie mich euphorisch.
Zornig wische ich mir die erneuten Tränen von der Wange und schnaube: »Nein, in der S-Bahn.«
»Oh, hast du etwa Verspätung? Siehst du, ich hätte dich doch hinbringen sollen, ich habe es ja gleich gesagt.«
Ich schweige für einen Moment, denn wahrscheinlich hat sie recht. Ganz sicher hätte sie mich geistesgegenwärtig, wie sie ist, nach meinem Reisepass gefragt, aber ich wollte nicht, dass sie deshalb extra ihren Blumenladen schließen oder eine Aushilfe engagieren und dazu noch eine halbe Weltreise durch das Münchner Umland unternehmen muss, nur um mich zum Flughafen zu befördern. Nicht wegen einer zehntägigen Reise.
»Julia?«, hakt sie nach. »Bist du noch dran? Ich glaube, der Empfang war bei dir weg, ich habe dich nicht mehr gehört. Was ist denn los?«
Ich seufze tief und berichte ihr von meinem Fauxpas mit dem Reisepass. Für einen Moment schweigt sie, ehe ich auch sie seufzen höre. »Ach Mensch, Julia, das darf doch nicht wahr sein! So etwas passiert doch nur in Hollywood-Filmen«, stöhnt sie.
Ich reibe mir die Schläfen. »Ja, ich weiß, jetzt fehlt nur noch ein hübscher, wohlgeformter Brad Pitt, der am Bahngleis am Münchner Ostbahnhof niederkniet und um meine Hand anhält.«
Trotz meiner Misere können wir beide uns ein Kichern nicht verkneifen. »Also, mich sollte dann lieber Ryan Gosling abholen«, meint sie.
Ich seufze noch einmal. »Ach, ist doch scheiße, ehrlich!«
»Das verstehe ich doch. Und das ganze Geld – ich darf gar nicht daran denken. Bei Eigenverschulden bekommst du wahrscheinlich nichts erstattet, oder?«, wagt sie nun vorsichtig zu fragen.
Ich verneine, aber sie besteht darauf, dass ich zumindest dem Reiseveranstalter eine E-Mail schreiben sollte, in der ich den ganzen Sachverhalt inklusive Trennung und Umzug schildere und um eine Gutschrift bitte. Sie hat ja recht. Ich spare mir jegliche Widerrede und verspreche ihr, dies nach unserem Telefonat zu tun. Alles andere macht angesichts von Lisas Vehemenz keinen Sinn. Sie ist extrem hartnäckig, was manchmal Fluch und Segen zugleich sein kann.
»Und was machst du jetzt?«, will sie wissen.
Als ob ich bereits einen Plan B hätte. Nicht einmal den Hauch einer Idee von einem Plan B habe ich. »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, gebe ich zu. »Ich war in den letzten Wochen mit den Prüfungen, dem Aussortieren und Packen der Kartons beschäftigt«, grüble ich laut. »Das Retreat habe ich tatsächlich nur gebucht, weil du mich darauf aufmerksam gemacht hattest, sonst hätte ich mich womöglich nicht einmal darum gekümmert.« Dann wäre ich heute zwar auch nicht auf Hawaii, aber nicht um fünftausend Euro ärmer. Erneut klopft der Ärger bei mir an.
»Hm, verstehe. Okay, Julia, dann soll das jetzt wohl so sein.«
»Was meinst du denn damit schon wieder? Soll ich nun in die Halle ziehen, in der meine Sachen eingelagert sind, falls keiner der beiden Superstars am Bahngleis steht?« Ich hebe die Schultern und lasse sie desillusioniert wieder fallen.
Lisa kichert erneut. »Nein, du Nudel, natürlich nicht. Du kommst jetzt eben zu mir raus an den See.«
»Nach Himmelig?«, frage ich perplex, da ich gedanklich noch nicht ganz mit der Reise nach Hawaii abgeschlossen habe.
»Nein, ich bin doch letztes Jahr mit meinem Laden umgezogen. Du stehst aber echt neben dir, du Arme. Umso wichtiger, dass du dich auf den direkten Weg zu mir machst.«
Stimmt, was bin ich für eine lausige Freundin? Nicht einmal nach ihrem Umzug habe ich sie besucht, geschweige denn ihr geholfen. Nie hatte ich Zeit – und dabei werde ich bald anderen predigen, wie man sich entspannt.
Lisa lässt sich durch mein Schweigen nicht beirren und fährt mit ihrem Angebot fort. »Also, Süße, du nimmst gefälligst die nächste S-Bahn vom Ostbahnhof München zum Hauptbahnhof und von dort dann den Zug nach Garmisch. Von da wiederum gibt es einen Bus, der dich nach Kochel am See bringt. Wenn ich es pünktlich aus dem Laden schaffe, hole ich dich dort mit deinem Gepäck ab. Aber falls es gerade nicht gehen sollte – man weiß nie, du kennst ja selbst diese Spezialkunden«, erklärt sie eifrig, »dann steigst du da wiederum in den Bus Nummer 917, der dich nach Einsiedl bringt. Verstanden? Dort wohne ich doch jetzt, also genauer gesagt wir.«
Stimmt, da war doch was. »Ich soll nach Einsiedl kommen?«, vergewissere ich mich.
Erneut spüre ich Tränen in mir aufsteigen. Einsiedl! Aus Maui wird Einsiedl, und der tosende Pazifik rund um Hawaii muss dem Walchensee in Bayern weichen? Ich seufze tief, bin jedoch gleichermaßen gerührt, dass Lisa sich so für mein Seelenwohl einsetzt und sich bemüht, mich aufzufangen.
»Okay, wenn du meinst«, stoße ich dennoch nur wenig begeistert über diesen Location-Tausch hervor. »Zu widersprechen macht ja bei dir eh keinen Sinn.«
Sie bekräftigt meine Vermutung mit einem entschlossenen »Jawohl!« und fährt dann fort: »Pass auf, ich muss hier weitermachen. Nächste Woche steht eine Hochzeit an, und die Braut wartet schon auf mich zu einem Gespräch. Halte mich auf dem Laufenden, ja? Und gib mir die Zeit durch, wenn du im Bus nach Kochel sitzt. Alles andere besprechen wir später.«
»Das mache ich«, antworte ich leise und schiebe noch ein ernst gemeintes »Danke, Lisa« hinterher. Obwohl ich mir diese Reise gänzlich anders ausgemalt habe, fühle ich mich wenigstens nicht mehr wie im freien Fall, sondern von ihr aufgefangen.
»Nichts zu danken, dafür sind Freunde doch da.«
Bei ihren Worten wird mir warm ums Herz. »Ich wollte heute nun wirklich nicht nach Einsiedl reisen, aber manchmal geht es eben mehr um die perfekten Menschen an seiner Seite als um den perfekten Ort«, sage ich.
»Du wirst noch staunen«, bemerkt sie geheimnisvoll, dann legen wir auf.
Puh.
Ich atme ein paarmal tief ein und aus und wünsche mir ein Waschbecken herbei, um mir mein nicht vom Meerwasser, sondern von den Tränen benetztes Gesicht zu waschen, verschiebe dieses Bedürfnis aber zwangsläufig auf später. Ja, ich werde mir mein verheultes Gesicht in Einsiedl waschen. Ein leises Kichern rutscht mir bei diesem Gedanken tröstend über die Lippen.
2
Himmlisches Einsiedl
Wie wundervoll, dass du endlich einmal hier bist, Julia! Du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue, dich so unverhofft bei mir zu haben«, ruft Lisa mir fröhlich zu, während sie schnell um ihr Auto herumgeht, um mich in die Arme zu schließen.
Auf diesen Lichtblick habe ich sehnlichst gewartet. Wie ein Häufchen Elend stand ich nach einer zweieinhalbstündigen Fahrt in Einsiedl an der Bushaltestelle. Nun ist Lisa endlich da, und ihre Umarmung lässt meinen Kummer gleich sehr viel kleiner erscheinen, als er den ganzen Tag über im Zug noch war. Es fühlt sich an wie ein Nachhausekommen, und wie immer riechen ihre Haare nach einer bunten Mischung aus frischen Blumen. Das ist ihr ganz eigener Duft. Der Lisa-Blumenladen-Duft. Ich war viel zu lange nicht mehr bei ihr.
Prompt fühle ich das schlechte Gewissen in mir aufsteigen, und ich setze zu einer Erklärung an: »Asche auf mein Haupt. Es ist wirklich eine Straftat, dass ich es seit sage und schreibe drei Jahren nicht zu dir hinaus an den See geschafft habe.«
»Mach dir darüber keinen Kopf«, unterbricht mich Lisa. »Ich weiß doch, dass du in dieser Zeit nicht faul zu Hause herumgesessen und Däumchen gedreht hast. Nicht jeder führt selbstständig eine Praxis und macht nebenher noch eine Weiterbildung, während er mit privaten Problemen in der Beziehung zu kämpfen hat. Es kam eben immer etwas dazwischen. Da erwarte ich doch nicht, dass du auch noch regelmäßig zu mir an den See rausfährst – obwohl dir das bestimmt ganz gutgetan hätte«, fügt sie mit einem charmanten Grinsen hinzu und tippt mir dabei auf den Brustkorb.
Tief atme ich durch. »Da sagst du was. Danke, dass du wenigstens ab und zu nach München gekommen bist und diese Odyssee auf dich genommen hast.«
»Ach was, das habe ich gerne gemacht. Ist doch kein Ding, mit dem Auto dauert es nicht mal anderthalb Stunden. Ist halt so ein Stadt-Ding, dass man kein Auto hat und sich dann schwertut, mit den Öffentlichen raus aufs Land zu fahren.« Sie zwinkert mir zu und sieht sich dann suchend um. An meinem Koffer bleibt ihr Blick schließlich hängen. »Ist das alles, was du bei dir hast?«
Bei ihren Worten muss ich an meinen schönen neuen Aloha-Bikini mit dem tropischen Muster in Pink, Weiß und Gelb denken, den ich mir extra für die Reise zugelegt habe, und spüre einen fiesen Stich in der Magengegend.
Was für ein Tag.
Ich nicke nur und merke auf einmal, dass ich einen Bärenhunger habe. Bei all dem Stress, dem Geweine und der Pendelei habe ich heute komplett das Essen vergessen. »Musst du noch mal in den Laden, oder hast du für heute schon Feierabend?«, frage ich Lisa.
»Es ist 18.40 Uhr, und den Laden schließe ich normalerweise um achtzehn Uhr. Es ist also alles fertig«, versichert sie mir. »Wollen wir Einsiedl unsicher machen oder lieber etwas zu essen bestellen und es uns bei mir zu Hause gemütlich machen?«
Ich überlege einen Moment lang. »Wenn du so fragst … Nachdem ich heute nahezu fünf Stunden in Zug und Bus verbracht und davor einen kleinen Umzug in eine Lagerhalle vorgenommen habe, hätte ich tatsächlich Lust auf eine kulinarische Belohnung.« Erschöpft zucke ich mit den Schultern. »Wir könnten uns doch ein bisschen im Restaurant verwöhnen lassen. Darf ich dich einladen? Ich meine, gibt es eine coole Bar oder sonst ein Lokal, wo wir hingehen könnten?«, frage ich.
Erneut schaue ich mich um, kann aber von hier aus lediglich eine alte Scheune auf der anderen Straßenseite und etwas weiter vorne eine kleine Gaststätte entdecken. Zudem reihen sich ein paar Häuser die Straße entlang aneinander, doch darunter ist nichts, das auch nur annähernd wie ein cooles Restaurant oder eine Bar aussieht.
In Einsiedl war ich noch nie, nicht einmal gehört hatte ich davon, bevor Lisa hierherzog. »Oje, sag jetzt bitte nicht, dass hier um neunzehn Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden«, bemerke ich, als ich Lisas nachdenkliche Miene sehe, und kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
»Du! Natürlich nicht«, protestiert sie sofort. »Wir sind hier zwar auf dem Land, an diesem wunderschönen See, aber wir haben dennoch unsere Bedürfnisse. Ich überlege nur gerade, wohin wir zwei Hübschen am besten gehen. Es muss auf jeden Fall gefeiert werden, dass du heute hier gestrandet bist.«
Ich kichere und stimme ihr zu. »Da möchte ich wahrlich nicht widersprechen. Gestrandet trifft es auch ganz gut.« Ich blicke mich um. »Den See habe ich in der Tat viel zu lange nicht gesehen, doch ich erinnere mich daran, in welch wunderschönen Türkis- und Blautönen er sich immer präsentiert hat, wenn ich früher mit meinen Eltern oder Großeltern hier draußen war. Mein Opa pflegte damals zu sagen, der Walchensee sei die Karibik Deutschlands.«
»Da hatte er wohl recht. Das wirst du schon gleich sehen.« Lisa nickt erfreut. »Komm, steig ein. Ich entführe dich erst mal zu mir nach Hause, dort machst du dich kurz frisch, und dann zeige ich dir meinen Lieblingsitaliener.«
Das klingt gut. »Ich bin gespannt. Und deinen neuen Blumenladen möchte ich mir auch live und in Farbe anschauen.«
Nach und nach komme ich im Hier und Jetzt an und erinnere mich daran, dass Lisa mir doch erst neulich Fotos des neuen Ladens geschickt hat. Ich brauche wohl wirklich dringend eine Auszeit.
Nach einer kurzen Fahrt tut sich auch schon der See neben uns auf. Müde vom Weinen und erschöpft von diesem merkwürdigen Tag reibe ich mir die Augen. Was ich gerade zu sehen bekomme, wenn ich aus dem Seitenfenster blicke, übersteigt jedoch meine schönsten Erinnerungen und gleicht einem Wunder. Ich war verdammt blöd, so lange nicht mehr hier herausgekommen zu sein. Wie konnte ich das so sehr vor mir herschieben?
Lisa, der mein Staunen nicht entgeht, kann sich eine kleine Spitze nicht verkneifen. »Na, Liebes, wer braucht schon Hawaii oder die Malediven, wenn er diesen See vor der Nase hat?«
Wir fahren eine kleine geschwungene Straße am Wasser entlang und passieren eine Holztafel, die mit den Worten Willkommen in Einsiedl beschriftet ist.
Ich muss lachen. »Der Ortsname ist wirklich nicht sehr einladend, aber irgendwie auch gerade deshalb schon wieder toll.«
Lisa dreht kurz den Kopf zu mir und kichert ebenfalls. Ach, mein Lieschen. Ich mag ihre blonden, glatten Haare, die sie seit ihrer Kindheit etwas mehr als schulterlang trägt. Schon immer war sie einfach bezaubernd. Mit ihrer natürlichen Ausstrahlung und den leuchtend blauen Augen verdrehte sie schon früher den Jungs den Kopf, und ich freue mich für sie, dass sie vor gut zwei Jahren beim Snowboarden ihren Xaver kennenlernte. Nach nur wenigen Wochen zogen die beiden bereits zusammen und sind seitdem ein Herz und eine Seele.
»Ist Xaver zu Hause?«, frage ich, neugierig darauf, ihn endlich einmal kennenzulernen.
Lisa nickt und parkt auch schon vor einem mittelgroßen Blockhaus mit einem kleinen Balkon und einem roten Ziegeldach. »Da wären wir«, erklärt sie, während sie die Handbremse anzieht.
»Wie? Direkt am See?«, frage ich ungläubig und schaue durch die Heckscheibe nach draußen, wo ich Tannen, Bäume, das Seeufer und ein weiteres kleines Häuschen sehe.
»Jawohl, deshalb sind wir hierhergezogen. Dort nämlich«, sie deutet um das Haus herum, »ist auch mein neuer Laden.«
»Das ist ja der Knaller«, sage ich und steige zügig aus, um das Ganze noch besser sehen zu können. Und tatsächlich, als ich vom Parkplatz aus um das Haus herumgehe, erkenne ich ein wunderschönes Schaufenster, das mit Blumen und Gestecken sowie runden weißen Lampions üppig dekoriert ist. Darüber prangt ein großes Schild mit dem Namen Lisas Blütenmeer in einer geschwungenen Schrift.
Begeistert nehme ich meine Freundin in den Arm. »Lisa«, entfährt es mir erstaunt, »das ist einfach nur wunderschön. Und so sehr du.«
Lisa lächelt fröhlich, und in ihrem Gesichtsausdruck kann ich auch ein wenig Stolz erkennen. Völlig zu Recht.
»Warum hast du mir das nicht erzählt? Ich meine, die Wohnung und das Geschäft in einem Haus. Und diese Lage … Das ist einfach nur toll!«
Sie nickt. »Ich wollte es dir ja sagen, aber nicht einfach so zwischen Tür und Angel und vor allem nicht, nachdem du im letzten Jahr so viel Kummer wegen Tim hattest. Da wollte ich nicht die ganze Zeit mit meinem ach so tollen Leben und meinen Projekten prahlen.«
Vorwurfsvoll schaue ich sie an. »Du prahlst doch nicht, wenn du mir aus deinem Leben erzählst. Ich bitte dich. Im Gegenteil, ich freue mich für dich! Dass du mit Xaver dein Glück gefunden hast, hat doch nichts mit mir und meiner Lebenssituation zu tun.« Gespielt mahnend hebe ich den Zeigefinger. »Dein Glück steht niemals hinter meinem, das solltest du wissen.«
Lisa seufzt. »Okay, jetzt haben wir ja endlich mal viel Zeit für ein großes Update. Du bleibst doch diese Woche, oder?« Fragend sieht sie mich an.
Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wie die Woche weiter verlaufen soll, aber warum eigentlich nicht? »Ja, sehr gerne sogar. Wenn das für euch so passt?«, antworte ich entschlossen.
Erneut blitzt ein Lächeln über Lisas Gesicht. »Keine Frage! Und jetzt rein mit uns. Ich möchte dir endlich Xaver vorstellen, und der muss gleich los zum Fußball.«
Wir schnappen uns mein Gepäck und betreten das Haus durch den Eingang neben dem Blumenladen. Dahinter verbirgt sich auch gleich die Treppe in die obere Etage.
»Lebt ihr hier allein?«, möchte ich wissen.
»Nein, im Erdgeschoss wohnt noch ein alleinstehender älterer Herr, Herr Mayrhofer. Ihm gehört das Haus. Er hatte in den Räumen meines Blumengeschäfts früher seinen Schusterladen«, erklärt sie mir, während wir die Stufen nach oben steigen. »Als seine Frau plötzlich verstarb, hat er alles sanieren lassen und ist nach unten in die kleine Wohnung gezogen, die sie früher an Gastarbeiter vermietet hatten. Ihm wurde das alles zu viel. Kinder hatten die beiden nicht, und deshalb suchte er einen Nachmieter für den Laden und die große Wohnung im ersten Stock. Xavi hat davon über seinen Kumpel Freddi erfahren.«
Das klingt wirklich gut. Das Leben auf dem Land gestaltet sich in manchen Dingen doch etwas einfacher. Wenn ich nur daran denke, welchen Aufwand ich damals in der Stadt betreiben musste, um sämtliche Anträge und Genehmigungen für meine Praxis und für die Umgestaltung unserer Wohnung beizubringen, wird mir im Nachhinein noch ganz übel.
»Na, da ist ja die Urlauberin! Julia, nehme ich an?«, begrüßt uns ein gut aussehender, sportlicher Typ, kaum dass Julia die Wohnungstür geöffnet hat. Es kann sich nur um Xaver handeln, denn er sieht aus wie auf den Fotos, die Julia mir immer wieder geschickt hat – nur in 3D und irgendwie noch besser.
Xaver trägt einen kurzen Trainingsanzug, und sein attraktives Gesicht wird von dunkelblonden, welligen Haaren umspielt. Seine hellbraunen Augen lächeln mich warm und herzlich an.
Gerne würde ich Lisa einen beeindruckten Blick zuwerfen, vermeide dies jedoch, um Xaver nicht gleich allzu viel Honig um den Mund zu schmieren. Schließlich kenne ich ihn noch gar nicht. Ich strecke ihm meine Hand entgegen. »Ja, so kann man es auch nennen«, antworte ich und komme mir ein wenig blöd dabei vor.
Doch Xaver stört sich überhaupt nicht an meiner Schussligkeit, sondern erzählt mir freiheraus, dass er selbst auch mal einen Flug verpasst hat.
»Ein äußerst sympathischer Kerl, dein Xavi«, sage ich zu Lisa, nachdem er sich kurz darauf zum Training verabschiedet hat. »Ich hoffe, es ist auch für ihn okay, wenn ich bleibe? Ich möchte euch wirklich nicht zur Last fallen.«
»Ja, klar doch! Er hat sich ohnehin schon gewundert, ob es dich wirklich gibt, nachdem du nach all meinen Erzählungen und unseren unzähligen Telefonaten noch nie persönlich hier aufgetaucht bist«, kichert sie.
Dann zeigt sie mir das Bad und richtet mir in ihrem kleinen Büro, das gleich an die offene Küche angrenzt, eine Schlafcouch her, während ich schnell eine Dusche nehme. Augenblicklich fühle ich mich wie ein neuer Mensch.
Die Wohnung ist toll, in hellen Tönen gehalten, mit holzigen Elementen und modern eingerichtet. Die Küche und das Wohnzimmer sind ein großer offener Raum, an dessen hinterem Ende die Türen zum Schlafzimmer und zum Bad abgehen. Ich hätte das niemals hier draußen erwartet und rüge mich selbst für meine Voreingenommenheit.
»Ihr habt es richtig hübsch hier, und ich bin wirklich beeindruckt«, gebe ich etwas verschämt zu. »Irgendwie habe ich angenommen, dass hier draußen nur alte Grantler wohnen und alles etwas eingeschlafen ist. Doch dein Schaufenster und eure Wohnung belehren mich schon jetzt eines Besseren.«
Lisa neigt den Kopf leicht zur Seite. »Ich weiß, was du meinst. Natürlich ist in der Stadt alles hipper und schneller zugänglich, aber das Leben hier draußen hat etwas ganz Besonderes für sich. Ich werde es dir zeigen.« Sie grinst. »Bist du fertig?«
»Ja, fertig und hungrig. Lass uns losgehen.«
Wir machen uns zu Fuß auf den Weg und erreichen nach etwa zehn Minuten den Ortskern. Um den Marktplatz herum haben sich ein paar Läden angesiedelt: eine Bäckerei, über deren Eingang auf der Hauswand in dunklen Buchstaben der Name Mehlzauber steht, eine kleine Buchhandlung, ein Bio-Supermarkt und ein in seiner Größe recht überschaubares Rathaus.
»Hier bekommen wir das Nötigste«, erklärt Lisa. »Für den Großeinkauf fahre ich allerdings nach Garmisch. Dort gibt es auch ein Fitnessstudio, Sportplätze, ein Schwimmbad und deutlich mehr Geschäfte.«
»Die Fußgängerzone in Garmisch kenne ich noch«, bemerke ich nebenbei, denn ich bin nach wie vor überrascht von dem Angebot, das Einsiedl trotz seiner geringen Größe bietet.
Und mir gefällt, was ich sehe. Ich muss zugeben, Einsiedl ist bayerisch, aber modern und hat seinen ganz eigenen Charme. In der Mitte des Marktplatzes gleich gegenüber der Bäckerei steht ein Brunnen mit einer kleinen Wasserfontäne, umrahmt von hölzernen Sitzbänken. Neben der Eisdiele, die sich in einem hellen Fachwerkhaus befindet, erkenne ich zum Marktplatz hin eine liebevoll angelegte Restaurantterrasse mit nur wenigen Tischen und angenehmer Beleuchtung. Italienische Musik klingt von dort zu uns herüber. Das Restaurant selbst ist ein großes hellgelbes Gebäude mit weißen und dunkelbraunen Holzelementen. Ristorante di Maurizio lese ich auf einem großen weißen Schild über dem Eingang. Und all das ist umgeben von der zauberhaften Kulisse der Alpen.
Lisa packt mich am Arm und zieht mich in Richtung der Musik. »Hier gehen wir rein. Das ist mit Abstand der beste Italiener hier am See, die Leute kommen zum Teil von sehr weit her. Du wirst es gleich sehen, die Aussicht auf der hinteren Terrasse des Restaurants ist atemberaubend. Im Sommer, wenn sie geöffnet ist, blickt man von dort aus direkt aufs Wasser.« Sie schaut in den allmählich dunkler werdenden Nachthimmel und korrigiert sich kichernd: »Nun ja, zumindest solange es hell ist.«
Hungrig betreten wir das Restaurant und gehen ein paar Schritte hindurch, um direkt durch den hinteren Ausgang wieder hinauszutreten. Lisa hat mir nicht zu viel versprochen. Vor uns liegt der türkisfarbene Walchensee, eingebettet in ein Bergpanorama, das sich friedlich in alle Himmelsrichtungen erstreckt. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Das alte Sprichwort schießt mir durch den Kopf, und ich seufze.
»Es ist wirklich überraschend charmant hier, Lisa. Danke, dass du mich überredet hast, herzukommen. Ich habe das Gefühl, die kommenden Tage in der Karibik – so ganz ohne Zeitverschiebung – werden mir richtig guttun«, bemerke ich grinsend.
Zufrieden lächelt sie mich an, ehe wir wieder hineingehen und im Inneren des Restaurants Platz nehmen. Die urigen Holztische sind mit rot-weiß karierten Decken und gesteiften Stoffservietten eingedeckt, sodass ich mich sogar ein bisschen wie im Urlaub fühle. Allein der Maikranz, den ich durch das Fenster an der weiß-blauen Säule auf dem Marktplatz hängen sehe, erinnert mich daran, dass ich mich in Deutschland, genau genommen in Bayern befinde.
3
Buon giorno
Es ist bereits nach acht Uhr, als mich am nächsten Morgen die Sonne, die mir ins Gesicht scheint, wachkitzelt. Im ersten Moment bin ich etwas verwirrt, doch schnell wird mir bewusst, dass ich ja gestern zu Lisa gefahren bin und mich in ihrer Wohnung am Walchensee befinde. Als ich mir verschlafen die Augen reibe, fällt mein Blick auf meinen aufgeschlagenen Koffer, und ich erkenne neben meinen Sommerkleidchen, kurzen Hosen, Tops und Flipflops auch meine Yogamatte. Yoga – ja, das wäre es doch jetzt.
Aber zuerst muss ich einmal richtig wach werden. Ich schlage die Decke zurück und tapse an das Sprossenfenster. Der blaue, wolkenlose Himmel verspricht einen schönen Frühlingstag. Es ist Samstag, und Lisas Laden hat heute nur bis halb eins am Mittag geöffnet, wie sie mir gestern berichtet hat. Während unseres gemeinsamen Abendessens haben wir uns ausführlich über alle Belange ihres Lebens ausgetauscht, und ich bin froh, dass ich endlich wieder up to date mit ihr und ihrem Leben bin. Nie wieder möchte ich mich so sehr in meine eigene Blase verkriechen, dass ich dabei meine beste Freundin vernachlässige.
Lisa und ich kennen uns seit den frühen Studienzeiten, also mittlerweile seit über zehn Jahren. Damals war sie von hier draußen nach München gekommen, um zu studieren, brach dann aber das Studium ab und entschied sich stattdessen für eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Ihr Traum war es schon immer gewesen, das Blumengeschäft ihrer Eltern einmal weiterzuführen, und so ist es jetzt ja auch gekommen. Sie konnte viele Kunden mitnehmen und zahlreiche neue dazugewinnen – erst recht, seit sie die neuen Räumlichkeiten bezogen hat. Alles in allem läuft es gut für sie, vor allem weil hier draußen auch regelmäßig Hochzeiten, Tauffeiern und andere Events stattfinden.
Unser Kontakt blieb die ganze Zeit über bestehen. Es gibt nicht viele Menschen, die ich so nah an mich heranlasse. Ich habe viele Kontakte und lose Freundschaften, doch ich genieße einfach zu sehr meine Zeit allein. Und ich hatte ja auch immer Tim an meiner Seite. Mit Lisa aber war und ist es einfach für mich. Sie war schon immer sehr selbstständig, wir konnten von Anfang an sehr ehrlich zueinander sein und uns gegenseitig so akzeptieren, wie wir sind. Ich musste ihr nie erklären, warum ich keine Lust habe, Party zu machen, und umgekehrt musste sie mir nie erklären, warum sie das Leben auf dem Land so gerne mag. Zwischen uns ist ein unsichtbares Band gewachsen, das stärker ist als alle Hürden oder Toleranzgrenzen, das konnte ich auch gestern Abend wieder ganz deutlich spüren.
Lisa zeigte sehr großes Verständnis für meine Entscheidung, mich von Tim zu trennen, und es tat gut, mir noch einmal alles von der Seele zu reden. Mit jedem weiteren Tag, seit ich die Trennung ausgesprochen habe, fühle ich mich sicherer in meiner Entscheidung und gelöster. Zwar sind meine Reisepläne gestern wie eine Seifenblase zerplatzt, und ich weiß noch nicht, wohin ich nächste Woche gehen werde – das wollte ich mir eigentlich im Flugzeug nach Hawaii überlegen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung für mich und mein Leben getroffen habe. Und dass gestern alles so gekommen ist, war irgendwo sogar gut, denn dadurch bin ich endlich notgedrungen aus meiner Blase ausgebrochen und konnte der Verbindung zwischen Lisa und mir wieder Zeit schenken.
Gute Freundschaften sollte man niemals unterschätzen. Es gibt Menschen an deiner Seite, die dir zeigen, wie es nicht sein sollte, und es gibt auf der anderen Seite eben diejenigen, die sich mit dir freuen, wenn du wächst und dich wie ein Schmetterling entfaltest.
Spontan kommt mir die Idee, Lisa mit einem leckeren Kaffee in ihrem Laden zu überraschen. Sie öffnet in einer halben Stunde, also sollte sie schon unten sein. Ich könnte ihr ja meine Hilfe anbieten und anschließend immer noch meine ersten Yogaversuche am See unternehmen. Eigentlich hatte ich vor, in Hawaii endlich mit dem Yoga zu beginnen, doch das werde ich auch hier schaffen. Dafür muss man nicht nach Übersee reisen, ermutige ich mich selbst. Und ich sollte mich dringend noch bei den Veranstaltern des Retreats melden und meine Situation schildern.
Ich schnappe mir eine kurze Hose, einen weiten Pulli sowie meinen Waschbeutel und schleiche in Richtung Bad. Ich will Xaver nicht unnötig wecken, obwohl ich nicht weiß, ob er überhaupt noch zu Hause ist. Als Lisa und ich gestern Abend heimkamen, saßen wir noch ein bisschen zusammen, und er berichtete, dass er heute einem Freund hilft, irgendwelche Regale für seine Kajaks aufzubauen. Das machte mich zwar neugierig, aber ich wollte nicht gleich am ersten Abend zu viele Fragen stellen.
Ich wasche mir das Gesicht, binde meine dunkelblonden langen Haare zu einem Pferdeschwanz und gehe weiter in Richtung Küche. Dort setze ich Kaffee auf, suche nach Milch und freue mich, als ich entdecke, dass Lisa auch Hafermilch im Kühlschrank hat. Diese gebe ich in den Milchaufschäumer, der neben der Kaffeemaschine steht. Während der Kaffee vor sich hin blubbert, schreibe ich meine E-Mail nach Hawaii und sende ein kleines Stoßgebet ans Universum. Vielleicht haben sie ja Verständnis für meine Situation.
Schließlich fülle ich noch zwei Tassen mit Milchschaum und herrlich duftendem Kaffee und gehe damit langsam hinunter zum Laden. Als ich das Geschäft durch den Personaleingang im Flur betrete, empfängt mich ein herrlicher Blütenduft und Lisas fröhliches Lachen. Sie ist gerade am Telefon, nickt mir aber herzlich zu und winkt mich zu sich an die Theke. Als sie den ersten Schluck nimmt, verdreht sie glücklich ihre Augen gen Himmel.
Nachdem sie aufgelegt hat, sprudelt es gleich aus ihr heraus: »Du kannst Gedanken lesen. Ich wollte nach dem Telefonat nach oben huschen und uns Kaffee kochen.«
»Das freut mich. Ich hatte schon Bedenken, dass du es nicht gut findest, wenn ich einfach in deiner Küche herumhantiere«, entschuldige ich mich fast schon.
»Quatsch, im Gegenteil. Das wollte ich dir gestern schon sagen. Xaver und ich finden nichts anstrengender als Gäste, die mit sich selbst nichts anzufangen wissen oder sich nichts zutrauen. Also fühl dich bitte wie zu Hause.«
Das gefällt mir, und ich lasse mir das nicht zweimal sagen. »Cool, dann habe ich auch bereits eine Idee für heute Abend. Wie wäre es, wenn ich uns meine berühmte Avocado-Pasta mache, und ihr seid meine Gäste?«
»Das klingt hervorragend und sehr nach alten Zeiten«, stimmt Lisa umgehend meinem Vorschlag zu. »Vorne am Marktplatz stehen samstags immer ein paar Verkaufswagen mit frischer Ware. Vielleicht bekommst du dort schon alles, was du brauchst. Ansonsten lass uns nachher einkaufen fahren, wenn ich fertig bin, ja?«
»Das klingt gut, ich gehe gleich mal rüber. Aber zuerst wollte ich dich fragen, ob du hier Hilfe brauchst.«
Lisa verneint, denn sie besteht darauf, dass ich hierhergekommen bin, um Urlaub zu machen. Wir beschließen, später gemeinsam einkaufen zu fahren, um uns mit allem einzudecken, was das Herz begehrt. Ich nehme die beiden leeren Tassen und gehe wieder nach oben. Von Xaver ist nach wie vor nichts zu sehen, er wird also bereits weg sein.
Ich spüle die Tassen kurz ab und schnappe mir dann meine Yogamatte. Wenn mich nicht alles täuscht, sollte auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei den Bäumen ein Zugang zum See sein, dort möchte ich meine ersten Yogaversuche starten.
Und tatsächlich, ich muss nur durch eine kleine Baumreihe hindurchgehen und finde mich sogleich an einem zwar schmalen, aber dennoch wunderschönen Uferstreifen wieder. Gerade schmal genug, um bei Badewetter nicht von unendlich vielen Besuchern aufgesucht zu werden, und gerade breit genug für meine Yogamatte.
Wunderbar.
Ich breite die Matte aus und setze mich im Schneidersitz darauf. Langsam beginne ich, tief ein- und wieder auszuatmen, und mache ein paar Entspannungsübungen. Anschließend starte ich die neue Yoga-App, die ich mir vorletzte Woche gegönnt habe. Doch schon bei meinem ersten Versuch wird mir klar, dass ich nicht aussehe wie eine der Damen in dem Video, sondern eher wie eine Karikatur aus einem Yoga-Comic. Nicht für einen einzigen Moment gelingt es mir, ohne zu wackeln, mein Gewicht auf ein Standbein zu verlagern und dabei das andere Bein anzuheben. Okay, cool bleiben, Übung macht den Meister.
Immer wieder versuche ich es, und als es mir endlich zum ersten Mal gelingt, in dieser Position kurz auszuharren, kommt plötzlich ein Hund wie aus dem Nichts angerannt und erschreckt mich so sehr, dass ich das Gleichgewicht verliere und schreiend neben der Matte auf dem Boden lande.
Der Hund kommt schwanzwedelnd zu mir her und ist schon mit seinem Gesicht ganz dicht über meinem. Doch dann höre ich glücklicherweise eine männliche Stimme, die nach ihm ruft: »Bella, piano, vieni qui!«
Schlagartig fühle ich mich in meine kurze »Reise« nach Italien von gestern Abend zurückversetzt. Offensichtlich bedeuten seine Worte etwas wie »bei Fuß« oder »komm her«, denn sie sorgen dafür, dass das zugegeben sehr süße Hundegesicht nicht noch näher an mich herankommt.