Cancel Culture - Michael Meyen - E-Book

Cancel Culture E-Book

Michael Meyen

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Beschreibung

Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören

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Seitenzahl: 98

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In dieser Reihe bereits erschienen:

Matthias Rude: Die Grünen

Von der Protestpartei zum Kriegsakteur

Berlin, 2023, ISBN 978-3-910568-04-4

Georg Auernheimer: Der Ukrainekonflikt

Wie Russlands Nachbarland zum Kriegsschauplatz wurde

Berlin, 2023, ISBN 978-3-910568-03-7

Wolf Wetzel: Der Anti-Antifaschismus

Antifa, angebliche Nazis, rechtsoffener Staat und geheimdienstliche

Neonazi-Verbrechen

Berlin, 2023, ISBN 978-3-910568-06-8

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, einschließlich der Vervielfältigung, der Übersetzung, der Mikroverfilmung oder der Speicherung und Verarbeitung unter Verwendung elektronischer oder mechanischer Verfahren, ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Herausgebers vervielfältigt, verbreitet oder übertragen werden, mit Ausnahme von kurzen Zitaten in Rezensionen und bestimmten, nichtkommerziellen Verwendungen, die nach dem Urheberrecht zulässig sind.

ISBN 978-3-910568-08-2

© Hintergrund GmbH, Berlin, 2024

www.hintergrund.de

Konzept und Satz: Buchgut, Berlin

Inhalt

1. Zensur ohne Zensor

2. Internet, ›Wahrheit‹ und ›vierte Gewalt‹

3. Propaganda

4. Journalismus: Komplizen statt Kritiker

5. Zensur: Artikel 5 findet nicht statt

6. Cancel Culture: Akteure und Mechanik

Literatur

1. Zensur ohne Zensor

Die Mail kam einen Tag vorher. Wir müssen ausweichen, sorry. Das Werksviertel will uns nicht mehr. Deshalb morgen ein neuer Ort, zu klein für alle und eine Stunde später als geplant. Einige wurden vertröstet. Bleibt ruhig, liebe Leute. Euer Held kommt doch wieder, schon bald. »Angst essen Freiheit auf« hieß der Vortrag, den Kayvan Soufi-Siavash für den 20. Oktober 2023 angekündigt hatte. Der Titel sagt, so scheint es auf den ersten Blick, alles, was man über Cancel Culture wissen muss.

In diesem Buch schaue ich genauer hin. Cancel Culture ist mehr als ein Abend, der geschoben oder gestrichen werden muss, weil ein paar Leute fürchten, an den Pranger gestellt zu werden. Cancel Culture ist ein Programm, das Deutungshoheit sichert und damit Macht. Wer diesen Begriff auf ein Buch schreibt, muss natürlich etwas sagen zu Warnhinweisen vor alten Filmen, zu Buchhändlern, die im Bestseller-Regal Fächer freilassen, wenn ihnen Autoren nicht passen, und zu Menschen, die einen Job verlieren oder gar nicht erst bekommen, weil sie als Rassisten gebrandmarkt worden sind, als Frauenfeinde oder als Antisemiten. Cancel Culture geht tiefer. Cancel Culture ist kein Zufall, der aus den Tiefen des Netzes kommt und hier einen ›Rechten‹ trifft und dort einen Forscher auf Abwegen. Der Begriff Cancel Culture steht in diesem Buch für eine Zensur, die nicht so heißen darf, weil sonst das Grundgesetz einstürzt wie ein Kartenhaus.

»Eine Zensur findet nicht statt«, steht dort nach wie vor im ersten Absatz von Artikel 5, obwohl es längst nicht mehr möglich ist, alles zu verbreiten oder wenigstens zu sehen, was für die Meinungs- und Willensbildung nötig wäre. Nur vierzig Prozent der Deutschen über 16 hatten 2023 »das Gefühl«, ihre »politische Meinung frei sagen« zu können – ein Wert, der in dieser Allensbach-Langzeitstudie bis in die frühen Nullerjahre stabil über siebzig Prozent lag.1 Im Internet wird gelöscht, was das Zeug hält. Und im wirklichen Leben? Fragen Sie Menschen, die gegen den Strom schwimmen. Journalisten, Musiker, Maler, Verleger, Politiker, Wissenschaftler. Die Antwort heißt immer – Cancel Culture. Die Zensur geht heute, das ist die These dieses Buches, von den Leitmedien aus sowie von den Institutionen, die der Digitalkonzernstaat entweder genau dafür geschaffen oder sich in den letzten Jahren unterworfen hat. Sie stützt sich auf ein intellektuelles Prekariat, das um bezahlte Posten in Redaktionen, Universitäten und NGOs buhlt, sowie auf Parteiunternehmen, die einen erheblichen Teil der Steuereinnahmen in Propaganda umleiten und sich so ihre Pfründe sichern. Der Volksmund sagt: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Allensbach liefert dazu die Daten. Abitur und Hochschulabschluss, oft verbunden mit der Aussicht auf einen Job in der Bewusstseinsindustrie (Bildung, Kultur, Medien) oder in einer Behörde, verstellen den Blick auf die Cancel Culture. In dieser Gruppe glaubt man deutlich eher, in diesem Land »frei reden« zu können (51 Prozent, Volks- und Hauptschule: 28 Prozent). Von den Anhängern der Grünen sagen dies sogar 75 Prozent.2

Die Suche nach den Ursachen für die »Mauer des Schweigens« auf der einen und Selbstbewusstsein oder Selbstgewissheit auf der anderen Seite lässt sich auf einen Dreisatz verdichten: Zensur, Propaganda, Digitalkonzernstaat. Alle drei Substantive sind erklärungsbedürftig – genau wie die These, die ihre Kombination transportiert. In Kurzform: Wie jede Regierung möchte auch die deutsche lenken und kontrollieren, was öffentlich über sie und über die Wirklichkeit im Land gesagt wird.3 Das funktioniert im Internetzeitalter nur, wenn man mit den Digitalkonzernen kooperiert. Diese Ehe wurzelt in dem Wissen, dass der Handlungsspielraum jeder Regierung von öffentlicher Zustimmung und öffentlicher Legitimation abhängt. »Herrschaftsverhältnisse« sind heute mehr denn je »Definitionsverhältnisse«.4 Macht hat der, dem es gelingt, seine Interpretation der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit zu platzieren.5 Natürlich: Die Sprengung von Pipelines ist eine Machtdemonstration. Noch größer ist die Macht aber dort, wo darüber bestimmt wird, ob und wie wir darüber öffentlich sprechen. Zur Definitionsmacht gehört, alles auszublenden oder zu marginalisieren, was die eigene Position gefährden könnte – in Deutschland im Moment neben der Brücke über den Atlantik etwa Debatten über soziale Ungleichheit, die weltweit einen historischen Rekordstand erreicht hat,6 die Masseneinwanderung seit 2015, die Corona-, die Russland- oder die Klimapolitik.

Das Interesse von Regierungen, öffentliche Kommunikation zu steuern, ist untrennbar mit Propaganda und Zensur verbunden. Als Propaganda werden in diesem Buch alle Versuche staatlicher Stellen definiert, »eine bestimmte, eindeutig gefärbte Sichtweise der Dinge« zu platzieren »und damit die öffentliche Diskussion in die gewünschte Richtung« zu manövrieren.7 Dazu gehört zwangsläufig, alle Positionen zu unterdrücken, zu delegitimieren oder in ihrer Reichweite einzuschränken, »die das herrschende Narrativ infrage stellen und gleichzeitig das Potenzial einer weiten Verbreitung besitzen«8 – Zensur. Noch einmal anders formuliert: Propaganda und Zensur sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wer seine »Sichtweise der Dinge« durchsetzen will, muss die Konkurrenz bekämpfen und möglichst ausschalten. Zensur ist ein »Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen, politischer Macht und kultureller Hegemonie«.9

Dass sich viele scheuen, bei der Analyse westlicher Gegenwartsgesellschaften Propaganda und Zensur beim Namen zu nennen, ist das Ergebnis einer systematischen Begriffsentkernung. Von Zensur ist in wissenschaftlichen Texten genau wie in der politischen Bildung in aller Regel nur dann die Rede, wenn es um Regierungsformen geht, die als ›totalitär‹, ›diktatorisch‹ oder ›undemokratisch‹ bezeichnet werden können – Hitlerdeutschland, die Sowjetunion, Russland, China, Nordkorea, manchmal auch Ungarn. »Eine Zensur findet nicht statt«: Durch diese Brille beschreibt das Grundgesetz die Wirklichkeit, solange es keine Zensurbehörde gibt und der Staat die Medienhäuser nicht selbst besitzt. Wenn jemand das Gegenteil behauptet, wird er als Clown aus dem »Politikzirkus« abgestempelt, der wahlweise einen »Kampfbegriff« von »rechts« verwendet, zu den »rechtspopulistischen Linken« gehört (was immer das genau sein mag) oder gar zu einer »Querfront« von Antidemokraten.10 Dieses Framing erlaubt es, Angriffe auf Andersdenkende als »zivilgesellschaftliches Engagement« zu rechtfertigen11 und eine Linie zu ziehen zwischen »rigider Zensur« und »einer gefühlten, sogenannten ›Cancel Culture‹«.12 Gefühlt, sogenannt und dann noch in Anführungszeichen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. In der akademischen Debatte wird das Phänomen Cancel Culture folgerichtig ins Reich der Fabel verwiesen und die Debatte darüber als perfide Finte der ohnehin schon Mächtigen abgetan – als ein Machtmittel der alten Eliten, die einfach nicht begreifen wollen, dass ihre Zeit vorbei ist und dass jetzt endlich auch die mitreden können, die früher keiner hören wollte.13

Wenn 62 Prozent der AfD-Anhänger sagen, es sei »besser, vorsichtig zu sein«, wenn man nach seiner »politischen Meinung gefragt« wird,14 dann gilt das in dieser Lesart als Kollateralschaden. Und wenn Kayvan Soufi-Siavash in München nicht im Werksviertel auftreten darf, dann ist das kein Akt der Zensur, sondern Ausdruck einer ›wehrhaften Demokratie‹ – frei nach dem Motto: ›Wir‹ wissen, was ›wir‹ von diesem Mann zu halten haben. Schaut doch bei Wikipedia nach. Antisemitismus und Verschwörungstheorien. Jemand, der über seinen Kanal KenFM »Falschinformationen zur Covid-19-Pandemie« verbreitet und deshalb im November 2020 von YouTube »dauerhaft« gesperrt wurde, als er sich noch Ken Jebsen nannte. Ein »Verdachtsfall« für den Verfassungsschutz.

Auch hier sind Duktus und Sprache verräterisch. Ein US-Konzern löscht Videos aus Deutschland. Wegen Falschinformationen. Offenbar das Gegenteil von Wahrinformationen. »Wahrheit gibt es nur zu zweien« steht auf einem Buch mit Briefen von Hannah Arendt.15 Wie wir die Wirklichkeit sehen, hängt davon ab, was wir bisher erlebt haben, wie weit wir gekommen sind und was wir noch wollen. Das heißt auch: Wir müssen uns wieder und wieder selbst bemühen, Glaubhaftes von Unsinn zu unterscheiden. Wir müssen streiten. Da draußen ist niemand, der die »Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen« ein für allemal festlegen könnte.16 Deshalb, sagt Bernd Stegemann, ein Theatermacher, darf diese Grenze nirgendwo erwähnt werden. Anders formuliert: Die Zensur selbst wird für die Zensoren automatisch zu einem Tabu. Andernfalls geraten sie in Begründungsnot. Das Gerede über Cancel Culture hilft ihnen dabei. Der Begriff ist vage, scheinbar modern und bei weitem nicht so bedrohlich wie Zensur. Kultur, immerhin. Und ein Wort aus dem Englischen, das längst nicht jeder versteht. Im Zweifel kann man immer noch von »Einzelfällen« sprechen und fragen, ob sich all die Cancel-Geschichten tatsächlich »exakt so zugetragen« haben, wie sie »kolportiert« werden. Die Süddeutsche Zeitung zieht diese Frage gleich ins Lächerliche: Wie viele Berichte brauchen wir, um von einem »strukturellen Problem« ausgehen zu können? »Zwei oder drei? 20 oder 30? 200 oder 300?«17

Die andere Seite der Medaille ist ganz ähnlich bearbeitet worden. Propaganda ist im herrschenden Sprachgebrauch inzwischen stets das, was die anderen machen – Nazis und Kommunisten vorzugsweise, aber auch sonst alle, die als ›Gegner‹ und ›Feinde‹ klassifiziert werden können. Die Kommunikationswissenschaft, meine akademische Disziplin, hat vergessen, dass sie als Propagandaforschung geboren wurde. Dabei macht sie nichts anderes als ihre Erfinder, die im Auftrag von Regierung, Militär und Geheimdiensten in den USA herausfinden sollten und wollten, wie man in die Köpfe der Menschen kommt. Psychologische Kriegsführung. Staat und milliardenschwere industrienahe Stiftungen (Rockefeller, Ford) haben ab 1939 Hunderte Sozialwissenschaftler bezahlt, um auch den Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen. Ein Ergebnis: Man sprach fortan von Kommunikation und nicht mehr von Propaganda.18 Das änderte zwar nicht das, wonach man suchte, erlaubte aber, die eigenen ›guten‹ Absichten von den ›schlechten‹ der Deutschen und später der Sowjets oder der Russen abzugrenzen.

Die Begriffe Zensur und Propaganda sind auf diese Weise zu einem stumpfen Schwert gemacht worden. Medien- und Gesellschaftskritik können sie zumindest im deutschsprachigen Kontext nicht mehr verwenden, ohne sofort mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, maßlos zu übertreiben oder gar den ›Rechten‹ in die Karten zu spielen. In diesem Buch wird dieses Risiko aus zwei Gründen in Kauf genommen. Zum einen kann jeder die Argumente prüfen und dann selbst entscheiden, ob es gerechtfertigt ist, im oben definierten Sinn von Propaganda und Zensur zu sprechen. Zum anderen hatten Klassiker wie Walter Lippmann oder Edward Bernays überhaupt kein Problem damit, Ross und Reiter zu nennen. Lippmann, der das Ohr von US-Präsidenten hatte und zu den Vätern eines der wichtigsten Machtinstrumente des Landes gehörte (Council on Foreign Relations), wusste schon vor hundert Jahren, dass Nachrichten alles sein mögen, aber auf keinen Fall ein »Spiegel gesellschaftlicher Zustände«.19 Dieser Walter Lippmann träumte von einer Regierung der Experten, die sich als Volksherrschaft tarnt und dafür die öffentliche Meinung gezielt beeinflussen muss – über die »Bilder, nach denen ganze Gruppen von Menschen« handeln.20 Sein Jünger Edward Bernays hielt Propaganda ein paar Jahre später folgerichtig für »eine vollkommen legitime Aktivität«. Ohne »öffentliche Zustimmung«, schrieb Bernays 1928, »kann kein größeres Vorhaben« mehr gelingen. Diese Zustimmung, da war sich Bernays sicher, muss und kann organisiert werden – von »PR-Beratern« wie ihm. Seine Definition entspricht dem, was ich in diesem Buch vertrete: »Moderne Propaganda ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu einem Unternehmen, einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen.«21

Lippmann und Bernays haben die »Vereinigung von Staat und Konzernen« nicht mehr erlebt, für die ihr Landsmann Sheldon Wolin in den Nullerjahren das Label »Supermacht« nutzen konnte.22