Chicagoland Vampires - Ein Biss zu viel - Chloe Neill - E-Book

Chicagoland Vampires - Ein Biss zu viel E-Book

Chloe Neill

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Beschreibung

Die Gegner der Vampire gewinnen in Chicago immer mehr an Einfluss. Nun droht auch noch der Staat ein vampirfeindliches Gesetz zu erlassen. Als ein merkwürdiges magisches Phänomen die Einwohner Chicagos in Unruhe versetzt, fürchtet die Vampirin Merit, dass eine Panik ausbrechen könnte. Sie muss alle Hebel in Bewegung setzen, um herauszufinden, wer hinter der magischen Attacke steckt.

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Inhalt

Widmung

Zitat

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Epilog

Danksagung

Impressum

CHLOE NEILL

CHICAGOLAND VAMPIRES

EIN BISS ZU VIEL

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Marcel Bülles

Für Jeremy, in ewiger Liebe.

(Leihst du mir jetzt zwanzig Dollar?)

Ein leichtes Wissen bringt Gefahr,

Schöpft tief aus Hippokrenens Quelle (…)

Alexander Pope

KAPITEL EINS

RUNTER KOMMEN SIE ALLE

Ende November

Chicago, Illinois

Eine kühle Brise wehte an diesem Herbstabend durch die Stadt. Am Himmel hing ein zunehmender Mond, der so nahe zu sein schien, dass man ihn mit ein wenig Anstrengung hätte berühren können. Dieser Eindruck lag allerdings vermutlich daran, dass ich mich acht Stockwerke über dem Boden befand, auf dem schmalen Metallgitter, welches das Dach der Harold-Washington-Bibliothek umspannte. Eine der charakteristischen Aluminium-Eulen – entweder eins der überzeugendsten architektonischen Details in Chicago oder eins seiner schlechtesten, je nachdem, wen man fragte – befand sich direkt über mir und starrte auf mich hinab, als ich in der frischen Luft ihren Herrschaftsbereich durchquerte.

Ich war in den letzten beiden Monaten nur selten aus meinem Zuhause in Hyde Park hervorgekrochen, wenn es nicht gerade um Essen ging – wir reden immerhin von Chicago – oder um meine beste Freundin Mallory. Als ich über den Rand des Gebäudes nach unten sah, beschlich mich spontanes Bedauern, eine Ausnahme gemacht zu haben. Die Bibliothek war nun wirklich kein Wolkenkratzer, aber sie war hoch genug, dass ein Sturz einen Menschen mit Sicherheit getötet hätte. Mir rutschte das Herz in die Hose, und jeder einzelne Muskel meines Körpers schaltete automatisch auf Überlebensmodus: Knie dich hin, halt dich am Gitter fest – und lass nie wieder los!

»Es ist gar nicht so tief, wie es aussieht, Merit.«

Ich sah zu dem Vampir zu meiner Rechten hinüber. Jonah, der mich davon überzeugt hatte hierherzukommen, lachte leise und schob sich kastanienbraune Locken aus seinem kantigen und zugleich perfekten Gesicht.

»Es ist tief genug«, sagte ich. »Und als du mir vorgeschlagen hast, ein wenig frische Luft zu schnappen, habe ich das hier definitiv nicht erwartet.«

»Vielleicht nicht. Aber du kannst wohl kaum bestreiten, dass der Ausblick großartig ist.«

Ich ließ meinen Blick über die Stadt gleiten, ohne meine verkrampften Finger von der Wand hinter mir zu lösen. Er hatte recht – am außergewöhnlichen Blick auf Downtown mit seinem Stahl und Glas und erstklassig bearbeiteten Steinen war nichts auszusetzen.

Eines hatte ich aber entgegenzusetzen: »Ich hätte auch aus dem Fenster sehen können.«

»Wo bleibt denn da die Herausforderung?«, fragte er und sprach dann sanfter weiter. »Du bist ein Vampir«, ermahnte er mich. »Die Schwerkraft folgt bei dir anderen Regeln.«

Er hatte recht. Die Schwerkraft war uns freundlicher gesonnen. Sie half uns dabei, mehr Schwung in einen Kampf zu legen, und außerdem, das hatte ich zumindest so gehört, würde uns ein Sturz aus großer Höhe nicht töten. Was nicht bedeutete, dass ich diese Theorie gerne überprüfen wollte. Nicht, wenn ich mir alle Knochen brach.

»Ich verspreche dir«, sagte er, »wenn du meinen Anweisungen folgst, wird dir der Sturz nichts anhaben können.«

Er hatte gut reden. Jonah hatte mehrere Jahrzehnte zusätzliche Vampirerfahrung und war daher bei den meisten Dingen nicht sonderlich nervös. Mir erschien meine Unsterblichkeit noch nie so fragil.

Ich blies mir meinen dunklen Pony aus dem Gesicht und sah noch einmal über den Rand hinab. Die State Street lag weit unter uns, und zu so später Stunde war sie nahezu menschenleer. Wenn das hier nicht funktionierte, würde ich wenigstens niemanden unter mir zerquetschen.

»Du musst lernen, sicher zu fallen«, sagte er.

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Catcher hat mit mir trainiert. Er hat die ganze Zeit betont, wie wichtig es ist, richtig hinzufallen.« Catcher war der hübsche Kerl, der mittlerweile bei meiner früheren Mitbewohnerin und immer noch besten Freundin Mallory eingezogen war. Er war außerdem ein Angestellter meines Großvaters.

»Dann weißt du, dass unsterblich zu sein nicht bedeutet, sorglos zu sein«, fügte Jonah hinzu und streckte mir seine Hand entgegen. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, was nicht nur an der Höhe, sondern auch an der Geste an sich lag.

Ich hatte mich – und meine Gefühle – in den letzten beiden Monaten sehr zurückgenommen, als Hüterin des Hauses Cadogan war ich meistens nur auf Patrouille auf unserem Anwesen unterwegs. Mir war durchaus klar, warum, denn ich war ein gebranntes Kind. Meine neu entdeckte Tapferkeit als Vampirin hatte sich praktisch in Luft aufgelöst, nachdem der Meister meines Hauses, Ethan Sullivan, der Vampir, der mich erschaffen und zur Hüterin ernannt hatte, der mein Partner gewesen war, durch meine Todfeindin vor meinen Augen gepfählt worden war … ein Schicksal, das ihr durch meine Hand im Anschluss daran selbst widerfuhr.

Die poetische Schönheit dieses Moments, so widernatürlich sie auch erscheinen mochte, war mir durchaus bewusst, denn ich war früher Doktorandin der englischsprachigen Literatur gewesen.

Jonah, der Hauptmann der Wachen des Hauses Grey, war meine Verbindung zur Roten Garde, einer Geheimorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Vampirhäuser Amerikas und das Greenwich Presidium zu überwachen, jenes europäische Gremium, das die Häuser von der anderen Seite des großen Teichs kontrollierte.

Man hatte mir die Mitgliedschaft in der Roten Garde angeboten, und Jonah war der Partner, der mir in Aussicht gestellt worden war, hätte ich das Angebot angenommen. Das hatte ich jedoch nicht getan, aber er hatte mir freundlicherweise bei Problemen geholfen, mit denen aufgrund der Greenwich-Presidium-Politik selbst Ethan seine Schwierigkeiten gehabt hatte.

Jonah hatte sich nur zu gern als Ersatz für Ethan angeboten – in beruflicher und anderer Hinsicht. Die Nachrichten, die wir in den letzten Wochen ausgetauscht hatten – und der hoffnungsvolle Blick an diesem Abend –, bewiesen mir, dass er nicht nur am Lösen übernatürlicher Probleme ein Interesse hatte, sondern an ganz anderen Dingen.

Jonah sah sehr gut aus, das war nicht zu leugnen. Er war außerdem charmant. Und nicht nur das, er war großartig, auf seine ganz eigene, verschrobene und merkwürdige Art. Ehrlich, er hätte die Hauptrolle in einer Liebeskomödie spielen können, vermutlich sogar seiner eigenen. Aber ich war zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, mir wieder Gedanken über meine Gefühle zu machen. Auch nicht in der nächsten Zeit, da war ich mir sicher. Mein Herz hatte momentan ganz andere Sorgen, denn seit Ethans Tod war es gebrochen.

Jonah musste mein Zögern bemerkt haben. Er lächelte mich freundlich an, zog dann seine Hand zurück und deutete auf den Abgrund.

»Erinnerst du dich, was ich dir zum Springen gesagt habe? Es ist dasselbe wie ein einfacher Schritt.«

Das hatte er mir ganz bestimmt gesagt. Zwei- oder dreimal schon. Ich nahm es ihm nur nicht ab. »Das ist ein ziemlich langer Schritt. Sehr lang, wenn du mich fragst.«

»Das ist er«, stimmte Jonah mir zu. »Aber nur der erste Schritt ist wirklich unangenehm. Dich im freien Fall zu befinden ist eins der großartigsten Erlebnisse, die du jemals haben wirst.«

»Besser als mit beiden Füßen auf festem Boden zu stehen?«

»Viel, viel besser. Es ist fast wie fliegen – nur dass wir es besser nach unten schaffen als nach oben. Das ist deine Chance, eine Superheldin zu sein.«

»Sie nennen mich doch schon die ›Schöne Rächerin‹«, brummte ich und schüttelte meinen langen dunklen Zopf. Die Chicago Sun-Times hatte mir den Titel »Schöne Rächerin« verliehen, als ich einer Formwandlerin während einer Schießerei in einer Bar geholfen hatte.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, wie außerordentlich sarkastisch du klingst, wenn du Angst hast?«

»Du bist nicht der Erste«, gab ich zu. »Es tut mir leid. Es ist nur … Das hier macht mich wahnsinnig. Weder mein Körper noch eine einzige Zelle meines Gehirns halten es für eine gute Idee, von einem Gebäude herunterzuspringen.«

»Das wird schon. Die Tatsache, dass du davor Angst hast, ist der wesentliche Grund, warum du es tun solltest.«

Oder der wesentliche Grund, auf dem Absatz kehrtzumachen und nach Hyde Park zurückzukehren.

»Vertrau mir!«, sagte Jonah. »Du musst diese Fähigkeit unbedingt beherrschen. Malik und Kelley brauchen dich.«

Kelley war früher eine der Wachen des Hauses gewesen; nun war sie für alle Wachen Cadogans verantwortlich. Da wir bedauerlicherweise nur noch drei Vollzeitstellen bei den Wachen besetzt hielten (einschließlich Kelley) und eine als Hüterin, war das kein besonders großer Karrieresprung.

Malik hatte als Nummer Eins an Ethans Seite gedient und war seit dessen Tod Meister des Hauses. Die Investitur in sein Amt hatte stattgefunden, und das Haus war ihm anvertraut worden.

Ethans Tod hatte eine vampirische »Reise nach Jerusalem« zur Folge gehabt. Als Meister hatte Malik Washington das Recht wiedererlangt, seinen Familiennamen tragen zu dürfen. Nur die Meister der zwölf Vampirhäuser durften dies. Unglücklicherweise hatte Malik auch das katastrophale politische Erbe seines Vorgängers anzutreten, das das Haus seit Ethans Tod in den Abgrund zu reißen drohte. Malik arbeitete unermüdlich, aber die meiste Zeit musste er darauf verwenden, sich mit dem neuesten Fluch unseres Daseins auseinanderzusetzen.

Der Fluch hatte einen Namen und eine Funktion: Franklin Theodore Cabot, Verwalter des Hauses Cadogan, ernannt durch das Greenwich Presidium, dessen Anführer Darius West zu dem Schluss gekommen war, dass er es nicht mochte, wie das Haus geführt wurde. Daher hatte man »Frank« nach Chicago geschickt, um das Haus zu inspizieren und zu bewerten. Das Greenwich Presidium behauptete, Ethan habe das Haus nicht effektiv geleitet – was eine dreiste Lüge war. Jedenfalls hatten sie keine Zeit verschwendet und den Verwalter geschickt, um unsere Zimmer, unsere Geschäftsbücher und unsere Akten zu durchwühlen. Ich war mir nicht sicher, nach welchen Unterlagen Frank eigentlich suchte und warum sie sich solche Mühe bei einem Haus machten, das einen ganzen Ozean weit entfernt lag.

Welche Gründe sie auch haben mochten, Frank war kein angenehmer Gast. Er war unausstehlich, selbstherrlich und ein Ordnungsfanatiker, der sich auf Vorschriften bezog, von denen ich noch nie gehört hatte und die alle anderen, bisherigen für ungültig erklärten. Tatsächlich lernte ich sie relativ schnell kennen, denn Frank hatte eine Wand im Erdgeschoss mit den neuen Hausvorschriften tapezieren lassen – und den Bestrafungen, die folgten, sollten sie von irgendjemandem missachtet werden. Dieses Verfahren sei notwendig, hatte er gesagt, denn die Hausdisziplin sei vernachlässigt worden.

Es überrascht daher vermutlich nicht, dass ich Frank von Anfang an nicht leiden konnte – was übrigens auch daran lag, dass er einer adligen Familie entstammte und an einer Ivy-League-Universität seinen Abschluss gemacht hatte, natürlich an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Seine kleine Antrittsrede in Cadogan garnierte er mit abgedroschenen Phrasen wie »Wir müssen Synergieeffekte nutzen« oder »Führungskräfte müssen immer auch Querdenker sein«. Dabei drohte er ganz offen damit, dass das Haus dauerhaft durch das Greenwich Presidium übernommen oder gar aufgelöst werde, falls er mit dem, was er hier vorfinde, nicht zufrieden sei.

Ich hatte das Glück, aus einer vermögenden Familie zu kommen, und es gab in unserem Haus noch einige andere Vampire, die dem alten Geldadel entstammten. Was mich aber wirklich ärgerte, war Franks Anspruchsdenken. Der Mann trug Bootsschuhe, verdammt noch mal! Und er befand sich definitiv nicht auf einem Boot. Trotz der Aufgabe, die er vom Greenwich Presidium erhalten hatte, war er nur ein Novize (wenn auch vermögend) aus einem der Häuser an der Ostküste. Zwar war das Haus von einem seiner Vorfahren gegründet worden, seitdem aber schon längst in die Hände eines anderen Meisters übergegangen.

Schlimmer noch, Frank redete mit uns, als ob er ein Mitglied unseres Hauses wäre, als ob sein Reichtum und seine Verbindungen ihm Ansehen innerhalb Cadogans verschafften. Es war absolut lächerlich, dass Frank so tat, als ob er ein Mitglied unseres Hauses wäre, denn seine einzige Aufgabe bestand darin, die Dinge aufzulisten, bei denen wir uns nicht den allgemeinen Vorgaben unterordneten. Er war ein Außenseiter, den man uns aufgezwungen hatte, um uns als Widerständler zu brandmarken und das, was nicht passte, passend zu machen.

Da Malik sich Sorgen um das Haus machte und die Befehlskette durchaus respektierte, hatte er Frank erlaubt, sich frei im Haus zu bewegen. Er nahm einfach an, dass Frank eine Schlacht war, die er nicht gewinnen konnte, und sparte sich sein politisches Kapital für die nächste Runde.

Wie auch immer, Frank war jetzt in Hyde Park, und ich war hier in Downtown, mit einem Ersatz-Vampirpartner, der sich dazu entschlossen hatte, mir beizubringen, wie man von einem Gebäude sprang, ohne jemanden umzubringen … oder die Grenzen meiner eigenen Unsterblichkeit zu überschreiten.

Ich sah erneut über den Rand, und der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, mich auf die Knie zu werfen und zur Treppe zurückzukriechen oder mich über den Rand in die Tiefe hinabzustürzen.

Aber dann sagte er die Worte, die mich am ehesten dazu brachten, eine Entscheidung zu treffen.

»Ein neuer Tag wird anbrechen. Schon bald, Merit.«

Der Mythos, dass Vampire kein Sonnenlicht vertragen, ist wahr – wenn ich mich bei Sonnenaufgang hier auf dem Dach aufhielte, würde ich mich in einen Haufen Asche verwandeln.

»Du hast zwei Alternativen«, sagte Jonah. »Du kannst mir vertrauen und das hier versuchen, oder du kannst dieses Dach verlassen, nach Hause zurückkehren und niemals wissen, wozu du wirklich fähig bist.«

Er streckte mir seine Hand entgegen. »Vertrau mir!«, sagte er. »Und bleib locker in den Knien, wenn du landest!«

Es war die Gewissheit, die in seinem Blick lag, die mich überzeugte – sein Vertrauen, dass ich dieses Ziel erreichen konnte. Vor einiger Zeit hätte ich in seinen Augen nur Misstrauen vorgefunden. Jonah war bei unserem ersten Treffen nicht sonderlich beeindruckt von mir gewesen. Aber die Gegebenheiten hatten uns zusammengeschweißt, und wenn er zu Beginn noch Zweifel an mir gehabt hatte, so glaubte er nun offensichtlich an mich.

Es war an der Zeit, mich seines Vertrauens würdig zu erweisen.

Ich streckte meine Hand aus und ergriff seine in einem schraubstockartigen Griff. »Locker in den Knien«, wiederholte ich.

»Du musst einfach nur einen Schritt machen«, sagte er.

Ich sah zu ihm hinüber, um ihm mitzuteilen, dass ich bereit war. Doch bevor ich ein Wort sagen konnte, zwinkerte er mir zu, machte einen Schritt und zog mich einfach mit. Mein Protest ging in der rauschenden Luft unter, durch die wir nun flogen.

Dieser erste Schritt war so schrecklich, dass mir fast das Herz stehen blieb. Das Gefühl, dass der Boden unter unseren Füßen verschwunden war und damit jedes Gefühl der Sicherheit, drehte mir den Magen um und ließ meinen Körper vor Entsetzen zittern. Das Herz schlug mir bis zum Hals, was mich wenigstens daran hinderte, aus Panik laut aufzuschreien.

Aber dann wurde es richtig gut.

Nach dem fürchterlichen Anfang unseres Sturzes (und ich kann es nur noch einmal betonen: Es war schrecklich) fühlte sich der Rest unseres kleinen Abenteuers gar nicht wie ein Sturz an. Es kam mir eher so vor, als ob ich gut gelaunt eine Treppe hinunterhüpfte, bei der der Abstand zwischen den Stufen ständig größer wurde. Ich war gerade mal drei oder vier Sekunden in der Luft, doch die Zeit verstrich auf einmal langsamer, auch die Stadt um uns herum schien sich zu verlangsamen. Als ich den Boden erreichte, ging ich in die Hocke und berührte mit einer Hand den Bürgersteig – aber der Aufprall war nicht schlimmer, als wenn ich einfach in die Luft gesprungen wäre.

Mein Wandel zur Vampirin hatte nach dem Zufallsprinzip stattgefunden, und meine Fähigkeiten hatten sich so langsam ausgebildet, dass es mich immer noch überraschte, wenn ich ein neues Talent zum ersten Mal entdeckte. Vor einem Jahr hätte mich das hier umgebracht, aber jetzt fühlte ich mich richtig belebt.

»Du hast den Sprung drauf«, sagte Jonah.

Ich schob meinen Pony aus der Stirn und sah ihn an. »Das war fabelhaft.«

»Hab ich dir doch gesagt.«

Ich stand auf und richtete den Saum meiner Lederjacke. »Das hast du. Aber wenn du mich noch mal von einem Gebäude herunterstößt, wird das für dich eine sehr schmerzhafte Erfahrung.«

Er lächelte mich herausfordernd an, und für einen Augenblick hatte ich Schmetterlinge im Bauch, was mich beunruhigte. »Dann, denke ich, kommen wir ins Geschäft.«

»Im Ernst? Können wir uns nicht einfach darauf einigen, dass du mich nicht noch mal von einem Gebäude stößt?«

»Wo bliebe denn da der Spaß?«, fragte Jonah, drehte sich um und ging die Straße entlang. Ich ließ ihm einige Schritte Vorsprung, bevor ich ihm folgte, denn ich hatte seinen herausfordernden Blick noch gut in Erinnerung.

Und ich hatte gedacht, der erste Schritt vom Dach wäre nervenaufreibend gewesen.

Haus Cadogan befand sich in Hyde Park, einem Stadtteil südlich von Downtown. Hier stand sich auch die University of Chicago, an der ich Doktorandin gewesen war, als man mich in eine Vampirin verwandelt hatte. Meine Wandlung durch Ethan begann, nur wenige Sekunden nachdem ich von einem abtrünnigen Vampir – Blutsauger, die sich nicht einem der Häuser angeschlossen hatten – gebissen worden war, den mir Celina Desaulniers auf den Hals gehetzt hatte, damit er mich umbrachte. Celina war jene selbstverliebte Vampirin, die ich gepfählt hatte, Sekundenbruchteile nachdem Ethan durch sie getötet worden war. Den Abtrünnigen hatte sie mir nur hinterhergeschickt, um meinem Vater eins auszuwischen. Wie ich später herausfinden sollte, hatte mein Immobilienhai von einem Vater Ethan Geld angeboten, um mich zum Vampir zu machen. Ethan hatte sein Angebot ausgeschlagen, und Celina hatte es meinem Vater übel genommen, dass er ihr nicht dasselbe Angebot gemacht hatte.

Die Frau war wirklich anstrengend.

Wie auch immer – Ethan ernannte mich zur Hüterin des Hauses. Damit ich dem Haus besser dienen konnte und um Mallorys mitternächtlichen (mittäglichen … frühmorgendlichen … und nachmittäglichen) Liebesabenteuern nicht mehr zuhören zu müssen, zog ich nach Cadogan um.

Das Haus hatte alles, was man so braucht: Küche, Trainingsraum, eine Operationszentrale, in der die Wachen das Haus im Auge behielten, und Zimmer für etwa neunzig der rund dreihundert Vampire Cadogans, die denen in einem Studentenwohnheim glichen. Mein Zimmer war im ersten Stock. Es war nicht groß, und es war auch nicht gerade luxuriös eingerichtet, aber es war eine Zuflucht vor dem vampirischen Chaos in Chicago. Ich hatte ein Bett, einen Bücherschrank, einen Wandschrank und ein kleines Badezimmer. Und ich musste nur einige Schritte über den Flur gehen, um mich in einer kleinen Küche wiederzufinden, die trotz ihrer geringen Größe alles enthielt, was mein Herz begehrte: Schnellgerichte und Blutbeutel von unserem Lieferservice mit dem schrecklichen Namen Lebenssaft.

Ich stellte meinen orangefarbenen Volvo einige Straßenzüge entfernt ab und ging zu Fuß zurück zum Haus. Es leuchtete hell in der Dunkelheit von Hyde Park, denn wir hatten zu unserer Sicherheit Flutlichtscheinwerfer anbringen lassen, nachdem das Haus von knurrenden Formwandlern angegriffen worden war und anschließend renoviert werden musste. Die Nachbarn schimpften über die Scheinwerfer, bis sie darüber nachdachten, was ohne sie geschehen würde – der Schutz der Dunkelheit würde übernatürliche Eindringlinge anziehen.

Heute war es recht still am Haus. Eine Reihe Demonstranten hatte es sich auf dem Rasen zwischen dem Bürgersteig und dem schmiedeeisernen Zaun, der unser Anwesen umgab, mit Decken gemütlich gemacht. Als Bürgermeister Tate seines Amts enthoben, angeklagt und an einem geheim gehaltenen Ort eingesperrt wurde, war die ursprünglich riesige Zahl der Demonstranten stark gesunken. Der Amtswechsel hatte die Wähler dieser Stadt besänftigt.

Bedauerlicherweise waren die Politiker keineswegs besänftigt. Diane Kowalczyk, die Frau, die Tates Platz eingenommen hatte, behielt mit einem Auge eine Präsidentschaftskandidatur im Blick, und sie benutzte die Übernatürlichen Chicagos, um Unterstützung für ihren geplanten Wahlkampf zu erhalten. Als der Gesetzesvorschlag die Runde machte, alle Übernatürlichen verpflichtend registrieren zu lassen, war sie eine der lautstarken Befürworter. Der Vorschlag beinhaltete, dass wir alle, ohne Ausnahme, unsere Fähigkeiten bekannt geben und Ausweispapiere mit uns führen mussten, und wir sollten uns auch jedes Mal melden, wenn wir einen der Bundesstaaten verließen oder betraten.

Die meisten Übernatürlichen hassten diesen Vorschlag. Er widersprach allem, was Amerika ausmachte, und es klang nach Diskriminierung. Natürlich waren einige von uns gefährlich, aber das waren Menschen auch. Hätten die menschlichen Bewohner Chicagos auch ein Gesetz unterstützt, das sie dazu gezwungen hätte, sich jedem auszuweisen, der das von ihnen verlangte? Da hatte ich meine Zweifel.

Die Menschen, die zu dem Schluss gelangt waren, dass sie uns nicht vertrauen konnten, verwendeten ihre Abende darauf, uns wissen zu lassen, wie sehr sie uns wirklich hassten. Zu meinem Bedauern kamen mir mittlerweile einige Demonstranten bekannt vor. Insbesondere erkannte ich ein junges Pärchen wieder – einen Jungen und ein Mädchen, kaum älter als sechzehn, die mich und Ethan hasserfüllt angeschrien hatten.

Ja, ich war ein Blutsauger. Das Sonnenlicht war mein Ende, genauso wie Espenholzpflöcke und meine Enthauptung. Ich brauchte Blut, aber auch Schokolade und Diätlimonade. Ich war nicht untot; ich war nur einfach nicht menschlich. Also war ich zu dem Schluss gekommen, wenn ich mich normal und höflich verhielte, würde ich irgendwann in der Lage sein, ihren Vorurteilen gegenüber Vampiren entgegenzutreten.

Mittlerweile gelang es den Häusern Chicagos jedenfalls besser, Fehlinformationen über uns entgegenzutreten. In Wrigleyville gab es sogar ein Schwarzes Brett mit einem Foto, auf dem vier lächelnde Vampire über dem Text SCHAUTBEIUNSVORBEI! zu sehen waren. Das Schwarze Brett war als Einladung gedacht, die Häuser Chicagos besser kennenzulernen. Heute Abend hingegen war es der Grund, warum ein paar ziemlich verloren wirkende Teenager handgemalte Plakate in die Luft hielten: SCHAUTBEIUNSVORBEI – UNDSTERBT!

Ich lächelte ihnen höflich zu, als ich an ihnen vorbeikam, und hielt dann zwei Leinenbeutel voll mit Burgern und geriffelten Pommes hoch. »Abendessen!«, ließ ich sie gut gelaunt wissen.

Am Tor empfingen mich zwei unserer Söldner-Feen, die den Zugang zum Anwesen des Hauses Cadogan kontrollierten. Sie nickten mir äußerst knapp zu, als ich an ihnen vorbeiging, und richteten ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf die Straße. Feen waren bekannt dafür, dass sie Vampire nicht ausstehen konnten, aber Menschen konnten sie noch weniger leiden. Regelmäßige Zahlungen in bar sorgten dafür, dass sie sich auch weiterhin diesem besonderen Objektschutz widmeten.

Ich hüpfte die Stufen zum Eingang hinauf und betrat das Haus, wo ich von einem Haufen Vampire in Empfang genommen wurde. Sie starrten die Wand an, an der Frank seine Anweisungen aufzuhängen pflegte.

»Willkommen im Irrenhaus!«, sagte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und erkannte Juliet, eine der verbliebenen Wachen Cadogans, die die Vampire mit einem verzweifelten Blick bedachte. Sie war schlank und rothaarig und besaß eine elfenhafte Ausstrahlung.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Noch mehr Regeln«, sagte sie und deutete auf die Wand. »Drei neue Vorschriften an der Schandmauer. Frank hat beschlossen, dass Vampire sich nicht mehr in Gruppen mit mehr als zehn Leuten versammeln dürfen. Ausgenommen sind offizielle Versammlungen.«

»Weil wir sonst gegen das Greenwich Presidium aufbegehren könnten?«, fragte ich.

»Das wird es wohl sein. Anscheinend gehört die ›Versammlungsfreiheit‹ nicht zu den Rechten, die das Greenwich Presidium besonders zu schätzen weiß.«

»Klingt sehr kolonialistisch«, murmelte ich. »Was ist die zweite neue Vorschrift?«

Sie starrte mich ausdruckslos an. »Er rationiert das Blut.«

Diese Vorstellung machte mich so sprachlos, dass ich einen Augenblick brauchte, um wieder zur Besinnung zu kommen. »Wir sind Vampire. Wir brauchen Blut, um zu überleben.«

Sie sah verächtlich zur Wand hinüber, die mit unzähligen Papierseiten übersät war. »Oh, ich weiß. Aber Frank hat in seiner unendlichen Weisheit befunden, dass Ethan uns verdorben hat, indem er uns jederzeit Blut im Beutel zur Verfügung stellte. Er reduziert die Bestellungen bei Lebenssaft.«

Obwohl wir in der Regel nur Blut aus Beuteln tranken, gehörte Cadogan zu den wenigen Häusern in den Vereinigten Staaten – in Chicago war es das einzige –, die ihren Vampiren erlaubten, Blut von Menschen oder anderen Vampiren zu trinken. Die anderen Häuser hatten diese Praxis abgeschafft, um sich den Menschen besser anzupassen. Ich persönlich hätte nur von einem Mann Blut getrunken – Ethan –, aber ich wusste es zu schätzen, dass es eine Alternative gab.

»Besser, es trifft uns als Haus Grey«, sagte ich leise. »Uns stehen wenigstens andere Quellen zur Verfügung.«

»Diesmal nicht«, sagte Juliet. »Er hat außerdem untersagt, dass wir von anderen trinken.«

Dieser Einfall war genauso absurd, aber aus anderen Gründen. »Ethan hat diese Regel aufgestellt«, protestierte ich. »Und Malik hat sie bestätigt. Frank ist nicht befugt …«

Doch Juliet unterbrach mich mit einem Achselzucken. »Er behauptet, das gehöre zu seiner Analyse. Ein Experiment, um herauszufinden, wie gut wir mit unserem Hunger umgehen.«

»Er stellt uns eine Falle. Er will, dass wir scheitern«, sagte ich leise und ließ meinen Blick über die Vampire schweifen, die nun nervös miteinander redeten. »Wir werden eine Zwangsverwaltung niemals überstehen, zwei Monate nachdem wir unseren Meister verloren haben und mit einem Haufen Demonstranten vor unseren Toren. Irgendjemand wird ausflippen, weil er nicht genügend Blut zu sich nehmen kann.« Ich sah ihr in die Augen. »Er wird das als Ausrede benutzen, um das Haus zu übernehmen oder es komplett zu schließen.«

»Ziemlich wahrscheinlich. Hat er dir schon einen Termin für euer Gespräch genannt?«

Frank verlangte von jedem Vampir, ein Privatgespräch mit ihm zu führen, was mich nicht sonderlich überraschte. In diesen Gesprächen, so hatte ich gehört, ging es in der Regel um solch allgemeine Themen wie »Begründe, warum du überhaupt existierst«. Ich war einer der wenigen Vampire, mit denen er noch nicht gesprochen hatte. Nicht, dass ich das bedauerte, aber jeden Tag, den ich darauf warten musste, wurde ich misstrauischer.

»Immer noch nicht«, antwortete ich.

»Vielleicht will er dir damit ja Respekt zollen. Vielleicht versucht er die Erinnerung an Ethan zu respektieren, indem er dich nicht als Erste befragt?«

»Ich bezweifle stark, dass unsere Beziehung das Vorgehen des Greenwich Presidium in irgendeiner Weise beeinflussen würde. Es ist vermutlich reine Taktik – er lässt mich so lange darauf warten, bis ich anfange, mir Sorgen deswegen zu machen.« Ich hielt mein Abendessen hoch. »Wenigstens habe ich mir Nervennahrung besorgt.«

»Wo wir schon dabei sind – war eine ziemlich gute Idee, dass du das mitgebracht hast.«

»Wieso?«

»Die dritte Regel: Frank hat Fertiggerichte aus den Küchen verbannt.«

Volltreffer Nummer drei für Frank. »Und wie lautet seine Begründung dafür?«

»Es ist ungesund, industriell verarbeitet und teuer. Von jetzt ab gibt es nur noch Müsli und frisches Grünzeug.«

Da ich ein Vampir mit einem gesunden Appetit war, traf mich dies vermutlich härter als alles andere, das Frank bisher festgelegt hatte.

Juliet warf einen Blick auf ihre Uhr. »Nun, ich sollte mich wieder an die Arbeit machen. Gehst du nach oben, um das zu essen?«

»Luc und Malik wollten sich mit mir unterhalten, und ich habe ihnen versprochen, was zu essen mitzubringen. Was hast du denn vor?«

Sie deutete auf die Treppe, die ins Untergeschoss führte, wo sich die Operationszentrale befand. »Habe gerade meine Schicht vor den Rechnern hinter mich gebracht.« Sie meinte damit die Monitore, auf denen die Aufnahmen der Sicherheitskameras zu sehen waren, mit denen wir das Anwesen überwachten.

»Irgendwas Spannendes?«

Sie verdrehte die Augen. »Die Menschen hassen uns, blablabla. Sie wünschen sich, dass wir zur Hölle fahren oder auch nach Wisconsin, das liegt nämlich näher, blablabla.«

»Also alles beim Alten?«

»So ziemlich. Wenn Celina geglaubt hat, sie würde den Vampiren eine neue Märchenwelt eröffnen, indem sie uns in die Öffentlichkeit zerrt, dann hat sie sich ganz schön getäuscht.«

»Celina hat sich in einigen Dingen getäuscht«, sagte ich.

»Das stimmt«, erwiderte sie leise, und ihr Tonfall ließ erkennen, dass sie Mitleid mit mir empfand. Doch Mitleid war genauso anstrengend wie Trauer, also wechselte ich das Thema.

»Irgendein Hinweis auf McKetrick?«, fragte ich. McKetrick, dessen Vornamen wir nicht kannten, hielt sich für einen freiheitsliebenden Freischärler und uns Vampire für den neuen Staatsfeind. Er trug schwarze Klamotten und ein Sturmgewehr, und er hatte das eindeutige Verlangen, uns alle aus der Stadt zu jagen. Eines Nachts hatte er Ethan und mir eine Predigt gehalten und uns gedroht, dass wir ihn nicht zum letzten Mal gesehen hätten. Er war noch ein paarmal aufgetaucht, und ich hatte von Catcher zusätzliche Informationen über seine Zeit beim Militär erhalten – Stichwort »zweifelhafte Taktiken« und »Probleme mit dem Befehlsgehorsam« –, aber falls er über ein Gesamtkonzept zur Auslöschung aller Vampire verfügte, so hatte er es uns noch nicht wissen lassen.

Ich war mir nur nicht sicher, ob ich mich deswegen besser oder schlechter fühlen sollte.

»Nicht der kleinste.« Sie legte ihren Kopf ein wenig zur Seite. »Was hast du draußen gemacht?«

»Trainiert. Ich hab trainiert.« Diese Erklärung ließ mich kurz stocken, denn ich hatte den Wachen noch nicht gestanden, dass ich mit Jonah zusammenarbeitete. Unsere gemeinsame Zeit war erst durch unsere Verbindung zur Roten Garde möglich geworden, und das Geheimnis konnte ich selbstverständlich nicht einfach so lüften. Ich vermied es daher, Jonah zur Sprache zu bringen.

Ein weiterer Stein für mein ständig wachsendes Lügengebäude.

»Es lohnt sich, in Form zu bleiben«, sagte Juliet mit einem Augenzwinkern.

Ein Augenzwinkern, das mich ahnen ließ, dass ich nicht so raffiniert war, wie ich mir vorgestellt hatte.

»Nun, es war eine lange Nacht«, sagte sie. »Ich geh dann mal nach oben.«

»Juliet«, rief ich ihr nach wenigen Schritten hinterher. »Bist du jemals gesprungen?«

»Gesprungen?«, fragte sie mit einem Stirnrunzeln. »Du meinst in die Luft?«

»Nein, von einem Gebäude.«

»Bin ich.« Es dämmerte ihr, das konnte ich in ihren Augen erkennen. »Aber, Hüterin … Hast du etwa heute deinen ersten Sprung hinter dich gebracht?«

»Habe ich, ja.«

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie. »Pass nur auf, dass du nicht zu tief oder zu schnell fällst!«

Meine Rede.

Frank hatte Maliks Büro in Besitz genommen – jenes Büro, das einst Ethan gehörte. Malik hatte den Raum gerade mal zwei Wochen nutzen können, bis Frank auftauchte und feststellte, dass er für seine Bewertung des Hauses genau diesen Platz brauchte.

Malik, mit seiner dunklen Haut und seinen grünen Augen, wägte die Dinge sorgfältig ab. Er hatte sich entschlossen, sich Franks Wunsch zu fügen, und war in sein altes Büro einige Schritte den Flur hinunter zurückgezogen.

Es war nicht sonderlich groß. Maliks Schreibtisch, die Bücherregale und seine Erinnerungsstücke füllten es praktisch aus. Doch die geringe Größe hielt uns nicht davon ab, hier unsere Sitzungen abzuhalten. Die Trauer, die wir alle empfanden, schweißte uns zusammen, und daher quetschten wir uns in unserer freien Zeit so oft wie möglich in den kleinen Raum.

Heute saßen sich Malik und Luc an einem Tisch gegenüber, dazwischen ein Schachbrett, und Lindsey hockte einige Schritte entfernt im Schneidersitz auf dem Boden und las eine Zeitschrift.

Maliks Ehefrau Aaliyah – zierlich, umwerfend schön und so bescheiden, wie man es sich nur wünschen konnte – schloss sich uns gelegentlich an, aber nicht heute Abend. Aaliyah war Autorin, die den größten Teil ihrer Zeit in ihrer Wohnung verbrachte. Ich konnte durchaus verstehen, dass sie dort nach einem Unterschlupf suchte, um dem üblichen Chaos des Vampirdaseins zu entgehen.

Luc, die jetzige Nummer eins und der ehemalige Hauptmann der Wachen Cadogans, hatte blonde, zerzauste Haare und gab sich ziemlich cool. Er war im Wilden Westen geboren und groß geworden, und ich nahm an, dass seine Existenz als Vampir vor der Mündung eines Gewehrs begonnen hatte. Luc hatte sich in Lindsey verguckt, meine beste Freundin im Haus, die mit mir in der Wache war und sich offensichtlich Zeit freigeschaufelt hatte, um heute Abend mal nicht in der Operationszentrale sein zu müssen.

Ihre Beziehung war eine ständige Achterbahnfahrt, es ging hoch und wieder runter, wobei es mehr runterging als hoch. Lindsey hatte Angst davor, dass eine Beziehung irgendwann zu einer Trennung führte und dass diese Trennung ihre Freundschaft zerstören würde. Trotz ihrer anfänglichen Bindungsängste hatte sie Luc am Ende doch eine Chance gegeben, als sie nach Ethans Tod getröstet werden wollte.

Die erste Woche nach seinem Tod hatte ich in meinem Zimmer verbracht, und ich sah die Welt nur noch wie durch einen Nebelschleier. Mallory wich nie von meiner Seite. Als ich mich schließlich wieder hervorwagte und Mallory nach Hause zurückgekehrt war, stand Lindsey vor meiner Tür und war genauso durch den Wind. In ihrer Trauer war sie zu Luc gegangen, und der gegenseitige Zuspruch hatte sich in Zuneigung verwandelt – aus einer tröstlichen Umarmung war ein leidenschaftlicher Kuss geworden, der sie völlig umgehauen hatte (zumindest hatte sie etwas in der Art gesagt). Der Kuss hatte ihre Zweifel nicht beseitigt, doch hatte sie ihre Ängste so weit überwunden, dass sie ihm eine Chance gab.

Luc fühlte sich natürlich absolut bestätigt.

»Hüterin«, sagte Luc, während seine Finger über einem seiner schwarzen Springer schwebten und er offensichtlich über seinen nächsten Zug nachdachte. »Ich rieche Burger, und ich kann für dich nur hoffen, dass du genügend für alle mitgebracht hast.«

Er traf eine Entscheidung, griff sich den Springer und bewegte ihn zu seiner neuen Position. Dann riss er triumphierend beide Arme hoch. »Und so schreiten wir voran!«, sagte er und ließ seine Augenbrauen herausfordernd zucken. »Was sagst du dazu, hm?«

»Ich bin sicher, dass mir etwas einfallen wird«, erwiderte Malik, der das Schachbrett anstarrte und sich die Aufstellung ansah, um sich seine Chancen auszurechnen und seine Optionen zu bedenken. Das Schachspiel war zu einem wöchentlichen Ritual geworden, zu einer Möglichkeit für Malik und Luc – zumindest hatte ich diesen Eindruck –, wenigstens ein Mindestmaß an Kontrolle über ihr Leben zu bewahren, während der vom Greenwich Presidium eingesetzte Pseudoverwalter nur wenige Meter von ihnen entfernt saß und über ihr Schicksal entschied.

Ich stellte die Beutel mit dem Essen auf den Schreibtisch, holte mit Speck belegte Burger für mich und Lindsey heraus und setzte mich neben sie auf den Fußboden.

»Also«, sagte ich und klappte das Einwickelpapier des Burgers nach unten. »Blutrationierung?«

Luc und Malik knurrten gleichzeitig.

»Der Kerl ist ein gottverdammter Idiot«, sagte Luc und biss herzhaft in seinen Dreifachburger.

»Bedauerlicherweise«, sagte Malik, bewegte eine Schachfigur und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »ist er ein Idiot mit der vollen Unterstützung des Greenwich Presidium.«

»Was für uns bedeutet, dass wir so lange warten müssen, bis er richtig was versaut, bevor wir handeln können«, sagte Luc, der sich wieder über das Schachbrett gebeugt hatte. »Bei allem gebotenen Respekt, Lehnsherr, aber der Kerl ist ein Arschloch.«

»Ich habe keine offizielle Meinung zu seiner Befähigung als Arschloch«, sagte Malik, während er eine Frittenschachtel aus einem der Beutel zog, ordentlich Ketchup darübergoss und die Fritten in sich hineinschaufelte. Ich wusste es zu schätzen, dass Malik, im Gegensatz zu Ethan, nicht mehr über die Chicagoer Cuisine aufgeklärt werden musste. Er kannte den Unterschied zwischen einem Red Hot und einem Hot Italian Beef Sandwich, hatte einen Lieblings-Pizzaladen und war dafür bekannt, dass er spätabends mit Aaliyah zu einem der zahlreichen Diner außerhalb Milwaukees fuhr, um Wisconsins beste Cheese Curds zu bekommen, eine Art frittierten Bruchkäse. Hm, lecker!

»Aber wir werden ihm dabei helfen, sich ins eigene Fleisch zu schneiden«, fügte Malik hinzu. »Bis dahin werden wir die Vampire beobachten und eingreifen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

Da sprach der Meistervampir. Malik hatte sich in den letzten Wochen hervorragend in seine neue Rolle eingefunden. Ich hatte seinen Hinweis verstanden und beließ es dabei. Ich biss in meinen Burger, während Luc mit einer Fritte auf verschiedene Schachfiguren zeigte, zwischen denen er zu entscheiden hatte.

»Er scheint sich das ja reiflich zu überlegen, hm?«, flüsterte ich Lindsey zu.

Sie lächelte vielsagend. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wie nachdenklich er sein kann. Wie … gründlich.« Sie beugte sich zu mir hinüber und knabberte dabei am Speck ihres Burgers. »Habe ich dir schon mal gesagt, wie gut ein Vampir aussieht, der nichts weiter trägt als Cowboystiefel und eine ordentliche Brustbehaarung?«

Ich kniff verzweifelt die Augen zusammen, während ich den nächsten Bissen machte, doch ich konnte nicht mehr verhindern, wie ein Bild von Luc im Adamskostüm und stylischen roten Stiefeln vor meinem geistigen Auge entstand. »Du redest hier von meinem ehemaligen Chef«, flüsterte ich. »Und ich versuche gerade was zu essen.«

»Du stellst ihn dir gerade nackt vor, oder?«

»Leider.«

Sie tätschelte meinen Arm. »Wenn ich nur daran denke – dass ich Zweifel daran hatte, mit ihm zusammen zu sein. Oh, wo wir gerade davon sprechen: Chaps. Mehr muss ich nicht sagen.«

»Auf gar keinen Fall.« Lindsey entwickelte sich zu meiner Haus-Mallory, einschließlich aller schmutzigen Details. Seufz!

»Dann überlasse ich dich deiner Fantasie. Aber ich empfehle dir die therapeutische Anwendung von brustbehaarten Vampiren im Trauerfall. Wirkt wahre Wunder.«

»Ich freue mich wirklich, das zu hören. Aber wenn du weiter darüber redest, werden deine Augen schmerzhafte Bekanntschaft mit diesem Zahnstocher hier machen.« Ich schob ihr mehrere Servietten hin. »Also halt die Klappe und iss deinen Burger!«

Manchmal musste eine Frau einfach klare Ansagen machen.

KAPITEL ZWEI

BITTERSÜßE TRÄUME

Ich stand in meinen modern geschnittenen schwarzen Lederklamotten auf einer Hochebene. Ein eiskalter Wind zerrte an meinen Haaren und ließ den Nebel umherwabern, der sich um meine Füße gelegt hatte.

Die Kleidung war vielleicht modern, aber die Umgebung war uralt. Eine trostlose und öde Landschaft erstreckte sich vor meinen Augen, und die Luft roch nach Schwefel und Feuchtigkeit.

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