Chicagoland Vampires - Höllenbisse - Chloe Neill - E-Book

Chicagoland Vampires - Höllenbisse E-Book

Chloe Neill

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Beschreibung

Als ein alter Bekannter aus Ethans Vergangenheit in Chicago auftaucht, wissen Merit und Ethan nicht, ob er Freund oder Feind ist. Doch das müssen sie schnellstmöglich herausfinden, denn es bahnt sich Ärger an. Auf einem Treffen der High Society Chicagos können Merit und Ethan mit knapper Not einen Mordanschlag auf einen Gast verhindern. Alles deutet darauf hin, dass eines der Vampirhäuser in den Anschlag verwickelt ist.

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Zitat

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehb

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Chloe Neill bei LYX

Impressum

Chloe Neill

Chicagoland

Vampires

Höllenbisse

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Marcel Bülles

Zu diesem Buch

Die Vampirkriegerin Merit und Ethan, ihr Meister und Geliebter, gönnen sich gerade eine wohlverdiente Pause vom chaotischen Chicago und seinen ständigen Fehden, als eine finstere Gestalt aus Ethans Vergangenheit auf den Plan tritt. Balthasar, der Ethan einst erschuf mit dem Ziel, ihn nach seinem grausamen Ebenbild zu formen, erhebt nun Anspruch auf alles, was Ethan am Herzen liegt: das Vampirhaus Cadogan und vor allem Merit, die den Zauberkünsten Balthasars nicht gewachsen ist. Gemeinsam versuchen Merit und Ethan ihm die Stirn zu bieten und Ethans dunkle Vergangenheit ein für alle mal zu überwinden. Doch leider stellt Balthasar nicht die einzige Bedrohung dar. Auf einem High-Society-Event schaffen Merit und Ethan es eben noch, einen Mordanschlag auf einen wichtigen Gast zu verhindern. Die Spuren führen zu einem der Vampirhäuser, aber Merit wird den Verdacht nicht los, dass ein bislang unbekannter Feind hier die Vampire gegeneinander ausspielt. Und Balthasar scheint in diesem unheilvollen Plan eine Schlüsselfigur zu sein …

Ein herzliches Dankeschön an Jocelyn Bourbonniere, die mir bei französischen Formulierungen hilfreich zur Seite stand.

Kein Borger sei und auch Verleiher nicht.

William Shakespeare

KAPITEL EINS

CLEVERES MÄDCHEN

Anfang April

Chicago, Illinois

Es gab zwei Jahreszeiten in Chicago: Winter und Baustelle. Wenn es nicht schneite, dann ließen orangefarbene Leitkegel den Dan Ryan Expressway zum Nadelöhr werden, oder die Lower Wacker war gesperrt. Der Schnee und der Verkehr bestimmten das Leben in Chicago.

Im Verlauf dieser Jahreszeiten ereigneten sich dann auch die Dinge, die das Leben vieler Bewohner Chicagos erst lebenswert machten. In der Baseball-Saison hieß das Cubs gegen Sox. In der Touristen-Saison bediente man die Touristen oder schrie sie an, und wenn man bei Billy Goat’s arbeitete, dann vermutlich beides. Im Sommer waren die Strände geöffnet. Unglaublich, aber wahr: Einige Wochen im Jahr war sogar der Michigansee warm genug, dass man eine Runde schwimmen gehen konnte.

Nicht, dass ich in letzter Zeit die Gelegenheit gehabt hätte, schwimmen zu gehen oder mich in die Sonne zu legen. Ein Sonnenschutzmittel für Vampire musste erst noch erfunden werden.

Aber sobald sich die ersten Anzeichen des Frühlings zeigten und die Baustellenleitkegel wie neonfarbene Blumen auf dem Asphalt auftauchten, schüttelten sogar die Vampire den Winter ab. Wir tauschten Winterjacken, elektrische Heizdecken, schwere Stiefel und Wollmützen gegen Tanktops, Sandalen und laue Frühlingsnächte.

Heute saßen wir auf einer Decke im Milton Lee Olive Park, einer Grünanlage mit diversen Springbrunnen in der Nähe des Navy Pier, die nach einem Soldaten benannt worden war, der sein Leben gegeben hatte, um andere zu retten, und dafür mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet worden war. Eine warme Frühlingsbrise hatte die Stadt in den letzten Tagen sanft erwärmt, und wir hatten die Gelegenheit genutzt und uns nach einem ruhigen Ort für ein Picknick umgesehen, um das Ende des langen, kalten Winters feierlich zu begehen. Um zwei Uhr morgens war es hier im Park auf jeden Fall ruhig.

Ethan Sullivan, Meister des Hauses Cadogan und jetzt eins von zwölf Mitgliedern des vor Kurzem einberufenen Kongresses der Amerikanischen Meister, saß neben mir auf einem schlichten Quilt, ein Bein angezogen, das andere ausgestreckt. Seine Hand glitt mit sanften, kreisenden Bewegungen über mein Kreuz, während wir die blinkenden Lichter von Chicagos Skyline betrachteten.

Er war groß gewachsen, hatte einen muskelgestählten Körper und goldblondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Seine hohen Wangenknochen, die gerade Nase, tief liegende smaragdgrüne Augen und gebieterische Augenbrauen machten seine Erscheinung perfekt. Ich war seine Novizin und die Hüterin Cadogans, und ich war unglaublich erleichtert, dass wir dem eiskalten Griff des Winters endlich entkommen waren.

»So könnte ich öfter den Abend verbringen«, sagte die Frau, die neben uns saß. Sie hatte ihr leuchtend blaues Haar zu einem aufwendigen Zopf geflochten, der über ihre Schulter fiel. Ihre sinnlichen Lippen waren zu einem unwiderstehlichen Lächeln verzogen, ihre Finger mit denen ihres Freundes verschränkt. Er war ebenfalls ziemlich gut gebaut, hatte sich den Kopf rasiert, besaß funkelnde grüne Augen und einen vollen Mund. Wie sie war er ein Hexenmeister. Seine Vorliebe galt T-Shirts mit sarkastischen Texten, und auch heute trug er solch ein Teil. Es war schwarz, und darauf prangte in großen weißen Buchstaben: KEEP CALM AND FIREBALL.

Mallory Carmichael war meine älteste Freundin, und Catcher Bell war ihr Lebensgefährte. Catcher arbeitete für meinen Großvater Chuck Merit, den Ombudsmann der Übernatürlichen von Chicago.

»Ich auch«, pflichtete ich ihr bei. »Eine sehr gute Idee, hierherzukommen.« Ich nahm einen Schluck aus meiner Flasche Lebenssaft, Geschmacksrichtung »Sommersonne«, einer Mischung aus Blut und Limonade, die mir wider Erwarten sehr gut schmeckte. Ein Hauch von Frühling lag in der Luft und mit ihm das süße Aroma der weißen Blüten, deren Blätter von den Bäumen in unserer Nähe herabrieselten und wunderschöne Muster auf dem frischen Gras bildeten. Ethans Hand wärmte meinen Rücken. Näher würde ich einem Tag am Strand vermutlich nie kommen, aber dieser Ersatz war verdammt nah dran.

»Ich dachte, wir könnten ein bisschen frische Luft gebrauchen«, sagte Mallory. »Wir hatten einen ziemlich langen Winter.«

Das war die Untertreibung schlechthin. Es hatte Morde gegeben, Magie, Chaos und viel zu viele Verluste. Mallory war in die Hände eines Serienmörders geraten, und Ethan wäre beinahe umgekommen. Ihm ging es gut, und sie erholte sich schnell, und das Ganze hatte auch etwas Gutes an sich, denn der Vorfall schien sie und Catcher wieder näher zusammengebracht zu haben.

Selbst der Urlaub, den Ethan und ich gerade in den Rocky Mountains in Colorado verbracht hatten und der eigentlich unserer Entspannung hätte dienen sollen – viel Sex, Ausflüge in die Natur, Elche beobachten –, wurde durch eine hundertjährige Blutfehde zwischen Vampiren und Formwandlern torpediert, in die wir aus Versehen hineingeraten waren.

Wir hatten einen Urlaub von unserem Urlaub dringend nötig, also taten wir uns an den Leckereien gütlich, die Margot, die Küchenchefin unseres Hauses, für uns und unsere beiden Begleiter eingepackt hatte: Weintrauben, Käse (normal riechend bis wahnsinnig stinkend), dünne Cracker sowie kleine Kekse, die mit Puderzucker und etwas Zitrone überzogen waren, einer perfekten Mischung aus Süße und Säure.

»Du starrst den letzten Zitronenkeks seit sieben Minuten an.«

Ich warf Ethan einen finsteren Blick zu. »Stimmt nicht.«

»Sieben Minuten und dreiundvierzig Sekunden«, verbesserte Catcher, der auf seine Uhr blickte. »Ich würde ihn ja für dich essen, aber dann müsste ich den Rest meines Lebens mit neun Fingern verbringen.«

»Hört auf, sie zu quälen«, sagte Mallory, die den Keks vorsichtig in die Hand nahm, ihn mir behutsam reichte und dann den Puderzucker von ihren Händen klopfte. »Wer besessen ist, kann nichts dagegen tun.«

Ich wollte ihr widersprechen, aber leider war mein Mund voll Keks. »Ich bin nicht besessen«, entgegnete ich, nachdem ich aufgegessen hatte. »Ich habe nur einen rasend schnellen Stoffwechsel und einen außergewöhnlich harten Trainingsplan. Luc lässt uns jetzt zweimal am Tag antreten, weil Ethan ein Upgrade erhalten hat.«

»Oh, Ethan 2.0«, sagte Mallory.

»Genau genommen sind wir wohl eher bei Ethan 4.0«, meinte Catcher. »Mensch, Vampir, wiederauferstandener Vampir, Mitglied des KAM.«

Ethan lachte prustend, hatte aber an der Aufzählung nichts auszusetzen. »Ich sehe es eher als Beförderung.«

»Kriegst du mehr Geld?«, fragte Catcher.

»Kann man so sagen. Ich kann jetzt sogar fast alle kulinarischen Wünsche von Merit erfüllen.«

»Du bist doch derjenige mit dem teuren Geschmack.« Ich deutete auf die Weinflasche. »Will ich überhaupt wissen, wie viel die gekostet hat?«

Ethan öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu. »Vermutlich nicht.«

»Na also.«

»Ein Vampir kann nicht nur von Hot Italien Beef Sandwiches und Mallocakes leben.«

»Das ist deine Meinung, Schickimicki-Meister.«

»Ich bin nicht schickimicki«, protestierte Ethan in gebieterischem Ton. »Ich habe lediglich hohe Ansprüche. Was übrigens ein Kompliment an dich ist.«

»Er hat dich nach vierhundert Jahren, in denen er sich die Hörner abgestoßen hat, ausgewählt«, sagte Catcher, was ihm Mallorys Ellbogen in die Seite einbrachte. Er grunzte, lächelte aber, als er sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf die Decke legte.

»Wenn du so was sagst, klingt das, als ob Ethan sie bei einer Viehauktion ersteigert hätte«, beschwerte sich Mallory.

»Das würde voraussetzen, dass Merit Gemüse isst«, sagte Ethan und grinste mich an. »Könntest du eine Kohlrübe von Rhabarber unterscheiden?«

»Ja, aber nur, weil meine Grandma die leckerste Rhabarber-Erdbeer-Pastete gemacht hat, die ich jemals gegessen habe.«

»Dann zählt das wohl nicht.«

»Oh doch, das zählt«, entgegnete ich entschieden nickend. »Diese Pastete war grandios. Ich verfüge über reiche kulinarische Erfahrungen.«

»Meine Vampirin mit den reichen kulinarischen Erfahrungen hat da ein wenig Puderzucker übersehen«, sagte Ethan, beugte sich vor und fuhr zärtlich über meine Lippen, sodass mir schlagartig warm wurde.

»Nehmt euch ein Zimmer«, grummelte Catcher. Er war zwar ein mürrischer Typ, aber absolut verlässlich. Als Mallory ihre Phase als Möchtegern-Malefiz hatte, war er nicht von ihrer Seite gewichen und hatte das mit ihr durchgestanden. Außerdem war er meinem geliebten Großvater treu ergeben, was ihm bei mir unendlich viele Bonuspunkte einbrachte.

Trotzdem warf ich ihm jetzt einen bösen Blick zu. »Willst du wissen, wie oft ich dich nackt gesehen habe? Du und Mallory wart offensichtlich der Meinung, dass das gesamte Haus als Liebesnest freigegeben war.« Mallory und ich hatten früher zusammengewohnt, aber dann war Catcher zu uns in das Stadthaus gezogen und ich nach Haus Cadogan geflüchtet, um der überbordenden Nacktheit zu entkommen.

»Dein –« ich gestikulierte in die Richtung seines Körpers » – Zauberstab hat so ziemlich alles im Haus berührt.«

»Mein Körper ist ein Wunderland«, entgegnete er lapidar.

»Das mag schon sein«, sagte Ethan, »aber Merit ist nicht deine Alice. Ich wüsste es zu schätzen, wenn du ihr mit deinem Zauberstab nicht zu nahe kommst.«

»Nichts liegt mir ferner«, beruhigte ihn Catcher.

Ethans Smartphone piepte, und er zog es schnell hervor, um einen Blick auf das Display zu werfen.

»Nur eine Presseanfrage«, sagte er und steckte es wieder weg.

Jeder Anruf versetzte uns in höchste Alarmbereitschaft, denn ein Geist – oder jemand, der behauptete, ein solcher zu sein – hatte Anspruch auf unser Leben erhoben. Dieser Geist hörte auf den Namen Balthasar, jener Vampir, der auf einem Schlachtfeld vor fast vierhundert Jahren Ethan zu einem Unsterblichen gemacht und ihn beinahe in das Monster verwandelt hatte, das er selber war. Ethan war seinem Schöpfer entkommen, hatte sich ein neues Leben aufgebaut und geglaubt, dass Balthasar kurz nach seiner Flucht gestorben war. Er hatte mir zwar keine Details erzählt, aber er hatte nie irgendwelche Zweifel am Tod von Balthasar aufkommen lassen.

Trotzdem hatte jemand vor drei Wochen in unserem Apartment in Haus Cadogan eine Nachricht hinterlassen. Eine Nachricht, die angeblich von Balthasar stammte, der lebte und sich darauf freute, Ethan wiederzusehen.

Eine Nachricht … und nichts weiter.

Seitdem hatte er sich nicht mehr gemeldet, und wir hatten nicht den geringsten Hinweis darauf gefunden, dass er tatsächlich noch lebte, schon gar nicht in Chicago, und nur darauf wartete, Tod und Verdammnis über die Welt zu bringen, Kriege zu führen und die Kontrolle über Ethan wiederzuerlangen.

Also übten wir uns in Geduld. Jeder Anruf konnte der Anruf sein, der unser Leben, das wir uns langsam aufbauten, mit einem Schlag veränderte. Und Anrufe gab es mehr als genug in diesen Tagen. Der KAM war zwar immer noch mit der Planung der Einzelheiten beschäftigt, aber das hielt die Vampire nicht davon ab, sich wie Vasallen in die Schlange vor Haus Cadogan einzureihen, um den Schutz des Hauses zu ersuchen, Ethan um die Beilegung von Streitigkeiten in der Stadt zu bitten oder ihm ihre Lehnstreue anzubieten. Und es waren nicht nur Vampire, die Interesse an uns zeigten. In Chicago lebte ein Viertel aller Mitglieder des KAM, und die Begeisterung der Menschen für Ethan, Scott Grey und Morgan Greer, die Meister der Häuser Grey und Navarre, erreichte ungeahnte Ausmaße.

Wir lebten in einer merkwürdigen, neuen Welt.

»Wir möchten Frohsinn und Heiterkeit natürlich nicht stören«, sagte Mallory, »aber es gibt einen Grund, warum wir euch gebeten haben, den Abend mit uns zu verbringen.«

»Wer hat hier was von Frohsinn und Heiterkeit gesagt?«, fragte Catcher.

»Ich, Sarkasmussaurus.« Sie stieß ihm erneut den Ellbogen in die Seite, grinste aber. »Außerdem sind wir doch aus einem bestimmten Grund hier, oder?«

»Okay, okay«, sagte er. »Aber den ›Sarkasmussaurus‹ brauche ich auf einem T-Shirt.«

»Das dachte ich auch gerade«, sagte ich. »Aber ihr macht mich nervös. Was ist denn los?«

Catcher nickte. »Nun, wie es scheint –«

Wie es schien, wurde Catcher durch lautstarkes Piepen unserer Smartphones unterbrochen, die uns allesamt vor drohender Gefahr zu warnen versuchten.

Ich hatte meins als Erste in der Hand, erkannte Lucs Nummer und stellte den Anruf auf Lautsprecher. »Merit.«

Lucs Nase zeichnete sich drohend auf dem Display ab. »Es tut mir leid, dass ich den Pärchenabend störe.«

Ich verzog das Gesicht. »Könntest du ein wenig Abstand zwischen dich und dein Handy bringen? Deine Nasennebenhöhlen müssen wir nun wirklich nicht sehen.«

»Sorry«, sagte er und lehnte sich zurück, bis seine Nase die richtige Perspektive hatte, inmitten eines bezaubernden Gesichts, das von zerzausten blond-braunen Locken umgeben war. »Seid ihr allein?«

»Catcher und Mallory sind bei uns«, sagte ich und sah mich um, um sicherzustellen, dass uns keine neugierigen Menschen belauschten. »Sonst niemand. Schieß los, worum geht’s?«

»Übertragungsfahrzeuge vor dem Haus. Vier. Jede Menge Reporter, die sich vor dem Eingang versammelt haben und auf euch warten.« Luc hielt kurz inne, verzog das Gesicht und machte mich damit unglaublich nervös. »Sie stellen Fragen über Balthasar.«

Schweigen breitete sich aus. Aus der Ferne hörten wir ein einsames Saxofon am Pier, das vermutlich für die Touristen – und ein paar Dollar – gespielt wurde.

»Was für Fragen?«, wollte Ethan wissen.

»Sie fragen nach einem vermeintlichen Wiedersehen«, antwortete Luc. Die Antwort ließ mich sofort an T. S. Eliot denken: »Auf diese Art geht die Welt zugrund.«

Ethans Reaktion war so spontan und heftig, wie Lucs zögerlich gewesen war.

»Verdoppelt die Wachen am Tor«, sagte Ethan. »Wir machen uns sofort auf den Weg.«

Ich wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass es sicherer für ihn war hierzubleiben, als sich einfach in irgendein Wiedersehen zu stürzen, das Balthasar angeblich geplant hatte. Aber Ethan war zugleich stur und vorsichtig. Wenn dem Haus Gefahr drohte, würde er es niemals alleinlassen, und schon gar nicht, wenn die Gefahr in Form eines Monsters aus Ethans Vergangenheit nahte. Ethan hatte die Dinge, die er mit Balthasar getan hatte, weder vergessen noch sich verziehen, dass er sein Komplize gewesen war. Er hoffte immer noch darauf, Wiedergutmachung zu leisten. Eine solche Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen.

Wir verabschiedeten uns von unseren Freunden, und ich stopfte mein Smartphone wieder in die Tasche, während ich mich gedanklich auf das vorbereitete, dem wir uns unter Umständen stellen mussten – dem sich Ethan stellen musste. Einschließlich des emotionalen Wirbelsturms, der uns beide erfassen könnte.

Dann blickte ich zu Mallory und Catcher, die uns eigentlich gerade etwas hatten mitteilen wollen.

»Ab mit euch«, sagte Catcher, während Mallory die Essensreste in den Picknickkorb packte. Sie spielte den tapferen Kameraden, aber ich konnte deutlich erkennen, wie enttäuscht sie war. »Sollen wir mitkommen?«

Ethan schüttelte den Kopf. »Es macht absolut keinen Sinn, euch in diese Misere hineinzuziehen. Balthasar ist tot. Irgendjemand anders versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«

Catcher nickte. »Ich sage Chuck Bescheid, damit er auf jeden Fall vorgewarnt ist.«

»Seid vorsichtig«, sagte Mallory und drückte mich fest an sich.

»Sind wir«, versicherte ich ihr. Dann musterte ich ihr Gesicht auf der Suche nach einer Antwort. »Alles in Ordnung?«

»Alles bestens. Wir können später darüber reden. Kümmert euch erst um euer Haus. Los jetzt«, drängte sie mich, als ich mich noch immer keinen Zentimeter bewegt hatte, und drehte mich in Richtung Straße.

Wir liefen los zur Grand und zu dem groß gewachsenen, blonden Kerl, der vor einem glänzend schwarzen Range Rover mit dem Kennzeichen CADOGAN auf uns wartete. Er trug einen elegant geschnittenen schwarzen Anzug sowie eine nicht minder elegante schwarze Krawatte und hielt die Hände vor sich verschränkt.

»Sire«, sagte er und verbeugte sich. Brody gehörte zu den Wachen Cadogans und war zu Ethans offiziellem Fahrer ernannt worden. Luc hatte Ethan mit den neuesten Spielereien ausgestattet, einschließlich des Wagens, der nicht nur über ein ausgetüfteltes Sicherheitssystem, sondern auch über reichlich Waffen und ein Kommunikationssystem verfügte.

»Luc hat angerufen«, sagte Brody und drehte sich geschmeidig zur Seite, um uns die Tür aufzuhalten. Er legte eine Hand an seine Krawatte, während Ethan und ich hinten einstiegen. Dann schloss er die Tür mit einem Knall, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Lenkrad.

Der Wagen war sehr bequem, und ich wusste es zu schätzen, dass Ethan bestens geschützt war, aber ich vermisste Moneypenny, mein innig geliebtes Oldtimer-Mercedes-Cabrio. Im Augenblick stand sie im Untergeschoss des Hauses Cadogan und vergoss mit Sicherheit heiße, schmerzliche Tränen wegen Vernachlässigung. Ich vermisste die Freiheit, die Stille, die Einsamkeit einer langen Fahrt – und in Chicago dauerten die meisten Fahrten ziemlich lange.

Außer Brody saß am Steuer.

»Darf ich?«, fragte er und erwiderte Ethans Blick im Rückspiegel, wobei er sich das Lächeln kaum verbeißen konnte. Brody war eine von den neuen Wachen, und er war noch ziemlich grün hinter den Ohren, aber eine Sache beherrschte er wie kein anderer.

Der Kerl konnte fahren.

Er war Chicagos Antwort auf alle Transporter-Filme, aber vor allem war er in der Lage, sich wie ein Aal durch Chicagos desaströsen Verkehr zu schlängeln. Luc hatte ihm eine ziemliche Abreibung verpasst, als er das erste Mal mit ihm gefahren war, doch als Ethan einen Fahrer brauchte, war Brody Lucs erste Wahl gewesen.

»Wenn du uns unverletzt dorthin bringst«, antwortete Ethan und schaffte es, nicht zusammenzuzucken, als Brody sich in den Verkehr einfädelte wie ein Gepard auf der Jagd.

Brody touchierte fast ein Taxi und sauste dann geschickt in eine Lücke auf der nächsten Spur.

Ich bin mir nicht sicher, wann ich mich daran gewöhnen werde, teilte Ethan mir wortlos mit, indem er unsere telepathische Verbindung nutzte.

Du ärgerst dich nur, dass du nicht selbst am Steuer sitzt.

Ich besitze für solche Anlässe einen Ferrari. Apropos Anlässe: Was haben Mallory und Catcher eigentlich mit ihrem kleinen Theaterstück bezweckt? Sie wirkte ziemlich aufgebracht.

Ich weiß es nicht, gab ich zu. Aber wenn es schlechte Neuigkeiten gewesen wären, dann hätten sie vermutlich kein Picknick ausgerichtet. Es gab eine Menge wichtiger Ereignisse im Leben, die ein Picknick verdienten, aber ich war mir nicht sicher, ob sie mit einem derartigen Gesichtsausdruck einhergingen.

Ich ruf sie an, versprach ich ihm, und bringe die Wahrheit ans Licht. Aber bis dahin kümmern wir uns erst einmal um Vampire.

KAPITEL ZWEI

DEAD SPIN – MEINUNGSMACHE

Fünfzehn Minuten später – was für Chicagoer Verhältnisse ein Wunder war – bog Brody mit quietschenden Reifen von der Woodlawn ab und fuhr auf das Haus zu, dessen helle Fassade im Mondlicht leuchtete.

Vor dem hohen schmiedeeisernen Zaun, der das Anwesen schützend umgab, standen mehrere Übertragungswagen. Ihre Antennen waren sendebereit ausgefahren, und auf dem Bürgersteig standen Reporter mit Mikrofonen in der Hand und Kameraleuten im Schlepptau.

Das Tor von Haus Cadogan war geschlossen – was ich bisher nur selten erlebt hatte –, und die schwarz gekleideten menschlichen Wachen, die wir zum Schutz des Hauses angeheuert hatten, starrten die Reporter mit offener Feindseligkeit an. Sie konnten mir kaum sympathischer werden.

Unsere wohlhabenden Nachbarn in Hyde Park standen auf ihren Treppen oder Veranden und bedachten die hektischen Aktivitäten mit finsteren Mienen. Vermutlich verfassten einige bereits wütende Leserbriefe – oder Briefe direkt an Ethan –, weil sie diese nächtlichen vampirischen Störungen einfach nicht mehr tolerieren konnten.

Ich schickte Luc die Nachricht, dass wir unser Ziel erreicht hatten, als Brody neben dem nächsten Übertragungswagen abrupt zum Stehen kam.

Ethan hatte den Wagen verlassen, bevor wir dagegen protestieren konnten. Ich folgte ihm mit meinem Katana in der Hand und sah im selben Augenblick, wie ein roter Bus langsam die Straße entlangrollte. Auf seiner Seite stand in großen weißen Buchstaben: VAMPIR – STADTRUNDFAHRTEN DURCH CHICAGO. Gaffende Touristen quetschten sich ihre Nasen an den Fenstern platt, während die Stimme ihres Tourguides in der Dunkelheit deutlich zu hören war.

»… Haus Cadogan, das zweitälteste Haus der Stadt nach Navarre. Und, Ladys und Gentlemen, holen Sie schnell ihre Kameras hervor, denn da auf der Straße sehen Sie Ethan Sullivan und Merit persönlich!«

Ich winkte den rufenden Touristen mit ihren blitzenden Kameras freundlich zu – es gab keinen Grund, die Dinge zu verschlimmern –, fluchte aber leise, sobald ich mich von ihnen abgewandt hatte. »Sorg dafür, dass der Bus weiterfährt«, sagte ich zu Brody, als er auf dem Bürgersteig neben mich trat. »Was immer auch los ist, wir sollten auf keinen Fall diese Touristen mit reinziehen.«

Brody nickte, lief zum Bus hinüber und bedeutete dem Fahrer weiterzufahren.

Die Reporter interessierten sich nicht für die Zuschauer, denn sie waren viel zu sehr mit Ethan beschäftigt. Sie waren wie Haie, die Blut im Wasser wahrgenommen hatten, und umkreisten ihn sofort.

»Ethan! Ethan! Wer ist Balthasar? Welche Bedeutung hat er für Sie?«

»Kommt er nach Chicago, um Ärger zu machen? Ist Haus Cadogan in Gefahr? Oder Hyde Park?«

»Erzählen Sie uns etwas über das Wiedersehen, das er geplant hat!«

Ethan, dessen silberne Augen wütend funkelten, richtete seine Aufmerksamkeit auf den Reporter, der ihm am nächsten stand. Sein Gesichtsausdruck hatte nichts Freundliches und nur wenig Menschliches. »Was haben Sie da gerade gesagt?«

Ich musste dem Reporter Respekt zollen, denn obwohl seine bitter riechende Angst die Luft erfüllte, hielt er Ethans vernichtendem Blick stand, ohne zurückzuweichen oder in die Knie zu gehen. Das Schlimmste aber war, dass er etwas in Ethans Augen bemerkt haben musste, einen Hinweis auf dessen Entsetzen, der seine eigenen Instinkte wachrief. Sein Mund verzog sich zu einem wissbegierigen Grinsen.

»Wer ist Balthasar?«

»Warum fragen Sie?«

»Warum weichen Sie der Frage aus?«

Ethan machte einen Schritt auf den Mann zu, während sich hinter ihm Magie in einer unsichtbaren Wolke erhob. Mir wurde vor Sorge ganz flau im Magen, denn offensichtlich hatte irgendjemand dieses Fiasko geplant, und möglicherweise würde Ethan darauf explosiv reagieren.

Ich brachte mich hinter Ethan in Position.

Aus dem Augenwinkel nahm ich zu meiner Linken eine Bewegung wahr und sah, wie sich Brody, Luc und Lindsey (Lucs Freundin, die nicht nur zu den Wachen des Hauses gehörte, sondern auch meine beste Freundin im Haus war) uns vorsichtig näherten.

»Ich weiche der Frage nicht aus«, erwiderte Ethan mit leiser, zorniger Stimme. »Ich frage mich nur, warum so viele Medienvertreter vor meinem Haus stehen und unser ruhiges Viertel mit Fragen über einen Vampir stören, der schon seit Jahrhunderten tot ist.«

»Tot?«, fragte der Reporter, der in Ethans Blick nach Schwachstellen zu suchen schien. »Uns liegen andere Informationen vor.«

Als Ethans Gesicht sich zu einer verächtlichen Grimasse verzog, tat ich vorsichtig einen Schritt nach vorn, nur für den Fall, dass ich ihn zurückreißen musste.

»Balthasar ist tot. Sollten Ihnen andere Informationen vorliegen, so sind diese falsch.«

In diesem Moment richteten sich aller Blicke auf die elegante schwarze Limousine, die plötzlich die Straße entlanggeschossen kam und direkt vor dem Haus hielt. Während die Reporter ihre Kameras auf ihr neues Ziel richteten, stieg ein livrierter Fahrer aus und öffnete die hintere Wagentür.

Ein Vampir stieg aus, und ich zog mein Katana.

In seinem Büro hatte Ethan ein Miniaturporträt in einer Schublade aufbewahrt, ein ovales, kaum fünf Zentimeter breites Bild in einem exquisiten vergoldeten Rahmen.

Der Mann in dem Rahmen hatte glatte dunkle Haare gehabt, blasse Haut und geradezu übernatürlich symmetrische Gesichtszüge, dazu eine lange, gerade Nase, dunkle Augen und Lippen, die sich zu einem Schmunzeln zu verziehen schienen.

Zudem hatte er ein weißes Halstuch getragen sowie eine Weste und darüber einen Mantel in königlichem Karmesinrot. Das glatte dunkle Haar war in seinem Nacken zu einem Zopf gebunden gewesen.

Jetzt war seine Frisur anders: an den Seiten und hinten kürzer, vorn etwas länger, sodass ihm düstere Locken dramatisch ins Gesicht fielen. Seine frühere Kleidung hatte er gegen eine schwarze Hose und einen langen Mantel getauscht, und an seinem Hals waren Narben zu erkennen, ein wahres Netz sich überschneidender Linien. Sie wucherten über den Mandarinkragen hinaus und bewiesen, dass in seiner Vergangenheit schreckliche, grausame Dinge geschehen waren – die er aber offensichtlich überlebt hatte.

Er war attraktiv, ganz ohne Zweifel, besaß nicht nur das Aussehen, sondern auch die Haltung eines Prinzen der Finsternis, eines Mannes, dem die ungeteilte Aufmerksamkeit unzähliger Männer und Frauen galt und der diese Aufmerksamkeit genoss. Zweifellos war er der Vampir aus Ethans Porträt.

Alle in unserer Nähe – Reporter, Kameraleute, Wachen, Vampire – wurden auf unheimliche Weise still, als er auf den Bürgersteig und vor Ethan trat. Auf einem nahe gelegenen Dach gurrte eine Trauertaube – einmal, zweimal, dreimal, als ob sie uns zu warnen versuchte. Eiskalter Schweiß lief mir den Rücken hinab, obwohl es an diesem Frühlingsabend immer noch sehr kühl war.

Der Vampir ließ seinen Blick zu Luc, dann zu mir und schließlich zu Ethan schweifen. Sein Gesichtsausdruck barg viele Emotionen – Zorn, Bedauern, Angst. All dies gemischt mit Hoffnung.

Eine Weile starrten sie einander an, in ihrem Blick lag etwas Prüfendes, Abwartendes.

Vorsichtig ging ich erst einen, dann einen weiteren Schritt auf sie zu, bis ich mit ausgestrecktem Katana an Ethans Seite stand, bereit, jederzeit einzugreifen.

Die Augen des Vampirs veränderten sich plötzlich. Sie wurden zu schmalen Schlitzen, in denen die Dunkelheit lauerte wie ein Dämon an der Tür. Die Farbe veränderte sich hin zu einem dunklen Blau und dann zu einem brodelnden Quecksilber.

Dann erhob sich seine Magie – warm, berauschend, scharf wie Whiskey mit Nelken – und schlug wie ein Blitz in unsere Umgebung ein. Er zeigte seine Fangzähne, dünn und spitz wie Nadeln, länger als alles, was ich bisher gesehen hatte, woraufhin sich der Schweiß auf meinem Rücken in eine klamme Schicht verwandelte, passend zu der Woge, die in meinem Unterleib hochschlug.

Ethans Augen wurden groß vor Staunen – und vor Entsetzen.

Mein Instinkt sagte mir, ich solle mich bewegen, um uns zu schützen. Doch die Magie hatte die Luft zu einem süßen Sirup werden lassen, weshalb selbst der simple Versuch, meine Hand zu bewegen, mir den Schweiß auf die Stirn trieb. Ich sah mich um und stellte fest, dass auch die anderen Vampire regungslos dastanden.

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da hatten die Vampire ihre Fähigkeit, die Menschen zu verführen und zu verzaubern, zu ihrem größtmöglichen Nutzen eingesetzt. Die Meistervampire benutzten diese psychische Fähigkeit auch dazu, die von ihnen erschaffenen Vampire herbeizurufen, ohne dass diese dem Ruf widerstehen konnten. Ich für meinen Teil konnte die Verzauberung zwar spüren, aber entweder lag es an den ungewöhnlichen Umständen meiner Wandlung oder an purem Glück, dass ich praktisch vollkommen immun gegen sie war. Warum hatte dann diese Magie hier einen solchen Einfluss auf mich?

Warte, sagte Ethan stumm, und dieses eine Wort lag so schwer in der Luft, als ob er es durch magischen Sirup hätte hindurchzwängen müssen.

Und dann sprach Ethan ein Wort laut aus. Ein Wort, das alles veränderte.

»Balthasar.«

Ethan sagte den Namen mit derselben Überzeugung, mit der er eben noch geglaubt hatte, dass Balthasar tot war. Ich wollte diesen Vampir auf der Stelle den Beweis antreten lassen, dass er war, wer er vorgab zu sein. Doch Ethan schien keinen weiteren Beweis zu benötigen.

Das Wort war wie ein Zauberspruch, ein Schlüssel, der die zähflüssige Magie entsperrte. Einen Augenaufschlag später hatte sie sich aufgelöst und war wie eine frische nördliche Brise über uns hinweggefegt. Genauso schnell reagierte unsere Umgebung, die nun von ihren magischen Fesseln befreit war, und ließ das Chaos über uns zusammenschlagen. Reporter, die offensichtlich nicht bemerkt hatten, dass sich für einen Augenblick alles wie in Zeitlupe abgespielt hatte, rannten auf uns zu, brüllten Fragen und stießen mit Mikrofonen und Kameras nach uns, als ob sie uns damit angreifen wollten.

Ethan wich einen Schritt zurück, auf seinem Gesicht, in seinem Blick zeichnete sich Entsetzen ab.

Ich hob mein Schwert, bewegte mich zwischen sie und brachte meinen Körper und meine Klinge schützend vor Ethan in Position, der den Vampir vor ihm immer noch schweigend anstarrte. Jenen Vampir, von dem er augenscheinlich glaubte, dass er sein Erschaffer war.

Luc, Brody und Lindsey bezogen mit gezückten Katanas Stellung hinter uns und schützten uns mit ihrem Stahl vor den aufdringlichen Reportern.

Balthasar warf mir und meinem Schwert einen gnädigen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Ethan richtete.

»Es ist lange her«, sagte er. Er sprach mit leichtem französischen Akzent, sanft und gefühlvoll. Aber hinter seinen Augen lauerte immer noch der Dämon. Er war ein Meister vergangener Zeiten, ein Mann, der Loyalität einforderte, der die Welt seiner Vampire nach seinen Vorstellungen formte.

Auf Ethans Gesicht zeichneten sich seine inneren Qualen ab – er war hin- und hergerissen zwischen der biologischen Loyalität zu dem Vampir, der ihn erschaffen hatte, und dem Hass auf das Monster, das er war und zu dem er Ethan hatte machen wollen.

»Sehr lange«, stimmte ihm Ethan vorsichtig zu.

»Es gibt viel zu erzählen.«

»Scheint so«, meinte Ethan. Er deutete auf die immer noch brüllende und fotografierende Meute um uns herum. »Das hast du alles arrangiert?«

»Ich dachte, dies sei der einzige Weg, dich zu treffen.«

»Aus welchem Grund?«

»Um Dinge auszusprechen, die seit Langem gesagt werden müssen. Um Wiedergutmachung zu leisten. Man spürt –«, Balthasar hielt inne, denn er schien nach dem richtigen Wort zu suchen, »– eine Leere, wenn man von einem seiner Kinder getrennt ist, vor allem, wenn es sich um eine so lange Zeit wie bei uns handelt. Ich bin an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich diese Leere als besonders schmerzlich empfinde.«

Ethan beobachtete ihn schweigend, wie ein Raubtier das andere, vorsichtig, abschätzend. »Wir waren sehr lange voneinander getrennt. Ich hielt dich für tot.«

»Das ist eine sehr lange Geschichte.« Er warf einen Blick auf das Haus. »Wollen wir vielleicht darüber sprechen?«

Wieder verging einige Zeit, in der Ethan Balthasar einfach ansah, sein Gesicht ausdruckslos, doch die ihm innewohnende Energie plötzlich brodelnd, als ob in Jahrhunderten angesammelte Wut und Enttäuschung sich schließlich Bahn brachen.

Zurück, Merit. Ethans Befehl widersprach meiner Aufgabe. Doch bevor ich etwas entgegnen konnte, wiederholte er ihn.

Zurück, Hüterin.

Kaum war ich zur Seite gewichen, schoss Ethans Faust vor. Das eklige Geräusch knackenden Knorpels ertönte, als er Balthasars Gesicht traf, und der süße Duft von Blut erfüllte die Luft.

Die Meute brüllte noch lauter, und die Magie der Vampire Cadogans explodierte förmlich. Ich trat wieder näher an Ethan heran, genau wie Luc, denn wir wollten beide bereit sein, sollte Balthasar auf diese Herausforderung reagieren.

Langsam richtete er den Blick wieder auf Ethan, während er seinen Handrücken an seine Nase presste. In seinen Augen funkelte das Entsetzen darüber, dass ihn jemand herauszufordern wagte, vor allem da es sich dabei um einen der Vampire handelte, dem er die Unsterblichkeit geschenkt hatte.

»Comme tu as changé, mon ami.«

»Oui, c’est vrai. La vie m’a changé«, sagte Ethan. Ich hatte nicht gewusst, dass er perfekt Französisch sprach. Sein sanfter Tonfall machte deutlich, dass er ein Meister war, den seine Feinde fürchten mussten.

Balthasar zog ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und betupfte vornehm die Blutung. »Ça va. Je comprends.«

»Lass uns direkt zu Beginn eins klarstellen«, sprach Ethan auf Englisch weiter. »Ich bin kein Mensch mehr, kein Junge mehr, und schon gar nicht mehr das Kind, das du kanntest. Versuche nie wieder, mich zu rufen.«

Luc trat vor und legte Ethan die Hand auf den Arm. »Vielleicht sollten wir uns nach drinnen begeben, weg von den Paparazzi? Ich glaube, sie haben für eine Nacht mehr als genügend Material.«

Können wir es riskieren, ihn ins Haus zu lassen?, fragte ich Ethan wortlos.

Wo sollen wir ihn sonst hinbringen, Hüterin? Ich möchte ihn lieber unter Aufsicht haben als durch die Stadt schlendernd.

»Alle rein mit euch«, sagte Ethan, während sich unzählige klickende Kameras an uns herandrängten. »Bringt ihn in mein Büro.«

Ich wusste, dass Ethan recht hatte, aber das war in etwa so, wie sich den Fuchs in den Hühnerstall zu holen.

Luc nickte und bedeutete Balthasar, ihm ins Haus zu folgen. Balthasar nickte hoheitsvoll, als ob ihm der Weg in sein königliches Quartier gezeigt werden würde, und trat durch das Tor, als die Wachen es für ihn öffneten.

Ich ließ mein Katana wieder in seine Schwertscheide gleiten und stand dann schweigend mit Ethan im Blitzlichtgewitter.

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Von allen Kaschemmen der ganzen Welt –«

»– kommt er ausgerechnet in deine«, beendete ich den Satz für ihn.

Ethan sah mich an, in seinen Augen lag Furcht. Er hatte mir einige der Dinge gestanden, die er getan hatte, wie er und Balthasar durch Europa gezogen waren, wie viele Frauen und wie viel Blut sie sich einfach genommen hatten, bis es Balthasar am Ende übertrieben hatte. Aber er hatte für dieses Geständnis lange gebraucht. Er hatte befürchtet, dass sich meine Gefühle für ihn ändern würden, wenn ich erst wüsste, wer er gewesen war und was er getan hatte.

Aber erhob ihn das nicht zu etwas Besserem als das, was Balthasar aus ihm zu machen versucht hatte? Die Tatsache, dass er Balthasar auch weiterhin quer durch Europa hätte folgen und dieses ausschweifende Leben hätte führen können – es aber nicht getan hatte. Dass er an sich gearbeitet hatte, um sich von einem Vampir zu befreien, dessen psychische Kräfte zweifellos beeindruckend waren. Dass er zu einer anderen Art Vampir geworden war, zu einem wahren Meister.

Ich konnte nichts daran ändern, dass Balthasar jetzt auf ihn im Haus wartete. Aber ich konnte ihm Trost spenden. Ihn an uns erinnern. Also nahm ich seine Hand, während das Blitzlichtgewitter weiterhin auf uns einprasselte.

Er ist deine Vergangenheit, sagte ich wortlos und nickte in Richtung des hell erleuchteten Hauses, das jenseits des Tors einladend auf uns wartete. Wir sind deine Gegenwart und deine Zukunft. Tritt ihm auf deinem Grund und Boden entgegen und verlange dort Rechenschaft von ihm. Wenn er sich danebenbenimmt, setz einfach noch mal deine Rechte ein und schick ihn auf die Bretter.

Ethan lächelte, doch es fiel ihm offensichtlich schwer. »Es könnte sehr unangenehm werden. Letzten Endes ist das sogar sehr wahrscheinlich.«

Ich drückte seine Hand. »Ich bedaure, sagen zu müssen, dass ich dir das praktisch garantieren kann. Aber wenn es zu unangenehm wird, schicke ich euch beide auf die Bretter.«

Ethans Büro war geräumig und genauso stilvoll eingerichtet wie der Rest des Hauses. Auf einer Seite stand sein Schreibtisch, gegenüber befand sich eine Sitzecke, und die Rückwand nahm ein großer Konferenztisch ein.

Balthasar stand mitten im Raum und ließ offensichtlich die Möbel, Inneneinrichtung und Erinnerungsstücke aus Ethans Leben auf sich wirken. Dachte er gerade darüber nach, was er durch Ethans Rebellion verloren hatte oder was es ihm bringen würde, wenn Ethan wieder in seinen Schoß zurückkehrte?

Luc hatte in der Sitzecke Platz genommen, die Arme vor der Brust verschränkt. Neben ihm saß Malik, Ethans Stellvertreter, der Balthasar misstrauisch beäugte.

Malik war groß gewachsen und hatte nachdenkliche grüne Augen, die sich gegen seine dunkle Haut abhoben. Seine Haltung ähnelte Lucs, und er war der Einzige im Raum, der die offizielle Uniform Cadogans trug – einen perfekt geschnittenen schwarzen Anzug und ein weißes Button-down-Hemd. An einer Kette um seinen Hals hing eine silberne Träne, das Medaillon des Hauses Cadogan.

Maliks oberste Pflicht war es, Ethan und das Haus zu beschützen, daher musterte er Balthasars Gesicht mit einem Blick, mit dem er sich jedes Detail einzuprägen schien. Ich dachte mir, dass das sicher von Nutzen war, wenn er später Balthasars Identität überprüfte.

Als ich die Tür hinter mir schloss, richtete Malik seine Aufmerksamkeit auf Ethan, um herauszufinden, wie es um ihn stand – um seine Stimmung, seine Magie, seine Gefühle –, so wie es nur ein enger Vertrauter und Kollege konnte.

Dann sah er mich fragend an: War das der Mann, der er zu sein vorgab?

Ich nickte ihm kurz zu und richtete meinen Blick auf Ethan. Er jedenfalls schien es zu glauben, und das war das Einzige, was im Moment zählte. Doch das warf nur weitere Fragen auf: Wie konnte sich Ethan über Balthasars Tod so getäuscht haben? Wo war er in all den Jahren gewesen? Und am allerwichtigsten: Was wollte er von Ethan?

Balthasar tupfte sich den Mund, und als er sich davon überzeugt hatte, dass sich die Wunde bereits wieder geschlossen hatte – der Vorteil vampirischer Heilkräfte –, steckte er das Taschentuch wieder in seine Tasche. »Du hast ein ganz bezauberndes Zuhause, mon ami.«

Ethan überging sowohl das Kompliment als auch die Vertrautheit, die in diesen Worten lag, ging zur Sitzecke und nahm Platz. Er legte die Arme auf die Rückenlehne und machte damit seine Position und seine Autorität in diesem Haus deutlich. Ich bezog neben ihm Stellung, denn im Fall der Fälle wollte ich sofort eingreifen können.

»Wir mögen es. Du solltest anfangen.«

Balthasar hob bei Ethans Befehlston eine Augenbraue, und ich fragte mich, ob Ethan diesen Manierismus unbewusst von seinem Erschaffer übernommen hatte. »Ich werde dir meine Geschichte erzählen, und du wirst zu deinem eigenen Fazit kommen.«

»Erzähl deine Geschichte«, sagte Ethan. »Dann werden wir sehen, was als Nächstes geschieht.«

Balthasar nahm Ethan gegenüber Platz und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Ich war in London«, fing er an. »Drei Männer kamen mit Kreuzen und Pflöcken ins Haus. Sie waren die Verwandten von irgendeinem Mädchen und fest davon überzeugt, dass ich böse war, wenn nicht sogar die Inkarnation des Bösen.«

Nicht irgendein Mädchen, sagte Ethan zu mir, und sein Zorn war selbst telepathisch zu spüren. Persephone.

Ethan hatte sie geliebt. Balthasar wusste das, hatte sie verführt und getötet, nur um Ethan zu verhöhnen. Diese egoistische, brutale Tat hatte das Fass zum Überlaufen und Ethan dazu gebracht, sich von ihm zu trennen.

Diese Männer waren Mitglieder ihrer Familie?, fragte ich.

Ja, lautete Ethans knappe Antwort.

»Ich war allein im Haus«, fuhr Balthasar fort. »Du hattest mich gerade verlassen, und ich hatte Nicole, wie ihr sie jetzt nennt, auf eine Mission geschickt.«

»Mich zu finden und zurückzuholen«, sagte Ethan ausdruckslos, woraufhin ihn Balthasar amüsiert betrachtete.

»Lebend, wenn möglich«, bestätigte er. »Und wenn nicht … Nun, das waren andere Zeiten.«

»Sie hat mich nicht gefunden«, sagte Ethan. »Aber ich kam trotzdem zurück.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht, als ob er vor seinem geistigen Auge eine Erinnerung erneut durchlebte. Nach einem Augenblick konzentrierte er sich wieder auf Balthasar.

»Ich hatte von dem Angriff gehört. Ich kehrte zurück und sah dich durch das Fenster. Blutverschmiert. Praktisch geköpft.«

Das erklärte, warum Ethan Balthasar für tot gehalten hatte. Ein Vampir konnte die meisten Verletzungen überstehen, aber wenn sein Kopf erst einmal abgetrennt war, dann war es aus mit ihm. Selbst vampirische Gene konnten das nicht mehr in Ordnung bringen. Die Tatsache, dass Balthasar Ethan seitdem nicht mehr kontaktiert hatte, hatte Ethan in seiner Annahme nur bestätigt. Aber dennoch … lagen nun Zweifel in Ethans Stimme, die der Vampir gesät hatte, der uns nun gegenübersaß.

Ich bewegte mich unauffällig auf Ethan zu, bis meine Hüfte seine Schulter berührte. Ich hoffte, dass dieser Kontakt ihn daran erinnern würde, dass ich an seiner Seite war. Balthasar bemerkte die Bewegung, und einer Kobra gleich zuckte sein Kopf in meine Richtung, saugte sein Blick diese Geste der Intimität auf. In seinen Augen lag etwas Altes, Eiskaltes. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf Mitgefühl darin, als wäre ich nichts weiter als ein Staubkorn in seinem langen Leben.

Alles in mir schrumpfte zusammen, doch ich zwang mich, Haltung zu bewahren. Ich war eine Hüterin, und dies war mein Haus.

»Fast geköpft«, korrigierte ihn Balthasar und richtete seinen Blick wieder auf Ethan. »Zunächst hatten die Menschen vorgehabt, mich umzubringen, und die Meute – mindestens ein Dutzend dann – stellte sich dabei recht geschickt an. Die Folgen ihrer Bemühungen waren vermutlich das, was du gesehen hast. Sie kamen zu dem Schluss, dass ich auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, um eine deutliche Warnung an diejenigen zu senden, die versuchten, ihre Töchter zu schänden. Also machten sie sich daran, das Freudenfeuer zu entzünden. Doch das war nicht mein Schicksal. Einer der Männer, der seine ganz eigenen Ziele verfolgte, entschied, dass ich seinen Zwecken lebend viel besser dienen konnte. Er war Mitglied eines Kults, der sich selbst als Memento Mori bezeichnete.«

Ich kratzte meine verbliebenen Lateinkenntnisse zusammen und übersetzte grob: Bedenke, dass du sterben musst.

»Sie dachten, Vampire seien der Schlüssel zu Allmacht und Unsterblichkeit, dass wir in der Lage seien, die Kluft zwischen Leben und Tod zu überwinden. Der Mann brachte mich aus dem Haus weg, bevor meine Peiniger zurückkehrten, und legte mir Verbände an. Ließ zu, dass ich mich heilte. Und dann begann er mit seiner Arbeit.« Balthasar deutete auf die Narben an seinem Hals. »Er glaubte buchstäblich, einen Teil von mir zu besitzen würde ihm Kraft verleihen. Sie hielten mich am Leben, wenn man diesen Zustand so nennen konnte. Geschwächt, angekettet und mit genügend Espenextrakt betäubt, dass ich gerade noch bei Bewusstsein war.«

Ich spürte das Aufblitzen von Ethans Magie. Peter Cadogan war an derselben Substanz gestorben – weil ihm ein Nebenbuhler sein Glück missgönnte.

Balthasar musste die Magie auch gespürt haben und nickte. »Eine kleine Dosis bedeutet Lethargie im höchsten Maße. Docilité. Es schränkt auch die Fähigkeit ein, sich selbst zu heilen.«

»Das war mir nicht bewusst«, sagte Ethan sanft.

»Mir auch nicht«, sagte Balthasar. »Aber das merkte ich schnell. Sie hielten mich in Spitalfields in London gefangen. Niemand stellte Fragen wegen der Schreie, wegen des Bluts, der mitternächtlichen Aktivitäten. Nicht in einer Gegend, wo so viele in Armut lebten und nur den wenigsten Glück beschieden war.«

»Du bist geflohen?«, fragte Ethan.

Balthasar lachte, und sein Lachen erinnerte an malzigen Whiskey. »Nichts derart Romantisches. Den Menschen und ihren Nachfahren wurde es irgendwann zu viel, sich um mich kümmern zu müssen. Sie entledigten sich meiner und brachten mich in einer Abtei in Walford unter. Entweder waren sie gnädig genug, mich nicht umzubringen, oder sie hielten mich praktisch für tot und glaubten, sich nicht mehr die Mühe machen zu müssen.«

»Die Abtei war ein Glücksfall für mich. Der Abt war ein guter Mann, der schon früher Übernatürliche beherbergt hatte. Er half mir, mich zu heilen und wieder zu funktionieren. Als klar wurde, dass ich nicht alterte, half er mir, eine neue Unterkunft zu finden, um den üblichen Fragen zu entgehen. Ich bewegte mich von einem sicheren Unterschlupf zum nächsten. Ich lebte in Nordeuropa. Viele Jahre verbrachte ich in Aberdeen. Die Verwalter wussten nicht, wer ich war, nur dass ich eine Zuflucht brauchte. Und wenn irgendjemand misstrauisch wurde, sorgten sie dafür, dass ich weiterzog. Am Ende landete ich in Chalet Rouge, dem sicheren Unterschlupf in Genf.«

»Ich kenne ihn«, sagte Ethan mit einem kurzen Nicken.

»Langsam ging es mir besser«, fuhr Balthasar fort. »Ich erholte mich in dem Maße, in dem die Extrakte meinen Körper verließen, was viel zu langsam vonstattenging. Es dauerte Jahrzehnte, bis meine Erinnerungen zurückkehrten. Und sie kamen eine nach der anderen, als ob man mir Karten austeilte. Eine Erinnerung an dich, an Paris, an Nicole. Schließlich erinnerte ich mich daran, wer du warst. Und fand heraus, wer du geworden warst.«

Schweigen senkte sich auf den Raum. Ethan musterte Balthasar. »Und in all der Zeit hast du nicht den Kontakt zu uns gesucht? Auch nicht zum GP?«

Ein geringerer Vampir hätte sich unter Ethans Blick gewunden, aber Balthasar schien ihn amüsant zu finden. »Unsere Trennung war keine angenehme Angelegenheit. Du hattest Gefühle für mich und ich für dich. Starke Gefühle. Du bist ohne Erlaubnis gegangen.«

»Du hättest sie mir nie erteilt. Du hast Menschen und Vampire wie Wegwerfartikel behandelt. Ich wurde dieser Verdorbenheit überdrüssig. Rémy übernahm die Gruppe, nachdem du verschwunden warst, doch sein Verhalten war keinen Deut besser. Ich kehrte nie wieder zurück.«

Balthasar hob die Augenbrauen. »Wie es scheint, spielen wir mit offenen Karten. Aber das waren andere Zeiten. Ich werde mich nicht für das entschuldigen, was ich gewesen bin, und ich werde keine Entschuldigung von dir verlangen.«

Ethans Miene verfinsterte sich. »Ich bin dir keine Entschuldigung schuldig.«

»Vielleicht ja, vielleicht nein.« Balthasar beugte sich vor, die Hände immer noch zwischen seinen Knien verschränkt. »Aber schuldest du mir Dank? Du schuldest mir deine Unsterblichkeit und all den Nutzen, den sie dir gebracht hat.«

Ich spürte, wie Ethans Magie sich wieder deutlich bemerkbar machte. »Und warum bist du nun hier?«

»Ich würde ja sagen, dass ich die Dinge wiedergutmachen möchte, aber das klingt so naiv wie anmaßend. Belassen wir es dabei, dass ich … über alle Maßen neugierig geworden bin.«

»Weil ich Macht besitze?«

Balthasar senkte das Kinn ein wenig und brachte ein boshaftes Lächeln zustande, das sich zwischen gruselig und böswillig bewegte. »Weil du so interessant geworden bist. Wie auch dein … Beiwerk.«

»Vorsicht«, warnte ihn Ethan. »Oder unsere Gastfreundschaft nimmt ein abruptes Ende.«

Balthasar machte ein missmutig klingendes Geräusch und stand dann auf. Seine langen Finger glitten über seine Sessellehne, dann wandte er sich zum Regal. Ehe ich mich’s versah, stand er schon vor den hohen Regalen und ließ seine Finger spielerisch über die Erinnerungsstücke gleiten, die Ethan in den vergangenen Jahrhunderten angesammelt hatte.

Wie er zum Regal gelangt war, hatte ich praktisch nicht bemerkt.

Gott, war er schnell. Schneller als jeder Vampir, den ich je gesehen hatte. Er war nicht einfach nur ein Relikt oder ein Anachronismus aus vergangener Zeit, er war ein mächtiges Raubtier. Und er ließ es sich nicht nehmen, vor uns anzugeben.

Angesichts der bedrohlichen Situation nahm ich neben Ethan Haltung an und bemerkte, wie auch er noch etwas aufmerksamer wurde.

Balthasar nahm eine kleine Kristallkugel auf und ließ sie durch seine Finger gleiten.

»Ich warne dich erneut«, sagte Ethan, »und das zum letzten Mal. Handle mit Umsicht.«

»Umsicht?«, fragte Balthasar. »Würdest du mir denn auch mit Umsicht begegnen?«

Der Boden unter meinen Füßen begann zu vibrieren, als ob sich das Haus plötzlich auf einem Jahrmarktgeschäft befände, das das gesamte Gebäude langsam in Rotation versetzte. Alles um mich herum neigte sich – der gesamte Raum –, während ich gerade stehen blieb.

Ich … und Balthasar.

KAPITEL DREI

DAS GESCHENK DES VAMPIRS

Ich hielt mich an der Couch fest, während sich die Welt um mich herum weiterneigte, und bemerkte, wie mich Ethan mit großen Augen ansah. Ich sah, wie sein Mund meinen Namen formte – »Merit?« –, hörte aber nichts außer dem Pochen des Bluts in meinen Ohren.

Ich sah auf, was meine Perspektive veränderte und Übelkeit in mir aufsteigen ließ, und spürte Balthasars fordernden Blick auf mir.

»Was machst du mit mir?«, wollte ich von ihm wissen.

Balthasar lächelte boshaft, während das Geräusch lauter wurde, als ob Hornissen durch meinen Kopf brummten. »Ich demonstriere lediglich, was es heißt, einer meiner Vampire zu sein.«

Ich wurde zur Marionette, wurde zu ihm gezogen, als ob die Schwerkraft sich verlagerte und mich zur Seite riss. Ich wehrte mich – natürlich wehrte ich mich, versuchte meine Arme und Beine daran zu hindern, sich zu bewegen. Doch alle Mühe war umsonst. Er zog mich mit aller Macht zu sich heran, einfach nur durch die Macht seines Willens.

Balthasar hatte mich gerufen. Balthasar, der mit halb geschlossenen Lidern und einem Lächeln auf den Lippen dastand, hatte mich rufen können, obwohl ich mich offensichtlich wehrte und meine Angst deutlich spürbar war.

Das sollte eigentlich bei mir nicht möglich sein.

Als Mallory Ethan ins Leben zurückgerufen hatte, hatte ihre Macht über ihn noch eine Zeit lang angehalten. Daher war sie in der Lage gewesen, ihre Magie durch ihn zu kanalisieren, was für ihn jedoch einer geistigen Vergewaltigung gleichgekommen war. Er hatte es gehasst, ihre Anwesenheit in seinem sonst unantastbaren Verstand.

Dieses Gefühl konnte ich jetzt nachvollziehen, denn das war es tatsächlich – eine Vergewaltigung. Indem er mich zwang, zu ihm zu kommen, hatte er mich meiner Rechte und meines Willens beraubt, meiner Möglichkeit, Nein zu sagen.

Wenn das Verzauberung war, der Ruf, den ein Vampir von seinem Meister erhielt, wie überlebten das dann die anderen Vampire? Wie lebten sie mit diesem Eingriff? Dieser Invasion? Worin bestand der Unterschied zu dem, was Mallory getan hatte?

Ich warf einen Blick zurück, wollte um Hilfe schreien und fragte mich, warum Ethan, Malik und Luc nicht aufgesprungen waren, um ihn aufzuhalten, um mir zur Seite zu stehen.

Aber sie wirkten wie erstarrt. Nicht weil Balthasar die Zeit angehalten hatte, sondern weil ich mich schneller bewegte, mit derselben Geschwindigkeit, mit der sich Balthasar gerade eben noch bewegt hatte.

Ich kämpfte um die Kontrolle über meinen Körper, über meinen Verstand. Vor langer Zeit hatte ich gelernt, mentale Barrieren zu errichten, damit meine empfindlichen Vampirsinne nicht von Geräuschen, Gerüchen und Geschmäckern überwältigt wurden. Ich versuchte sie zu stärken und stellte mir vor, sie seien metallene Rolltore, die mich wie ein Damm vor den heranwogenden Wellen seiner Magie schützten. Aber meine Versuche fühlten sich an, als ob ich einem Wirbelsturm mit einem Regenschirm entgegentrat. Die Magie ergoss sich um sie, über sie, unter sie und durch sie hindurch.

Und mit dem Meeresungeheuer kam ein Impuls der Leidenschaft, der Erregung, dass es fast schon wehtat. Mein Körper schien mit einem Mal unter Strom zu stehen, und alle meine Nerven schienen sich auf Balthasar eingestellt zu haben, für ihn empfänglich zu sein – für die sanften Linien seines Halses, die geschickten Finger, die mit der Kugel spielten, den auffordernden Blick.

Dabei lächelte Balthasar die ganze Zeit. Die psychischen Seile, mit denen er mich zu sich heranzog, strafften sich weiter, und jeder widerwillige Schritt brachte mich ihm näher.

Ich hatte keine Luft zum Sprechen, deswegen sah ich ihn flehend an, in der Hoffnung, dass er aufhören würde, mich freigeben würde. Aber meine Angst schien ihn zu erregen, und diese Erregung erfüllte die Luft mit einem Hauch alter Magie und dem nahezu übermächtigen Duft von Orange und Zimt.

Balthasars silberne Augen verrieten seine Aufregung. Mit einem Fauchen entblößte er seine nadelspitzen Fänge und reichte mir die Hand.

»Ein Kuss für eine wunderbare Frau«, sagte er.

Je näher ich ihm kam, desto entfernter schien mir der Rest der Welt, bis er das Einzige war, was ich noch sehen konnte … und das Einzige, das für mich Bedeutung hatte.

Das Silber in seinen Augen war ein tosender Wirbel, er wirkte wie der Held aus einem Schauerroman, mit rabenschwarzem Haar, cremefarbener Haut und vor Verlangen blutroten Lippen. Er verlangte nach mir, wollte nur mich, denn er und ich waren die einzigen Wesen auf der Welt.

Er würde mich beißen. Er würde meine Haut, meine Ader durchstoßen. Er würde von mir nehmen, und ich würde nie wieder nach etwas anderem verlangen. Ich würde nie wieder etwas anderes brauchen, denn er wäre alles in meinem Leben …

Seine Hand packte meinen Arm, um mich näher heranzuziehen, und meine Augen schlossen sich, denn seine entblößten Fangzähne versprachen mir Lust und Schmerz zugleich, das Geschenk eines Vampirs. Seine Lippen näherten sich, berührten mich –

»Arrêter!«

Ethans Stimme raste auf einer Welle ungezügelten Zorns durch den Raum. Plötzlich war er neben uns und riss mich zurück. Balthasar entfernte sich aus meinem Verstand, und die Trennung ließ mich in kühler Einsamkeit zurück. Ohne seine helfende Magie raste der Fußboden auf mich zu, als ob man mich ihm entgegengeschleudert hätte. Ich landete mit einem lauten Krachen auf meinen Knien. Mir wurde schlecht, als sich die Welt um mich drehte, und ich hielt verzweifelt die Augen geschlossen, bis sich die wilde Karussellfahrt verlangsamte.

Dann war Malik neben mir. »Ich helfe dir jetzt hoch.«

Ich nickte, denn ich war mir nicht sicher, ob ich Worte hervorbringen konnte. Malik legte einen Arm um meine Hüfte und half mir dann vorsichtig auf. Meine Knie zitterten, gaben aber nicht nach.

»Ich lasse dich nicht los«, sagte er leise, führte mich zur Couch, weg vom Handgemenge.

Dennoch gab es einen Teil von mir, der mich entsetzte, denn der wollte nicht gehen, sich weder von Balthasar trennen noch die Freuden verpassen, die er mir versprochen hatte.

Ethan packte ihn am Revers und schob ihn mit solcher Wucht gegen das Regal, dass Holz splitterte und Bücher und Kristall zu Boden krachten.

Balthasars Lachen war eiskalt. »Nächstes Mal denkst du vielleicht noch mal darüber nach, bevor du Hand an mich legst, mon ami.«

Ethan sprach mit der gleichen kalten, harten Stimme wie Balthasar, während er ihn erneut gegen das zerbrochene Holz und Glas drückte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Solltest du sie noch ein einziges Mal anfassen oder dich ihr nähern, dann werde ich dich eigenhändig umbringen, ob du nun Meister bist oder nicht.«

Balthasar hob die Hände zwischen Ethans Arme, um sich aus seinem Griff zu befreien. Doch Ethans Kraft speiste sich aus Angst, Liebe und Zorn, und er war stärker.

Balthasars Stimme verwandelte sich in das Zischen einer Kobra. »Du wärst gut beraten, mich loszulassen.«

»Du wärst gut beraten, dich daran zu erinnern, wo du bist. In meinem Haus, in meiner Stadt, umgeben von meinen Leuten.«

»Deinen Leuten?«, sagte Balthasar. »Ich habe dich erschaffen, mon ami, und selbst ein Kontinent zwischen uns kann dieses Band nicht zertrennen. Sie sind nicht nur dein, sondern auch mein.«

»Du missverstehst einige grundlegende Dinge.« Mit einer Hand hielt er Balthasar zurück, mit der anderen zog er einen kleinen Dolch aus seiner Jacke und hielt ihn Balthasar vors Gesicht.

»Dies sind meine Leute, jeder Einzelne von ihnen, mit Blut und Knochen, Herz und Seele. Ich warne dich ein Mal, ein einziges Mal, dich ihnen nicht zu nähern. Ich bin nicht mehr das Kind, das du kanntest. Meine Prioritäten haben sich geändert, genau wie meine Bereitschaft zu handeln.«

Entschlossener hatte ich Ethan nie gesehen. Falls noch irgendein Zweifel darüber bestanden hatte, dass Vampire an der Spitze der Nahrungskette standen, dann hätten der Zorn in seinem Blick und die funkelnden Fangzähne ihn auf jeden Fall beseitigt.

»Tu dir selbst einen Gefallen«, sagte Ethan. »Verlass Chicago noch heute Nacht und kehre nie zurück.«

Die Bürotür flog krachend auf. Lindsey, Brody und Kelley – die ebenfalls zu den Wachen Cadogans gehörte – betraten mit gezückten Schwertern den Raum.

Ethan rammte den Dolch ins Holz direkt neben Balthasars Schläfe, wo er zitternd stecken blieb. Balthasars Gesichtsausdruck blieb unverändert – gelangweilt und leicht verachtend.

Ethan wich einen Schritt zurück, ließ seinen Erschaffer aber nicht aus den Augen. »Raus mit ihm. Sofort.«

Balthasar ging einige Schritte und war sofort von Wachen umgeben.

»Für heute werde ich mich von diesem Haus verabschieden«, sagte er. »Aber ich lerne deine schöne Stadt gerade erst kennen.«

Luc deutete mit der geschwungenen Klinge seines Katanas zur Tür, und Balthasar ging ohne ein weiteres Wort. Doch in der Tür drehte er sich noch einmal um und sah mich an.

»Unser Wiedersehen, so heiß ersehnt, hat gerade erst begonnen. Bis zum nächsten Mal.«

Damit verschwand er.

»Lasst ihn beschatten«, sagte Ethan zu Malik. »Findet heraus, wo er untergekommen ist und wer sonst noch weiß, dass er hier ist. Ich will, dass er rund um die Uhr bewacht wird – von einem Vampir und einem Menschen.«

Malik nickte, stand dann auf und verschwand nach draußen, um den Befehlen seines Meisters Folge zu leisten – aus freiem Willen.

Ethan, der am anderen Ende des Raumes stand – so weit von mir entfernt –, sah mich an. »Bist du okay?«

Ich schluckte schwer und versuchte Ordnung in meine verworrenen Gedanken zu bringen. »Er hat mich verzaubert. Er hat mich gerufen. Das sollte nicht möglich sein. Ich sollte dagegen immun sein. Ich war dagegen immun.«

Ethan ging zu dem kleinen Kühlschrank hinüber und holte eine Flasche Blut heraus, die er öffnete und mir herüberbrachte. Sorgenfalten furchten seine Stirn. »Trink.«

»Ich habe keinen Durst.«

»Das Blut wird dir helfen, die verbliebene Magie zu entfernen. Nimm diesen Ratschlag an von jemandem, der weiß, wovon er spricht – hinterher wirst du dich mehr wie du selbst fühlen.«

»Ich will nicht –«

»Trink das verdammte Blut, Merit«, stieß er wütend hervor.

»Warum er? Warum jetzt, wo ich allen anderen gegenüber immun war?«

Ethan seufzte und setzte sich neben mich. »Ich bin mir nicht sicher. Er ist mächtig, ein Meister der Manipulation. Vielleicht hat sein Rendezvous mit dem Tod seine Fähigkeiten noch gesteigert, oder er hat in all den Jahren einfach fleißig geübt. Es könnte auch die besondere Note seiner Magie sein.« Er hielt inne. »Oder es könnte meine Schuld sein.«

Ich sah ihn an und bemerkte die unterdrückte Angst, die Sorgen in seinem Blick. »Was er getan hat, ist nicht deine Schuld.«

»Ich meine nicht Balthasar an sich«, sagte Ethan. »Sondern deine Reaktion.« Er schob eine Strähne meines langen dunklen Haars hinter mein Ohr und musterte mein Gesicht, als ob er nach Verletzungen suchte und meinen psychischen Zustand einzuordnen versuchte. »Die Medikamente. Deine Wandlung.«

Mein Übergang zum Vampirdasein war weder leicht noch problemlos gewesen. Ethan hatte mich zum Vampir gemacht, weil ich von einem anderen angegriffen worden war. Heute konnte ich es als das erkennen, was es gewesen war: eine edle Tat. Aber damals wusste ich nur, dass es ohne meine Zustimmung geschehen war. Da sich Ethan deswegen schuldig gefühlt hatte, hatte er mir Medikamente verabreicht, um mir die äußerst schmerzvolle Wandlung zu erleichtern. Für die meisten Vampire waren diese drei Tage ein einziger, unerträglicher Schmerz; für mich war einfach alles nur verschwommen gewesen.

Diese Medikamente hatten mich zwar vor dem Schmerz bewahrt, aber bedauerlicherweise hatten sie mich auch daran gehindert, wirklich zum Vampir zu werden: Meine Seele war zwischen Mensch und Vampir gefangen gewesen. Irgendwann wurden beide Seiten dann gewaltsam vereint, doch Ethan befürchtete, dass ich bis heute unter den Nachwirkungen litt – was unter anderem erklären mochte, warum ich gegen Verzauberung gefeit war. Und nun hatte vielleicht Balthasars Magie mit Gewalt dafür gesorgt, dass mir diese Unempfindlichkeit abhandengekommen war.

»Wir haben immer gedacht, du bist einfach nur stur«, sagte Ethan. »Aber vielleicht war die Ursache für deine Immunität ja viel grundlegender als das.«

Ich hörte die Schuldgefühle in seiner Stimme. »Darum geht es nicht. Balthasar hat das getan, weil er etwas beweisen wollte.«

»Dass er dich angreifen kann, und mich auch«, pflichtete mir Ethan bei. »Verzauberung ist eine Methode, mit der man seine Beute locken und manipulieren kann. Dass er sie gegen dich verwendet hat, gegen uns beide, war grausam. Trink«, wiederholte er. »Du wirst dich besser fühlen. Und du willst nicht, dass ich dich dazu zwinge.«

Ich sah zu ihm hoch. »Das wagst du nicht.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Statt ihm also weitere Widerworte zu geben, setzte ich mich auf, blickte ihn über den Flaschenrand an und trank.

Er hatte recht. Es beraubte den beunruhigenden Effekt, den Balthasar auf mich gehabt hatte, ein wenig seiner Wirkung.

Als ich die Flasche geleert hatte, reichte ich sie Ethan, der sie zur Seite stellte. »Gut«, sagte er. »Du bist nicht mehr ganz so blass.«

»Ich wollte ihn nicht küssen.« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, und selbst ich konnte hören, wie viel Schuldgefühl in ihnen lag. Ich wollte Balthasar nicht küssen, und dennoch hatte ich in jenem Augenblick nichts mehr gewollt als das. »Ich wollte es nicht. Nicht wirklich. Ich hätte alles getan, was er von mir verlangt hätte. Er hatte mich völlig in seiner Gewalt – mental, emotional, körperlich.«

Ethan legte die Stirn in Falten. »Glaubst du etwa, ich gebe dir die Schuld daran? An dem, was er dir angetan hat?« Er schüttelte reuevoll den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich nicht schneller bei dir war. Dass er überhaupt so weit gehen konnte. Seine Magie … Sie besitzt viel Macht.«

Er war wütend auf sich selbst, glaubte, er hätte darin versagt, mich zu beschützen. Da er dazwischengegangen war und Balthasar daran gehindert hatte, von mir zu trinken, konnte er keinem größeren Irrtum unterliegen.

Er legte seine Arme um mich und drückte mich fest an sich. »Verzauberung ist eine Waffe und wird es auch immer sein, egal, wie hübsch aufgemacht sie daherkommt.«

Eine erschreckend mächtige Waffe.

»Ich bin mir nicht sicher, was ich gerade empfinden soll. Einerseits hat es sich wie eine Vergewaltigung angefühlt, andererseits absolut wundervoll. Und das macht mir ein schlechtes Gewissen.«

Er hob mein Kinn sanft an, bis er mir in die Augen blicken konnte. »Verzauberung hat zum Ziel, dass du dich gut fühlst, dass das Dasein als Vampir sich wundervoll anfühlt. Sie wäre wohl wenig brauchbar, wenn sie das nicht schaffte. Du musst dir wegen deiner völlig natürlichen Reaktion keine Vorwürfe machen.«

Ich nickte, aber das änderte nichts an dem mulmigen Gefühl in meiner Magengegend. »Es gefiel mir besser, als ich noch immun war.«

»Ich hätte mir gewünscht, dass du es auf andere Weise kennenlernst.« Dann lächelte er sanft. »Nicht, dass du dich bei deiner äußerst lebhaften Aufnahmezeremonie mehr für Verzauberung interessiert hättest.«

Mein Mundwinkel zuckte leicht, wie er es geplant hatte. »Ich mochte dich damals auch nicht besonders.«

»Nein, in der Tat.«