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Die Vampire Merit und Ethan konnten schon viel Erfahrung in ihren Kämpfen sammeln - doch jetzt haben sie es mit einem Gegner zu tun, der mächtiger ist, als sie es sich je vorzustellen vermochten. Und er hat es auf Chicago abgesehen. Ethan hat Haus Cadogan in Alarmbereitschaft versetzt, aber der Feind wird nicht Halt machen, bevor Vampir gegen Vampir kämpft. Merit muss nun alles opfern, um dieses Spiel zu gewinnen ...
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Seitenzahl: 544
Chloe Neill
Chicagoland Vampires
Wie ein Biss in dunkler Nacht
Roman
Ins Deutsche übertragen vonMarcel Bülles
Mittlerweile sollten die Vampirkriegerin Merit und ihr Meister Ethan wissen, dass die Vergangenheit sie immer wieder einholt. Dieses Mal hat es die infernale Gruppe um Adrien Reed darauf abgesehen, die Macht in Chicago an sich zu reißen … und die Mitglieder wollen Haus Cadogan brennen sehen. Da wird die Leiche eines Formwandlers gefunden – ermordet von einem fremden Vampir. Zu allem Überfluss entdeckt Merit in der Nähe des Toten den Gebrauch seltsamer Magie. Ethan versetzt Haus Cadogan in sofortige Alarmbereitschaft. Die übernatürliche Gemeinschaft gerät zusehends unter Druck, denn Reed manipuliert, hetzt und intrigiert. Als die Gefahr einer Auseinandersetzung immer größer wird, muss Merit alles daransetzen, ihre Lieben aus dem Kreuzfeuer herauszuhalten. Doch das Schicksal hat keine Gnade mit der Hüterin: Sie muss sich ihrer größten Angst stellen und dabei ihr Leben aufs Spiel setzen …
»Ein König kämpft um sein Reich, der Wahnsinnige für den Applaus.«
John Dryden
Ende April
Chicago, Illinois
Ich stand an der Ecke Clark und Addison, in Jeans und einem Cubs-T-Shirt, meine langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und durch meine alte Cubs-Kappe gesteckt.
Auf den ersten Blick unterschied ich mich kaum von den Tausenden Menschen um mich herum. Aber ich war eine Vampirin, und der Teufel hatte ein Auge auf mich geworfen. Daher hing ein Haus-Medaillon um meinen Hals, ein Meistervampir stand neben mir, und in einem meiner Stiefel steckte ein Dolch.
Ich starrte an dem Gebäude hoch und war aufgeregt wie jedes Mädchen, jeder Junge beim ersten Baseballspiel. Die berühmte rote Anzeigetafel leuchtete über Harry Caray, der lächelnd und mit einer dick umrandeten schwarzen Brille als Hologramm auf den Bürgersteig projiziert wurde.
Ich war seit dreihundertvierundachtzig Tagen eine Vampirin, und heute würde einer der besten Tage davon sein, denn ich war endlich zu Hause.
Zum ersten Mal seit meiner Verwandlung war ich in Wrigley Field.
»Brauchst du noch einen Augenblick, Hüterin?«
Ich ignorierte den neckenden Tonfall des Mannes neben mir, eines vierhundert Jahre alten Meistervampirs, der Haus Cadogan in Chicago anführte und dem jene Teile meines Herzens gehörten, die sich nicht mit großartigen Büchern und erstklassiger Pizza beschäftigten.
Ich drehte mich zur Seite, um ihm einen strafenden Blick zuzuwerfen, und erwartete eine sarkastische Bemerkung, doch in seinen tief liegenden grünen Augen entdeckte ich eine unerwartete Sanftheit. Liebe, mit einem Hauch Belustigung. Seine langen goldenen Haare, die an morgendliche Sonnenstrahlen erinnerten, hatte er in seinem Nacken zusammengebunden, was sein markantes Kinn und die hohen, ausgeprägten Wangenknochen betonte. Und obwohl er nicht gerade ein Baseballfan war und wir noch dazu in Chicagos South Side lebten, trug er ein klassisches Cubbies-T-Shirt, das sich wie ein sehr glückliches Stück Stoff an seinen schlanken Körper schmiegte. Ethan Sullivan trug nur selten lässige Kleidung, aber er trug sie mit genau derselben Haltung wie seine maßgeschneiderten Tausend-Dollar-Anzüge.
»Ich brauche noch einen Augenblick«, erwiderte ich grinsend. »Hör auf, mich abzulenken.«
»Gott bewahre mich vor einem solchen Fehltritt«, sagte er wissend, während er mir die Hand auf den Rücken legte.
»Könntest du dich vielleicht aus einer Restaurantnische heraus sattsehen? Ich habe nämlich einen Bärenhunger.«
Ausnahmsweise war nicht ich es, die ans Essen dachte. Diese Ehre gebührte meiner besten und frisch verheirateten Freundin, Mallory Carmichael Bell.
An die Namensänderung musste ich mich erst noch gewöhnen.
Ich sah zu ihr hinüber. Ihre Haare waren so dunkelblau wie das Cubs-Logo, ihre zierliche Figur steckte in Skinny Jeans und einem eng anliegenden blau-roten »Save Ferris«-T-Shirt. »Hast du nicht im Auto einen Müsliriegel gegessen?«
»Das stimmt«, antwortete sie, »aber das war das Einzige, was ich heute gegessen habe. Ich habe den halben Tag damit zugebracht, den Orden wegen seiner mangelhaften Dokumentation anzumeckern«, brummte sie. »Wie auch immer, ich habe einen Bärenhunger.«
Der Orden war die offizielle, wenn auch überraschend inkompetente Gewerkschaft der amerikanischen Hexenmeister. Diese Art von Beschwerde erwartete man eigentlich nicht vor Wrigley Field zu hören, aber für unsere Truppe war das durchaus normal: zwei Vampire und zwei Hexenmeister, die gemeinsam versuchten, den mächtigsten Finanzmogul und politischen Strippenzieher der Stadt dranzukriegen, der zufälligerweise auch noch Chicagos oberster Gangsterboss war. Unser Feind hieß Adrien Reed, und seine Organisation hieß »der Zirkel«. Er hatte übernatürliche Handlanger, unter anderem einen Hexenmeister, der seine beachtlichen Kräfte dazu genutzt hatte, einen Vampir in jenen Meister zu verwandeln, den Ethan seit Ewigkeiten für tot gehalten hatte.
»Lasst uns das mal im intimeren Kreis besprechen«, warf der Hexenmeister neben Mallory ein. Ihr Ehemann Catcher Bell war groß gewachsen, muskulös, aber schlank, hatte einen glatt rasierten Schädel, grüne Augen und einen sinnlichen Mund, der aber im Augenblick zu einer schmalen Linie zusammengepresst war, weil er die Menge nach Bedrohungen absuchte.
Er war nicht der Einzige, der sich umsah. Ethan hatte die Cubs davon in Kenntnis gesetzt, dass wir an dem Spiel teilnehmen würden, und da auf der Anzeigetafel WILLKOMMEN, HAUS CADOGAN! stand, schienen sie sich dazu entschlossen zu haben, das nicht geheim zu halten. Wir mussten uns von unserer besten Seite zeigen – und zugleich in höchster Alarmbereitschaft sein.
Der Abend im Baseballstadion war Ethans Idee gewesen – ein paar Stunden Normalität in einem Monat, in dem wir einen geheimnisvollen Bösewicht aus Ethans Vergangenheit besiegt hatten und uns einem neuen Bösewicht stellen mussten, der glaubte, ungestraft lügen, betrügen und stehlen zu können. Zwar hatten wir Reeds Pläne vorübergehend vereitelt, aber er hatte uns versprochen, dass es nicht dabei bleiben würde. Dieser Auseinandersetzung sahen wir mit Freuden entgegen, fest entschlossen, kein Inning mehr folgen zu lassen.
Außerdem hatte ich in ein paar Tagen Geburtstag. Offiziell wurde ich neunundzwanzig, obwohl ich immer noch aussah wie siebenundzwanzig drei viertel – so, wie ich wohl für den Rest meines womöglich unsterblichen Lebens aussehen würde. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich mit der Tatsache, dass Ethan mich in einen Vampir verwandelt hatte, überhaupt nicht einverstanden gewesen war – ich hatte keine Wahl gehabt, weil mich zuvor ein anderer Vampir schwer verletzt hatte –, doch schlussendlich hatte ich die damit verbundenen Schwierigkeiten überwunden.
Meine Vampirsinne waren stark ausgeprägt. Da wir von unzähligen Menschen umgeben waren, hatte ich meine mentalen Barrieren verstärkt. Trotzdem konnte ich die Menschen meinen und Ethans Namen flüstern hören. Wahrscheinlich kannten sie uns aus Zeitschriftenartikeln und dem Internet. Ethan hatte sogar ein eigenes Fandom: EthanSullivanIsMyMaster.net. In Anbetracht der an mich gerichteten E-Mails, die Helen, unsere Verantwortliche für Eingeweihte und Ethans Privatsekretärin, abgefangen hatte, war er nicht die einzige Berühmtheit. Ich persönlich fand das sehr nervenaufreibend. Schmeichelhaft, aber nervenaufreibend.
Was die Bedrohungen in der realen Welt betraf, so hatte Ethan mir befohlen, nicht zu mutig zu sein und mich nur dann mit jemandem anzulegen, wenn es absolut notwendig war. Da ich als Hüterin jedoch die Aufgabe hatte, ihn und das Haus zu beschützen, hatten wir zweifellos unterschiedliche Auffassungen von »absolut notwendig«.
»Wo können wir was essen?«, fragte Mallory, während sie ihren Blick über die Restaurants schweifen ließ, die das Baseballstadion umgaben. An Spieltagen war es hier immer schon belebt gewesen, aber die Renovierung des Stadions hatte noch mehr Bars und Kneipen entstehen lassen, die mehr und mehr Besucher anlockten.
»An einem wohlbekannten Ort«, antwortete Ethan und warf mir einen Blick zu. »Wenn du dann so weit bist?«
Ich packte sein Handgelenk und warf einen Blick auf seine glänzende Stahluhr. Das heutige Spiel gehörte zu den seltenen spätabendlichen Spielen in Wrigley und wurde von einer Batteriefirma gesponsert, die Cubs-Taschenlampen verschenkte.
»Wir haben anderthalb Stunden«, sagte ich, während Ethan seine Uhr zurechtrückte. »Und ich werde mir eine von diesen verdammten Taschenlampen besorgen.« Da wir nur nachts wach und dann meistens auf einer Mission unterwegs waren, um Vampire und Menschen Chicagos zu retten, selbst wenn die es nicht zu schätzen wussten, wäre eine Taschenlampe verdammt praktisch. Und eine Taschenlampe mit dem Cubs-Logo? Unbezahlbar.
»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir eine zu besorgen«, sagte Ethan. »Wir gehen in die Temple Bar.«
Ich strahlte. Die Temple Bar war Cadogans offizielle Bar und nur ein paar Blocks von Wrigley entfernt. Ich war schon seit Monaten nicht mehr dort gewesen.
»Gibt es denn dort was zu essen?«, fragte Catcher.
Ethan lächelte verschmitzt. »Sie haben Pizza bestellt, für den Fall, dass Merit Hunger haben sollte. Wenn ich es richtig verstanden habe, stehen unter anderem Frischkäse und eine doppelte Portion Frühstücksspeck zur Auswahl.«
»Du kennst mich einfach zu gut«, sagte ich. Ich wollte zwar unbedingt eine von diesen Taschenlampen, aber eine Stunde mit meinen Freunden und leckerster Pizza zu verbringen war mir mindestens genauso wichtig. Außerdem waren Frischkäse und Frühstücksspeck meine absoluten Lieblingszutaten auf einer Pizza – eine kulinarische Meisterleistung, die die meisten Beschwerden heilen konnte, zumindest meiner frühstücksspeckgeschwängerten Vorstellung nach.
»Dann mal los«, sagte Mallory. »Gott bewahre, dass Merit keine Taschenlampe bekommt.«
»Taschenlampen gibt es überall«, murmelte Catcher, als sich Mallory bei ihm unterhakte und wir auf unserem Weg zur Bar die Straße überquerten.
»Du verstehst das nicht«, sagte sie und tätschelte seinen Arm, bevor sie ironisch hinzufügte: »Ehemänner. So sind sie nun mal.«
Gott, war das seltsam, diese Worte von ihr zu hören.
Die Temple Bar war ein schmales Gebäude, das aus Messing, Holz und Erinnerungsstücken an die Cubs bestand. Die getäfelten Wände waren übersät mit alten Wimpeln, T-Shirts und Spielbällen, davor standen ausgeblichene Tribünensitze, die während der Renovierung des Stadions ausrangiert worden waren. Überall standen Bartische, außerdem gab es lederbezogene Sitzecken und seit Kurzem einen Poolbillardtisch. Die Bar war bevölkert von Vampiren in Cubs-Klamotten, deren Übernatürlichkeit an der magiegeschwängerten Luft klar zu erkennen war.
Sean, einer der beiden Vampirbrüder, die die Bar betrieben, läutete die Messingglocke, die hinter der Theke hing. Die Gäste sahen neugierig in seine Richtung.
»Meister im Haus!«, rief Sean gut gelaunt und deutete mit der freien Hand auf Ethan.
Jubel und Applaus brachen los, als sich die Vampire auf ihren Sitzen umdrehten, um einen Blick auf ihren Meister zu erhaschen. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, Ethan um mich zu haben, ob nun persönlich oder beruflich. Doch für die anderen Novizen Cadogans war es eine seltene Gelegenheit und ein wirkliches Vergnügen, ihn in einer solchen Umgebung zu treffen.
Sie lächelten freudestrahlend, als er den Raum betrat. Die Blicke, die Mallory galten, waren nicht ganz so freundlich. Nach einigen ernsthaften Schwierigkeiten hatte sie ihren guten Ruf bei den Vampiren zwar wiederhergestellt, aber Vampire hatten ein ebenso gutes Gedächtnis.
Wir gingen zu einem Tisch mit vier Sitzplätzen. Seans Bruder Colin tauchte bei uns auf, ein weißes Handtuch über der Schulter. Sean war jünger als Colin und beide sahen so aus, als ob sie einer Broschüre der irischen Tourismusbehörde entsprungen wären: groß gewachsen, schlaksig, rote Haare, blaue Augen, rotwangig.
»Lehnsherr«, sagte Colin und verbeugte sich leicht vor Ethan, bevor er sich lächelnd mir zuwandte. »Es ist schon viel zu lange her«, fügte er hinzu und drückte spielerisch meine Schulter. »Was verschafft uns die Ehre?«
»Merits erstes Spiel in Wrigley mit Fangzähnen«, antwortete Sean und stellte eine Pizzaschachtel, Pappteller und Servietten in die Tischmitte. Der Duft von würziger Sauce, geräuchertem Frühstücksspeck und Käse stieg aus der Schachtel empor, auf der in großen, leuchtend roten Buchstaben eins meiner absoluten Lieblingswörter stand: »SAUL’S«. Es war nicht nur meine Lieblingspizza, sie stammte auch noch von meiner Lieblingspizzeria. Ethan hatte sich wirklich alle Mühe gegeben.
Danke, sagte ich lautlos über die telepathische Verbindung zwischen uns. Ich weiß deine Mühe sehr zu schätzen.
Du wirst sie später noch viel mehr schätzen, erwiderte er mit einer Verruchtheit im Blick, die mir weitere Freuden versprach – selbst wenn die Cubs das Stadion heute nicht als Sieger verließen.
»Na dann«, sagte Colin und sah mich an. »Das ist definitiv einen Drink aufs Haus wert. Du bist doch eine Gin-Tonic-Lady, oder?«
»In der Tat«, bestätigte ich. »Das hört sich super an.«
»Wird gemacht«, sagte er, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Ethan. »Sire?«
Ethan hatte ein Upgrade erhalten, zumindest was seinen Titel anging, als er Mitglied im Kongress Amerikanischer Meister geworden war. Durch diese kürzlich gegründete Organisation sollten die amerikanischen Vampire die Möglichkeit bekommen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Bisher hatte es mit dem Kongress Amerikanischer Meister noch kein nennenswertes Drama gegeben, was ein deutlicher Fortschritt zur Vorgängerorganisation war.
»Ich nehme dasselbe.«
»Ich wusste, dass du meinem Urteil irgendwann vertrauen würdest.«
Catcher lachte schnaubend. »Zumindest was Essen angeht.«
»Ein Novize nimmt, was ein Novize kriegen kann«, sagte Colin und zwinkerte mir zu. Er nahm noch Catchers und Mallorys Bestellungen auf und ließ uns dann mit unserer Pizza allein. Wir wechselten verschmitzte Blicke und warteten darauf, dass jemand als Erster nach einem Stück griff.
»Nun, ich werde nicht darauf warten, dass ihr übernatürliches Schere, Stein, Papier spielt«, sagte Mallory, ließ die Schachtel rotieren, bis ihre Öffnung auf sie zeigte, und schob sich ein Stück auf den Teller.
»Und wie spielt man das, bitte schön?«, fragte Ethan.
Sie hielt inne, kaute nachdenklich und hob dann zwei Finger zu einem »V«. Sie verbog sie zu einer Raubtierkralle und wackelte dann mit ihnen, als ob sie einen wirklich mächtigen Zauberspruch auf uns wirkte. »Vampir – Formwandler – Hexenmeister«, sagte sie. »Ihr dürft es ›VFH‹ nennen.«
»Ich glaube, du hast gerade ein Mem kreiert«, sagte ich schwer beeindruckt.
»Natürlich habe ich das. Ich bin großartig. Reich mir den Käse.«
Wir waren fast mit der Pizza fertig, als Catcher in Richtung Poolbillardtisch zeigte. »Spielst du Poolbillard?«, fragte er Ethan.
»Ab und zu.«
»Zeit für ein Spielchen?«
Ethan sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Wir hatten ziemlich schnell gegessen und noch genügend Zeit, bis das Spiel begann. Ich hätte nichts dagegen gehabt, möglichst früh im Stadion zu sein, um den Spielern beim Aufwärmen zuzusehen und zu beobachten, wie die Zuschauer das Stadion betraten und dabei ihre Hotdogs, Smartphones und Biere balancierten. Doch als ich Ethans sehnsüchtigen Blick bemerkte, den er dem perfekten grünen Filz und den wohlgeformten, verschnörkelten Tischbeinen zuwarf, wusste ich, dass ich verloren hatte.
»Dann mal los«, sagte ich und neigte den Kopf zur Seite. »Allerdings wusste ich noch gar nicht, dass du Poolbillard spielst.«
»Ich verbringe mein Leben zwar nicht am Billardtisch«, erwiderte er mit einem Hauch von Entrüstung, »aber ich spiele so gut, wie ich Meister meines Hauses bin.«
Wenn es etwas gab, womit Ethan kein Problem hatte, dann war es sein Selbstbewusstsein. »In dem Fall wünsche ich viel Spaß.«
»Glaubst du etwa, er kann Catcher noch was beibringen?«, fragte Mallory, während sich die beiden durch die Menge schoben.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. Was stimmte, aber andererseits tat Ethan selten Dinge, bei denen er nicht bereits den Sieg – oder zumindest eine Rückzugsstrategie – einkalkuliert hatte.
Ich sah ihm zu, wie er sich einen Queue nahm und dessen Gewicht und Biegsamkeit testete. Zwei Vampire standen von ihren Plätzen nahe der Bar auf und gingen zu ihnen hinüber, um sie zu begrüßen. Ethan hatte sich die Haare hinter die Ohren gestrichen. Mit einer Hand hielt er seinen Queue fest, mit der anderen begrüßte er die Vampire und stellte dann Catcher vor. Sie unterhielten sich kurz, während Catcher die Kugeln anordnete und sie sich auf ihr Spiel vorbereiteten.
»Bekommt Catcher einen Anfall, wenn er verliert?«, fragte ich. Er war von Natur aus eher der mürrische Typ. Ich mochte ihn wirklich sehr.
»Catchers Verhalten ist durch Zurückhaltung gekennzeichnet.«
Ich lachte laut auf. »Und Ethan ist nur der demütige Diener seines Hauses, das er als wahrer Demokrat führt.«
»Wir reden also beide Blödsinn«, sagte Mallory, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren durchtrainierten Ehemann richtete. »Wenn er verliert, geschieht ihm das nur recht. Er hätte den Vampir ja nicht in seinem eigenen Haus herausfordern müssen.«
»Das war vielleicht nicht gerade die tollste Idee«, stimmte ich ihr zu.
»Wie auch immer«, sagte sie und rutschte näher, »ich bin froh, dass sie mal weg sind. Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten.«
In Anbetracht des Chaos der vergangenen Wochen nahm ich an, dass sie schlechte Neuigkeiten zum Thema Magie oder zum Bösen im Allgemeinen hatte. Ich wappnete mich für das Schlimmste.
»Ich befürchte, dass der Sex irgendwann langweilig wird.«
Colin tauchte mit neuen Drinks auf – einem Manhattan für Mallory und einem weiteren Gin Tonic für mich. Den letzten friedlichen Augenblick nutzte ich, um die Limette über dem Glas auszudrücken und mir ihren sauren Saft vom Daumen zu lecken. Dann nahm ich einen Schluck, stellte das Glas ab und tat, was ich tun musste. Ich ging auf ihre Bemerkung über Sex mit Catcher ein.
»Warum denkst du denn, dass es langweilig werden könnte?«
Sie beugte sich zu mir herüber, ihre verschränkten Arme auf dem Tisch. »Ich meine, na ja, ich weiß nicht. Wir sind verheiratet, und der Sex ist gut. Er ist wirklich gut. Und regelmäßig.«
Ich wusste, dass ich es bedauern würde, aber ich musste einfach fragen. »Wie regelmäßig?«
»Mindestens einmal am Tag. Manchmal häufiger. Wir sind ziemlich oft nackt«, sagte sie nüchtern.
»Davon bin ich ausgegangen.« Ich war wirklich froh, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammenwohnte. Mallory besaß ein Haus in der Stadt, und ich war ihre Mitbewohnerin gewesen, bevor ich ins Haus Cadogan gezogen war. Nachdem Catcher eingezogen war, hatte es eine Menge Geknutsche in den Gemeinschaftsbereichen gegeben, einschließlich der Küche. Ich für meinen Teil hätte »Omelett à la Catchers Nackter Hintern« nun wirklich nicht gebraucht. »Hört sich doch an, als ob alles in Ordnung wäre.«
»Ist es ja auch. Und das ist wohl der Grund, warum ich mir Gedanken mache. Weißt du, ich liebe es, was wir gerade haben. Und ich weiß auch, dass es zu einer Ehe gehört, sich mit dem anderen richtig wohlzufühlen. Ich will nur nicht, dass wir uns irgendwann so wohlfühlen, dass wir nur noch Mitbewohner sind. Ich will, dass es zwischen uns knistert.« Sie warf ihm einen Blick zu, und ihre Augen strahlten vor Liebe – und einem Hauch wilder Gier. Catcher war nun mal ein Alphamännchen, von vorne bis hinten, von oben bis unten, von so ziemlich allen Seiten betrachtet.
»Tja, ich glaube nicht, dass das jemals ein Problem wird«, lautete daher meine Schlussfolgerung.
»Ich meine, wir können einfach nicht voneinander lassen. Deswegen waren wir auch so spät«, sagte sie und hob anzüglich eine Augenbraue.
Wir hatten Mallory und Catcher in einem der riesigen schwarzen SUVs des Hauses abgeholt, denn Ethans eigener Wagen – ein eleganter schwarzer Ferrari – war bei einer Verfolgungsjagd mit einem von Reeds Handlangern geschrottet worden.
Während wir also ahnungslos draußen auf sie gewartet hatten, hatten sie es miteinander getrieben.
»Tja«, sagte ich nach einem deutlich größeren Schluck, »selbst wenn das Tempo, sagen wir mal, ein wenig nachlässt, so ist es trotzdem großartig, dieses Wohlgefühl zu haben.«
Ich sah zu Ethan hinüber, der neben dem Tisch stand und seinen Queue einer Pike gleich hielt, wie sie vermutlich seine schwedischen Landsleute benutzt hatten. »Es ist fantastisch, jemanden zu haben, der versteht, was du wirklich willst.«
»Er versteht, was du willst, und das ist wichtig.« Sie grinste. »Aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass Darth Sullivan nicht auch regelmäßig seine ›dunkle Seite‹ zeigt.«
»Du versaust mir gerade Star Wars. Aber um beim Thema zu bleiben: ja.« Ich grinste. »Er ist ziemlich geschickt mit seinem –«
»Du versuchst das Wort ›Lichtschwert‹ zu vermeiden, willst es aber unbedingt sagen.«
»Stimmt.« Mit einer schnellen Handbewegung versuchte ich das Thema zum Abschluss zu bringen. »Belassen wir es dabei, dass er mit seiner Waffe umzugehen weiß.«
»Dem Katana. Dem Breitschwert. Dem Säbel.«
»Eigentlich wollten wir über Catcher reden«, ermahnte ich sie. »Und da ich sein, ähm, Breitschwert mehr als einmal gesehen habe, kann ich bestätigen, dass er über eins verfügt. Ich glaube, dass jede Beziehung ihre Höhen und Tiefen hat und nicht geradlinig verläuft. Manchmal gehört auch ungezügelte Nacktheit dazu, selbst wenn man nur seine Ramen-Nudeln zubereiten will.«
Mallory prustete in ihren Drink. »Die sind sowieso nicht gut für dich. Zu viel Natrium.«
»Ich bin unsterblich«, gab ich zu bedenken.
»Das bist du«, sagte sie. »Und ich hoffe, du hast recht. Glaubst du, dass es zwischen dir und Darth Sullivan in sechs- oder siebenhundert Jahren immer noch funkt?«
Ich dachte nicht oft über meine Unsterblichkeit nach, vor allem, weil ich sie mir nicht wirklich vorstellen konnte. Ethan lebte nun schon seit fast vierhundert Jahren. Er hatte alles kommen und gehen sehen – Krieg, Gewalt, Hungersnöte, Weltreiche. Wenn ich es schaffte, mich vom spitzen Ende eines Espenpflocks fernzuhalten, würde ich all das auch erleben – und mehr. Aber mein Verstand hatte immer noch Schwierigkeiten, das Konzept der unendlichen Zeit zu begreifen.
»Ich weiß es nicht«, lautete daher meine ehrliche Antwort. »Ich kann mir nicht vorstellen, ihn nicht zu begehren, aber die Unsterblichkeit kann schon ziemlich lange dauern.«
»Und wenn er dir einen Antrag macht?«
Das hatte er schon oft genug angedeutet. Tatsächlich hatte er klargemacht, dass es nicht mehr darum ging, »ob«, sondern vielmehr darum, »wann«. »Wenn er mir den Antrag macht«, sagte ich, »und ich Ja sagen sollte, dann ist der Entschluss endgültig. Einen solchen Vertrag kündigt man nicht mehr.«
Das brachte mich zum Lächeln. Die Unsterblichkeit machte mir Angst, aber mich zu meiner Liebe zu bekennen nicht.
»Gut«, sagte Mallory und stieß darauf mit mir an. »Dann lass uns auf die ewige Liebe trinken. Auf die mürrischen Kerle, die wir lieben und die uns stets zu Füßen liegen sollten.« Sie grinste anzüglich. »Was sie auch tun, wenn sie entsprechend motiviert sind.«
»Ich habe das ungute Gefühl, dass wir uns wieder dem Nackter-Catcher-Thema nähern.«
»Solange nur ich mich ihm nähere«, erwiderte sie zwinkernd. Sie stellte ihr Glas ab und sah mir einige Sekunden lang in die Augen. Sie lächelte sanft, als ob sie alle Geheimnisse dieser Welt kannte.
»Was?«, fragte ich.
»Nichts. Ich habe nur darüber nachgedacht, wie sehr wir uns verändert haben. Vampire, Hexenmeister, zwei verdammt heiße und völlig selbstgefällige Kerle. Du hattest Schwierigkeiten, dich anzupassen, und ich habe einen Abstecher in die Abgründe meiner Seele gemacht. Und trotzdem sitzen wir hier, genießen unsere Drinks und schauen uns gleich die Cubbies an.« Erneut stieß sie mit mir an. »Ich glaube, wir haben uns ziemlich gut geschlagen.«
Da konnte ich ihr kaum widersprechen.
Ethan stieß an und hätte beinahe den Tisch abgeräumt. Doch eine Novizin, die etwas zu viel getrunken hatte, stieß aus Versehen seinen Queue an und verdarb ihm damit das Spiel. Sie entschuldigte sich vielmals bei ihm, aber das Schicksal nahm seinen Lauf. Durch ihr kleines Missgeschick war Catcher an der Reihe, und er nutzte seine Chance. Er kündigte jeden Stoß an, versenkte jede Kugel, und als er fertig war, musste sich Ethan seiner bitteren Niederlage stellen.
Das zumindest war Catchers Version der Geschehnisse. Da sein Ego mit Ethans vergleichbar war, ging ich davon aus, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag.
Als wir unsere Sachen eingepackt hatten und (endlich!) ins Stadion aufbrechen wollten, weigerte sich Colin, Ethans Geld anzunehmen, und versuchte uns aus der Bar zu scheuchen. Ethan schaffte es allerdings heimlich – und geschickt wie immer –, Sean ein paar Scheine zuzustecken. Er zog es vor, seine Schulden immer sofort zu begleichen.
Als wir in die wunderbare Frühlingsnacht hinaustraten, sprühte die Menge vor Energie und Vorfreude, nachdem sie einen weiteren harten Winter im Mittleren Westen überstanden hatte. Und sie freute sich auf die Möglichkeit, die Cardinals im eigenen Stadion zu vernichten.
Ethan hielt mit mir Händchen, als wir Catcher und Mallory durch die Menge zum Eingang folgten. Unsere Sitzplätze lagen gegenüber der dritten Base. Wann immer ich ein Spiel gesehen hatte, waren das meine Lieblingsplätze gewesen.
Ethan sah zu mir zurück, und seine grünen Augen strahlten. Ich bezweifelte, dass er ein großer Baseballfan war. Vielleicht war es ja eine Art stellvertretende Begeisterung, denn ich war definitiv begeistert für uns beide zusammen. Oder vielleicht war er einfach nur ganz aufgekratzt, weil es kostenlose Taschenlampen gab. Ich war es nämlich auf jeden Fall.
Bist du bereit, Hüterin?, fragte Ethan wortlos, indem er die telepathische Verbindung zwischen uns nutzte. Sie war entstanden, als er mich in jener Nacht vor einem Jahr zur Vampirin gemacht hatte.
Ich erwiderte sein Lächeln. Ich platze gleich vor Freude.
Er nahm meine Hand, und wir gingen die Straße entlang wie ein menschliches Pärchen, das einen schönen Abend beim Baseball verbringen wollte.
Plötzlich blieb Mallory stehen und drehte sich zu uns um. Mit ernstem Blick sah sie auf etwas, was sich hinter uns befand. Die Leute grummelten und fluchten, weil sie gezwungen waren, um sie herumzugehen – und dann um uns, als wir zu ihr aufgeschlossen hatten.
»Habt ihr das gespürt?«, fragte sie.
»Was denn?«, fragte Catcher und sah sich nach der Bedrohung um, die sie bemerkt zu haben schien.
»Etwas mit Magie. Etwas Schlimmes.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, bewegte sie sich vom Stadion weg. Wir folgten ihr gegen den Strom der Fans, und zwar in Richtung Temple Bar.
Doch sie ging an der Bar vorbei und bog in den breiten Gang ein, der unterhalb der Hochbahnlinie Red Line verlief.
»Mallory!«, rief Catcher, und wir rannten ihr hinterher.
Der Gestank des Todes – überreif und grausam und unleugbar – schlug uns aus der Dunkelheit entgegen. Etwas hatte hier sein grausames Ende gefunden.
Oder besser gesagt – jemand. Ich starrte auf die Leiche auf dem Boden.
Der Mann war jung, vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig. Er hatte raue, gebräunte Haut, braune Augen und tiefe Falten um den Mund. Er hatte eine sehr schlanke Figur, trug Jeans und ein T-Shirt, und sein braunes, strohiges Haar stand wirr vom Kopf ab.
Es lag immer noch Magie in der Luft wie ein schwerer Nebel, der sich gerade erst legte. Und es roch schwach nach Tier.
Er war tot … und ein Formwandler gewesen.
Sein Gesicht war furchtbar geschwollen und blutverschmiert, die Haut an den Handknöcheln aufgeplatzt. Aber das war nicht das Schlimmste. Sein T-Shirt war links am Hals und an der Schulter voller Blut, das aus den Bisswunden am Hals ausgetreten war. Eine Lache hatte sich um ihn herum gebildet.
Er war nicht einfach nur gestorben. Er war getötet worden … von einem von uns.
Schuldgefühle überkamen mich, auch wenn ich nichts damit zu tun hatte. Das Zentral-Nordamerika-Rudel gehörte zu unseren Verbündeten, und viele seiner Mitglieder waren mit uns befreundet. Aber keiner von ihnen würde die Ermordung eines Formwandlers durch einen Vampir gutheißen.
Ein zweiter Mann in Jeans und einem dunklen Langarmshirt schoss plötzlich in den Gang. Er prallte gegen Mallory und riss sie mit sich zu Boden.
In der Sekunde, in der er stolperte, drehte er sich kurz zu mir um. Sein Duft und die Magie, die ihn umgab, kamen mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher. Der Schirm seiner Baseballkappe verdeckte sein Gesicht, ließ nur einen dichten dunklen Bart und bleiche Haut erkennen. Er war umgeben vom Geruch des Bluts, das er gerade gestohlen hatte.
Dann war der Augenblick vorbei. Der Vampir – offensichtlich der Mörder – fing sich mit einer Hand auf dem Boden ab, bevor er wieder auf die Füße kam und weiterrannte.
Ich musste nicht einmal nachdenken. Ich rannte ihm sofort hinterher, hörte, wie mir Ethan mit schnellen und leichten Schritten folgte.
Der Vampir rannte durch den Gang auf die andere Straßenseite und verschwand in der Dunkelheit. Er war nur wenige Meter von mir entfernt, aber als der Gang endete, sprang er auf die Straße in das Licht der Laternen. Er rannte zwischen Gebäuden hindurch, von deren Hausdächern man freien Blick auf Wrigley hatte, und weiter zur Sheffield auf der Ostseite des Stadions.
Ethan und ich liefen gleich schnell die Straße entlang, während um uns herum Musik aus den Bars ertönte. Wir ließen den Täter nicht aus den Augen, der noch immer einen Hauch Magie verströmte, die sein Mord hervorgerufen hatte.
Ich bezweifelte stark, dass ein Vampir, der in einem der Häuser lebte, einen Formwandler auf offener Straße umbringen würde, zumindest niemand aus Chicago. Er war vermutlich ein Abtrünniger, ein Vampir, der außerhalb der organisierten Häuser lebte. Oder vielleicht war er ein Vampir aus einer anderen Stadt, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, einen Formwandler umzubringen. Was immer zutraf, das Rudel würde uns dafür bluten lassen.
Wir wichen einer Gruppe Mädels in rosa Cubs-T-Shirts aus, von denen eines einen Schleier trug. Vermutlich ein Junggesellinnenabschied, den sie in Anbetracht der Schimpfwörter, die sie uns hinterherschleuderten, wohl schon eine ganze Weile feierten.
Der Vampir näherte sich jetzt der Kreuzung zur Waveland. Er blickte sich kurz zu uns um, um zu sehen, wie dicht wir ihm auf den Fersen waren, und rannte fast in eine Gruppe Frauen und Männer, die gerade aus einer Bar über die Straße in Richtung Stadion gingen.
»Was zum Teufel …?«, brüllte einer der Männer. Er war schlank, groß gewachsen und hatte schulterlange Cornrows. Geschickt wich er dem Läufer aus, damit der ihn nicht über den Haufen rannte.
»Entschuldigung!«, rief ich, als wir durch die Lücke rannten, die er geschaffen hatte.
Wir müssen ihn abfangen, Hüterin. Er hat getötet, er ist geflüchtet, und ich bezweifle, dass er stehen bleiben wird.
Kein Widerspruch von meiner Seite. Ich ließ unsere Umgebung in Gedanken an mir vorbeiziehen, um zu überlegen, wohin er gehen könnte. Aber da ich ihn nicht kannte – oder wusste, woher er stammte, wohin er wollte oder welches Verkehrsmittel er nutzen würde –, hatte ich praktisch nichts, was mir bei dieser Überlegung helfen konnte. Er war nach Wrigleyville gekommen, um in Wrigleyville einen Mord zu begehen. Und da ihn jetzt zwei Vampire verfolgten, würde er vermutlich versuchen, hier wieder wegzukommen.
Nach rechts, sagte Ethan, als der Vampir abbog und wieder Richtung Hochbahn lief.
Vielleicht war er ja mit der Red Line hierhergekommen und hatte vor, auf demselben Weg zurückzukehren.
Bleib an ihm dran, sagte ich zu Ethan und rannte über die Straße. Wenn ich es schaffte, noch einen Zahn zuzulegen, konnte ich ihm möglicherweise den Weg abschneiden, bevor er wieder in irgendeinem Gang verschwand.
»Cubs-Kappen!«
Ein Mann tauchte plötzlich vor mir auf, der mehrere Baseballkappen übereinandergestapelt auf dem Kopf trug und ein weiteres Dutzend in den Händen hielt. »Na, brauchst du vielleicht eine Cubs-Kappe?«
Er war riesig. Ein in Rot und Blau gekleideter Riese. »Nicht heute Abend, Kollege«, sagte ich und versuchte um ihn herumzugelangen, aber stattdessen kam es zu diesem peinlichen Wer-geht-rechts-wer-geht-links-Tanz, während er mit seinen Kappen herumwedelte und sie mir erneut anzudrehen versuchte.
Irgendwann schaffte ich es doch noch, ihm auszuweichen, aber das Ganze hatte mich aufgehalten. Der Vampir rannte über die Straße und verschwand in den Schatten unter den Gleisen. Ich erreichte den dunklen Gang nur Sekunden vor Ethan … und fast zu spät, um den Motor aufheulen zu hören. Ein ramponierter Trans Am raste auf uns zu, die Fahrertür noch offen. Dann schlug die Tür zu, das Gesicht des Vampirs war nur als Umriss im Wagen zu sehen. Was ich aber deutlich sehen – und spüren – konnte, war die Waffe, die aus dem Fenster herausragte.
Ich bewegte mich instinktiv und ohne eine Sekunde nachzudenken.
»Runter!«, rief ich Ethan zu, drehte mich vor ihm und drückte ihn zu Boden. Ein Schuss peitschte durch die Nacht und hallte von Ziegelsteinwänden, Beton und Stahl wider. Reifen quietschten, als der Wagen nach vorne schoss, die Straße erreichte und laut aufheulend in die Nacht verschwand.
Ich rollte von Ethan herunter. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Mir geht es gut«, antwortete er gereizt. »Du hast dich vor mich geworfen.«
»Ich werde mich immer vor dich werfen. Du hast mich zur Hüterin ernannt.«
»Im Großen und Ganzen war das vermutlich nicht meine schlaueste Entscheidung.«
Dem Eingeständnis seiner eigenen Fehlbarkeit hatte ich nichts entgegenzusetzen, obwohl mir die darunterliegende Sentimentalität überhaupt nicht behagte. »Du kannst das jetzt nicht mehr rückgängig machen. Schließlich kriege ich langsam Übung darin.«
»Himmelherrgott, Merit.«
»Was denn? Bist du verletzt?« Ich konnte kein Blut sehen, also blickte ich mich um, bevor ich wieder zu Ethan sah. »Ist er zurück?«
»Nein«, antwortete er, während sich seine Augen in der Finsternis in flüssiges Silber verwandelten. »Du bist angeschossen worden.«
»Nein, bin ich nicht.« Ich blickte auf meinen Arm hinab, über den karmesinrote Fäden liefen, um sich in meiner offenen Handinnenfläche zu sammeln. Der Adrenalinstoß ließ nach, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob flüssige Lava durch meinen Bizeps schösse.
»Verdammt noch mal«, sagte ich, während mein Gesichtsfeld zu beiden Seiten schwand. Die Welt begann sich um mich herum zu drehen, aber ich biss die Zähne zusammen. Ich war eine gottverdammte Vampirin, und ich würde auf keinen Fall ohnmächtig werden. Nicht, nachdem ich gerade einen Mörder gejagt und mir für meinen Meister eine Kugel eingefangen hatte.
»Sieht so aus, als ob ich mir für dich eine weitere Kugel eingefangen hätte«, sagte ich.
Ethan grunzte, riss ein Stück von seinem T-Shirt ab und zog ein Taschentuch aus seiner Tasche. Er faltete das Taschentuch und drückte es mir auf den Arm. Dann nahm er den Shirtfetzen, um das Taschentuch mit einem provisorischen Verband zu fixieren.
»Aua«, sagte ich, als er es ein wenig fester band als nötig. Obwohl ein schneller Heilungsprozess zu unseren biologischen Vorzügen gehörte, spürten wir trotzdem Schmerzen, und diese Wunde schmerzte höllisch.
»Das hast du absichtlich gemacht«, sagte ich, als er den Stoffstreifen feststeckte.
»Das hast du absichtlich gemacht. Es ist deine Schuld, dass du angeschossen wurdest.«
»Genau genommen ist dieser Vampir dafür verantwortlich. Und ich lasse mich lieber anschießen, als mir von Luc wochenlang Vorwürfe anhören zu müssen, dass du wegen mir angeschossen wurdest.«
Ethan knurrte nur. Er war so süß, wenn er in seinen Ultra-Beschützer-Meistermodus verfiel, mit diesen blonden Haaren und grünen Augen und einem leicht blutrünstigen Gesichtsausdruck.
Ich runzelte die Stirn. »Ich glaube, der Blutverlust lässt mich ein wenig verrückt daherreden.«
»Nun, so habe ich mir den Abend eigentlich auch nicht vorgestellt.« Nachdem er den Verband angebracht hatte, setzte er sich auf seine Fersen und schob mir die Haare aus dem Gesicht. »Könntest du vielleicht versuchen, nicht mehr angeschossen zu werden? Ich glaube, das ist jetzt schon das dritte Mal.«
»Das vierte«, korrigierte ich ihn und zuckte zusammen, als Schmerzen meinen Arm durchschossen. »Und ich verspreche dir zu versuchen, nicht wieder angeschossen zu werden. Das tut nämlich richtig weh.«
Er beugte sich vor und küsste mich sanft. »Immer mit der Ruhe, meine mutige Hüterin.«
Mutig … und leicht durchlöchert.
Ethan besorgte Wasser und Aspirin aus einem Laden an der Ecke und verabreichte mir beides wie ein erfahrener Krankenpfleger.
Wir warteten, bis mir nicht mehr so schwindlig war, dann kehrten wir zu Mallory und Catcher zurück. Die beiden standen neben einem rostenden Hochbahnstützpfeiler und starrten auf die Leiche hinab. Auf dem Bürgersteig hatten sich bereits zahlreiche Menschen versammelt, um einen Blick auf den toten Mann zu erhaschen.
Als Catcher meinen verbundenen Arm entdeckte, sah er mich besorgt an. »Was in aller Welt ist denn mit dir passiert?«
»Vampir, Trans Am, Knarre.«
»Er hat dich angeschossen?«, fragte Mallory entsetzt.
»Das war der Teil mit der Knarre. Mir geht’s aber gut. Krankenpfleger Sullivan hatte alles im Griff.« Krankenpfleger Darth Sullivan, dachte ich und fragte mich, ob er den Stoff so eng gebunden hatte, dass mir irgendwann der Arm abfiele. Aber da ich mich gerade nicht in der Lage fühlte, erstklassige patzige Bemerkungen zu machen, behielt ich die kleine Spitze für mich.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich sie.
Sie zeigte mir ihren aufgeschürften Ellbogen. »Mir tut auch der Hintern weh, sonst ist aber alles okay. Ich kriege nicht jeden Tag den Ellbogen eines Mörders ins Gesicht.«
»Er ist abgehauen?«, fragte Catcher.
»Das war der Teil mit dem Trans Am«, sagte Ethan. »Ich kann den Wagen beschreiben, aber er hatte kein Kennzeichen. Das wird uns also nicht weiterbringen. Außerdem haben wir sein Gesicht nicht wirklich erkennen können. Männlicher Weißer, vermutlich eins achtzig groß, schlank. Dichtes Haar, dichter Bartwuchs.«
Mallory musste meinen besorgten Blick bemerkt haben. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung mit dir ist?«, fragte sie.
»Mir geht’s gut«, beruhigte ich sie. Zumindest würde es mir besser gehen, wenn der Heilungsprozess abgeschlossen war. Der Schmerz hatte sich bereits verändert – von einem scharfen Stechen zu einem dumpfen Pochen.
Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf den Mann, der vor uns auf dem Boden lag.
Formwandler konnten ihre Verletzungen, die sie als Mensch erlitten hatten, sofort heilen, wenn sie in ihre jeweilige Tierform wechselten – falls sie die Möglichkeit dazu hatten. Offensichtlich hatte das Opfer es nicht mehr geschafft.
»Er hat hier noch nicht lange gelegen, bevor ihr weg seid«, sagte Catcher. »Er war noch warm.«
»Ich habe eine Form von Magie gespürt«, sagte Mallory, während sie auf ihn hinabblickte. »Ich weiß nicht, was es war, aber da war etwas.«
Es gab keinen äußerlichen Hinweis auf Magie – nur den Formwandler und den Vampir. Ethan sah sie fragend an. »Hast du jemals etwas Ähnliches gespürt?«
Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Nein. Niemals. Und ich muss zugeben, dass mich das ziemlich nervös macht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Mädel sein will, das plötzlich den Tod spüren kann.« Sie legte eine Hand auf die Brust und formte mit den Lippen das »O« des Entsetzens. »Oh mein Gott, was, wenn ich der neue Sensenmann bin?«
»Du bist nicht der neue Sensenmann«, sagte ich. »Ich will jetzt wirklich nicht morbide klingen, aber es wohnen eine Menge Leute auf diesem Planeten, und ich bin mir ziemlich sicher, dass genau in diesem Augenblick jemand stirbt. Kannst du sonst jemanden spüren?«
Mallory blinzelte. »Nun, jetzt, wo du es erwähnst, nein. Was eine große Erleichterung ist.«
»Du hast es gespürt, weil du in der Nähe dieses Formwandlers warst«, sagte Ethan, »wegen seiner Magie.« Er sah zu Catcher. »Hast du etwas gespürt?«
Catcher schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Aber sie ist für diese Dinge wesentlich empfänglicher als ich. Wogegen ich nichts einzuwenden habe. Wir haben übrigens Chuck angerufen«, fügte er hinzu.
Mein Großvater Chuck Merit war der übernatürliche Ombudsmann der Stadt Chicago – ein Mensch, der als Bindeglied zwischen der Polizei und den übernatürlichen Spezies in unserer Stadt fungierte. Catcher war einer seiner Angestellten, genauso wie Jeff Christopher, ein technisch hochbegabter Formwandler und Hacker (normalerweise White-Hat).
»Wir haben außerdem Gabriel angerufen«, sagte Catcher. »Das erschien uns unter diesen Umständen am besten.«
Ethan nickte. Gabriel Keene war der Anführer des Zentral-Nordamerika-Rudels. Der tote Formwandler war in seinem Gebiet, daher gehörte er höchstwahrscheinlich zu seinen Leuten.
Als könne er meine Gedanken lesen, legte Catcher einen schützenden Arm um Mallory und zog sie näher zu sich heran. Aber von Gabriel hatte sie nichts zu befürchten. Er hatte ihr ein Zuhause gegeben und sie unterrichtet, nachdem sie sich durch ihre Abhängigkeit von schwarzer Magie beinahe selbst vernichtet hatte.
Die Hexenmeister und Formwandler hatten sich ebenfalls zu Verbündeten entwickelt. Und nun drohte ein einzelner Vampir unser aller Bündnis mit dem Rudel auf eine harte Probe zu stellen.
Ich möchte mich ein wenig in dem Gang unter der Hochbahn umsehen, sagte ich zu Ethan. Warum bleibst du nicht hier bei ihnen? Ich sah zu der schnell wachsenden, gaffenden Menge hinüber. Je weniger Leute zwischen den möglichen Beweisen herumlaufen, desto besser.
Gut mitgedacht, sagte Ethan und nickte mir kurz zu. Er zog eine schwarze Lampe im Taschenformat hervor und reichte sie mir. Es handelte sich zwar nicht um eine Cubs-Taschenlampe, aber sie würde reichen.
»Ich werde mich mal umsehen«, sagte ich zu Mallory und Catcher. Auf ihr Nicken hin schaltete ich die Taschenlampe ein und tauchte in den dunklen Gang ein.
Ich ging langsam vorwärts und ließ den kleinen, aber hellen Strahl hin- und hergleiten, um auch nichts zu übersehen. Der Boden war asphaltiert, außer einem kleinen Stück hinter einer Reihe Stadthäuser. Ihre Hintertüren führten jeweils auf einen schmalen Grasstreifen hinaus, der für einen Barbecue-Grill reichte oder für Haustiere, die ihr Geschäft verrichten wollten.
Der rissige, fleckige Beton war übersät mit den üblichen Verdächtigen – weggeworfenes Papier, Kaugummis, leere Plastikflaschen. Weiter hinten in dem Gang parkten Autos in sehr engen Lücken, in die sich nur ein Genie quetschen konnte. An einem waldgrünen, im Boden verankerten Metallgestell waren Fahrräder angeschlossen, und der appetitliche Duft von Bier und gebratenem Essen überlagerte den aufdringlichen Gestank des Todes.
Die Hochbahnständer waren in quadratischen Betonsockeln verankert. Der Lichtstrahl huschte über einen der Sockel und brachte etwas zum Vorschein, was ich auf den ersten Blick für einen Graffiti-Tag hielt. Aber er schien mehr Buchstaben zu enthalten, als ein gesprühter Tag normalerweise aufwies.
Ich blieb stehen und schwenkte den Lichtstrahl zurück.
Der gesamte Sockel, etwa achtzig Zentimeter breit und genauso hoch, war mit schwarzen Zeichen überzogen. Zeile um Zeile. Bei den meisten handelte es sich um Symbole – Kreise, Dreiecke und Quadrate, die mit Linien und anderen Zeichen, wie Halbkreisen, Pfeilen und Quadraten, durchzogen waren. Andere wirkten wie kleine Hieroglyphen – ein Drache hier, ein winziges Skelett dort, und alle waren überraschend sorgfältig gezeichnet worden.
Sie verströmten eine schwache, blechern wirkende Magie, was die Sorgfalt erklärte – oder umgekehrt. Ich kannte diese Art von Magie nicht – sie wirkte schärfer, metallischer als alles, was mir jemals begegnet war, und bildete einen deutlichen Widerspruch zum erdverbundenen Duft der Formwandler.
Magische Symbole, sechs Meter von einem ermordeten Formwandler entfernt. Das konnte kein Zufall sein.
Ich kniete mich hin und ließ den Strahl über den Sockel gleiten. Ich wusste, worum es sich handelte. Das waren alchemistische Symbole, die von Leuten verwendet wurden, die tatsächlich glaubten, Blei in Gold verwandeln oder den Stein der Weisen herstellen zu können, mit dem sie ihre Unsterblichkeit erlangten. In meiner Dissertation hatte ich mich mit höfischer Literatur beschäftigt. Ich hatte mich zwar nicht direkt mit magischen Texten befasst, aber sie waren das eine oder andere Mal in einem Manuskript erwähnt worden oder in den vergoldeten Marginalien eines sorgfältig abgeschriebenen Texts aufgetaucht.
Aber auch wenn ich wusste, worum es sich bei den Symbolen handelte, so war ich nicht in der Lage, sie zu entziffern. Das mussten Leute in die Hand nehmen, die sich sehr gut mit magischen Sprachen auskannten. Catcher oder Mallory oder vielleicht Paige. Sie war eine Hexenmeisterin, die früher das Amt der Archivarin des Ordens bekleidet hatte und jetzt die Freundin des Bibliothekars von Haus Cadogan war.
Als ich mir den restlichen Sockel ansah, huschte der Lichtstrahl über etwas auf dem Boden – Blut. Hier war Blut vergossen worden, und zwar reichlich davon. Aber warum? Wegen des Vampirs? Wegen der Zeichen?
Ich habe etwas gefunden, teilte ich Ethan mit und wartete, bis er und Mallory neben mir standen. Catcher war bei dem Formwandler zurückgeblieben.
Ich hielt das Licht auf den Sockel gerichtet, damit sie sich die Zeichen genau ansehen konnten, dann schwenkte ich den Lichtkegel auf das Blut am Boden.
»Der Angriff scheint zum Teil hier stattgefunden zu haben«, sagte Ethan. »Und die Symbole?«
»Sie wirken auf mich wie alchemistische Zeichen«, sagte ich.
Mallorys Blick glitt über die Zeilen. »Sehe ich genauso. Es sind Symbole alchemistischer Elemente, die zu einer Gleichung zusammengefügt wurden. Deswegen sind sie in Zeilen angeordnet.«
»Moment mal«, sagte Ethan. »Du meinst Alchemie wie in ›Verwandle Blei in Gold‹?«
»Das ist die bekannteste Transmutation«, sagte Mallory, die Hände in die Seiten gestemmt, während sie sich neben ihm vorbeugte und die Magie aufmerksam betrachtete. »Aber es gibt eine Menge Leute, die mit dieser Art von Magie alles Mögliche ausprobieren. Sie versuchen zu heilen, mit der Geisterwelt zu kommunizieren, die Elemente in Gleichklang zu bringen oder aus irgendetwas seine wahre Essenz zu destillieren.«
Ethan runzelte die Stirn und richtete dann seinen Blick wieder auf den Sockel. »Und welchen Zweck hat das hier?«
»Ich musste Alchemie für meine Prüfungen lernen. Aber ich habe sie nie genutzt.« Sie fügte das sehr schnell hinzu, als ob sie uns daran erinnern wollte, dass sie nicht alle magischen Schlüssel eingesetzt hatte, um ihre schwarze Magie zu wirken. Allerdings hatte sie mehr als genug davon verwendet. »Ich habe mir außerdem Fullmetal Alchemist angeschaut. Erstklassige Serie. Wirklich erstklassig.«
»Es gibt Fernsehsendungen über Alchemie?«, fragte Ethan.
»Das ist ein Anime.«
Ethans Gesichtsausdruck blieb derselbe.
»Ist auch nicht so wichtig«, sagte sie und winkte ab. »Wir können uns später ins Koma glotzen. Fürs Erste« – sie deutete auf ein Symbol, einen Kreis mit einem Punkt in der Mitte – »ist das die Sonne. Und das ist Taurus«, fügte sie hinzu und zeigte auf einen kleinen Kreis, über dem ein Halbkreis in Form zweier Hörner gezeichnet war. »Merits Sternzeichen übrigens. Hat aber wahrscheinlich nichts mit dir zu tun«, sagte sie und sah mich an. »Das ist nur Teil einer Gleichung, die mit den Sternenkonstellationen zu tun hat. Das gehört zu den Dingen, mit denen die Alchemie funktioniert, zumindest theoretisch.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn wir wissen wollen, warum sich die Symbole hier befinden, müssen wir alle übersetzen und herausfinden, was sie zusammen und im richtigen Kontext betrachtet bedeuten.«
Wir kehrten zu Catcher zurück, und Mallory erklärte ihm, was wir entdeckt hatten.
»In welchem Zusammenhang steht Alchemie zu den Schlüsseln?«, fragte ich sie. Die Schlüssel waren die Grundbausteine der Magie, zumindest laut Catchers Philosophie.
»Es ist bloß ein anderer Weg, um sich der Energie, der Macht zu bedienen.« Er zuckte mit den Achseln. »Man könnte auch sagen, dass es eine andere Sprache als meine ist, aber es ist und bleibt eine Sprache.«
Mallory sah ihn an und nickte. »Die ihre Regeln hat, wie jede andere Sprache auch.«
»Tja, aber wer hat sie hier hingemalt?«, fragte Ethan. »Und warum befindet sie sich in der Nähe des Ortes, an dem ein Formwandler von einem Vampir getötet wurde?«
Mallory blickte zu Catcher. »Ich kenne niemanden, der Alchemie praktiziert, nicht einmal über HoG.« – »Hexenmeister ohne Grenzen« war eine Organisation, die Mallory gegründet hatte, um jungen Hexenmeistern im Mittleren Westen zu helfen. Sie bekamen jene Hilfe, die sie selbst nicht erhalten hatte, als ihr damals klar geworden war, dass sie Magie besaß – die sie aber definitiv hätte gebrauchen können.
»Es müsste doch wohl ein Hexenmeister gewesen sein, oder?«, fragte ich. Alle starrten auf den Beton. Wir suchten ohnehin schon nach einem Hexenmeister. Das hier war jedoch nicht die Art von Magie, mit der sich Adrien Reed eingelassen hatte. Zumindest wussten wir nichts darüber, und wir hatten nichts, um ihn hiermit in Verbindung zu bringen. Was bedeutete, dass wir einen weiteren Hexenmeister als möglichen Feind hatten, der darüber hinaus für den Tod eines Formwandlers verantwortlich war.
»Ja«, sagte Mallory. »Die können nur von einem Hexenmeister gezeichnet worden sein.«
»Ist das schwarze Magie?«
Sie wollte etwas sagen, entschloss sich aber dagegen und setzte erneut an. »Ich wollte dir eigentlich die übliche, abgeleierte Antwort geben. Ein schnelles Nein, damit sich alle besser fühlen.« Sie sah wieder in Richtung Sockel und dachte nach. »Ja. Da ist auf jeden Fall Dunkelheit mit dabei. Nicht wirklich überraschend in Anbetracht des Bluts, des Mordes. Selbst wenn die Magie nicht dafür verantwortlich war, gibt es eindeutig eine Art Verbindung. Aber mich wird sie nicht beeinflussen«, fügte sie hinzu. »Schwarze Magie hat nur Auswirkungen auf den Erschaffer und den Empfänger. Ich habe sie nicht erschaffen, und im Augenblick sehe ich keinen Grund dafür zu glauben, dass sie uns in irgendeiner Weise betrifft. Also braucht ihr euch um mich keine Sorgen zu machen.«
»Wir machen uns keine Sorgen«, erwiderte Ethan. Sein entschlossener Tonfall sorgte dafür, dass sie sich ein wenig entspannte.
»Okay«, sagte sie. »Okay.«
Das erste Okay galt uns, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie das zweite zu sich selbst gesagt hatte.
»Also haben wir hier einen Hexenmeister, einen Formwandler und einen Vampir«, fasste Catcher zusammen. »Und der Formwandler ist tot.«
»VFH«, sagte Mallory – die Abkürzung für das »Spiel«, das sie vorhin erfunden hatte. »Und schon in der ersten Runde gibt es einen Verlierer.«
Nur wenige Minuten später traf mein Großvater in seinem offiziellen weißen Transporter ein, den er auf der Straße parkte. Er trug ein kurzärmeliges Karohemd, eine lange Hose und Schuhe mit dicken Sohlen. Er nutzte immer noch den Gehstock, den er brauchte, seitdem er bei einem Hausbrand, den Anti-Vampir-Demonstranten gelegt hatten, unter eingestürzten Balken eingeklemmt gewesen war. Doch er bewegte sich schon wieder ziemlich schnell.
Jeff Christopher stieg auf der Beifahrerseite aus und wartete, während mein Großvater den Beamten Anweisungen gab, die in zwei Polizeifahrzeugen direkt hinter ihnen eingetroffen waren. Als mein Großvater damit fertig war, kam er zu uns herüber, die Polizisten hingegen wandten sich der Menge zu und errichteten eine Sperre, um sie besser kontrollieren zu können.
»Merit, Ethan«, sagte mein Großvater, bevor er Mallory und Catcher zunickte. Er wirkte sehr ernst, zugleich aber auch mitfühlend, was nicht ungewöhnlich war für einen Mann, der sich in der Mehrzahl der Fälle mit negativen übernatürlichen Vorkommnissen auseinandersetzen musste.
»Es tut mir leid, dass wir so lange gebraucht haben«, sagte mein Großvater. »Es gab einen Unfall auf dem Lake Shore Drive. Wir sind nur im Schneckentempo vorangekommen.«
Für Chicago nicht gerade unüblich.
»Es tut mir leid, dass ihr überhaupt den ganzen Weg herfahren musstet«, sagte ich. Das Büro meines Großvaters lag in der South Side; nach dem Brand hatte er es aus dem Keller seines Hauses dorthin verlagert.
Mein Großvater sah sich um. »Habt ihr Gabriel erreicht?«
»Er sollte jeden Augenblick hier sein«, sagte Catcher und nickte kurz.
Und das war er auch. Das rhythmische Donnern schwerer Motorräder ertönte, als sich die Formwandler dem Gang unter der Hochbahn näherten. Heute waren es sieben an der Zahl, die in einer Reihe aus Chrom und schwarzem Leder am Wagen meines Großvaters vorbeifuhren.
Ihre Ankunft machte mich nervös – nicht weil ich Angst vor Formwandlern hatte, sondern weil ich zutiefst bedauerte, was hier geschehen war, und wusste, dass einige von ihnen die Vampire für alles verantwortlich machten, uns eingeschlossen. Es war gar nicht so lange her, dass wir in Colorado erneut Gewalt zwischen Formwandlern und Vampiren erlebt hatten.
Ethan nickte und legte die Hand auf meinen Rücken, als Erinnerung daran, dass er für mich da war. Er konnte die Umstände nicht ändern – den Tod, den Mord, die bitter wirkende Magie –, aber er konnte mich daran erinnern, dass ich mich all dem nicht allein stellen musste.
Gabriel fuhr an der Spitze, eine eindrucksvolle Gestalt auf einem wuchtigen Motorrad mit breitem Lenker. Jeder einzelne Zentimeter Chrom war spiegelblank poliert. Er kam nur drei Meter von uns entfernt zum Stehen, nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch seine schulterlangen, zerzausten goldbraunen Haare. Seine Augen hatten denselben lohfarbenen Ton, seine breiten Schultern steckten in einem eng anliegenden T-Shirt mit V-Ausschnitt, das er zu Jeans und einschüchternd wirkenden schwarzen Lederstiefeln trug. Er hängte seinen Helm an den glänzenden Lenker, schwang einen muskulösen Oberschenkel über das Motorrad und kam auf uns zu, gefolgt von seiner einzigen Schwester, Fallon.
Sie war Jeffs Freundin, eine zierliche Frau mit überraschenden Kräften, sanften Augen und langem, welligem Haar, das dieselben vielfältigen Schattierungen aufwies wie das ihres Bruders. Sie war auf dem Motorrad direkt hinter ihm gekommen. Sie trug einen Rock, dazu Strumpfhosen und Stiefel, außerdem ein graues Tanktop und darüber ein kurzärmliges Ledertop, das eine Menge Reißverschlüsse und Falten besaß.
Die anderen Formwandler waren Kerle mit breiten Schultern, reichlich Leder und durchgehend mürrischen Gesichtern.
Gabriel nickte meinem Großvater zu, dann Jeff, dann sah er Ethan an.
»Sullivan«, sagte er, bevor er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete. »Kätzchen. Einer von uns?«
»Wir wissen nicht, ob er zum Rudel gehört«, sagte Ethan. »Aber er ist auf jeden Fall ein Formwandler, weshalb wir dir die Möglichkeit geben wollten herauszufinden, ob er einer von euch ist.«
Wir brachten ihn zur Leiche, und Gabriel kniete sich neben den Formwandler, was seine Lederstiefel laut knarzen ließ. Die Ellbogen auf den Oberschenkeln, die Hände verschränkt, musterte er sorgfältig die Leiche, bevor er seinen Blick auf die Verletzungen am Hals heftete.
Es herrschte tiefes Schweigen, das ich als bedrohlich empfand.
»Er hieß Caleb Franklin«, sagte Gabriel schließlich. »Er war Mitglied des Rudels – ein Soldat. Ein Formwandler, der dabei half, im Territorium für Ordnung zu sorgen. Er ist gelegentlich mit Damien laufen gegangen.«
Damien Garza war ein groß gewachsener, finsterer und gut aussehender Formwandler mit einer ruhigen Art, einem trockenen Humor und einem Händchen für ein verdammt gutes Omelett.
Gabriel stand auf. »Aber Caleb gehört nicht mehr zum Rudel. Er ist abtrünnig geworden.«
Ethan hob die Augenbrauen. »Er hat das Rudel willentlich verlassen?«
»Das hat er.«
»Wieso?«, fragte Ethan.
»Er wollte mehr Freiheit.«
Da es im Rudel nur um Freiheit ging – auf offener Straße unterwegs sein, mit der Natur im Einklang leben, gutes Essen und gute Drinks genießen –, bedeutete das wohl, dass er uns nicht alles erzählte. Ethans Gesichtsausdruck verriet, dass er ihm die Geschichte auch nicht abnahm. Aber dies war wohl kaum die passende Gelegenheit, um den Anführer eines Rudels zu verhören.
»Was ist mit dem Vampir?«, fragte Gabriel.
»Wir haben ihn verfolgt, aber er ist entkommen.«
Gabriel nickte und bemerkte den Verband an meinem Arm. »Und er hat dich dabei erwischt.«
»Hat mit einer Waffe durch das Fenster eines ramponierten Trans Am auf mich geschossen. Erinnert dich der Wagen vielleicht an irgendetwas?«
Er schüttelte den Kopf und sah dann Fallon an, die ebenfalls den Kopf schüttelte.
»Er hat das hier in einer ziemlich öffentlichen Umgebung getan«, sagte mein Großvater, »aber er wollte auf jeden Fall schnell wieder weg.«
»Wir haben noch etwas entdeckt«, sagte ich und deutete in den Gang.
Wir gingen alle zu dem Sockel hinüber – ein Mensch, zwei Vampire, drei Formwandler und zwei Hexenmeister, die im Angesicht des Todes machtlos waren.
Fallon, Gabriel und mein Großvater betrachteten den Sockel.
»Alchemistisch«, sagte mein Großvater.
»Womit die Merits derselben Meinung wären«, sagte Catcher. »So weit waren wir auch schon. Wir verstehen einzelne Symbole, aber wir wissen nicht, was sie im Gesamtzusammenhang bedeuten.« Er sah Gabriel an. »Sagen sie dir etwas?«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Ich kann die Magie spüren, erkenne sie aber nicht.«
»Seltsam, oder?« Alle sahen mich an. »Ich meine, sie fühlt sich unheimlich an. Irgendwie schneidend.«
»Metallisch«, sagte Mallory und nickte. »Das ist die Grundlage der Alchemie.«
»Da gibt es noch eine Sache«, sagte Catcher. »Mallory hat etwas gespürt. Eine Art von Magie.«
Alle Blicke richteten sich auf sie.
»So habe ich ihn entdeckt«, erklärte sie Gabriel. »Ich habe das irgendwie gespürt. Ich kann es nicht anders beschreiben, nur als einen magischen Impuls. Und dann haben wir nach ihm gesucht und ihn hier gefunden.«
Gabriel neigte den Kopf zur Seite. »Du hast noch nie etwas Vergleichbares gespürt?«
»Nein«, antwortete sie. »Und Gott weiß, dass ich reichlich Erfahrungen mit dunkler Magie gemacht habe.«
Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie. Sie fühlte sich feuchtkalt an. Sie packte meine umso fester und ließ sie nicht mehr los.
Jeff und Catcher machten mehrere Fotos von den Symbolen. Mallory und ich hielten uns noch immer an den Händen, als wir zu der Leiche zurückgingen. Drei weitere Formwandler waren abgestiegen und hatten sich schützend um ihn gestellt.
»Wir möchten ihn noch heute Abend nach Hause bringen«, sagte Gabriel.
»Du weißt, dass das nicht möglich ist.« Mein Großvater sagte dies in höflichem, aber bestimmtem Ton. »Wir werden ihn seiner Familie übergeben, sobald die Obduktion abgeschlossen ist.«
»Wir sind seine Familie«, erwiderte Gabriel barsch. »Oder besser gesagt: die Leute, die ihm am nächsten standen. Das Rudel interessiert sich einen Scheißdreck dafür, was Cook County über die Todesursache zu sagen hat. Vor allem, weil sie wohl jedem klar sein dürfte, der über mehr als eine Gehirnzelle verfügt.«
»Gabriel«, sagte Ethan, der Name zugleich eine Warnung.
»Leg dich nicht mit mir an, Sullivan.« Magie stieg auf, gefährlich, scharf. »Er hat vielleicht nicht meinem Rudel angehört, als er noch am Leben war, aber jetzt gehört er mir.«
Er und Ethan mochten Freunde und Kollegen sein, aber sie waren auch Anführer ihrer Leute, die sie zu beschützen hatten, und wer immer sie herausforderte, durfte nicht auf Verständnis hoffen.
»Und du rede nicht so daher, Keene. Ich weiß, dass deine Leute eine Tragödie erleben, aber wir sind nicht dein Feind. Und du stehst auch nicht über den Gesetzen der Stadt, in der du lebst.«
Gabriel knurrte, seine Augen loderten vor Zorn, Gewaltbereitschaft, Kampfeswillen. »Ein Vampir hat einen meiner Leute getötet.«
Ethan, der seinen aufgestauten Ärger offensichtlich ebenfalls gerne ablassen wollte, trat auf ihn zu. »Keiner meiner Vampire.«
Ich überlegte kurz, mich zwischen sie zu schieben und von ihnen zu verlangen, dass sie sich endlich beruhigten. Aber ich wollte nicht schon wieder diesen Trumpf spielen und damit Ethans Zorn heraufbeschwören. Außerdem war es nicht das erste Mal, dass sich die beiden fast an die Gurgel gingen. Vielleicht war es ja an der Zeit, dass sie sich gegenseitig die Scheiße aus dem Leib prügelten, um reinen Tisch zu machen.
Fallon jedenfalls kam zu dem Schluss, dass sie die Schnauze voll hatte. Sie quetschte sich zwischen die beiden, die sie um mindestens zehn Zentimeter überragten.
»Hört auf, euch wie Arschlöcher aufzuführen«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. »Wir haben hier schon für genügend Aufruhr gesorgt und müssen uns um genügend tragische Dinge kümmern. Ihr beide wollt euch prügeln? Gut. Aber tut das woanders, wo uns die Menschen nicht sehen können und wir unsere kostbare Zeit nicht darauf verschwenden müssen, euch dabei zuzusehen.«
Ich verkniff mir ein Grinsen und sah zu Jeff hinüber, dessen Augen vor Stolz und Bewunderung funkelten.
Gabriels Haltung veränderte sich kein bisschen. Seine Schultern waren hochgezogen, die Brust herausgestreckt, die Hände zu Fäusten geballt – sein angespannter Körper zeugte von seiner aufgestauten Wut. Er warf seiner Schwester einen Blick zu, der mich äußerst nervös gemacht hätte, hätte er mir gegolten.
Doch Fallon Keene verdrehte nur die Augen. »Der Blick funktioniert bei mir nicht mehr, seit ich sieben war.« Sie deutete mit dem Zeigefinger, dessen Nagel in mattem Marineblau lackiert war, nacheinander auf Gabriel und Ethan. »Reißt. Euch. Zusammen.«
Fallon drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zu den anderen Formwandlern zurück, um ihnen etwas zuzuflüstern. Sie schienen sich zu entspannen, blickten aber dennoch argwöhnisch zu ihrem Alpha und jenem, den er wütend anfunkelte.
»Gottverdammter Mord«, sagte Gabriel und fuhr sich erneut durch die Haare. »Eine Verschwendung von Leben und Energie.«
»Von mir wirst du keinen Widerspruch hören«, sagte Ethan. »Und vielleicht hat sie recht damit, dass wir nicht noch mehr Zeit verschwenden sollten.«
Gabriel gab ein Geräusch von sich, das halb Grunzen, halb Knurren war. »Wenn ich den Vampir zuerst finde, gehört er mir.«
Ethan schwieg einen Augenblick, in dem er vermutlich seine Möglichkeiten durchging, die vielversprechendsten Strategien. Er war niemand, der sich durch einen Mord einen Vorteil verschaffte, aber er traf nur selten eine Entscheidung, ohne sie gut durchdacht zu haben.
»Einverstanden«, sagte er schließlich. »Aber bevor du dich um ihn kümmerst, ganz gleich, welche Methode du für angemessen hältst, wollen wir von euch die Gelegenheit bekommen, ihn zu befragen.«
»Weil?«
»Weil er einen Formwandler getötet und versucht hat, Merit zu töten. Das reicht mir als Grund vollkommen aus.«
Gabriel dachte kurz nach. »Wird der Rest von deinen Leuten sein Schicksal auch so unbekümmert hinnehmen? Die anderen Meister?«
Ethans Miene wurde ernst. Er mochte Scott Grey, den Meister von Haus Grey, und er tolerierte Morgan Greer, den Meister von Haus Navarre. »Sollte diese Gewalttat von einem ihrer Vampire verübt worden sein, gehe ich davon aus, dass sie die Bestrafung übernehmen wollen. Dieses Problem müsstest du dann mit ihnen besprechen. Aber im Moment gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass es jemand aus den Häusern Navarre oder Grey gewesen ist. Ich bin schon seit langer Zeit in Chicago, und ich habe an ihm nichts Vertrautes bemerkt.«
Gabriel sah meinen Großvater an. »Wir werden um ihn trauern müssen.«
Mein Großvater nickte. »Wir können euch Platz machen, wenn ihr es hier tun wollt. Ich muss euch allerdings bitten, ihn wenn möglich nicht zu berühren.«
Gabriel schien die Antwort nicht zu gefallen, aber er widersprach ihm auch nicht. »Macht uns Platz«, sagte er, und als ob seine Leute auf einen unausgesprochenen Befehl reagierten, versammelten sie sich um Caleb.
Ethan legte seine Hand auf meinen Rücken, und wir gingen in Richtung Straße.
»Schirmt sie ab«, sagte mein Großvater. Die Polizisten mochten diese Anordnung seltsam finden, aber sie befolgten sie. Sie stellten sich Schulter an Schultern mit dem Gesicht zur Menge, um dem Rudel ein Mindestmaß an Privatsphäre zu gewähren. Wir stellten uns neben sie, sodass sich die Reihe den gesamten Gang entlang erstreckte.