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Seit Merit in eine Vampirin verwandelt wurde, haben sie und der Vampir Ethan Sullivan Erstaunliches geleistet: Sie haben Haus Cadogan zum stärksten Vampirklan Nordamerikas gemacht und Bündnisse mit allen möglichen übernatürlichen Geschöpfen geschlossen. Als einige befreundete Gestaltwandler Opfer eines magischen Angriffs werden, muss Merit rasch handeln, um herauszufinden, wer dahintersteckt.
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Seitenzahl: 531
Titel
Zu diesem Buch
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Die Autorin
Die Romane von Chloe Neill bei LYX
Impressum
Chloe Neill
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Marcel Bülles
Zu diesem Buch
Die Angst der Bürger von Chicago vor den Übernatürlichen nimmt immer weiter zu – und damit auch die Gewalt. Um die Menschen zu beruhigen, wollen die Bürgermeisterin und der Staatsanwalt ein Exempel statuieren. Da kommt es ihnen gerade recht, dass der Vampirmeister des mächtigsten Clans Nordamerikas eines Verbrechens beschuldigt wird. Ethan Sullivan tötete Monmonth, den wichtigsten Unsterblichen Europas – allerdings in Notwehr. Bis seine Unschuld bewiesen ist, muss er gemeinsam mit der Hüterin Merit bei einem Rudel Formwandler untertauchen. Doch auch hier sind die beiden keineswegs willkommen, denn das wichtigste Fest der Werwesen steht vor der Tür: Lupercalia. Notgedrungen nehmen Ethan und Merit daran teil und werden Zeugen eines mächtigen magischen Angriffs von Harpyien. Geschöpfe, von deren Existenz bisher niemand etwas ahnte. Merit und ihr Meister kommen zwar mit dem Schrecken davon, doch niemand weiß, wer hinter dieser Attacke steckt. Die Hüterin muss schnell herausfinden, wer es auf die Formwandler abgesehen hat, denn bis der Schuldige gefunden ist, ist kein übernatürliches Wesen mehr sicher …
Mitte Februar
Chicago, Illinois
In den letzten zehn Monaten war ich nicht nur zur Vampirin gewandelt geworden, sondern war auch Haus Cadogan beigetreten und zu seiner Hüterin ernannt worden. Ich hatte gelernt, mit einem Schwert zu kämpfen, mich mit einem schlichten Bluff vor einem Monster in Sicherheit zu bringen, Tiefschläge hinzunehmen und wieder auf die Beine zu kommen.
Doch vor allem hatte ich erfahren, was es hieß, loyal zu sein. Und wenn ich von der Magie ausging, die in diesem Augenblick durch den Flur im Erdgeschoss des Hauses waberte, war ich nicht die Einzige, die diese besondere Gesinnung an den Tag legte.
Dutzende Vampire Cadogans saßen im Flur vor dem Büro ihres Meisters, Ethan Sullivan, und warteten auf seine Reaktion, auf seine Worte, auf seinen Plan. Wir saßen hier, wie für Cadogan üblich schwarz und elegant gekleidet und mit unseren Katanas bewaffnet, weil Ethan – unser Lehnsherr und mein Geliebter – die Flucht ergreifen wollte.
»Vom Regen in die Traufe«, sagte die hübsche blonde Vampirin neben mir. Lindsey gehörte als hervorragende Kämpferin zu den Wachen Cadogans. Heute Abend sah sie jedoch eher wie eine Fashonista als eine über hundert Jahre alte Vampirin und Kriegerin aus. Ihre Kostümjacke hatte sie in der Operationszentrale gelassen und die schwarze, mit Satin-Streifen versehene Marlene-Hose mit einem weißen Hemd und zehn Zentimeter hohen Stilettos kombiniert.
»Glauben die wirklich, dass wir ihnen einfach erlauben, ihn mitzunehmen?«, fragte sie. »Dass sie unseren Meister einfach vor seiner eigenen Haustür verhaften dürfen?«
Vor einer Stunde hatte ein Detective der Chicagoer Polizei bei uns vorbeigeschaut – erfreulicherweise einer unserer Freunde – und uns darüber informiert, dass der Staatsanwalt einen Haftbefehl gegen Ethan hatte ausstellen lassen.
Ethan hatte Harold Monmonth, einen mächtigen europäischen Vampir, getötet, nachdem dieser zwei menschliche Wachen umgebracht und dann unser Haus angegriffen hatte. Ethan hatte ganz klar in Notwehr gehandelt, aber in letzter Zeit hatte die Windy City zu viel Gewalt erlebt. Die Bürger der Stadt hatten Angst, und die Bürgermeisterin Diane Kowalcyzk suchte nach einem Sündenbock. Offensichtlich hatte sie den Staatsanwalt auf ihre Seite ziehen können.
Das war der Grund, warum Ethan sich mit Luc, dem Hauptmann der Wachen Cadogans, und Malik, seinem Stellvertreter, in seinem Büro verschanzt hatte und Pläne schmiedete.
Detective Jacobs hatte Ethan vorgeschlagen, Zuflucht bei den Breckenridges zu suchen, einer Formwandlerfamilie, die in Loring Park wohnte, einem Vorort von Chicago – was ihn dem Zuständigkeitsbereich der Bürgermeisterin entziehen würde. Die Breckenridges waren sehr wohlhabend, verfügten über erstklassige Kontakte und ein hohes politisches Ansehen. Sie hielten viel Macht in ihren Händen, und wir hofften, dass sie ausreichte, um die Bürgermeisterin davon abzuhalten, Ethan zum Opferlamm zu machen.
Der Patriarch, Breckenridge Senior, war ein Freund meines Vaters, des Immobilienmoguls Joshua Merit. Ich war mit den jungen Breckenridges zur Schule gegangen und mit einem von ihnen sogar zusammen gewesen. Doch die Familie mochte Vampire nicht, was die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen teilweise erklärte.
Der andere Grund dafür war Ethan. Er war fast vierhundert Jahre alt und entsprechend dickköpfig. Sich klammheimlich zu verabschieden war nicht sein Stil, aber für Luc und Malik zählte nur seine Sicherheit. Es war ein langer, harter Winter für das Haus gewesen – einschließlich Ethans verfrühtem Tod und seiner Wiederauferstehung –, und niemand hatte irgendein Interesse an weiteren Problemen. Vor allem aber trauten wir Kowalcyzk nicht über den Weg. Wir würden Ethan einem Rechtssystem überantworten, das uns allem Anschein nach nur mit Vorurteilen begegnete.
Seit einer Stunde tagten sie nun schon hinter dieser Tür. Sie hatten lautstark diskutiert, wobei sich der Standpunkt seiner Krieger, der Ethan offensichtlich überhaupt nicht gefiel, als angespannt knisternde Magie bis in den Flur bemerkbar gemacht hatte – was mich zum eigentlichen Stein des Anstoßes brachte. Ich war die Hüterin Cadogans, doch sie hatten mir den Zutritt zum Büro verwehrt. Sie hatten mir noch die Worte »glaubhafte Abstreitbarkeit« an den Kopf geworfen und mir dann die Tür vor der Nase zugeschlagen.
»Die Bürgermeisterin wusste, dass es Schwierigkeiten geben würde«, meinte ich. »Die Polizei hat schon gesagt, dass Ethan in Notwehr gehandelt hat. Und wir haben ihnen McKetrick auf dem Silbertablett serviert. Was uns angeht, hat die Stadt nicht den geringsten Grund, sich zu beklagen.«
Die Warnung des Detective hatte uns nur Stunden nach der Verhaftung McKetricks erreicht, dem früheren städtischen Ansprechpartner für übernatürliche Belange. Er war für die Unruhen verantwortlich, die in den letzten Tagen Verwüstung und Zerstörung angerichtet hatten, und wir hatten den Beweis dafür geliefert. Man sollte eigentlich meinen, dass wir nun bei der Bürgermeisterin einen Stein im Brett hätten. Weit gefehlt.
»Sie werden uns nicht ewig in Ruhe lassen«, sagte ich. »Jacobs hätte uns nicht gewarnt, wenn er die Lage nicht als wirklich ernst einschätzen würde. Was bedeutet, dass uns nicht viele Möglichkeiten bleiben. Ethan flieht oder wir müssen zu den Waffen greifen.«
»Was immer sie auch vorhaben, das Haus wird darauf vorbereitet sein«, antwortete Lindsey. »Wir müssen Ethan bloß von hier wegbringen.« Sie warf einen kurzen Blick auf ihre filigrane Golduhr. »Wir haben nicht mehr viel Zeit bis Sonnenaufgang. Das wird ganz schön eng.«
»Breckenridge Senior könnte immer noch Nein sagen«, ermahnte ich sie und schlang die Arme um meine Knie. Er und Ethan waren zwar unterschiedliche Übernatürliche, aber in ihrer Sturheit waren sie sich ebenbürtig.
Doch Lindsey schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn er clever ist. Einen Vampir aus fadenscheinigen Gründen verhaften zu lassen ist fast das Gleiche wie einen Formwandler aus fadenscheinigen Gründen verhaften zu lassen. Wenn Breckenridge Senior jetzt nicht Farbe bekennt, wird das Rudel bald viel größere Probleme bekommen. Aber wenn er Farbe bekennt?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Dann gewinnt er auf jeden Fall. Wir schulden ihm einen Gefallen, und er hat Kowalcyzk Paroli geboten. Was seinen Einfluss nur noch verstärkt, und dann ist es –«
Doch bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, wurde die Tür aufgerissen.
Luc und Malik traten heraus, gefolgt von Ethan. Sie waren alle groß, und ihr Auftreten ließ erkennen, dass sie das Sagen hatten, aber das war es dann auch schon mit den äußerlichen Gemeinsamkeiten.
Luc hatte zerzaustes dunkelblondes Haar und zog gerne eng anliegende Jeans und abgetragene Stiefel an, im Gegensatz zu Ethan und Malik, die elegante Anzüge trugen. Da Ethans Wohlergehen zu Lucs Pflichten zählte, stand ihm die Sorge in sein markantes Gesicht geschrieben.
Malik hatte kakaobraune Haut, kurze Haare und hellgrüne Augen. Nachdenklich betrachtete er die im Flur versammelten Vampire. Malik war zurückhaltend, sorgfältig und hatte sich den Respekt aller im Haus verdient. Genau wie Luc schien er von den aktuellen Umständen wenig begeistert zu sein.
Und dann war da noch Ethan.
Er hatte den Körperbau eines Leistungssportlers – groß gewachsen, schlank, durchtrainiert. Sein schwarzer Anzug war ihm auf den Leib geschneidert. Er hatte glatte, schulterlange blonde Haare, die ein Gesicht umrahmten, das von einem klassischen Bildhauer hätte geschaffen worden sein können: gerade Nase, ausdrucksstarke Wangenknochen, verführerischer Mund und grüne Augen, die wie makellose Smaragde blitzten. Ethan war das geborene Alphatier, beschützerisch und anmaßend, intelligent mit einem Talent für strategisches Denken – und so stur, dass er es mit mir aufnehmen konnte.
Wir hatten es am Anfang nicht leicht gehabt, aber am Ende hatten wir doch zueinandergefunden. Was vermutlich das größte Wunder von allen war.
Eine Sorgenfalte zeichnete sich auf seiner Stirn ab, aber ansonsten merkte man ihm nichts an. Er war der Meister unseres Hauses. Selbstzweifel konnte er sich nicht leisten.
Ein Dutzend Vampire sprang auf.
»Ich begebe mich sofort zum Anwesen der Breckenridges«, sagte Ethan mit fester Stimme. »Vampire Cadogans fliehen nicht. Wir verstecken uns nicht. Wir nutzen nicht das Dunkel der Nacht, um uns davonzustehlen. Wir stellen uns unseren Problemen. Doch dieses Haus hat in der letzten Zeit einiges durchmachen müssen. Ich bin um der Sicherheit des Hauses willen gebeten worden, mich rar zu machen. Dieser Bitte entspreche ich hiermit, aber nur vorübergehend.«
Ich atmete befreit durch, aber die schwere Last, die auf mir lag, wurde nur unmerklich geringer. Ihm gefiel diese Entscheidung überhaupt nicht, das war klar.
»In der Zwischenzeit werden wir versuchen, diese unsägliche Angelegenheit zu beenden. Die Anwälte des Hauses werden sich um den Haftbefehl kümmern. Malik hat einen Freund, der für die Gouverneurin arbeitet, und er wird ihn fragen, ob die Gouverneurin Bürgermeisterin Kowalcyzk nicht davon überzeugen kann, sich einsichtig zu verhalten.«
Das war mir neu, aber Malik war auch nicht der geschwätzige Typ. Was ich von ihm aber wusste, war, dass er einen solchen Gefallen niemals einfordern würde, außer es wäre absolut notwendig.
»Nimmst du Merit mit zu den Breckenridges?«, fragte Lindsey.
»Nur, falls es ihr übervoller Terminkalender erlaubt«, antwortete er.
Egal, wie schlimm es um Haus Cadogan stand – Zeit für Neckereien war immer.
»Das kriege ich schon hin«, versicherte ich ihm, »obwohl es mir gar nicht gefällt, meinen Großvater hierzulassen.«
Mein Großvater war Ansprechpartner für alle Übernatürlichen der Stadt gewesen – mit Betonung auf »gewesen« –, aber weder er noch seine Angestellten Catcher Bell und Jeff Christopher ließen es sich nehmen, der Polizei bei allen übernatürlichen Problemen zu helfen. Da er uns bei den Nachforschungen zu den Unruhen unterstützt hatte, war er in McKetricks Fadenkreuz geraten. Auf das Haus meines Großvaters war ein Brandanschlag verübt worden, dem er beinahe zum Opfer gefallen wäre. Nun erholte er sich langsam, lag aber immer noch im Krankenhaus. Er war mir mehr ein Vater, als es mein eigentlicher Vater je gewesen war. Und obwohl er genügend Leute um sich hatte, die für seinen Schutz sorgten, hatte ich ein schlechtes Gewissen, ihn in seiner jetzigen Lage allein zu lassen.
»Ich werde nach ihm sehen«, versprach mir Luc. »Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»In diesem Fall«, sagte Ethan, »sollten wir uns jetzt auf den Weg machen. Malik gehört nun das Haus. Und ihr wisst, dass er einen ziemlich guten Meister abgibt, wenn ich … unpässlich bin.«
Aus der Menge ertönte leises Gelächter. Dies war nicht das erste Mal, dass Malik die Führung des Hauses übernahm. Er hatte die Aufgabe bereits übertragen bekommen, als Ethan nicht mehr unter den Lebenden weilte.
»Ich werde ehrlich sein. Es ist gut möglich, dass dieser Plan nicht funktioniert. Wir setzen darauf, dass Diane Kowalcyzk politisch ehrgeizig ist und sich der Familie Breckenridge nicht in den Weg stellen wird. Allerdings könnte sich das als Fehleinschätzung erweisen. Wie auch immer, unsere Beziehung zu Chicago könnte sich erst einmal verschlechtern, bevor sie wieder besser wird. Aber was auch geschieht, wir werden Vampire Cadogans bleiben.«
Er hob eine Augenbraue, eine für ihn typische Angewohnheit, die er oft gewinnbringend einsetzte. »Übrigens sollten die Vampire Cadogans gerade bei der Arbeit sein und nicht an der Bürotür ihres Meister lauschen.«
Nach dieser angemessenen Zurechtweisung verabschiedeten sich die Vampire lächelnd von ihrem Lehnsherrn und zerstreuten sich. Margot, die geniale Chefköchin des Hauses, drückte mir kurz die Hand und ging dann den Flur entlang zur Küche.
Malik, Luc, Lindsey und ich betraten Ethans Büro. Er sah sich seine Leute an.
»Wir haben uns eine kurze Atempause verschafft«, sagte Ethan, »aber die Stadt wird sicherlich nicht so leicht aufgeben.«
»Das Haus ist bereit«, sagte Luc. »Aber Lakshmi hat sich trotzdem auf den Weg gemacht. Wir konnten sie nicht von einem Aufschub überzeugen.«
Womit wir ein weiteres Problem hatten. Cadogan war aus dem Greenwich Presidium ausgetreten, dem Dachverband der nordamerikanischen und westeuropäischen Vampirhäuser. Monmonth war ein Mitglied des Vorstands gewesen. Das Greenwich Presidium hielt nicht viel von Haus Cadogan und war anscheinend nicht bereit zu vergessen, dass wir nun für den Tod zweier Vorstandsmitglieder verantwortlich waren. Welche Meinung sie von uns hatten, war uns zwar mittlerweile herzlich egal, trotzdem war das GP ein mächtiger und gefährlicher Feind.
Lakshmi, eines der übrig gebliebenen Vorstandsmitglieder, war also auf dem Weg nach Chicago, um das Urteil des GP zu überbringen. Es war sicherlich hilfreich, dass sie zu den etwas vernünftigeren Mitgliedern des GP zählte, aber es war seltsam, dass sie zu uns kam und nicht Darius West, der Vorsitzende, der es offensichtlich vorzog, in London zu bleiben. Seitdem er von einem vampirischen Attentäter fast umgebracht worden war, schien er jegliches Selbstbewusstsein verloren zu haben und politisch bedeutungslos geworden zu sein.
Zufälligerweise hegte Lakshmi auch durchaus Sympathien für die Rote Garde, eine Geheimgesellschaft, die ein Auge auf die Häuser und ihre Meister hatte. Ich war vor Kurzem Mitglied geworden und Jonah, dem Hauptmann der Wachen des Hauses Grey, als Partnerin zugeteilt worden. Lakshmi hatte uns Insiderinformationen über die üblen Tricks des Greenwich Presidium zugespielt, woraufhin ich ihr versprochen hatte, ihr irgendwann einen Gefallen zu tun. Und diesen Gefallen würde sie auf jeden Fall einfordern. Vampire hatten bei diesem Thema ihre ganz eigenen Ansichten.
»Sie kommt mir nicht ins Haus«, sagte Ethan. »Wir gehören dem Greenwich Presidium nicht mehr an, und sie hat auf unserem Grund und Boden nichts zu suchen. Sie mag durchaus einen berechtigten Anspruch auf eine Entschädigungszahlung haben, aber darum können wir uns kümmern, wenn wir uns um die Stadt gekümmert haben.«
»Ich habe mit Lakshmis Assistentin gesprochen«, sagte Luc, »und versucht, ihr einige Informationen aus dem Kreuz zu leiern. Aber sie wollte nichts rausrücken.«
»Wir werden uns darum kümmern, wenn wir uns darum kümmern müssen«, entgegnete Ethan. »Diese gesamte Geschichte ist ein einziges Minenfeld.«
Malik nickte. »Fragt sich nur, wer als Erster auf eine tritt.«
Ethans Blick wurde ausdruckslos. »Egal, was passiert, Haus Cadogan wird es nicht sein.«
Wir wohnten in Chicago, was bedeutete, dass Parkplätze dünn gesät waren, und wer einen besaß, wurde darum beneidet. Die begehrten Parkplätze des Hauses lagen im Untergeschoss, wohin wir uns nun auf den Weg machten. Ethan gab den Zahlencode an der Sicherheitstür ein und betrat die Tiefgarage, doch als sich die schwere Tür wieder hinter uns geschlossen hatte, ließ er seinen Seesack fallen und packte meine Hand.
»Komm her«, sagte er mit lüsterner Stimme. Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern zog mich fordernd zu sich heran und überraschte mich mit einem leidenschaftlichen Kuss.
Ich war völlig außer Atem, als er mich schließlich wieder losließ.
»Was war denn das?«, brachte ich nach Luft schnappend hervor.
Ethan strich mir eine Locke hinters Ohr. »Ich brauchte das einfach, Hüterin.«
»Alles deins«, erwiderte ich lächelnd. »Aber im Augenblick brauchen wir vor allem Tempo.«
»Nicht gerade deine Stärke«, sagte er verschmitzt, streichelte mir dann aber über die Wange und sah mir tief in die Augen, als ob er die Geheimnisse der Welt in ihnen zu entdecken versuchte. »Was ist los?«
»Ich bin ein bisschen nervös, weil wir wegfahren«, gab ich zu.
»Du machst dir Sorgen um deinen Großvater.«
Ich nickte. »Er hat noch geschlafen, als ich bei ihm angerufen habe. Er wird es verstehen – das hat er immer. Ich wünschte nur, dass ich ihn nicht um sein Verständnis bitten müsste.«
Ethan küsste mich auf die Stirn. »Du bist eine gute Enkelin, Caroline Evelyn Merit.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Aber ich gebe mein Bestes.« Manchmal konnte ein Mädchen nicht viel mehr tun.
Ich deutete auf das silbern glänzende Geschoss, das auf dem Besucherparkplatz des Hauses stand: der alte Mercedes-Roadster, den Ethan dem Rudelanführer abgekauft und mir geschenkt hatte. Er war wunderschön und grundüberholt, und ich hatte ihn Moneypenny getauft. Außerdem war er noch auf Gabriels Namen registriert, was für uns Flüchtende sicher die bessere Reisealternative war, als Ethans Wagen zu nehmen. Da Ethan mir Jahrzehnte an Fahrpraxis voraushatte – und wir es eilig hatten –, hielt ich ihm die Schlüssel hin.
»Wollen wir dann?«
Ethan sah mich freudestrahlend an. Er hatte seit Jahren erfolglos versucht, Moneypenny zu kaufen, und vermutlich war sein Wunsch, endlich hinter diesem Lenkrad zu sitzen, noch ein paar Jahre älter.
»Wenn wir schon fliehen«, entgegnete er und nahm mir die Schlüssel aus der Hand, was zu einem kleinen elektrischen Schlag zwischen unseren Fingern führte, »dann wenigstens stilvoll.«
Manchmal konnte ein Vampir nicht viel mehr tun.
Wer das palastartige Anwesen der Breckenridges in Loring Park besuchte, erkannte schnell, dass die Familie Geld hatte. Chicago war eine Metropole, die auf einer Seite an den Michigansee und auf der anderen an landwirtschaftliche Flächen grenzte. Loring Park befand sich etwas außerhalb, ein Vorort für die Wohlsituierten mitten im Grünen, der nur eine kurze Zugfahrt von Downtown entfernt lag.
Loring Park selbst war eine kleine und saubere Stadt mit einem zentral gelegenen Marktplatz und hübschen Einkaufszentren. Erst vor Kurzem waren in der Stadt gusseiserne Straßenlaternen aufgestellt und die Stadtbegrünung vorangetrieben worden. Auf einem der Parkplätze war trotz der kalten Jahreszeit ein Jahrmarkt aufgebaut; die Stadtbewohner, die zweifellos genug vom Winter hatten, vertrieben sich ihre Zeit zwischen Buden und einer Handvoll Fahrgeschäfte. Es würde noch Monate dauern, bis die ersten grünen Triebe durch das niedergetrampelte braune Gras wachsen würden, aber immerhin war der Schnee fast vollständig verschwunden. Dieses Jahr war der Winter hier im Nordosten von Illinois irgendwie seltsam – an manchen Tagen herrschte klirrende Kälte, an anderen hingegen mildes Frühlingswetter.
Das Anwesen der Breckenridges befand sich einige Meilen vom Stadtzentrum entfernt auf einem lang gestreckten Hügel. Das Haus war nach dem Vorbild Biltmores entstanden, eines ehemaligen Herrenhauses im Renaissancestil und Familiensitzes der Vanderbilts, und verfügte daher über zahllose Fenster, Türmchen und Gebäudeflügel. Es war umgeben von sanften Hügeln, deren Rasen perfekt getrimmt war. Hinter dem Haus fiel die Grünfläche sanft gegen einen Wald hin ab.
Wer Verstecken spielen wollte, hatte hier ziemlich gute Möglichkeiten.
Wir fuhren bis vor die Eingangstür, über der sich ein Steinbogen erhob, und stiegen aus dem Wagen. Der Kies knirschte unter unseren Füßen. Es war eine dunkle, mondlose Nacht, und in der Luft vermengte sich Magie mit den Rauchschwaden mehrerer Holzfeuer.
»Ist das dein Ernst?« Ein groß gewachsener dunkelhaariger Mann platzte aus der Tür, verärgerte, kratzbürstige Magie folgte ihm wie eine haushohe Meereswoge. Der breitschultrige Kerl kam mit ausgestrecktem Arm auf uns zu und deutete vorwurfsvoll mit dem Finger auf uns. »Willst du wirklich diese verdammten Blutsauger bei uns beherbergen? In unserem Zuhause?«
Der vorwurfsvolle Blick und auf uns gerichtete Finger gehörten zu Michael Breckenridge Junior, dem ältesten Sohn der Breckenridges. Er war zwar schon über dreißig, aber früher hatte er Football gespielt und schien seitdem weder die Muskulatur noch das Testosteron abgebaut zu haben. Er war der designierte Erbe von Breckenridge Industries und dem gesamten Vermögen der Familie. Und er war offensichtlich ein ziemlicher Hitzkopf. Breckenridge Senior musste ihn wohl besonders im Auge behalten.
Michael Breckenridge Junior, teilte ich Ethan mittels unserer telepathischen Verbindung mit.
Bezaubernd, lautete seine Antwort. Selbst telepathisch konnte er sarkastisch sein.
»Sei höflich zu unseren Gästen«, rief ihm jemand hinterher.
Ein weiterer Mann trat aus der Tür, ebenso groß gewachsen, aber schlanker. Seine dunklen Haare hingen ihm in die Stirn, seine stahlgrauen Augen funkelten. Vor uns stand der zweitälteste Sohn der Familie, Finley Breckenridge. Es gab noch zwei weitere Brüder – Nick, ein Journalist und derjenige, mit dem ich mal eine Zeit lang zusammen gewesen war, und den jüngsten, Jamie.
Wie es schien, waren wir mitten in einen Familienstreit geplatzt, und zwar bezüglich der Entscheidung von Breckenridge Senior, uns in ihr Haus einzuladen.
»Geh wieder rein, Finn«, sagte Michael. »Das geht dich nichts an.«
Finley ging trotzdem weiter. Seine Hände hatte er zwar lässig in den Hosentaschen vergraben, sein Blick jedoch war berechnend, sein gesamter Körper angespannt und offensichtlich auf alles vorbereitet.
»Es geht die Familie etwas an«, erwiderte Finley. »Und es geht Papa etwas an, der ja schon deutlich gemacht hat, wie er darüber denkt.«
Michael stampfte auf uns zu. Da es meine Pflicht war, bewegte ich mich sofort schützend vor Ethan. Michael blieb stehen und starrte mich wütend an. »Geh mir aus dem Weg.«
In seiner Stimme lag Hass, und die Magie, die sein Körper verströmte, brachte ebenfalls seine Verachtung für uns zum Ausdruck. Seine Drohung ließ mein Herz zwar schneller schlagen, aber ich bewahrte die Ruhe. Immerhin waren wir hier die Gäste. Ob wir nun willkommen waren oder nicht.
»Es tut mir leid, aber das kann ich nicht«, entgegnete ich und zwang mich zu einem Lächeln. »Schön, dich zu sehen, Michael.«
Sein Kiefer zuckte, aber er wich einen Schritt zurück. »Na gut«, sagte er und hob die Hände wie ein Verbrecher, den die Polizei in die Enge getrieben hatte. »Aber wenn sie Scheiße bauen, werde ich mir dein Geheule ganz bestimmt nicht anhören.«
Er ging an mir vorbei und stampfte davon. Nur ein Hauch seines teuren Parfüms blieb zurück.
Ethan blickte mit erhobener Augenbraue zu Finley.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Finley und kam mit ausgestreckter Hand auf uns zu, offensichtlich willens, den Friedensstifter zu spielen. Er und Ethan gaben sich die Hand und musterten einander.
»Finley Breckenridge.«
»Ethan Sullivan.«
»Der Vampir, der Merit erschaffen hat«, sagte Finley. Diese Feststellung war eine Herausforderung, die von der Neugier in seiner Stimme und einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, nur schlecht verschleiert wurde.
»Ich habe die Wandlung eingeleitet«, bestätigte Ethan. »Ich habe sie vor ihrem Angreifer gerettet und zu einer Unsterblichen gemacht. Meines Wissens hat sie kein Problem damit.« Er sprach mit sanfter Stimme und wirkte gänzlich unbeeindruckt. Wenn ihn Finleys Worte verärgerten, so ließ er es sich ihm gegenüber jedenfalls nicht anmerken.
Finn sah kurz zu mir herüber. »Schön, dich zu sehen, Merit. Auch wenn die Umstände alles andere als ideal sind.«
Ich nickte ihm kurz zu, das Äußerste, was ich ihm bei seinem Auftreten zugestand. »Wie es scheint, ist Michael von unserer Anwesenheit hier wenig begeistert.«
»Michael und der alte Herr sind bei vielen Dingen unterschiedlicher Meinung«, erwiderte Finn und blickte in die Richtung, in die Michael verschwunden war. »Einschließlich der Anwesenheit von Vampiren im eigenen Haus.«
Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin kam in diesem Augenblick Personal in Livree schweigend aus dem Haus, griff sich unser Gepäck und fuhr Moneypenny vom Eingang fort.
Wie in›Das Haus am Eaton Place‹, sagte Ethan.
Mein Vater wäre neidisch, pflichtete ich ihm bei. Obwohl mein Großvater ein einfacher Polizist gewesen war, dachte mein Vater nur an Geld. Daher war es wohl kaum verwunderlich, dass er sich blendend mit dem Patriarchen der Familie Breckenridge verstand.
»Wo werden wir untergebracht?«, fragte ich.
»In der Remise. Ihr habt vielleicht die Erlaubnis vom alten Herrn erhalten, bei uns unterzukommen, aber die Grenze ist und bleibt unser Haus.« Finn deutete auf einen Kiesweg, der um das Haus herum zu einer Reihe von Nebengebäuden führte.
Ethan schien von unserer Degradierung wenig begeistert, denn sie vermittelte den Eindruck übernatürlicher Kleinlichkeit. Doch wir waren nun einmal hier, weil wir keine andere Wahl hatten. Und so hielt ich es für das Beste, diesem geschenkten Gaul – Formwandler? – nicht ins Maul zu schauen.
Bei der Remise handelte es sich um ein kleines Ziegelsteingebäude. Was früher einmal Tore gewesen waren, durch die die Kutschen herein- und herausgefahren wurden, waren jetzt Fenster, an deren Seiten große, grüne Fensterläden hingen. Das Gebäude befand sich direkt hinter dem Haupthaus, womit es von der Straße und der Auffahrt aus nicht zu sehen war. Für Ethan mochte sich die Remise wie eine Beleidigung anfühlen, aber als Flüchtling konnte man sich keinen sichereren und ruhigeren Ort für die nächsten paar Tage wünschen.
Finn schob einen Schlüssel in das Schloss und öffnete die Tür. »Bitte, kommt herein.«
Die Einladung war nicht zwingend notwendig – dahingehend war der vampirische Mythos wirklich ein Mythos –, doch wir wären auch nicht einfach in ein fremdes Haus eingedrungen.
Die Remise war zu einem kleinen Apartment umgestaltet worden, mit Parkettfußboden, einer farbenfrohen Einrichtung und mächtigen Deckenbalken aus Eiche. Es gab eine kleine Sitzecke, eine kleine Küchenzeile und eine Tür, die vermutlich zu einem Schlafzimmer führte. Bei der Ausstattung hatten die Breckenridges weder Mühe noch Kosten gescheut. Auf einem Couchtisch waren Bücher und Orchideen geschmackvoll arrangiert, hier und da stand irgendwelcher Nippes herum, an einer Wand hing ein Mix aus Zeichnungen und Gemälden in goldenen Rahmen.
»Papa nutzt das hier für Aufsichtsratsmitglieder«, sagte Finn, der hinter uns eingetreten war und mit in die Seite gestemmten Händen den Blick durch das Wohnzimmer schweifen ließ. »In der Küche findet ihr Blut und Lebensmittel, ihr solltet also versorgt sein.«
Er deutete auf ein Tastenfeld neben der Tür. »Das Haus ist an eine Alarmanlage angeschlossen, die mit dem Haupthaus verbunden ist. Wenn ihr in Schwierigkeiten geraten solltet, haben wir außerdem eine Gegensprechanlage.«
Ich sah mich um und entdeckte keine Hintertür. »Diese Tür ist der einzige Ausgang?«
Finn grinste. »Ja. Nick hat offensichtlich keinen Scherz gemacht, als er meinte, du wärst jetzt eine echte Vampirkriegerin.«
»Ja, und zwar die ganze Nacht lang«, entgegnete ich und deutete auf die Fenster. »Was ist damit?«
»Ah.« Finn drückte einen Knopf auf dem Tastenfeld. Schwere Rollläden aus Metall senkten sich vor die Fenster, bis sie sie vollständig bedeckten. Damit wären wir nicht nur vor dem Sonnenlicht, sondern auch vor Angreifern geschützt.
»Vielen Dank, Finley«, sagte Ethan. »Wir wissen die Fürsorglichkeit Ihrer Familie zu schätzen.«
»Es war Nicks Vorschlag.«
»In diesem Fall«, sagte Ethan kurz angebunden, »wissen wir seine Fürsorglichkeit zu schätzen. Und bei allem gebotenen Respekt, wir haben mehr als ausreichend bewiesen, dass Ihre Familie uns nicht feindlich gesinnt sein muss.«
Finns Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich bin nicht Merit feindlich gesinnt. Meine Abneigung gilt Ihnen. Ich kenne Sie nicht, abgesehen von der Tatsache, dass Sie sie in eine Welt hineingezerrt haben, die ihrem Vater große Sorgen bereitet und ihren Großvater ins Krankenhaus gebracht hat.«
Seine Einstellung war äußerst ärgerlich, da die Fakten schlichtweg falsch waren. Mein Großvater war schon Ombudsmann gewesen, bevor ich zur Vampirin gewandelt worden war, und ohne die Einmischung meines Vaters wäre ich erst gar nicht zum Vampir geworden. Nicht, dass Finley über die Details Bescheid wissen musste.
»Wir treffen alle unsere eigenen Entscheidungen«, sagte Ethan. Sein gezwungenes Lächeln wirkte bedrohlich.
»Das tun wir alle. Noch ein Hinweis –«
Ethan hob die Augenbrauen, als Finley einen Blick auf unsere Katanas warf.
»Sie sollten die Waffen am besten hierlassen. Sie vermitteln nicht gerade den Eindruck, dass Sie als ›Freunde‹ zu uns kommen.«
Er kam auf mich zu und sah mich besorgt an. Als er mir die Schlüssel hinhielt und ich sie entgegennahm, berührten sich flüchtig unsere Finger. Er mochte zwar höflich gewesen sein, aber er war so wütend wie Michael. Die Magie, die er verströmte, jagte mir kurze, elektrische Stöße durch die Finger.
»Sei vorsichtig«, sagte er.
Ich nickte, denn ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
Damit öffnete er die Tür und verschwand in die Nacht.
»Was für eine bezaubernde Familie«, sagte Ethan.
Ich lachte leise, ging zur Tür und schloss sie ab. Schließlich war ich für Ethans Sicherheit verantwortlich. Nicht, dass ein Türriegel einem entschlossenen Angriff hätte standhalten können. Ich ging zwar nicht davon aus, dass wir während des Tages von SWAT-Teams angegriffen wurden, egal, ob menschlicher oder übernatürlicher Natur, aber solch ein Risiko mussten wir wohl dennoch im Hinterkopf behalten.
»War Michael schon immer so aggressiv?«
Ich sah zu Ethan hinüber, der seine Anzugsjacke ausgezogen und ordentlich über die Rückenlehne eines Stuhls gehängt hatte. »Ja, eigentlich schon immer. Als wir noch jünger waren und ich den Sommer hier verbracht habe, sind Nick und ich und manchmal auch Finn zum Spielen in den Wald gegangen. Michael hat nie gespielt. Na ja, er hat beim Football mitgemacht, aber für ihn war das kein Spiel. Das war Krieg. Er war schon immer eher der verbissene Typ. Und mit dem Alter scheint er nicht lockerer geworden zu sein.«
»Es ist für uns alle eine sehr schwierige Zeit«, sagte Ethan. »Aber einige Übernatürliche haben etwas länger gebraucht als andere, um das zu verstehen und zu akzeptieren. Ich glaube, es ist für sie einfacher, uns als Feinde zu betrachten, als an die Möglichkeit zu denken, dass es Millionen von Menschen da draußen gibt, die ihnen den Tod wünschen.«
Ich verzog das Gesicht. »Das ist ein bedrückender Gedanke. Vermutlich deswegen, weil er zweifellos wahr ist.« Ich war mir sicher, dass wir menschliche Verbündete hatten – die uns nicht verurteilten, die unsere Andersartigkeit als faszinierend empfanden, die sich in unserem Ruhm sonnen wollten. Aber in letzter Zeit hatten wir es hauptsächlich mit Menschen zu tun gehabt, die uns hassten.
Ethan sah sich in dem Apartment um und deutete auf die offene Tür. »Schlafzimmer?«
»Ehrlich gesagt habe ich nicht die leiseste Ahnung.« Als Kind hatte ich zwar viel Zeit auf dem Anwesen der Breckenridges verbracht, aber ich hatte mich nie in der Remise aufgehalten. Warum hätte ich mich darum kümmern sollen, wenn es doch ein ganzes Herrenhaus zu entdecken gab?
Ich folgte ihm durch die Tür und fand seine Vermutung bestätigt. Es war ein kleines Schlafzimmer mit hohen Ziegelsteinwänden. Mitten im Raum stand das Bett, dessen weiße Bettwäsche im Kontrast zu den darauf liegenden blauen und grünen Kissen stand. Über dem Kopfteil befand sich ein Baldachin aus zartem Tüll, der zu beiden Seiten romantisch herunterhing.
»Das merkwürdigste Bed and Breakfast der Welt«, murmelte ich und warf meine Tasche auf das Bett. Auf dem Nachttisch befanden sich ein altmodischer Wecker und eine Ausgabe der Cosmopolitan. Ich hoffte nur, dass irgendein Gast sie zurückgelassen hatte und nicht jemand von der Familie Breckenridge, der dachte, Ethan und ich würden damit einen besonders aufregenden Abend haben.
Auf der anderen Seite des Zimmers befand sich ein kleines Badezimmer: Standwaschbecken, Bodenfliesen im Schachbrettmuster, eine Dusche groß genug für drei. Sehr hübsch, genau wie die Gästehandtücher mit Monogramm.
Als ich wieder ins Schlafzimmer blickte, stand da Ethan mit seinem Handy in der Hand und betrachtete mit verengten Augen das Display. Die andere Hand hatte er in die Seite gestemmt. Er wirkte eher wie der Geschäftsführer eines großen Unternehmens als ein Meistervampir auf der Flucht, aber ich hatte keinen Grund zur Klage. Ethan war witzig, mutig, großzügig und clever … und er war eine Augenweide.
Groß gewachsen, schlank, herrisch – einst war er mein Feind gewesen, und er war genau das Gegenteil von dem Mann, an den ich geglaubt hatte, mein Herz zu verlieren. Ich war davon ausgegangen, einem Träumer, einem Denker, einem Künstler zu verfallen. Jemandem, den ich am Wochenende in einem Café treffen würde, mit einer Umhängetasche voller Bücher, einer Hipster-Brille und dem Hang dazu, Fitzgerald zu zitieren.
Ethan bevorzugte italienische Anzüge, erstklassigen Wein und teure Autos. Er wusste außerdem mit einem Schwert umzugehen – oder auch mit zwei. Er war der Meister unseres Hauses, und er hatte eigenhändig anderen Vampiren den Tod gebracht. Er war viel komplizierter und schwieriger als irgendjemand, den ich mir je hätte vorstellen können.
Und ich liebte ihn mehr, als ich mir je hätte vorstellen können. Es war nicht einfach nur Verliebtheit. Oder pure Lust. Sondern wahre Liebe – kompliziert, Furcht einflößend und völlig frustrierend.
Vor einem knappen Jahr erst dachte ich, mein Leben wäre zu Ende. In Wirklichkeit hatte es gerade erst begonnen.
Ethan sah auf, und seine Enttäuschung verwandelte sich in Neugier.
»Hüterin?«, fragte er.
Ich schenkte ihm ein Lächeln. »Sei ruhig wieder herrschsüchtig. Ich hänge gerade meinen Gedanken nach.«
»Ich bin wohl kaum herrschsüchtig.«
»Herrschsucht ist dein zweiter Vorname.« Ich deutete auf sein Handy. »Gibt es etwas Neues aus Chicago?«
»Im Osten nichts Neues«, erwiderte er. »Hoffen wir, dass es so bleibt.«
Hoffen konnten wir, so viel wir wollten. Bedauerlicherweise schreckte das die Menschen, die einen Groll gegen Vampire hegten, nur selten ab.
Auch bei der Ausstattung des Schlafzimmers hatte Breckenridge Senior nicht geknausert. Das Bett war weich und eindeutig teuer. Die Bettwäsche war seidenweich – und vermutlich genauso teuer. Das Zimmer mochte zwar kalt sein, aber neben einem äußerst attraktiven blonden Vampir in solch einem Doppelbett zu liegen war wirklich keine schlechte Idee.
Wir legten unsere Jacken ab, packten unsere Sachen aus und bereiteten uns auf den kommenden Tag vor. Ich kontrollierte, ob die Fenster alle komplett verdeckt waren, und schickte dann Catcher eine Nachricht, um herauszufinden, wie es meinem Großvater ging.
SCHLÄFT, antwortete Catcher. ER WIRD BESTENS VERSORGT. DEIN VATER HAT KEINE KOSTEN GESCHEUT.
Das tat er nur selten. Wenn ich schon nicht bei meinem Großvater sein konnte, dann wusste ich wenigstens, dass er gut versorgt war.
Ich schickte auch Jonah, meinem Partner bei der Roten Garde, eine Nachricht, dass wir es unversehrt bis zu den Breckenridges geschafft hatten.
WENN DU DICH UM ALLES KÜMMERST, HABEN WIR BEI DER RG ÜBERHAUPT KEINEN SPASS MEHR.
HABE ICH MIR NICHT AUSGESUCHT, ermahnte ich ihn. CHAOS UND CADOGAN FANGEN BEIDE MIT C AN.
HABE ICH AUCH SCHON GEMERKT.
Ich rang ihm das Versprechen ab, mich sofort zu informieren, sollte es Schwierigkeiten geben.
DU GEHÖRST ZU DEN ERSTEN, DIE VON MIR HÖREN, antwortete er frech.
»Haus?«, fragte Ethan, als ich mich mit meinem Handy in der Hand auf den Bettrand setzte, die Beine gekreuzt.
»Jonah«, antwortete ich, während ich meine mindestens genauso freche Antwort zu Ende tippte.
Ethan knurrte leise, was ich als sehr männlichen Hinweis darauf verstand, dass er von meiner Partnerschaft mit dem groß gewachsenen, gut aussehenden, braunhaarigen Wachhauptmann des Hauses Grey immer noch nicht begeistert war.
»Er ist mein Partner«, erinnerte ich ihn daher. »Und dazu hast du bereits deinen Segen gegeben.«
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, Hüterin. Und ich bin mir genauso bewusst, was du mir bedeutest.«
Die Sonne schickte gerade ihre ersten Strahlen über den Horizont, als Ethans Hände meinen Körper liebkosten, mich auszogen und in Flammen aufgehen ließen. Er küsste mich gierig, fuhr dann mit seinen Lippen über meinen Hals, meine Brüste, meinen nackten Bauch, bevor er sich auf mich legte und meine Handgelenke über meinem Kopf festhielt.
»Du gehörst mir«, sagte er mit einem Funkeln in den Augen, das mich wohlig erschauern ließ.
»Ich bin nicht dein Besitz«, ermahnte ich ihn und bog wie zum Beweis meinen Körper nach oben.
»Nein«, stimmte er mir zu, während er mit weichen Lippen meine Brust umrundete. »Wir gehören einander. Ich bin dein Meister. Und du bist meine Hüterin.«
Er verschwendete keine Zeit, und es war auch nicht nötig. »Du bist mein«, sagte er und drang in mich ein, nahm sich meinen Körper, verlangte nach allem, was ich ihm bieten konnte.
»Mein«, knurrte er, während die Leidenschaft von mir Besitz ergriff, kalt wie Eis, brennend wie das Fegefeuer, und mein gesamtes Denken nur noch Ethan galt. Seinem Herzen, seiner Seele, seinem Körper und diesem Wort, das er immer und immer wieder sagte.
»Mein«, wiederholte er, und mit jedem Mal besiegelte er sein Versprechen, seinen Schwur, seine Gier. »Mein«, brachte er durch zusammengebissene Zähne hervor, als die Leidenschaft auch ihm ihr Opfer abverlangte. »Mein«, sagte er noch einmal und küsste mich so gierig, dass ich Blut zu schmecken bekam. Die Magie zwischen uns entwickelte sich zu einem Wirbelsturm, während er immer weiter in mich stieß und schließlich wie ein Tier stöhnte, als die Lust ihn überwältigte.
»Mein«, sagte er, nun ganz sanft, und zog mich an sich heran. Die Sonne ging auf, und in der Dunkelheit unserer geborgten Zuflucht schliefen wir ein.
Lauter Krach weckte uns – jemand hämmerte so laut an unsere Haustür, dass wir beide senkrecht im Bett saßen. Die Sonne war gerade erst untergegangen, aber noch nicht lange genug, als dass wir von selbst aufgewacht wären.
»Was in aller Welt?«, fragte Ethan verschlafen und mit einer Frisur, die eher an einen Surfer als an einen überheblichen Meistervampir erinnerte.
Das Hämmern setzte wieder ein. Irgendjemand hatte es da wohl sehr eilig.
Ethan wollte gerade aufstehen, als ich ihn zurückhielt. »Zieh dich an. Ich sehe nach, wer da draußen ist. Luc wird mir den Hintern versohlen, wenn ich deinen Arsch riskiere.« Ich hatte dieses ungute Gefühl, dass es sich um eine dieser Nächte handelte, in denen ich lieber weitergeschlafen und die Tatsache ignoriert hätte, dass ich als Erwachsene Pflichten hatte.
Ich zog mir Ethans Hemd von letzter Nacht an und knöpfte es zu. Das war sicherlich keine Rüstung, aber es standen auch sicher keine Feinde vor der Tür, zumindest nicht die Polizeiuniform tragende Sorte. Ich hatte mein Katana mit meinem Blut und meiner Magie eigenhändig temperiert. Seitdem war ich in der Lage, Stahl und Waffen in meiner Nähe zu spüren. Vor der Tür befand sich keines von beidem.
Nachdem ich mich also in maßgeschneiderte, teure Männerkleidung geworfen hatte – nur das Beste für unseren Meister –, schlurfte ich ins Wohnzimmer. Ethans Katana stand neben der Tür. Meins hatte ich neben das Bett gestellt, nur für den Fall. Ich nahm es in die Hand und warf einen vorsichtigen Blick durch den Türspion … und entdeckte einen Formwandler vor unserer Tür.
»Mach die Tür auf, Kätzchen. Ich weiß, dass du da bist.«
Ich öffnete die Tür. Die kalte Luft, die ins Haus wehte, sorgte für eine Gänsehaut auf meinen nackten Beinen. Vor mir stand ein ein Meter achtzig großes Muskelpaket, das vor wölfischer Energie nur so strotzte. Seine gewellten Haare waren goldbraun mit etwas helleren Spitzen und fielen ihm bis auf die Schultern. Seine Augen hatten die Farbe reinen Bernsteins, und in diesem Augenblick blickten sie mich verschmitzt an.
»Kätzchen«, sagte Gabriel Keene, Anführer des Zentral-Nordamerika-Rudels. Er musterte mich eingehend. »Ich hoffe, ich störe euch nicht gerade?«
»Schlafen«, brachte ich müde hervor und verschränkte zitternd die Arme vor der Brust. »Wir haben noch geschlafen.«
Ethan trat mit nacktem Oberkörper hinter mich und knöpfte seine Jeans zu. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du genau weißt, wobei du uns gestört hast.«
Gabriel grinste uns freudestrahlend an. »Macht nichts. Jetzt seid ihr ja wach. Zieht euch gefälligst an. Wir müssen uns um was kümmern.«
Ethan hob eine Augenbraue, seine bevorzugte Bewegung. »Um was denn? Was machst du eigentlich hier?«
»Ich bin wegen des Rudels hier, genau wie ihr.«
Ethan grunzte. »Wir sind hier, weil uns die Familie für dieses Privileg teuer bezahlen lässt.«
Ich warf Ethan einen Blick von der Seite zu. Er hatte bisher nicht erwähnt, dass wir die Breckenridges bezahlen mussten. Es wäre ziemlich nützlich gewesen, diese Information zu bekommen, bevor wir unser Schicksal in ihre Hände gelegt hatten, besser gesagt, bevor ich sein Schicksal in ihre Hände gelegt hatte.
»Er hat dich teuer bezahlen lassen«, erwiderte Gabriel, »aber nicht für dieses besondere Privileg. Das Geld war nur eine Eintrittsgebühr.«
»Und wofür?«, fragte Ethan.
»Für die großartigste Show der Welt«, sagte Gabriel mit einem Grinsen, das eindeutig wölfisch war. »Heute ist die erste Nacht des Lupercalia.«
»Was ist Lupercalia?«, fragte ich neugierig. Eigentlich hätte ich mich besser ins Haus zurückziehen und mir was anziehen sollen, aber ich fand den Namen – und die Tatsache, dass Gabriel auf einmal vor unserer Tür stand – absolut faszinierend.
»Die Jahresfeier des ZNA«, antwortete Gabriel, »die wir seit der Gründung Roms begehen. Sie findet jedes Jahr gegen Ende des Winters statt und dauert drei Nächte lang. Wir rufen damit den Frühling herbei, zelebrieren das Tier in uns und unsere Verbindung zu den Wäldern und zur Welt.«
Das erklärt Michaels schlechte Laune, meinte Ethan wortlos. Offensichtlich wollte er uns nicht dabeihaben.
Das mochte schon sein. Aber ich hätte darauf gewettet, dass Michael auch schon vorher wenig von Vampiren gehalten hatte, und nach diesem Festival würde sich das auch nicht ändern.
»Heute Abend«, sagte Gabriel, »seid ihr unsere Gäste. Zusammen mit einigen anderen.« Er wich zur Seite, und hinter ihm kamen zwei Hexenmeister und ein Formwandler zum Vorschein. Die Hexenmeister waren meine beste Freundin Mallory Carmichael und Catcher, ihr Freund. Mallory war durch einiges Fehlverhalten in Ungnade gefallen, aber Gabriel hatte sich ihrer angenommen, um sie zu rehabilitieren.
Mallory und Catcher hatten sich mit Jeans und Stiefeln gegen die Kälte gewappnet. Mallorys Stiefel waren beigefarben und kniehoch, die Jeans hauteng. Ihre blauen Haare mit den dunkleren Spitzen fielen ihr bis auf die Schultern hinab.
Catcher stand neben ihr und blickte wie immer mürrisch drein. Er hatte einen glatt rasierten Kopf, funkelnde tiefgrüne Augen und einen sinnlichen Mund. Außerdem hatte er eine Vorliebe für T-Shirts mit sarkastischen Sprüchen, aber ich konnte nicht erkennen, ob er eins unter seinem Mantel trug.
Jeff war das letzte Mitglied dieses Trios, ein Angestellter meines Großvaters und mein liebster White-Hat-Hacker. Zugegeben, ich kannte nur einen einzigen Hacker überhaupt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er es auch gewesen wäre, wenn ich noch mehr gekannt hätte. Heute hatte er seine typischen Klamotten – kakifarbene Hose mit Hemd – gegen Jeans, Stiefel und eine robuste Outdoorjacke eingetauscht. Seine hellbraunen Haare hatte er sich hinter die Ohren geschoben und wie immer ein leicht albern-verlegenes, aber sympathisches Lächeln aufgesetzt.
»Sullivan.« Catcher nickte Ethan zu und beantwortete dann seine unausgesprochene Frage. »Wir sind zum Lupercalia gekommen.«
»Ich nehme daran teil«, erklärte Jeff und lief hochrot an, während er pflichtbewusst damit beschäftigt war, nicht auf meine Beine zu starren.
Es war schön, sie zu sehen, aber wenn sie hier waren, hatte mein Großvater zwei Wachen weniger.
Sie mussten mir die Besorgnis vom Gesicht abgelesen haben. »Deine Eltern haben die Zahl der Besucher für deinen Großvater heute begrenzt«, erklärte Catcher. »Sie wollen, dass er sich ausruht. Also haben wir dort im Augenblick keine Aufgabe.«
Jeff hielt sein Handy hoch. »Allerdings haben wir es geschafft, einen Notfallknopf einzuschmuggeln, nur für den Fall. Er kann uns sofort erreichen, wenn es ein Problem gibt.«
»Gute Idee«, sagte ich lächelnd, denn ich war erleichtert darüber, dass sie daran gedacht hatten.
Natürlich stand ich noch immer halb nackt in der Tür zur Remise der Formwandler, mit Haaren, die zweifelsohne vom Schlafen und vom Sex ziemlich zerzaust aussahen. Abgesehen von dem Pflichtkurs in Mathematik, den ich während meines Studiums irgendwie versäumt hatte, war diese Situation hier mein schlimmster Albtraum.
»Und was machst du hier?«, fragte ich Mallory und strich Ethans Hemd glatt, damit keine entscheidenden Körperteile der Öffentlichkeit präsentiert wurden.
»Ich bin hier, um zu üben«, antwortete Mallory.
Ein Teil von Mallorys Rehabilitierung beschäftigte sich damit, wie sie Magie sinnvoll einsetzen konnte. Mehr Luke Skywalker, weniger Darth Vader. Bei unserem Kampf gegen McKetrick hatte sie einige Fortschritte gemacht, und es schien fast so, als ob ihr das Rudel eine weitere Möglichkeit bieten wollte, sich zu beweisen.
»Sie arbeitet daran, ihr Verständnis von Magie zu erweitern«, fügte Gabriel hinzu. »Was sie ist, was sie nicht ist, was sie sein kann.«
Mallory schenkte uns allen ein bezauberndes Lächeln und hielt zwei Flaschen Lebenssaft hoch, das abgepackte Blut, das die meisten Vampire aus praktischen Gründen zu sich nahmen, sowie eine Papiertüte von Dirigible Donuts, einem meiner Lieblingsläden. (Zugegeben, die Liste meiner Lieblingsläden war lang und zeugte von ausgezeichnetem Geschmack.) »Ich habe hier einen Trostpreis, damit du dich nicht so gedemütigt fühlst.« Sie musterte mich von oben bis unten. »Ich würde sagen, zwei bis drei Himbeer-Donuts sollten reichen.«
Ich zögerte einen Augenblick, während sich meine Wangen tiefrot verfärbten, meine Zehen in der Kälte langsam erfroren und meine Freunde überzeugt davon schienen, dass sie mich mit einer Tüte Donuts besänftigen konnten.
»Gib das verdammte Zeug endlich her«, sagte ich, bestätigte damit ihre Vorurteile und schnappte mir mein Frühstück. Aber bevor ich wieder ins Schlafzimmer ging, bedachte ich sie alle noch mit einem furchterregenden Blick.
»So, nachdem wir deine Leibwächterin offensichtlich zufriedengestellt haben«, hörte ich hinter mir Gabriel zu Ethan sagen, »kommen wir einfach herein und machen es uns gemütlich.«
Wie sich herausstellte, eigneten sich Donuts mit Himbeerfüllung hervorragend dazu, die Schmach zu lindern.
Ich hatte eine Blutflasche geleert und zwei der Donuts verspeist, bevor Ethan ins Zimmer kam. Er hielt ein rotes Stoffbündel in der Hand.
»Du hast mir nicht zufälligerweise einen übrig gelassen?«, fragte er.
»Das sollte man wohl meinen«, erwiderte ich. »Sie hat nämlich ein Dutzend davon gekauft.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»So wirst du keinen einzigen bekommen. Was ist das denn?«, fragte ich und deutete auf den Stoff in seinen Händen.
»Offensichtlich haben einige Mitglieder des Rudels beschlossen, dass sie was Schickes zum Anziehen brauchen«, antwortete Ethan und entfaltete zwei purpurrote T-Shirts, auf denen eine Art Bar-Werbung im Retrostil für Lupercalia zu sehen war. Der Name war in altmodischen Lettern aufgedruckt und erhob sich über zwei Wölfen, die sich mit mächtigen Bierkrügen an einem Kneipentisch zuprosteten.
»Sie haben wirklich T-Shirts gemacht«, sagte ich. »Gabriel hat dem zugestimmt? Es sieht so … publikumswirksam aus.« Es war zwar öffentlich bekannt, dass es Formwandler gab, aber die Rudel hielten sich in der Regel eher bedeckt.
»Ich nehme an, dabei handelt es sich um ein typisches ›Erst mal machen, dann entschuldigen‹-Szenario«, meinte Ethan. »Wir sollen sie anziehen. Ein Geschenk vom Rudel.«
»Ein bisschen wenig Stoff für Februar.«
»Ich bin mir sicher, dass sie dir einige schützende Schichten darunter erlauben werden, Hüterin.« Er streckte die Hand nach der Donut-Tüte aus, aber ich ließ mich nicht erweichen.
»Wann wolltest du mir denn sagen, dass wir die Breckenridges bezahlen mussten?«
Sein Blick wurde ausdruckslos. »Ich bin durchaus in der Lage, finanzielle Entscheidungen für das Haus zu treffen, Hüterin.«
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Aber ich mag es nicht, solche Informationen aus heiterem Himmel zu erfahren.«
»Es handelte sich um einen normalen Geschäftsvorgang.«
»Es handelt sich um Schutzgeld«, beharrte ich, und das kurze Aufblitzen in seinen Augen bewies mir, dass er das auch wusste.
»Ich habe nicht vor, diese Tatsache publik zu machen, Hüterin. Aber ich hätte es dir gesagt.«
Er musste den Zweifel in meinem Blick gesehen haben, denn er trat dicht an mich heran. »Ich hätte es dir gesagt«, wiederholte er. »Wenn wir einen Augenblick Ruhe gehabt hätten. Aber wie du dich vielleicht erinnerst« – er zupfte sanft am obersten Knopf des Hemdes, das ich noch immer trug –, »hast du mich gestern ziemlich abgelenkt.«
Ethan hatte sich noch nichts übergezogen. Mit seinem Waschbrettbauch stand er vor mir am Fußende des Bettes, ein dünner Streifen blonden Haars lugte oberhalb des obersten Knopfs aus der engen Jeans hervor. Als sich seine Lippen meinem Mund näherten, wurde mir mit einem Mal heiß, und ich schloss erwartungsvoll die Augen.
Doch er wich mir aus, schnappte sich die Donut-Tüte und nahm einen heraus.
»Ich habe dich abgelenkt?«, fragte ich daher nur und warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
»In der Liebe und beim Gebäck ist alles erlaubt«, sagte er und wischte sich einen Tropfen Himbeerfüllung vom Mund. Das plötzliche Verlangen, ihn selbst wegzulecken, hätte meine Augen fast silbern werden lassen.
Er faltete die Tüte oben zusammen, stellte sie auf einen der Nachttische und zog sein Lupercalia-T-Shirt an. Die Muskeln seines Waschbrettbauchs vollführten dabei einen attraktiven Tanz, und ich bemühte mich nicht im Geringsten, mein Interesse zu verbergen.
Als er sich angezogen hatte, sah er mich mit erhobener Augenbraue an.
»Oh, lass dich von mir nicht stören. Ich genieße die Show.«
Er lachte schnaubend, schnappte sich das zweite T-Shirt und warf es mir an den Kopf. »Zieh dich an, oder Catcher, Jeff, Mallory und Gabriel werden denken, dass wir etwas anderes tun, als uns anzuziehen. Mal wieder.« Er stützte die Hände zu beiden Seiten meines Körpers auf das Bett und lehnte sich über mich. »Und auch wenn ich definitiv einiges mit dir vorhabe, Hüterin, so hat dies doch nichts mit den anzüglichen Vorstellungen der Hexenmeister und Formwandler zu tun, die sich gerade im anderen Zimmer befinden.«
Er küsste mich sanft und verheißungsvoll, mit himbeersüßen Lippen.
Zehn Minuten später hatte ich mein Lupercalia-T-Shirt angezogen, darunter ein langärmeliges Shirt, um nicht zu erfrieren. Außerdem trug ich zwei paar Socken, Stiefel und Jeans und hatte meine langen dunklen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich zog meine Lederjacke an, die mir Ethan geschenkt hatte. Die Jacke davor war ein Opfer des Brandes geworden, bei dem mein Großvater verletzt worden war. Dann steckte ich mir einen kleinen und elegant geformten Dolch in meinen Stiefel. Das Rudel würde es kaum zu schätzen wissen, wenn ich mein Katana zu einer Formwandlerfeier mitbrachte. Also musste ich mich im Fall der Fälle auf meinen Dolch verlassen. Da ich zusammen mit einem flüchtigen Vampir, zwei verstoßenen Hexenmeistern und einer Formwandler-Familie, die Vampire hasste, zu dieser Feier ging, würde der »Fall der Fälle« wohl auch eintreten.
Ich war angezogen und einsatzbereit. Doch bevor ich meine gesamte Aufmerksamkeit dem Rudel zuwandte, hatte ich noch etwas zu erledigen. Ich hatte gestern nicht bei meinem Großvater angerufen, also wählte ich jetzt die Nummer des Krankenhauses und ließ mich durchstellen.
»Hier spricht Chuck«, meldete er sich.
Ich lächelte einfach nur, weil ich seine Stimme hörte. »Hey Grandpa.«
»Meine Kleine! Schön, dich zu hören. Wenn ich das richtig verstehe, seid ihr ein wenig in Schwierigkeiten.«
Ich fühlte mich unglaublich erleichtert. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich mit ihm hatte reden wollen – oder wie schuldig ich mich fühlte, dass ich genau das nicht hatte tun können.
»Nur ein Missverständnis. Ich bin mir sicher, dass Bürgermeisterin Kowalcyzk schließlich die richtige Entscheidung treffen wird.« Und wenn nicht, dann würde hoffentlich Malik die Gouverneurin davon überzeugen können einzuschreiten. »Wie geht es dir?«
»Nicht so gut. Ich bin kein junger Hüpfer mehr.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich fröhlich, musste dabei aber die Erinnerung daran verdrängen, wie mein Großvater unter Trümmern begraben vor mir lag. Ich stellte sicher, dass meine Stimme nicht zitterte, bevor ich weitersprach. »Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir sein kann.«
»Weißt du, ich habe immer gedacht, du würdest Lehrerin werden. Du liebst Bücher, du liebst das Lernen. Das war schon immer so. Und dann hat sich dein Leben mit einem Schlag verändert, und du wurdest Teil von etwas viel Wichtigerem. Das ist jetzt deine Aufgabe, Merit. Und es ist vollkommen in Ordnung, dass du sie ernst nimmst.«
»Ich liebe dich, Grandpa.«
»Ich liebe dich auch, meine Kleine.«
Im Hintergrund war eine andere Stimme zu hören. »Ich bekomme gleich das, was man hier so wohlwollend als ›Abendessen‹ bezeichnet«, erklärte er. »Ruf mich an, wenn ihr die Sache in Ordnung gebracht habt. Ich bin mir sicher, dass ihr es schaffen werdet.«
Als ich das Wohnzimmer betrat, plauderten unsere Besucher munter miteinander.
»Merit«, sagte Catcher, der neben Mallory auf der Couch saß und einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Ihre Beziehung hatte Risse bekommen, als sich Mallory zum Einsatz schwarzer Magie entschlossen hatte. Deshalb war es erfreulich zu sehen, dass sie sich jetzt wieder so gut verstanden. »Schön, dass du dich für uns angezogen hast.«
»Und da dies der Fall ist«, sagte Gabriel und stand auf, »sollten wir uns auf den Weg machen.«
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Catcher.
»In ein Land jenseits von Raum und Zeit«, antwortete Jeff und zeichnete einen Bogen in die Luft. »Wo die Gesetze der Sterblichen bedeutungslos sind.«
Gabriel sah zur Decke, als ob er dort Geduld zu finden hoffte. »Wir gehen in den Garten der Breckenridges. In die Wälder, mitten in Illinois, wo die meisten von uns ziemlich sterblich sind.«
»Und dann«, sagte Jeff begeistert, »werden die Wölfe um die Wette heulen.«
Gabriel schüttelte den Kopf, schlug Jeff aber gut gelaunt auf den Rücken. »Krieg dich wieder ein, Welpe. Wir haben ja noch nicht mal angefangen.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie sich in nächster Zeit nicht wieder einkriegen würden. Und da ich hier die Leibwächterin zu spielen hatte, beschloss ich, mich auch wie eine zu verhalten. Vor Bürgermeisterin Kowalcyzk und ihren Leuten würden wir auf dem Anwesen der Breckenridges so sicher wie möglich sein. Aber das bedeutete nicht, dass wir inmitten des Rudels sicher sein würden. Vor allem nicht, wenn das Rudel die Einstellung der Breckenridges teilte.
»Erstreckt sich der Schutz der Breckenridges auch auf die Wälder? Und die anderen Formwandler?«
Gabriel sah mich mit funkelnden Augen an und lächelte. »Wenn ihr hier seid, Kätzchen, dann seid ihr sicher. Das gilt für euch beide. Ehrlich gesagt interessieren sich die meisten Rudelmitglieder nicht im Geringsten für Politiker in Chicago. Und selbst wenn sie es täten, würden sie eine herrschsüchtige Politikerin ganz bestimmt nicht über die Freunde des Rudels stellen.«
»Und ich bin ja auch noch für dich da«, sagte Jeff mit einem Zwinkern, was ihm einen finsteren Blick von Ethan einbrachte.
Die Formwandler und Hexenmeister trabten hinaus in die Nacht, aber Ethan hielt mich am Arm fest. »Dolch?«, fragte er leise.
»In meinem Stiefel«, antwortete ich. Vampire bevorzugten es, Waffen offen zu tragen, aber das hier waren eben besondere Umstände. »Du teilst Gabriels Einschätzung nicht?«
»Gabriel weiß, was er geplant hat. Ich nicht. Natürlich haben wir Verbündete. Ihn, Jeff, Nick. Die Rudelmitglieder müssten schon verdammt dreist sein, wie du es so gerne nennst, vor Gabriels Augen Verrat zu begehen.« Das hatten wir allerdings schon erlebt, und die Folgen hatten sich als äußerst unangenehm erwiesen. »Aber es ist offensichtlich, dass eine ganze Reihe Formwandler wenig von Vampiren hält, und sie werden wie Michael nicht gerade begeistert sein, uns hier zu sehen.«
»Ich würde niemals ›verdammt dreist‹ sagen, aber ich verstehe, was du meinst.« Außerdem hoffte ich natürlich, dass wir auf unserer Flucht vor Diane Kowalcyzk nicht in neue Schwierigkeiten gerieten. Aber nur für den Fall: »Du bist auch bewaffnet?«
Ethan nickte. »Eine Klinge, genau wie du. Ein zusammenpassendes Set«, fügte er mit einem Lächeln hinzu und zupfte an meinem Pferdeschwanz. »Wird schon schiefgehen.«
Er nahm meine Hand, doch als wir gerade auf dem Weg zur Tür waren, blickte er auf meine gestiefelten Füße.
»Was für eine Überraschung, Hüterin. Du scheinst diesmal das passende Schuhwerk zu tragen.«
Ich verdrehte die Augen. »In jener Nacht war es bitterkalt, und deswegen habe ich Gummischuhe angehabt.
»Und Haute Couture. Sehr teure Haute Couture.«
»Es war Februar, und wir waren in Chicago. Ich habe ganz pragmatisch gedacht. Und es bestens hinbekommen.«
Was dazu geführt hatte, dass er mich in seinen Armen vor die Haustür meiner Eltern getragen hatte und dort auf ein Knie gegangen war, um mir einen Heiratsantrag vorzuspielen. Ich hatte es zwar geschafft, in meinen Gummischuhen nicht umzukippen, hatte aber trotzdem fast einen Herzanfall bekommen.
Mallorys Kopf tauchte wieder in der Tür auf, und sie sagte: »Kinder, wenn ich das richtig sehe, warten wir nur auf euch.«
»Entschuldigung«, antwortete ich und ging gefolgt von Ethan nach draußen. »Wir haben nur gerade über die Feinheiten der Haute Couture diskutiert.«
»Vampire«, murmelte Gabriel, und wir tauchten ein in die Dunkelheit.
Die Nacht war kalt, aber ungewöhnlich windstill. Kein Lüftchen wehte – ein echter Segen für Chicago im Februar.
Gabriel ging voran. Der gefrorene Boden knirschte unter unseren Füßen, während wir ihm um das Haus herum zu der großen Rasenfläche hinter dem Herrensitz folgten. Sie fiel leicht zum Wald hin ab, der wie ein dunkler Vorhang am Rande der sichtbaren Welt hing – ein schwarzes Meer unter einem funkelnden Sternenhimmel. Doch die über uns funkelnden Sterne fühlten sich kalt und herzlos an, und plötzlich ließ mich eine Vorahnung erzittern.
Hüterin?, fragte Ethan stumm und ergriff meine Hand.
Ich drückte seine und verdrängte meine Angst. Ich war kein Kind; ich war ein Vampir. Ein Raubtier, umgeben von seinen Verbündeten.
»Ganz schön dunkel hier draußen«, sagte Mallory, die vor uns ging, und lachte nervös. Auch sie hatte die Hand ihres Freundes ergriffen.
»Könnte schlimmer sein«, entgegnete Catcher. »Stell dir vor, du wärst ein Vampir auf der Flucht.«
»Tja, empfehlen kann ich das nicht«, sagte ich. »Allerdings beschert es einem interessante Bettgenossen.«
»Ich hoffe schwer, dass ich dein einziger Bettgenosse bin, Hüterin.«
»Wer könnte dich denn ersetzen?«, fragte ich und grinste, als Mallory sich kurz zu mir umdrehte und mir zuzwinkerte. Plötzlich verspürte ich eine kurze, aber deutliche Sehnsucht nach der Vergangenheit. Das war jene besondere Vertrautheit, die ich so sehr vermisste, die uns verloren gegangen war, als die Probleme unserer übernatürlichen Welten überhandgenommen hatten.
Als wir langsam zum Wald hinabgingen, wehte uns eine frische Brise entgegen, die Magie mit sich brachte. Belebend und lebendig und mit einem Hauch von Tier.
Wir erreichten den Trampelpfad, der in den Wald führte. Hier war ich früher oft entlanggegangen. Der Pfad, auf dem ich und Nick als Kinder oft gespielt hatten, war verbreitert und von Hindernissen befreit worden, sodass auch Erwachsene ihn nutzen konnten.
Links von uns, auf einem Nebenpfad, nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr. Vor Mallory und Catcher erschien Nick Breckenridge, hinter sich eine Frau, die er an der Hand hielt. Er war groß gewachsen, hatte dunkle, kurz geschnittene Haare und markante Gesichtszüge. Mit seinem eng anliegenden Hemd, der Cargohose und dem kantigen Kinn sah er durch und durch wie ein Journalist aus. Allerdings hätte er eher in Kriegsgebiete oder exotische Gegenden gepasst als in den Wald eines Multimillionärs.
Die Frau kam mir nicht bekannt vor. Ich wusste, dass Nick mit jemandem zusammen war – zumindest hatte ich vor einigen Tagen eine Frau am Telefon gehabt –, aber ich wusste nicht, ob sie diejenige war. Sie hatte das selbstbewusste Auftreten einer Formwandlerin, aber wenn sie über Magie verfügte, dann verbarg sie sie gut.
»Merit«, sagte er.
»Nick.«
»Ich glaube, ihr habt euch noch nicht kennengelernt. Darf ich dir Yvette vorstellen?«
Yvette nickte.
»Merit und ich sind zusammen zur Highschool gegangen«, erklärte Nick.
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte sie, und dann verschwanden sie auch schon wieder in der Dunkelheit vor uns.
Mallory kam zu mir, hakte sich bei mir ein und ersetzte damit Ethan als meine Begleitung.
»Ich glaube, du bist eifersüchtig«, flüsterte sie.
»Ich bin nicht eifersüchtig. Aber ich bin ja wohl mehr als ein Mädchen, ›mit dem er zusammen zur Highschool gegangen ist‹.«
Sie lachte leise. »Was sollte er denn deiner Meinung nach sagen? Dass du das Mädel bist, dem er all die Jahre nachgetrauert hat, nachdem er den großen Fehler begangen hatte, sich von dir in der Highschool zu trennen? Und ich möchte darauf hinweisen, dass das zehn Jahre her ist.«
»Nein«, sagte ich und zog das Wort in die Länge, nur um ihr zu zeigen, wie albern dieser Gedanke war. »Aber ich hätte schon gerne etwas in der Richtung gehört wie ›Darf ich dir Merit vorstellen, Hüterin des Hauses Cadogan, die Beschützerin der Schwachen und Verteidigerin der Unschuldigen?‹«
»Ja, klar. Sag mir Bescheid, wenn du einen Anruf von den Avengers bekommst. Bis dahin hat er eine ziemlich wohlgeformte Yvette, und du hast einen Ethan Sullivan.«
»Ich hasse es, wenn du recht hast.«
»Nicht verzagen, Mallory fragen.«
Der Pfad wurde nun schmaler, und wir gingen schweigend im Gänsemarsch weiter. Die kahlen Bäume hielten zu beiden Seiten Wache. Zwischen ihnen herrschte winterliche Stille – die Waldtiere schliefen, hielten Winterschlaf oder sorgten bewusst dafür, sich diesem Aufmarsch an Raubtieren nicht zu nähern. Der Wald war sehr groß. Als Kind war ich bis zu einem Heckenlabyrinth vorgedrungen, das meiner Erinnerung nach zu unserer Rechten liegen musste. Aber es war stockduster und der Pfad vor uns kaum zu erkennen. Ich war mir nicht einmal sicher, in welche Richtung wir gingen.
Wir folgten ihm etwa zehn bis fünfzehn Minuten, bis sich vor uns eine Lichtung auftat, die mit knisternden, flackernden Fackeln abgesteckt war.
Sie war mindestens so groß wie ein Footballfeld, und in ihrer Mitte stand ein sechs Meter hoher Totempfahl, in dessen über einen Meter dicken Stamm zahlreiche Tiere eingeritzt waren. Auf der gesamten Lichtung brannten Lagerfeuer, waren Zelte und Campingstühle aufgestellt. Und überall waren Formwandler zu sehen, von denen die meisten die offiziellen schwarzen Lederjacken des Zentral-Nordamerika-Rudels trugen.
Die verschiedensten Düfte stiegen mir in die Nase: die Moschusnote und der Fellgeruch verschiedenster Tiere, der Geruch von Kohle, bratendem Fleisch, Erde. Das Leben schien sich hier zu konzentrieren. Erneuerung und Wiedergeburt, obwohl der Frühling noch einige Wochen auf sich warten lassen würde.
Ich nahm an, das war der Grund, warum die Breckenridges uns nicht hier haben wollten. Die Formwandler waren zwar durchaus in der Lage, auf sich achtzugeben, aber hier waren etliche Familien auf einem offenen Platz versammelt, und die Zelte boten kaum Schutz. Allerdings befanden sie sich – genau wie wir – auf dem Privatbesitz einer der mächtigsten Familien Chicagos. Das sprach definitiv für sie.