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Nur wer den Mut zum Träumen hat ...
Es ist das Ereignis des Jahres: Ganz Chicago wartet darauf, dass sich Merit und Ethan das Jawort geben. Doch bevor das glückliche Paar in die Flitterwochen verschwinden kann, wird die Stadt von merkwürdigen Vorkommnissen heimgesucht. Erst treibt eine geheimnisvolle Stimme die Menschen in den Wahnsinn, und dann versinkt Chicago im Schneechaos - mitten im August! Keine Frage, hier ist Magie im Spiel, und Merit und Ethan müssen sich der neuen Bedrohung stellen.
"Die Geschichte hat mich von der ersten Seite an in ihren Bann gezogen. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen!" Julie Kenner
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Seitenzahl: 549
Chloe Neill
ChicagolandVampires
Ein Biss von dir
Roman
Ins Deutsche übertragen vonMarcel Aubron-Bülles
Nach ihrem Sieg über die Hexenmeisterin Sorcha scheint Chicago endlich zur Ruhe zu kommen. Ethan und Merit können sich auf ihre Beziehung und ihre Familie konzentrieren, während die Hochzeitsvorbereitungen auf Hochtouren laufen. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Eindringling verschafft sich Zugang zu Haus Cadogan, und Merit wird von einem Vampir angegriffen, der offenbar unter dem Einfluss dunkler Magie steht. Eine neue Gefahr bedroht die Stadt! Es scheint, als würde Chicago von einer unbekannten, magischen Infektion heimgesucht, die sowohl Übernatürliche als auch Menschen in den Wahnsinn treibt. Merit und Ethan müssen den Vorkommnissen schnell auf den Grund gehen, bevor Gewalt und Chaos regieren. Als dann auch noch ein besiegt geglaubter Feind auf den Plan tritt und Chicago unter Schnee und Eis begräbt, setzen Merit und Ethan alles aufs Spiel, um ihre Heimat und diejenigen, die ihnen wichtig sind, zu retten.
»Nun ist die wahre Spükezeit der Nacht …«William Shakespeare, Hamlet
Ende August
Chicago, Illinois
Es war Mitternacht in Chicago, und alles war gut.
Ich stand vor Haus Cadogan, einem imposanten und prunkvoll eingerichteten, zweistöckigen Steingebäude, das sich inmitten eines gepflegten Rasens in Hyde Park erhob, einem Stadtviertel Chicagos. Es war von einem stattlichen Zaun umgeben, der uns unsere Feinde vom Hals halten sollte, und wurde durch Männer und Frauen bewacht, die ihr Leben riskierten, um das Haus vor Angriffen zu schützen.
Heute Nacht wehte eine sanfte Brise durch die Dunkelheit, und während der Sommer langsam in den Herbst überging, herrschte Frieden.
Für meine Patrouille des großen Anwesens hatte ich mein Katana umgeschnallt. Ich nickte den Wachen am Tor zu und lief zur Treppe unter dem hell erleuchteten Vordach zurück. Ein letzter Blick, eine letzte Kontrolle, dass in unserem Reich Stille herrschte. Dann öffnete ich die Tür … und trat mitten hinein ins Chaos.
Die schöne Eingangshalle des Hauses Cadogan – Hartholzfußboden, ein Säulentisch mit duftenden Blumen, schillernder Kronleuchter – schien nur aus Lärm und Leuten zu bestehen. Ein Vampir stand am Empfangstisch, und drei weitere – Bittsteller, die das Gespräch mit Ethan Sullivan, dem Meistervampir des Hauses, suchten – saßen wartend auf einer Bank an einer Seite. Vampire trugen Kisten die Treppe zum Keller hinunter, um sie in den wartenden Lkw zu laden. Helen, die gute Seele des Hauses, wachte mit Argusaugen über ihr Tun.
Es herrschte hektischer Betrieb, denn der Meister des Hauses Cadogan würde morgen heiraten.
Mich.
Ein Vampir mit dunkler Haut und glatt rasiertem Schädel kam um die Ecke und in die Eingangshalle. Es handelte sich dabei um Malik, Ethans Stellvertreter. Er trug einen perfekt sitzenden schwarzen Anzug – die offizielle Uniform in Haus Cadogan –, und seine Haut bildete einen prächtigen Kontrast zum gestärkten weißen Hemd und seinen leuchtend grünen Augen. Er sah sich im Raum um, entdeckte mich und kam auf mich zu.
»Ganz schön was los heute«, sagte er.
»Ja.«
»Haben wir vor dem Haus bereits Zuschauer?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber Luc meinte, außerhalb der Bibliothek stünden sie bereits Schlange. Die Polizei musste zusätzliche Einheiten hinbeordern, um ein Auge auf die Menge zu haben.«
Ethan und ich würden in der Harold-Washington-Bibliothek heiraten, mitten in der Innenstadt. Die Menschen der Stadt standen Schlange, um uns zuzusehen.
Malik grinste. »Die Tribune hat es, glaube ich, als ›Hochzeit des Jahrzehnts‹ bezeichnet.«
»Ich will einfach nur eine Hochzeit ohne übernatürliche Schwierigkeiten«, sagte ich. Chicago und vor allem Haus Cadogan schienen ein Magnet für genau diese Schwierigkeiten zu sein.
»Luc hat das unter Kontrolle«, sagte Malik. Er sprach vom Hauptmann der Wachen Cadogans. »Und der Rest von uns tut, was er nur kann.«
Mehr konnte ich mir nicht wünschen. Das ganze Haus hatte sich hinter uns gestellt und war begeistert, dass sie bei der Hochzeit ihres geliebten Meisters helfen durften – dem Mann, der ihnen die Unsterblichkeit geschenkt hatte. Die Vampire Cadogans hatten Wäsche gebügelt, das Silber poliert und Einladungen in Umschläge gesteckt, die mit karmesinroter Seide gefüttert waren.
»Eure Hilfe ist sehr willkommen«, sagte ich. Ihre Unterstützung erlaubte es Ethan, sich mehr um das Haus zu kümmern, und gab mir mehr Zeit, für seine Sicherheit zu sorgen.
Ein Schweigen senkte sich auf den Raum, und jegliche Aktivität wurde unterbrochen, als der Meister des Hauses Cadogan die Eingangshalle betrat. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Auch meine.
Dass wir uns schon über eine Jahr kannten, hatte nichts an meiner Reaktion auf seinen Anblick geändert. Ganz im Gegenteil – dass er mein war und ich sein, verlieh dieser Tatsache nur noch mehr Gewicht.
Er war groß gewachsen, schlank, mit der Figur eines Manns, der früher Soldat gewesen war. Selbst jetzt, wo er den Vampiren als Anführer diente, wirkte er immer noch, als ob eine klassische Männerstatue plötzlich zum Leben erweckt worden wäre. Er hatte schulterlange goldblonde Haare, und seine Augen funkelten wie geschliffene Smaragde. Sein kantiges Kinn, die gerade Nase, seine Lippen, die sich entweder zu einem verschmitzten Lächeln verzogen oder wesentlicher Teil seiner ernsten Miene waren – all das brachte zum Ausdruck, dass er ein Meister war, auf dessen Schultern große Verantwortung ruhte.
Auch er trug die Cadogan-Uniform: ein kostspieliger, schmucker schwarzer Anzug, der ihm wie auf die Leib geschneidert zu sein schien – was er vermutlich auch war. Darunter trug er ein weißes Anzughemd, dessen oberster Knopf offen stand und den Blick auf die glänzende silberne Träne freigab, das Medaillon Cadogans. Es war ein Zeichen der Solidarität, der Eintracht unter den Vampiren des Hauses Cadogan. Und ihm stand es genauso gut wie alles andere auch.
Ihm folgte eine kleine Frau mit hellbrauner Haut und dunklen Haaren. Sie war eine Vampirin, zumindest schloss ich das aus dem unsichtbaren, magischen Summen, das sie umgab. Und da sie sehr angespannt wirkte, war sie vermutlich eine Vampirin mit Sorgen.
»Ich melde mich bei dir«, versprach Ethan.
Sie verschränkte die Hände und verbeugte sich kurz vor ihm. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, sagte er, und wir sahen zu, wie sie in Richtung Tür ging.
Als ich mich zu Ethan umdrehte, bemerkte ich, dass er mich anstarrte.
Hüterin, sagte er über unsere telepathische Verbindung und musterte mein Ensemble aus Leder und Stahl. Mir gefällt, was ich sehe.
Gut, sagte ich. Du heiratest mich nämlich morgen.
Sein Lächeln war nur einen Hauch anzüglich. Dem ist so.
Malik und ich gingen zu ihm.
»Mrs Bly?«, fragte Malik.
»Sie hat einen menschlichen Neffen, den sie als Novizen für unser Haus vorschlagen möchte. Seine Eltern teilen ihre Begeisterung nicht, und sie möchte, dass wir mit ihnen reden.«
Malik lächelte. »Sie will, dass wir ihnen das Haus schmackhaft machen.«
»Als ob wir auf Provisionsbasis arbeiteten«, sagte Ethan mit freundlichem Lächeln und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. »Du bist auf dem Sprung?«
Heute Abend fand mein Junggesellinnenabschied statt, den Lindsey und Mallory organisiert hatten – die eine Mitglied der Wache und gute Freundin im Haus, die andere meine älteste Freundin und Trauzeugin. Malik und Luc, Lindseys Freund, zeichneten für Ethans Junggesellenabschied verantwortlich. Ich war mir nicht sicher, was sie geplant hatten, und ich war mir schon gar nicht sicher, ob ich es wissen wollte.
»In einer Stunde.«
»Lass uns in mein Büro gehen«, sagte Ethan, nickte Malik zu, legte eine Hand auf meinen Rücken und geleitete mich an Vampiren und Kisten vorbei den Flur entlang.
»Vom Sicherheitschef zum Hochzeitspackesel degradiert«, sagte ein Vampir mit wuscheligen Locken, der seine Arme um eine offensichtlich riesige und wohl auch schwere Kiste geschlungen hatte und sie über den Flur trug.
»Ich bin mir sicher, dass sich Packesel weniger beschweren, Luc«, sagte die blasse Vampirin, die ihm mit einer wesentlich leichteren Last folgte – einem Bündel langer, gedrehter Äste.
»Stöcke«, sagte Luc und stellte die Kiste vorsichtig auf dem Boden ab, während er uns verschmitzt angrinste, das Gesicht eingerahmt von zerzausten blonden Haaren.
»Wieso braucht man Stöcke für eine Hochzeit?«
»Das sind keine Stöcke«, sagte Lindsey. »Das sind Weidenzweige, und die tragen zur Atmosphäre bei.«
Luc schüttelte reumütig den Kopf und sah Ethan an. »Befehle, Sire?«
Ethan lächelte. »Hochzeitsdekorationen sind nicht ganz mein Ding, und ich vermute, auch nicht Merits.«
Kein Widerspruch von meiner Seite. Theoretisch war ich zwar die Vorsitzende des Party-Ausschusses des Hauses, aber mein Spezialgebiet waren nicht die Planungen für eine gediegene Abendgesellschaft, sondern eher die ›Ich komme gerne uneingeladen mit einem Schwert zu deiner Feier‹-Umsetzung. Den größten Teil der Vorbereitungen hatte ich meiner Mutter und Helen, der guten Seele Cadogans, überlassen, die die Planung einer Abendgesellschaft aus dem Effeff beherrschten. Und wenn ein Meistervampir die Tochter eines Immobilienmoguls heiratete, kam man an einer Abendgesellschaft nicht vorbei. Ich hatte ihnen ›schlicht und elegant‹ und ›weiße Pfingstrosen‹ als Vorgabe genannt, und den Rest übernahmen sie. Was bedeutete, dass sie mir in den letzten vier Monaten jeden Abend mindestens fünfundzwanzig Fragen gestellt hatten.
»Hashtag Hochzeit«, sagte Luc und grinste.
Lindsey schüttelte leicht entnervt den Kopf. »Du machst das immer noch falsch.«
»Hashtag Unterdrückerin«, sagte Luc. Luc bekam das mit den sozialen Medien noch nicht ganz hin, obwohl er sich redlich bemühte. Bei einem über hundert Jahre alten Vampir war damit aber wohl zu rechnen.
»Ich bin mir sicher, dass Helen euren heutigen Einsatz sehr zu schätzen weiß«, sagte Ethan. »Und wir werden das morgen bestimmt genauso sehen.«
Ich sah Luc an. »Du sorgst doch dafür, dass er heute Nacht nicht in Schwierigkeiten gerät?«
»Pfadfinderehrenwort«, sagte Luc, ohne mit der Wimper zu zucken. Da praktisch jeder Vampir perfekt bluffen konnte, konnte ich mir nicht sicher sein, ob er mir die Wahrheit sagte oder damit nur von einer Nacht voller Alkohol und Unfug ablenken wollte.
»Sollte mich die Polizei anrufen«, sagte ich und bedachte Luc und Ethan mit einem strengen Blick, »dann könnt ihr euch auf was gefasst machen.«
»Dito«, sagte Lindsey und klatschte Luc auf den Arm.
Ethan steckte die Hände in die Taschen und hob leicht amüsiert den Kopf. »Da wir Catcher bei uns haben, scheint eine Verhaftung doch eher unwahrscheinlich.«
Ich musterte ihn argwöhnisch. »Weil er für den Ombudsmann arbeitet, oder weil er mit seiner Magie jeden Ärger wegzaubern kann?«
»Beides.«
Hauptsache keine Verhaftung.
»Und was habt ihr für eure Abendgesellschaft geplant?«, fragte Ethan. »Ich nehme an, dass ihr weder Tee trinken noch Bücher lesen werdet.«
Ich schob meine imaginäre Brille zurecht. »Nun, heute werden wir die Encyclopaedia Britannica laut vorlesen und Neil-deGrasse-Tyson-Videos auf Youtube gucken. Vielleicht haben wir sogar noch Zeit für ein wenig Makramee.«
»Sicher«, sagte Ethan. »Solange du bei Sonnenaufgang wieder zu Hause bist …«
»Das werde ich sein.«
Als sein Blick auf meinen Lippen zu ruhen kam, räusperte sich Lindsey lautstark und schob ihre Weidenzweige zur Seite, um einen Blick auf ihre Uhr werfen zu können. »Wir brechen in genau einer Stunde auf«, sagte sie und zeigte auf mich. »Sei bereit, das Tanzbein zu schwingen.«
Luc betrachtete sie misstrauisch. »Du hast gesagt, es würde keine Stripper geben.«
»Wird es auch nicht. Eine Junggesellin kann auch tanzen, ohne von Strippern umgeben zu sein. Mal ganz abgesehen davon hätte sie jedes Recht dazu, in der Nacht, bevor sie sich für die Ewigkeit bindet …« Sie warf Ethan einen vorsichtigen Blick zu. »Eine Ewigkeit der Treue und Gehorsamkeit.«
Ethan wäre beinahe in prustendes Lachen ausgebrochen. »Treue, ja. Gehorsamkeit?« Er musterte mich kurz. »Das doch eher weniger.«
»Ich gehorche, wenn es wichtig ist.«
»Was unser Stichwort ist, diesen Raum auf der Stelle zu verlassen«, sagte Luc. »Komm schon, Blondie.«
»Eine Stunde«, wiederholte Lindsey und zwinkerte mir heimlich zu. Sie gingen weiter, und Ethan und ich betraten sein Büro.
Als wir allein waren, umarmte er mich, und ich genoss das gleichmäßige Pochen seines Herzens, den frischen Duft seines Parfüms und die Wärme seines Körpers.
»In letzter Zeit hatten wir nur wenige solcher Momente«, sagte er. Seine starken Arme hielten mich umschlungen, sein Kinn zärtlich auf meinem Kopf liegend. »Und das haben wir den Hochzeitsplanungen, den Bittstellern und Nicole zu verdanken.«
Nicole Heart stand an der Spitze von Atlantas Haus Heart und war die Gründerin des Kongresses Amerikanischer Meister, des neuen Dachverbands, in dem sich die zwölf Vampirhäuser des Landes zusammengeschlossen hatten. Chicago hatte in übernatürlicher Hinsicht in letzter Zeit einiges durchgemacht, vor allem wegen einer Hexenmeisterin namens Sorcha Reed. Sie war Chicagos High-Society-Version von Maleficent und hatte wie ein Tornado in der Innenstadt gewütet. Wir hatten sie besiegt – und daran gehindert, eine Armee aus Übernatürlichen zu erschaffen –, was die Bürgermeisterin sehr glücklich und uns geneigt gemacht hatte. Sie war der Polizei entwischt, doch seit vier Monaten hatten wir nichts mehr von ihr gehört oder gesehen. Die Bürgermeisterin mochte uns immer noch. Nicole wollte sich diese positive Energie zunutze machen, was eine Menge Telefonanrufe und Interviews für Ethan bedeutete.
»Dasselbe habe ich gerade gedacht«, sagte ich. »Ich schlage drei Kreuze, wenn der morgige Tag vorbei ist.«
Er hob eine goldene Augenbraue, sein Markenzeichen. »Du bist bereits so weit, unsere Hochzeit hinter dir zu lassen?«
»Ich bin bereit, dass unser gemeinsames Leben anfängt und dass die Hochzeitsplanungen endlich ein Ende finden.« Ich schwieg kurz. »Und«, musste ich eingestehen, »ich will sehen, was Mallory und Lindsey geplant haben.«
»Benimm dich heute Abend.« Als ob Ethan diese Aussage zur Verpflichtung machen wollte, hob er mein Kinn zärtlich mit dem Finger und beugte sich zu mir herab. Es war ein sanfter, aber zugleich fordernder Kuss. Eine Andeutung dessen, was noch folgen würde. Ein Versprechen und eine Herausforderung.
»Als Abschiedskuss«, sagte ich, als ich mich wieder im Griff hatte und reagieren konnte, »war der gar nicht schlecht.«
»Aber natürlich spare ich mir für morgen meine Energie auf.« Er sah mich ausdruckslos an. »Du weißt, dass sie von uns verlangen, getrennt voneinander zu schlafen.«
Vampire waren in der Regel nicht abergläubisch, aber sie liebten ihre Regeln. Man hatte uns darüber informiert, dass eine der Regeln besagte, Braut und Bräutigam sollten in der Hochzeitsnacht in getrennten Räumen schlafen, damit sie auf keinen Fall aufeinandertrafen, auch nicht durch Zufall.
»Ich habe Helens Notiz erhalten.« Ein weiterer Grund, warum ich im Augenblick nicht besonders gut auf sie zu sprechen war. »Sie will mich in meinem alten Zimmer unterbringen.«
Ethan lächelte. »Nun, das erscheint mir nicht gerecht, da ich dann unsere Suite ganz für mich allein habe.«
»Du bist der Meister«, ahmte ich Helens kurz angebundenen Tonfall nach.
»Das ist eine beunruhigend gute Imitation.«
»Ich weiß. Ich habe sie in den letzten Wochen recht oft gehört.« Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand begann Mitternacht zu schlagen. »Ich sollte mich umziehen. Lindsey hat unsere Kleidung festgelegt.«
Er beäugte mich misstrauisch. »Hat sie das?«
Ich klopfte ihm auf die Brust. »Hat sie, und meine Kleidung wird passend zum Junggesellinnenabschied sein.«
»Deswegen mache ich mir Sorgen. Passt du auf dich auf?«
»Natürlich, aber du musst dir keine Sorgen machen. Nicht jetzt.«
Die Gewerkschaft der Hexenmeister, die endlich verstanden hatte, dass Sorchas Vernichtungsfeldzug zum Teil ihre Schuld gewesen war, hatte die Stadt mit Schutzzaubern versehen. Wir konnten sie nicht daran hindern, die Stadt zu betreten – das war die Aufgabe der Polizei –, aber sollte sie versuchen, innerhalb dieser Schutzzauber Magie zu wirken, würden wir es sofort wissen.
Und seit vier Monaten hatten wir nichts mehr von Sorcha gehört. Abgesehen von einer kleinen Auseinandersetzung mit skrupellosen Geisterjägern und einem blutdürstigen Geist vor ein paar Monaten, hatte Chicago einen wundervollen goldenen Sommer erlebt.
Sehr merkwürdig. Und wunderbar.
»Benimm dich«, sagte Ethan und knabberte an meinem Ohr. »Oder ich werde dich bestrafen müssen.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich für uns beide lohnen würde, egal, was geschah.
»Nun«, sagte ich und starrte auf die weiße Großraumlimousine vor dem Haus, »wenigstens hast du nicht die mit dem Whirlpool gebucht.«
»Nur weil die schon vergeben war«, sagte Lindsey. Sie hatte ihre Haare leicht gelockt und sich in ein kurzes schwarzes Bandage-Kleid gezwängt, das an ihr absolut atemberaubend aussah. Sie deutete auf mich und gestikulierte wild in der Luft herum. »Das war eine gute Entscheidung.«
Wir trugen alle schwarze Kleider – diese Regel hatte Lindsey festgelegt –, und mich hatten sie in ein knielanges Ding mit Flügelärmeln und eckigem Halsausschnitt gesteckt. Das Kleid saß hauteng und ließ kaum Raum für Fantasie. Da mir in letzter Zeit Helen und meine Mutter als vereinigte Front entgegentraten, hatte ich das geheime Schokoladenfach in der Küche öfter in Anspruch genommen als gewöhnlich, aber zum Glück besaß ich den Metabolismus einer Vampirin.
Wir teilten uns den Wagen mit Margot, der Küchenchefin des Hauses. Margot hatte dunkle Haare und weibliche Rundungen an den richtigen Stellen. Sie hatte sich zu einem Etui-Linie-Abendkleid entschlossen.
»Es tut mir leid! Es tut mir leid!« Wir hörten, wie sich trappelnde Schritte näherten, und sahen eine zierliche Frau mit blauen Haaren auf uns zurennen. »Ich bin zu spät!«
Mallorys kleines Schwarzes war knielang, ärmellos und passte ihr wie angegossen. Sie trug ihre blauen Haare, die an den Spitzen leicht heller wurden, schulterlang und lockig und hatte dazu riesige silberne Ohrringe in Blumenform an.
Sie streckte die Arme nach mir aus, drückte mich an sich und duftete leicht nach Lavendel und Kräutern. Das hatte sie wahrscheinlich in ihrem Arbeits-/Magiezimmer zusammengebraut. »Alles Gute zum Darth-Sullivan-Junggesellinnenabschied!«
Ich prustete vor Lachen. »Ist das die offizielle Bezeichnung?«
»Das ist sie«, bestätigte Mallory und zog eine Satinschärpe aus ihrer winzigen Clutch. Darauf stand in glitzernden Buchstaben ZUKÜNFTIGE MRS DARTH SULLIVAN.
Ich hatte mich schon darauf eingerichtet, solche Schärpen prinzipiell abzulehnen, aber diese Mischung aus Glitzer und spitzer Bemerkung konnte ich einfach nicht ausschlagen. Also ließ ich es zu, dass sie sie mir über den Kopf zog.
»Oh, das ist aber hübsch geworden«, sagte Lindsey. Sie musterte mich, die Hände in die Seiten gestemmt, und grinste dann Mallory an. »Ist dein Haus jetzt voller Glitzer?«
Mallory wich einen Schritt zurück und zupfte meine Schärpe zurecht. »Er ist überall. Über-all. Er wäre vermutlich der perfekte Überträger für eine weltweite Epidemie. Hoffentlich finden das die bösen Buben niemals raus.«
Der groß gewachsene, schlanke, uniformierte Fahrer umrundete den Wagen und legte zum Gruß zwei Finger an seinen rotblonden Schopf. »Meine Damen, ich bin heute Abend Ihr Chauffeur.«
»Hallo Brody«, sagten die Damen zu ihrem Kollegen, der von Zeit zu Zeit den Fahrer für Haus Cadogan spielte. Hinter dem Lenkrad gab es nur wenige, die ihm das Wasser reichen konnten.
Lindseys Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du warst nicht als Fahrer eingeteilt. Spielst du etwa Aufsicht?«
Brody hob die Hände, um seine Unschuld zu bezeugen, begleitet von einer unschuldigen Miene. »Ich bin nur hier, um euch zu fahren. Ich bin kein Spitzel.«
Lindsey trat an ihn heran und funkelte ihn böse an. Ziemlich böse, übrigens. »Wenn auch nur ein Wort von dem, was heute Nacht geschehen wird, herauskommt, werde ich wissen, dass du es ausgeplaudert hast.«
»Und das wäre schlimm.«
Lindseys Augen wurden zu flüssigem Silber. »Schlimm wäre überhaupt kein Ausdruck. Habe ich schon erwähnt, dass Merit und ich Messerwerfen geübt haben?«
Brody schluckte merklich. »Kannst du das auch?«
Sie lächelte und entblößte ihre Fangzähne. »Schon.«
Brody war nicht mehr der kleine, unschuldige Anfänger von früher. Er wirkte auch nicht so beunruhigt von Lindseys Worten, wie es vielleicht vor einigen Monaten noch der Fall gewesen wäre. Aber da sie immer noch im Rang über ihm stand, nickte er nur.
»Du bist die Chefin.«
»Und ob ich das bin«, sagte sie mit einem frechen Grinsen und deutete auf die Tür. »Meine Damen, darf ich bitten? Die Party beginnt ab sofort.«
Da sie die Chefin war, stelzte ich auf meinen Pfennigabsätzen vom Bürgersteig zum Wagen und kletterte hinein.
Margot rutschte neben mich auf den Sitz. »Vielen Dank für die Einladung. Es tut gut, mal aus der Küche rauszukommen.«
»Wie geht es denn voran?« Margot hatte die Inanspruchnahme eines Catering-Services für die Hochzeit verboten, sehr zum Unmut meiner Mutter. Wäre es nach meiner Mutter gegangen, hätten wir Krabbenschaum zu unserer Hochzeit bekommen. Ich stand also ganz klar hinter Team Margot.
»Es geht«, sagte sie. »Es ist wie in einem schlechten Knutschfilm. ›Ich will keinen Krabbenschaum. Macht auf keinen Fall Krabbenschaum!‹«
»Kannst du es mir verdenken?«
»Nicht wirklich. Und genau deswegen werden diese kleinen französischen Burger ein Riesenerfolg sein.« Sie musterte mich eingehend. »Wie fühlst du dich? Bist du nervös?«
Ich betrachtete Lindsey durch das Fenster. Sie führte ein offensichtlich ernstes Gespräch mit Mallory. Ich konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber Mallory warf einen Blick auf ihre Uhr. Vielleicht waren wir ja schon zu spät dran für einen unserer Programmpunkte.
»Wegen der Sachen, die Lindsey und Mallory für heute Nacht geplant haben?«, fragte ich und versuchte von ihren Lippen zu lesen. Wie sich herausstellte, besaß ich dieses Talent nicht. Ich konnte an Lindseys Gesicht ablesen, wie begeistert sie war, aber Mallory wirkte beunruhigt. Sie hatte mir nicht gesagt, dass sie etwas störte. Und jetzt, wo ich sie genauer betrachtete, entdeckte ich die Ringe unter ihren Augen. Ich würde sie später darauf ansprechen müssen und konnte nur hoffen, dass nicht die Hochzeit der Grund dafür war.
»Nein, wegen der Hochzeit«, sagte Margot und lachte.
Ich lächelte und wandte mich wieder ihr zu. »Wegen der Ehe nicht. Aber wegen der Hochzeit schon ein bisschen«, gab ich zu.
Sie zwinkerte mir zu und tätschelte mein Knie.
»Wo fahren wir hin?«, fragte ich, als sich Lindsey und Mallory zu uns gesellt hatten und Mallory Champagnergläser reichte.
»Dorthin, wo wir deine letzte Nacht in Freiheit feiern!«, sagte Mallory. »Ab sofort stellst du keine Fragen mehr und entspannst dich. Wir haben alles unter Kontrolle.«
»Genau davor habe ich Angst.«
Ich hatte den gesamten letzten Monat – wenn ich nicht auf Patrouille oder bei Anproben war – damit verbracht, Mallorys und Lindseys Pläne auszubaldowern. Die üblichen Dinge hatte ich alle bereits abgehakt – Stripper, Kneipentour, Karaoke unter erheblichem Alkoholeinfluss. Das passte alles nicht zu mir, und ich bezweifelte, dass das bei den anderen anders war. Nur war ich jetzt völlig aufgeschmissen. Lindsey flirtete, was das Zeug hielt, Mallory nutzte ihre unendliche Kreativität, um mit allem und jedem Spaß zu treiben, und ich war jetzt zwischen ihnen gefangen. Ich konnte nur hoffen, dass der Abend mehr als lautes Kreischen, Federboas und Tequila bringen würde.
Nichts gegen Alkohol. Aber ich hätte auch nichts gegen ein ordentliches Kampftraining einzuwenden.
Brody fuhr Richtung Norden, der See ein Schatten zu unserer Rechten, weg aus Hyde Park und hinein in die Innenstadt. Ich war schon davon ausgegangen, dass es in die Innenstadt gehen würde, denn dort gab es so ziemlich alles, was sich eine Frau vorstellen konnte – von Segeltörns über Museumsführungen bis zu richtig gutem Blues. Also half mir auch das nicht weiter.
Als Brody den Wagen vor ein schmales Gebäude steuerte, musste ich meine Situation neu beurteilen. Das Gebäude wirkte modern, hatte ein hohes, schmales Fenster und eine feuerrote Tür, die sich deutlich von ihrer Umgebung abhob. Es gab keine Hinweise, keinen Namen an der Tür, nicht einmal eine Hausnummer.
Faszinierend. »Was ist das für ein Ort?«, fragte ich.
»Meine Hälfte der Party«, sagte Mallory, als wir eine nach der anderen den Wagen verließen – und anschließend unsere Kleider zurechtzupften. »Ein bisschen was für dich und mich.«
Sie ging zur Tür und drückte auf eine kleine Klingel.
Einen Augenblick später begrüßte uns eine dunkelhäutige Frau mit freundlichem Lächeln. »Die Merit-Party?«, fragte sie.
»Die Merit-Party«, bestätigte Mallory.
»Willkommen zu Experience«, sagte die Frau, trat zur Seite und hielt uns die Tür auf.
Sie mündete in einen langen, schmalen Raum mit schimmerndem Holzboden, in dessen Mitte ein langer dunkler Tisch stand. Das Holz, aus dem auch die Böden bestanden, zog sich im Kreuzmuster über die Wände, die bernsteinfarben glühten, als ob sie von innen heraus brannten. Rechteckige Wandleuchter hingen auf unterschiedlicher Höhe über unseren Köpfen. Im Hintergrund lief sanfter Jazz.
Es standen bereits mehrere Frauen mit Champagnergläsern in der Hand im Raum – unter anderem meine Schwester Charlotte.
»Hallo Schwesterherz!«, sagte Charlotte, kam auf mich zu und umarmte mich. Wie ich hatte sie das dunkle Haar meines Vaters und hellblaue Augen. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Kleid mit ausgestelltem Rock und offene Ballerinas, die vorne kleine Schleifen hatten. Sie roch nach Flieder, nach demselben Parfüm, das sie seit Teenagerzeiten trug.
»Hallo Charlotte«, sagte ich und drückte sie an mich. »Wie geht’s meiner Lieblingsnichte?«
»Da sie beachtliche zweieinhalb Jahre alt ist, glaubt Olivia, sie wäre bereits Debütantin, und ist dementsprechend sehr enttäuscht, dass sie heute Abend nicht an der Party für ihre Tante Merit teilnehmen kann. Aber sie freut sich schon sehr, das Blumenmädchen zu sein. Und sie übt schon ganz fleißig.«
»Oh mein Gott, ich wette, sie sieht anbetungswürdig aus.«
Charlotte legte eine Hand über ihr Herz. »Nun, sie ist zwar mein Kind und ich bin voreingenommen, aber, ja. Sie ist vermutlich der süßeste Anblick, den ich je gesehen habe.«
»Ich bin überzeugt, sie wird ihre Aufgabe äußerst souverän meistern.«
Charlotte nickte. »Falls sie nicht vergisst, die Blütenblätter auch wirklich zu werfen, ja. Bisher ist sie im Wesentlichen herumstolziert, ohne dass ein einziges auf dem Boden gelandet ist.«
Es hörte sich auf jeden Fall sehr unterhaltsam an.
Die Frau, die uns die Tür geöffnet hatte, trug einen langen dunklen Überwurf über dunklen Leggings, trat an den Tisch heran und zog den mittleren Stuhl hervor. Ich warf Mallory einen Blick zu, die nickte.
»Auf geht’s, Kleine«, sagte sie, und als ich Platz genommen hatte, setzte sie sich neben mich.
»Wir essen zu Abend?«, fragte ich sie. Tatsächlich hatte ich vor unserer Reise im Haus noch eine Kleinigkeit gegessen, sozusagen als Grundlage für den an diesem Abend drohenden und vor allem reichlichen Champagner.
»Nicht ganz«, sagte Mallory und deutete auf die Tür, die zur Gebäuderückseite führte. In dem Augenblick, als wir alle saßen, trat eine Schar Kellner in schwarzen Hemden und Jeans durch diese Tür. Sie alle hielten Tabletts in den Händen, auf denen Servierglocken ihren Inhalt verbargen. Mit der Perfektion geübter Tänzer traten sie alle an ihre Position am Tisch, um gleichzeitig ihre Tabletts vor uns abzustellen, doch ohne die Servierglocken zu entfernen.
»Das ist der erste Gang«, sagte unsere Gastgeberin, die die Hände vor der Brust verschränkt hatte. Nun enthüllten die Kellner mit geübter Hand glänzend weiße Teller, auf denen um ein Stück Schokoladenkuchen in Würfelform ein Regenbogen aus Obst drapiert war, etwas, das sehr nach Schokoladenmousse aussah, und ein feiner, liebevoll verzierter Keks.
Ich sah Mallory an, während von den Frauen am Tisch bewunderndes Raunen zu hören war. »Du hast mir Schokolade besorgt.« Mein Herz war voller Glück. Ich hätte wissen müssen, dass diese beiden es richtig machten.
»Es ist eine Schokoladenverkostung!«, sagte Mallory, die Hände vor der Brust verschränkt wie ein kleines Kind, das endlich sein wohlbehütetes Geheimnis preisgeben durfte. »Fünf ganze Gänge!«
Ich tat so, als ob ich mir eine Träne wegwischen müsste. »Ich liebe euch, Mädels.«
»Und ob.« Mallory hob ihr Glas. »Auf meine unsterbliche Freundin, die bald die Ehefrau des heißesten Vampirs in den Vereinigten Staaten sein wird.«
»Auf Merit!«, sagte Lindsey, und alle erhoben ihr Glas. »Nun, um Gottes willen«, sagte sie, »lasst die Frau mal essen!«
Ich musste den Küchenchefs Anerkennung zollen – und ließ meinen Dank übermitteln. Ich hatte früher mein eigenes, geheimes Schokoladenversteck, aber mir war bis heute nicht klar gewesen, was in den Händen eines begnadeten Chocolatiers aus diesem Rohstoff werden konnte. Wir hatten Schokoladensuppe, Schokoladenschaum, Trinkschokolade, geräucherte Schokolade. Schokolade mit Pistaziencreme, Schokolade mit feurig scharfem Chili, Schokolade mit Frühstücksspeck (einer meiner Lieblinge), mit Schokolade gefüllte Himbeeren und ein Dutzend andere Kunstwerke.
Als wir uns schließlich zum fünften Gang vorgekämpft hatten, kam ich zu dem Schluss, dass selbst mein unsterblicher Körper nicht noch mehr Schokolade aufnehmen konnte. Ich redete daraufhin ein paar Minuten lang mit den Gästen, während ich Mallory stets im Auge behielt. Ihr sorgenvoller Blick, der mir bei unserer Abfahrt aufgefallen war, war immer noch da. Entweder hatten sie mögliche Macken ihres heutigen Plans nicht klären können, oder ihr lag etwas anderes auf dem Herzen.
Ich wollte nicht mal daran denken, was meine älteste Freundin beunruhigen konnte – eine so begabte Hexenmeisterin, dass sie selbst Sorcha Reed besiegte. Aber ich wusste auch, dass sie wahrscheinlich diese Party und den Spaß, der dazugehörte, genauso nötig hatte wie wir anderen. Also entschied ich mich, geduldig zu sein, und sie erst später darauf anzusprechen.
Unsere Gastgeberin kehrte mit einem riesigen Silbertablett zurück, auf dem sich Obst, Käse und Minzbonbons türmten.
»Ich bitte Sie!«, sagte ich und legte meine Hand auf den Bauch. »Für mich bitte nichts mehr.«
»Ganz deiner Meinung«, sagte Mallory und winkte dankend ab, als es vor ihrer Nase auftauchte. »Das Stück Mousse-Kuchen hat mich erledigt.«
»Nicht die fünf anderen vorher?«, fragte Margot im knochentrockenen Ton. Auch sie, das war ihr deutlich anzusehen, lag im Schokoladenkoma.
»Ich habe doch nicht sechs Mousse-Kuchenstücke gegessen.«
»Ich glaube, es waren acht«, sagte Lindsey und leckte sich Schokolade vom Daumen.
Mallory wirkte ein wenig entsetzt, und ihr schien auch ein bisschen übel zu sein.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich und tätschelte Mallorys Hand. »Besonderer Anlass.«
»Sagst du. Ich kann tatsächlich zulegen, Vampirmädel. Aber trotzdem …« Als sie nun auf die Teller sah, die bei den meisten Frauen leer waren, lag Stolz in ihrem Blick. »Wir haben hier heute Abend eine ordentliche Leistung abgeliefert.«
»Auf uns«, sagte Margot und erhob ihr Glas. »Auf Merit und Darth Sullivan.«
»Hört, hört!«, sagte Mallory. Und dann rülpste sie. Ganz der Situation angemessen.
Wir wurden in unseren Wagen zurückgebracht, immer noch ein bisschen schokoladentrunken, und machten uns auf den Weg zu unserem nächsten Ziel. Innerlich hoffte ich, dass es ein Hort der Ruhe und Stille war, wo ich über die 75-prozentige Zartbitterschokolade nachdenken konnte, die zum großen Teil meinen Magen füllte.
»Nun bin ich an der Reihe!«, sagte Lindsey. »Und seid gewarnt – ich bin mit Zucker und Schokolade vollgepumpt!«
»Oh, gut«, sagte ich. »Du bist ja sonst so ruhig und zurückhaltend.« Dieser Satz wurde mit einem wohlverdienten Kichern quittiert. »Was steht als Nächstes an?«, fragte ich.
»Wir werden die Party jetzt mehr à la Cadogan gestalten«, sagte sie.
À la Cadogan – damit meinte sie die Temple Bar, Cadogans offizielle Bar. Sie war in Wrigleyville, einer Gegend nördlich der Gold Coast, und dort lag – wie der Name schon andeutete – auch Wrigley Field.
Wir hielten direkt vor der Tür an, die uns Sean aufhielt, und sein Bruder und irischer Landsmann Colin läutete die Messingglocke hinter der Bar.
»Merit ist im Lokal!«, rief er, was lautstarken Applaus zur Folge hatte. Der Laden war brechend voll mit Vampiren, von denen ich viele nicht erkannte, aber es waren ausnahmslos Frauen.
Unser Tisch stand direkt vor einer behelfsmäßigen Bühne am Ende der langen, schmalen Bar. Vielleicht würde ich heute Nacht ja doch einen Stripper bekommen. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, jemanden lieber nackt zu sehen als Ethan. Seine groß gewachsene, schlanke Gestalt war mir eine immerwährende Freude.
Meine Mädels verteilten sich im Raum, um sich mit den Leuten zu unterhalten. Lindsey holte Drinks von der Bar, Gin Tonic für alle. Mallory nahm neben mir Platz und warf einen besorgten Blick auf ihr Handy. Selbst als Lindsey mit den prickelnden Getränken vor uns auftauchte, registrierte sie das nicht.
»Bin gleich wieder da«, sagte Lindsey und drückte mir einen Schmatzer auf den Kopf. »Muss noch kurz was abchecken.« Sie verschwand nach hinten.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich Mallory, jetzt, wo wir allein waren.
»Warum sollte es nicht sein?«
»Nun, erstens, weil du dich in einer Bar voller Vampire befindest, was dich vor einem Jahr noch in helle Begeisterung versetzt hätte. Seit Towerline bist du praktisch berühmt, und jeder Comic Con im Land will dich als Gast-Hexenmeisterin, was anscheinend das neue Ding überhaupt ist. Aber das scheint dich nicht glücklich zu machen.«
Sie legte ihre Hand auf meine. »Ich bin glücklich.«
»Für mich«, sagte ich. »Und das weiß ich zu schätzen. Aber da ist noch was. Was ist los?«
Mallory schüttelte den Kopf, als ob sie ihn endlich klar bekommen wollte. »Gar nichts. Das ist dein Junggesellinnenabschied, und wir werden uns keine Sorgen um mich machen.«
Ich sah sie genauso an wie Helen, mit missmutig zusammengekniffenen Augen. »Mallory Delancey Carmichael Bell.«
»Es ist nichts, Merit.«
»Mallory.«
Sie kippte den Kopf leicht nach unten und stöhnte frustriert auf. »Es ist bloß – ich fühle mich seltsam.«
»Seltsam? Was ist los? Bist du krank? Schläfst du genug? Du wirkst müde.«
»Ich bin nicht krank, und ich bin nicht schwanger. Das scheint die einzige andere Frage zu sein, die die Leute im Kopf haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist ein … leichtes Unwohlsein.«
Ich runzelte die Stirn. »Wegen der Hochzeit?«
»Ach Gott, nein. Du und Ethan, ihr seid füreinander geschaffen, obwohl er vierhundert Jahre darauf warten musste, dich zu finden. Was ihm meiner Meinung nach nur gutgetan hat.« Sie zwinkerte mir zu. »Steigert die Dankbarkeit.«
»War für ein ungutes Gefühl ist es denn?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es ist einfach nur … unbestimmt, magisch. Vielleicht eine Art Unbehagen?«
»Wodurch? Woher kommt es?«
»Nicht die geringste Ahnung. Ich kann es nicht genau sagen. Da ist nichts dabei, was ich als ein Ding bezeichnen könnte oder eine Bedrohung oder eine ominöse, dräuende Wolke.« Je größer ihre Frustration wurde, umso schneller sprach sie. »Einfach nur Unbehagen. Catcher ist sehr verständnisvoll, aber ich weiß, dass er es nicht spürt. Und das lässt mich wiederum denken, ich wäre paranoid.«
»Lass uns doch mal davon ausgehen, dass du nicht paranoid bist. Was könnte dir denn Sorgen machen? Nicht Du-weißt-schon-wer.« Genaueres wollte ich nicht über die Frau sagen, die versucht hatte, uns alle zu kontrollieren.
»Nein«, sagte sie. »Das ist jetzt vier Monate her, seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört, und die Stadt ist von Schutzzaubern überzogen, sollte sie versuchen, doch zurückzukehren. Aber abgesehen von ihr weiß ich es einfach nicht.«
Mallory sah mich an, und sie wirkte noch besorgter, als ich ursprünglich angenommen hatte. Worum immer es sich auch handelte, es bedrückte sie wirklich.
»Was, wenn ich einfach nicht glücklich sein kann, Merit? Ich meine, ich bin verheiratet, und du heiratest jetzt, und abgesehen von den dümmsten Geisterjägern, die die Welt gesehen hat, hatten wir in den letzten Monaten nicht die Spur von übernatürlichen Problemen. Die Flussnymphen haben sich benommen. Die Bürgermeisterin hat uns nicht den Wölfen vorgeworfen, und auch sonst hat niemand versucht, uns für seine Zwecke zu missbrauchen. Ich sollte total begeistert sein. Stattdessen …« Sie seufzte.
Ich ergriff ihre Hand und drückte sie. »Mallory, du bist die glücklichste Person, die ich kenne. Die schlaueste – außer natürlich, wenn du böse bist.«
»Das ist die Ausnahme.«
»Und selbst dann hast du dich noch am eigenen Schopf aus dem Schlamassel gezogen. Wenn du mir also sagst, irgendwas stimmt nicht, dann glaube ich dir. Hast du mit dem Orden darüber gesprochen? Ich dachte, du verstehst dich mit denen jetzt besser.«
»Die glauben doch ohnehin schon, ich bin verrückt.«
»Was ist denn mit Gabriel? Vielleicht hat das Rudel ja etwas Ähnliches gespürt?« Allerdings hoffte ich, dass Chicagos oberster Formwandler zu uns gekommen wäre, wenn er den Eindruck hatte, dass irgendwas nicht stimmte.
»Ich weiß ja nicht mal, was ich ihm sagen soll. ›Gabriel, ich weiß ja, du bist damit beschäftigt, gut auszusehen und den Wolf raushängen zu lassen, aber Frieden und Fröhlichkeit machen mich einfach nervös.‹«
»Tja, dann habe ich keine weiteren Ideen.«
»Du glaubst also auch, dass ich verrückt bin?« Sie musste die aufkommende Panik in ihrer Stimme bemerkt haben, denn sie hielt eine Hand hoch. »Entschuldige. Es tut mir leid. Das macht mich einfach nur fertig.«
Ich legte einen Arm um sie. »Das wird schon wieder, Mallory. Alles wird gut. Ich werde heiraten, und Ethan und ich werden eine wunderschöne Woche in Paris verbringen.«
»Du hast recht. Ich weiß, dass du recht hast.« Sie lockerte ihre Hände, die Schultern, versuchte sich zu entspannen. »Was passiert, wird passieren, und es ergibt keinen Sinn, uns deswegen jetzt Gedanken zu machen. Lass uns einfach Spaß haben.«
»Lass uns einfach Spaß haben«, stimmte ich ihr zu und stieß mit ihr an.
Denn ob wir nun paranoid waren oder nicht, die nächste Hiobsbotschaft wartete sowieso auf uns. So wie immer.
»Ich bitte um Aufmerksamkeit, meine Damen!«, rief Lindsey, die sich mit nackten Füßen auf einen Stuhl gestellt hatte und nun mit einem Löffel gegen ihr Glas schlug. Als sich Schweigen auf die Menge senkte, ließ sie ihren Blick über die Anwesenden schweifen. »Wir haben den, ähem, Höhepunkt des heutigen Junggesellinnenabschiedsspektakels erreicht!«
»Wie viele Namen hat sie sich ausgedacht?«, flüsterte ich Mallory zu.
»Ich glaube sieben. Wir haben uns gegen ›Chicago braucht’s von Merit‹ und ›Sullivan schlägt zurück: Cadogan Zwei‹ entschieden.«
»Gute Entscheidung.«
»Colin«, sagte Lindsey und winkte dem Barkeeper zu. »Wärst du so nett?«
Das Licht der Deckenleuchten wurde gedämpft, doch der Scheinwerfer, der den einsamen schwarzen Stuhl auf der kleinen Bühne vor uns erleuchtete, strahlte nun umso heller. Musik ertönte, ein verspielter, koketter Rhythmus, wie es nur Jazz konnte.
Als Lindsey sich zu uns gesellte, trat ein Mann aus dem Hinterzimmer und kam auf die Bühne.
Sonnengebräunte Haut, dunkle Haare, dunkler Bart, die Haare zu einem perfekten Dutt geknotet. Er hatte grüne Augen, und seine dichten Wimpern hatten dieselbe Farbe wie sein Bart. Sein Mund war eine schmale Linie, die sich an einem Ende sanft nach oben bog. Er trug Jeans, Stiefel und sonst nichts. Sein Körper schien nur aus glatter Haut und harten, wohlgeformten Muskeln zu bestehen. Auf seinem linken Arm schimmerte eine komplexe Schwarz-Weiß-Tätowierung.
Kein Laut war zu hören.
»Nun«, sagte Margot leise. »Er ist … ziemlich attraktiv.«
»Attraktiv«, sagte Lindsey und neigte den Kopf leicht zur Seite, als sie auf seinen Bizeps starrte. »Und äußerst klar definiert.«
»Ein Wörterbuch könnte das nicht besser«, sagte Mallory, die den Mann verträumt anstarrte.
Ich sah Lindsey an. »Ich glaube es einfach nicht, dass du einen Tänzer gebucht hast. Ethan wird dich töten. Oder mich. Oder uns beide.«
»Ach, Schätzchen«, sagte Lindsey. »Er ist nicht hier, um zu tanzen.« Dieser Aussage zum Trotz wirbelte der Mann den Stuhl herum, setzte sich und zog ein dünnes, zerlesenes Taschenbuch aus seiner Gesäßtasche. Er sah mich an und lächelte. »Deine Party?«
Ich nickte und war schlagartig nervös.
»Cool. Wäre Lord Byron okay für dich?« Ich konnte spüren, wie mich diese Frage erhitzte. »Öh, gerne …«
Neben mir kicherte Lindsey, offensichtlich zufrieden mit sich selbst.
Er nickte und blätterte einige Seiten durch. »Meine Damen«, sagte er und sah uns in die Augen. Dann begann er, den Blick auf die Seite gerichtet, zu rezitieren.
»In ihrer Schönheit wandelt sie / Wie wolkenlose Sternennacht / Vermählt auf ihrem Antlitz sieh / Des Dunkels Reiz, des Lichtes Pracht.«
Jede einzelne Frau im Raum seufzte.
Ich war mir nicht sicher, ob er Doktorand war, Dichter, Schauspieler, Stripper oder einfach nur die perfekte Mischung aus alldem. Aber dieser Mann atmete Byron, und er verstand seine Worte. Er wusste jeden Satz zu betonen, wie Pausen einzuhalten waren, wann er aufsehen musste, uns in die Augen zu sehen hatte – und wann er uns ein Lächeln schenken sollte. Betonung und Tempo, Rhythmus und Klarheit. Er war ein Prinz der Poesie, und er hatte uns alle verzaubert.
Champagnerflaschen wurden geöffnet, in glänzend silberne, mit Eis gefüllte Kühler gestellt, dann in hohe, schlanke Gläser gefüllt, während wir lauschten, die Beine übereinandergeschlagen, nach vorne gebeugt, um ihn besser sehen zu können.
»Ist es besser, wenn wir nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Verstand objektivieren?«, fragte Margot und hob kurz den dünnen Strohhalm aus ihrem Gin Tonic, um einen Schluck zu nehmen.
»Das ist mir ziemlich egal«, sagte Mallory. »Er kann wirklich gut mit Wörtern.«
Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können.
Wir verließen die Temple Bar etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang, brachten Mallory nach Wicker Park und kehrten anschließend ins Haus zurück.
Unsere Gruppe löste sich im Erdgeschoss auf. In der leeren Eingangshalle war alles ruhig. Der Empfangstisch war stillgelegt, die Bittsteller wieder zu Hause und ihre Probleme angegangen, oder sie würden später zurückkehren, um doch noch mit Ethan sprechen zu können. Ein Vampir konnte nicht alles auf einmal erledigen.
Es war keine einzige Kiste, keine Kerze oder Weidenzweig mehr zu sehen. Das bedeutete, dass vermutlich alles im Lkw gelandet und zur Bibliothek gebracht worden war. Oder Helen hatte von allem die Schnauze voll und im Hinterhof ein Freudenfeuer angezündet. Was allerdings unwahrscheinlich schien. Also musste ich davon ausgehen, dass die Hochzeit wie geplant verlaufen würde.
»Die Hochzeit wird wie geplant verlaufen«, flüsterte ich und lächelte.
Ich hatte an mehr Kuchenverkostungen, Frühstücksmarathons und allen möglichen Feiern teilgenommen, als ich es für möglich gehalten hätte – und an viel mehr, als ich für vernünftig gehalten hatte. Ethan hatte diesen Trubel genossen, die Vorbereitungen für unser gemeinsames Leben. Also hatte ich alles mit Geduld ertragen, und der Junggesellinnenabschied war die letzte meiner Pflichten gewesen. Die letzte Hürde vor unserer Hochzeit, bevor wir unsere Treueschwüre leisteten – für die Ewigkeit.
In diesem Augenblick kochten die Emotionen in mir hoch. Nicht Angst, sondern Vorfreude. Begeisterung. Auch Verlangen, das vermutlich durch ein wenig zu viel Zeit mit Byron entfacht worden war.
Es war dunkel im Flur – die Lichter in Maliks und Helens Büros waren ausgeschaltet, auch die der Cafeteria am Ende des Flurs. Nur in Ethans Büro war das Licht noch an. Ich bezweifelte, dass er bereits zurück war. Es war vielmehr wahrscheinlich, dass sie ihren Whiskey und die Zigarren bis zum letztmöglichen Augenblick auskosteten. Wahrscheinlich hatten einfach die Reinigungskräfte vergessen, das Licht auszumachen, oder aber Helen, die auf der Suche nach einer allerletzten Spielerei für die Hochzeit noch ins Büro gestürmt war.
Ich konnte ihm auch eine Nachricht hinterlassen. Eine Nachricht, die ihm eine Gute Nacht wünschte, dass ich während unserer Trennung im Angesicht vampirischer Gepflogenheiten an ihn denken und dass ich ihn morgen in der Bibliothek erwarten würde, ob mit oder ohne Bücher.
Dass ich den letzten Teil für unheimlich komisch hielt, sagte vermutlich mehr über meinen Gin-Genuss in der Temple Bar als über mein Talent als Komikerin.
Ich betrat sein Büro und ging in Richtung Schreibtisch … und merkte erst, dass ich nicht allein war, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm.
Er stand im Sitzbereich, ein Mann in abgewetzter, verdreckter Jeans und langärmeligem Hemd. Auch seine helle Haut war von Dreck überzogen. Seine dunklen Haare waren zerzaust, als ob er die ganze Zeit mit seinen Händen daran gezogen hätte, Hände, die nun nervös an seiner Jeans zupften. Es duftete im ganzen Haus noch nach den Hochzeitsblumen, aber nun stieg mir der Gestank eines ungewaschenen Manns in die Nase.
Er war ein Vampir. Älter als die meisten, die ich kennengelernt hatte, aber die undeutliche, überschäumende Magie ließ keinen Zweifel, dass er ein Übernatürlicher war. Seine Magie roch allerdings irgendwie anders – chemisch, wie ein Haufen neuer Filzstifte, an denen man gleichzeitig die Kappen abgezogen hatte. Und ich erkannte ihn nicht wieder. Wenn er in einem Haus lebte, war er in letzter Zeit nicht mehr dort gewesen. Nicht, so wie er aussah.
»Hallo«, sagte ich. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Er sah mich an. Unter seinen Augen, die ihm vor Erschöpfung nahezu zufielen, zeichneten sich dunkle Ringe ab. »Bist du hier, um mir zu helfen?«
»Aber natürlich. Möchtest du mit Ethan sprechen?« Es schien am wahrscheinlichsten, dass es sich um einen Bittsteller handelte. Wie sonst hätte er an unseren ohnehin schon ausgefeilten Sicherheitsmaßnahmen vorbeikommen können? Vielleicht war er ins Haus gekommen, um mit jemandem zu sprechen, und hatte sich dann unbemerkt verdünnisiert.
Seine Schulter zuckte so stark, dass sie ihm fast gegen das Kinn schlug. »Hilfe. Es wird immer so viel geredet.« Er schlug sich mit der Handinnenfläche gegen die Stirn. »So viel geredet. Ich kann nichts dagegen tun.«
»Wie bitte?«
Ich wünschte mir, Ethan oder Malik wären hier gewesen. Sie kannten sich sicherlich besser damit aus, wie man einem Bittsteller begegnete, der augenscheinlich gestört oder zumindest verwirrt war.
»Das Reden. Die Stimme. Sie schreit – immer wieder dieselben Dinge. Hallo. Hallo. Hallo. Ich bin hier. Ich bin hier. Ich bin hier.«
Ich tendierte immer mehr zu gestört. Und einen Gestörten konnten wir nicht frei im Haus herumlaufen lassen.
Ethan, sagte ich wortlos. Wenn du im Gebäude bist, schicke Luc und einige Wachen in dein Büro. Ich wusste nicht, ob er nahe genug war, um mich zu hören, bezweifelte es aber.
»Lass mich kurz jemanden anrufen, der dir helfen kann«, sagte ich und wollte mein Handy hervorholen, als ich merkte, dass ich meine kleine Clutch – und das Handy – im Wagen gelassen hatte. Ich musste das Telefon auf Ethans Schreibtisch nutzen.
Er sah mich nun misstrauisch an, und seine Augen wurden zu Silber. Das Zeichen gesteigerter vampirischer Emotionen. »Warum schreit sie? Hörst du sie? Warum hörst du sie nicht?«
Ich wollte diesem offensichtlich verwirrten Mann nicht meinen Rücken zuwenden, aber ich hatte keine wirklich bessere Option. Das Erdgeschoss des Hauses schien völlig verlassen. Bis ich ein Telefon erreichen oder jemand anders warnen konnte, musste ich mich auf mich selbst verlassen.
»Habe mein Telefon gar nicht dabei«, sagte ich mit unbeschwerter Stimme, um für eine lockere Atmosphäre zu sorgen. »Ich werde einfach das auf dem Schreibtisch nutzen.«
»Nein!« Dieses einzelne Wort hatte er mit lauter Stimme geblafft – eine Warnung. »Keine weiteren Schreie!«
Seine Fangzähne waren lang, weiß, nadelspitz. Er stürzte sich so schnell auf mich, dass ich nur einen Sekundenbruchteil Zeit hatte, mich abzuwenden und gegen den Aufprall zu wappnen. Ich schaffte es zwar, dem Schlimmsten auszuweichen, aber er brachte mich dennoch zu Fall, und wir gingen krachend zu Boden. Mein Kopf schlug so hart auf, dass ich für einen Moment nicht mehr klar sehen konnte, nur die Sternchen am Rande meiner Wahrnehmung.
»Es ist deine Schuld!«, sagte er und richtete sich auf, um auf mich einzuschlagen. Ich hob einen Arm, blockte den Schlag, packte seinen Unterarm und verdrehte ihn in der Hoffnung, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber er war riesig und schien zu glauben, dass ich einer seiner inneren Dämonen war, gegen die er kämpfte. Er hob beide Arme, schlug sich gegen die Stirn und versuchte dann mich zu schlagen. Erneut blockte ich die Angriffe, doch mehrfach trafen Knochen auf Knochen, was brennende Schmerzen durch meinen Arm schießen ließ.
»Wenn jemand im Flur ist«, brüllte ich, »könnte ich gerade ein wenig Hilfe gebrauchen!«
»Hör auf damit!«, schrie er, ohne die Ironie zu bemerken. »Hör auf, mir das anzutun! Ich will doch nur, dass es aufhört!« In seinen rot umränderten Augen standen die Tränen. Er hob die Arme und schlug sich mit den Fäusten gegen den Kopf. »Aufhörenaufhörenaufhörenaufhören!«
Als das Kleid meine Oberschenkel hinaufrutschte, schaffte ich es, ein Bein zwischen seine zu bekommen, und drehte mich blitzschnell. Der Vampir griff nach meiner Schärpe und riss sie ab, als ich unsere Plätze vertauschte und er mit lautem Krachen auf den Boden schlug.
Ich kam wankend auf die Beine, rückte das Kleid wieder zurecht und streifte die Stöckelschuhe ab. Sie würden sich im Notfall noch als ordentliche Waffe erweisen, vor allem weil sich außer dem Handy auch noch mein Dolch in meiner Clutch befand. Da auf meine Rufe niemand reagiert hatte, würde ich mich so lange behaupten müssen, bis jemand zufällig zu dieser nachtschlafenden Zeit ins Erdgeschoss kam.
Der Mann kam auch wieder hoch und schlug sich mit den Fäusten auf die Ohren. »Hör auf zu schreien! Hör auf zu reden! Ich will es nicht mehr hören! Ich will es nicht hören!« Er sah mich an, und in seinem Blick rangen Zorn und Furcht um die Oberhand. »Sorg dafür, dass es aufhört!«
Ich ergriff meine Chance, rannte zum Schreibtisch und zum Telefon. Ich hatte gerade den Hörer in die Hand nehmen können, bevor er mir folgte und einen Brieföffner von Ethans Schreibtisch an sich nahm – eine lange, silberne, zweischneidige Klinge. Ich hob den Arm, da ich seinen Angriff erwartete. Doch stattdessen wich er stolpernd zurück und richtete die funkelnde Dolchspitze an seine Schläfe. Es gab nicht viele Möglichkeiten, einen Vampir zu töten, aber sich eine Klinge in den Schädel zu rammen erschien mir durchaus Erfolg versprechend.
»Ich werde sie zum Schweigen bringen«, sagte er verzweifelt. »Ich werde dem ein Ende machen.«
Nun war ich nicht mehr das Opfer – er hatte auch diese Rolle übernommen. Ich legte den Hörer wieder auf und hielt ihm meine Hand entgegen.
»Gib mir den Dolch. Das ist nicht nötig. Ich kann dir mit den Schreien helfen.«
Ich sprang vor, schlang meine Hände um sein Handgelenk und bemühte mich, es nach unten und von ihm wegzudrücken.
»Keine Schreie mehr!« Er trat nach mir, versuchte sich zu befreien, aber ich konnte seinem unkoordinierten Angriff leicht ausweichen. Er schrie und schob mich mit aller Kraft nach hinten, bis wir in die Regale auf der gegenüberliegenden Seite krachten. Etwas schlug neben mir auf dem Boden auf, doch ich konzentrierte mich in diesem Augenblick nur auf die Klinge in der Hand des Vampirs und meine eigenen Finger, die sich um seine schlossen.
»Leg einfach den Dolch zur Seite«, sagte ich und wich zur Seite aus, als er mit seiner freien Hand nach mir schlug. Er traf etwas am Regal, was mit lautem Gepolter neben uns runterfiel. Wenn man mich schon nicht schreien gehört hatte, so würde vielleicht jemand bemerken, dass Ethans Büro auseinandergenommen wurde.
Er drückte mich erneut mit aller Kraft gegen die Regale, dann in Richtung der Fenster, als ob er mich lästiges Stück einfach abzuschaben versuchte. Meine Hände begannen rutschig zu werden, und sein Blick wurde immer panischer.
Er wich zurück und schaffte es, sich zu befreien. Ich stolperte nach hinten. Ich ging zwar nicht zu Boden, landete aber wieder in den Regalen. Ich nahm den Blick nicht von ihm und tastete hektisch die Bücher hinter mir ab, in der Hoffnung, eine Waffe zu finden. Meine suchenden Finger ließen mehrere zerbrechliche Dinge zu Boden gehen, bis ich etwas Kaltes, Hartes ertastete. Ich griff zu. Er stürzte sich auf mich. Ich holte aus und rammte ihm meine Waffe gegen die Schläfe.
Er stolperte, knallte gegen die Rückseite der Couch, prallte ab und umschlang mich mit seinen Armen. Wir krachten zusammen zu Boden, sein gesamtes Gewicht auf meinem Bauch.
»Merit!«
Ich hörte meinen Namen, und dann wurde der Mann von meiner Brust gehoben. Brody hatte den Mann an den Schultern gepackt und zur Seite geworfen.
Brody war noch nicht lange bei der Wache, und er starrte mich mit aufgerissenen Augen an – das Kleid zerrissen, Strähnen, die mir ins Gesicht hingen, einen blutverschmierten Marmorobelisk in meiner Hand.
»Ich sah, dass das Licht an war«, sagte er und reichte mir die Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen. »Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass Ethan schon zurück ist, und wollte kurz nachschauen. Was ist hier passiert?«
Ich ging vorsichtig um den Mann herum, dessen Brustkorb sich regelmäßig hob und senkte, was mir im Augenblick ausreichte. Er atmete und würde ziemliche Kopfschmerzen haben, wenn er wieder aufwachte. Und er hatte sich nicht umgebracht, was schon mal gut war. Unter ihm lag das zerfetzte, glitzerübersäte Stück Stoff, das ich als Junggesellinnenschärpe getragen hatte.
Ich stellte den Briefbeschwerer auf das Bücherregal zurück und strich mir dann die Strähnen aus dem Gesicht. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich kam herein, er war hier und flippte völlig aus.«
»Er hat dich angegriffen?«
»Ja.« Ich sah auf den Mann hinab, auf das mir unbekannte Gesicht und die dreckige Kleidung, die abgekauten Fingernägel, die angeknabberte Nagelhaut. Obwohl ich ihn nun länger mustern konnte, erkannte ich ihn nicht wieder. »Kommt er dir bekannt vor?«
»Nein. Sollte er?«
»Nein«, antwortete ich, aber das war auch nur eine Vermutung. Ich wusste nicht, ob er uns bekannt sein sollte, ob er jemand war, von dem wir hätten wissen sollen, oder ob dieser Vorfall so zufällig und seltsam war, wie er auf den ersten Blick zu sein schien.
Ich deutete auf das Telefon auf Ethans Schreibtisch. »Ruf die Operationszentrale an und lass das Haus abriegeln. Ruf dann meinen Großvater an«, sagte ich, immer noch schwer atmend. »Sag ihm, dass wir hier einen kranken Vampir haben, vielleicht sogar geisteskrank. Und im Augenblick auf jeden Fall bewusstlos. Sag ihm auch, dass er die Polizei anrufen oder einen Krankenwagen rufen soll, oder beides, und sofort kommen soll. Und hol mir Ethan.«
Er zögerte keinen Augenblick. »Wird gemacht«, sagte er und rannte zu Ethans Schreibtisch, um die Anrufe zu tätigen.
Es war die Nacht vor unserer Hochzeit, und schon wieder kamen wir in Teufels Küche.
Brody rief meinen Großvater und Luc an, um sie alle nach Haus Cadogan zurückzurufen. Er blieb bei mir und dem Vampir in Ethans Büro. Wir baten die menschlichen Wachen, das Anwesen noch einmal zu durchsuchen, und Juliet und Kelley begannen damit, das Haus auf den Kopf zu stellen.
Ethan rannte praktisch in den Raum, gefolgt von Malik und schwachem Zigarrenduft. »Hüterin«, sagte Ethan, ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen und sah dann mich an. »Was zur Hölle ist hier passiert?«
»Er war in deinem Büro. Ich habe mich umgedreht, und da stand er. Er redete die ganze Zeit darüber, dass er jemanden schreien höre. Er hat sich andauernd gegen den Kopf geschlagen und Dinge angestarrt, die nicht da waren.«
»Paranoid?«, fragte Ethan. »Schizophren?«
»Ich weiß es nicht. Kräftig, genervt, und ich glaube, er hatte Angst.«
»Genervt?«, fragte Malik.
Ich runzelte die Stirn. »Als ob die Stimme ein Juckreiz wäre, den er nicht wegbekam. Er hatte Angst.«
»Er hat dich angegriffen«, sagte Ethan.
»Er hat angegriffen. Ich glaube nicht, dass ihm klar war, wer ich war. Und dann hat er versucht, sich umzubringen – er wollte sich den Brieföffner in den Kopf rammen.« Ich deutete auf die Stelle am Boden, wo die schmale Klinge noch lag. »Ich habe ihn mit deinem Briefbeschwerer bewusstlos geschlagen.«
»Ich bin froh, dass er sich als nützlich erwiesen hat.« Dann musterte er mich argwöhnisch. »Was hast du hier drin gemacht?«
»Das Licht war an. Da wir uns an Helens Notiz halten, wollte ich dir eine kurze Nachricht schreiben und dir eine Gute Nacht wünschen.« Ich blickte auf den Vampir hinab. »So weit bin ich allerdings nicht gekommen.«
Luc kam ins Büro gerannt, und sein Blick huschte vom Vampir zu Ethan und zu mir. »Was ist passiert?«
»Diese Frage habe ich auch gestellt«, sagte Ethan mit ernstem Blick. »Ein nicht bekannter Vampir hat sich Zugang zum Haus verschafft und meine Hüterin angegriffen. Und ich will wissen, wie das passieren konnte, verdammt noch mal.«
Wir warteten auf meinen Großvater, Catcher und Jeff Christopher, das Computergenie im Dienste meines Großvaters, die von zwei Polizisten und einem Krankenwagen begleitet wurden. Die Rettungssanitäter legten den Vampir auf eine Trage, fixierten ihn und brachten ihn aus dem Haus.
Nun, da er das Haus verlassen hatte und es wieder frei von seinen Wahnvorstellungen war, spürte ich, wie sich ein Teil meiner Anspannung löste. Mein Großvater, der wie immer seine großväterlich aussehende Hose und das dazu passende Hemd trug, klopfte mir sanft auf den Rücken. »Bist du in Ordnung?«
»Mir geht es gut«, sagte ich und nahm einen weiteren Schluck aus der Lebenssaft-Flasche, die Ethan aus dem kleinen Kühlschrank geholt hatte, der in die Bücherregale integriert war. Das war das vampirische Gegenstück zu Nervennahrung. »Es hat mir einen ziemlichen Adrenalinschub verpasst, aber das lag vor allem daran, dass er mich völlig überrascht hat.«
»Er heißt Winston Stiles«, sagte Catcher. Er war nicht nur größer als mein Großvater, sondern natürlich auch jünger und muskulöser – der rasierte Schädel und die leuchtend grünen Augen betonten seinen durchtrainierten Körper. Er trug Jeans und ein abgewetztes T-Shirt mit dem Aufdruck ›Magie ist Zauberei‹. »Er hatte sein Portemonnaie in der Hosentasche.«
»Wo bringt ihr ihn hin?«, fragte Ethan.
»In die Keramikfabrik«, sagte mein Großvater. Man hatte den früheren Industriestandort am See in eine Haftanstalt für Übernatürliche umgebaut, die man in normalen Gefängnissen nicht hätte unterbringen können. »Er bleibt dort, zumindest, bis wir uns einen ersten Überblick verschafft haben.«
»Wir reden mit ihm«, sagte Catcher.
Jeff, dessen hoch aufragende, schlanke Gestalt den weißen Tiger, der in ihm schlummerte, nicht einmal erahnen ließ, schob sich Strähnen seines hellbraunen Haars hinter die Ohren. Er trug seine geliebten Chucks, die übliche Kakihose und ein weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Das war sein Look, und der vertraute Anblick wirkte beruhigend. »Und werden seine Vergangenheit unter die Lupe nehmen«, sagte Jeff.
»Wenn ihr nichts dagegen habt«, sagte mein Großvater und deutete in Richtung Sitzbereich. »Es ist schon spät, und ich würde mich gerne setzen. Leistet ihr mir Gesellschaft?«
»Nur zu gerne«, sagte ich, denn ich wusste, dass es für meinen Großvater auf keinen Fall ›spät‹ war. Er arbeitete mit den Übernatürlichen zusammen, und das bedeutete nicht nur viel Arbeit, sondern vor allem Nachtschichten. Er wollte bloß, dass ich mich hinsetzte, um mich zu entspannen. Da ich einen Moment Ruhe durchaus gebrauchen konnte, setzte ich mich ihm gegenüber und nahm die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die mir Ethan in einem Tumbler reichte, wortlos entgegen.
Ich sah zu ihm auf und hob fragend die Augenbrauen.
»Guter irischer Whiskey«, sagte er. »Der lindert alles.« Ich war mir zwar nicht sicher, dass ich Linderung nötig hatte, aber da ich seinen besorgten Blick bemerkt hatte, tat ich ihm den Gefallen und leerte das Glas in einem Schluck, der meinen Rachen in Flammen aufgehen ließ.
»Erzähl mir, was passiert ist, eins nach dem anderen«, sagte mein Großvater, und ich ging den Vorfall gemeinsam mit ihnen durch.
»Er hat die ganze Zeit davon geredet, eine Stimme schreien zu hören, dass er sie nicht mehr hören wolle. Er schien verwirrt, ängstlich und wütend.«
»Auf mich?«, fragte Ethan. »Auf Cadogan?« Das war eine logische Schlussfolgerung, denn immerhin hatte sich der Vampir in Ethans Büro aufgehalten.
»Er hat dich nicht namentlich erwähnt. Ich dachte, er wäre einer der Bittsteller, aber er gehörte nicht zu denen, die ich heute Abend gesehen habe. Und er hat ohnehin nichts Konkretes gesagt.« Ich schloss die Augen, um mich noch einmal an alles zu erinnern, was er getan und gesagt hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob er in der Lage war, irgendetwas Konkretes zu tun. Ihr habt ihn ja gesehen – er sieht aus, als ob er schon eine ganze Zeit lang auf der Straße gelebt hätte. Es lässt sich nur schwer sagen, ob das an seinen inneren Dämonen lag oder ob das Leben auf der Straße die Dämonen erst heraufbeschworen hat. Aber es ging die ganze Zeit um die Stimme, die er wahrnahm – er wollte, dass ich sie zum Schweigen bringe. Als ich ihm sagte, dass ich das nicht könne, dass ich Hilfe herbeiholen müsse, hat er sich den Brieföffner geschnappt. Und in dem Augenblick war er mir ein Stück zu nah für meinen Geschmack.«
»Wie ist er hereingekommen?«, fragte Ethan leise. Sein wütender Blick richtete sich auf Luc. Auch auf Lucs Gesicht zeichnete sich unbändiger Zorn ab.
»Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden.« Er sah mich an.
»Es tut mir leid, Merit.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht sauer darüber, dass er hereingekommen war. Ich hatte mich ganz gut geschlagen. Aber wenn er auf einen Vampir getroffen wäre, der sich nicht hätte verteidigen können? Das hätte schlimm ausgehen können.
»Ich werde mir sofort die Überwachungsvideos anschauen«, sagte Luc.
»Wenn er als Bittsteller hereinkam«, sagte Ethan, »dann wird er sich in das Gästebuch eingetragen haben. Aber er kommt mir nicht bekannt vor. Dir?«
Mein Großvater schüttelte den Kopf und warf Catcher und Jeff einen fragenden Blick zu, den beide mit Kopfschütteln beantworteten. »Er ist nicht bei uns im Büro gewesen.«
»Hat er dir über die Person oder das Ding, das er hörte, irgendwelche Details verraten?«, fragte mich mein Großvater. »Ein Vampir? Ein Mensch? Männlich, weiblich?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur dass die Stimme andauernd Hallo sagte, dass sie schrie und nicht damit aufhörte. Ich kann mir vorstellen, dass das einen in den Wahnsinn treiben kann.«
»Es hört sich so an, als ob er Hilfe bräuchte«, sagte mein Großvater und stand auf. »Wir machen uns auf den Weg und schauen, dass er ordentlich aufgenommen wird.« Er küsste mich kurz auf die Wange. »Schau, dass du ein wenig Ruhe bekommst. Du hast eine wichtige Nacht vor dir.«
»Das behaupten alle«, sagte ich und schenkte ihm in der Hoffnung ein Lächeln, dass es auch Ethans besorgte Miene entspannte.