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Gestaltwandler aus den gesamten Vereinigten Staaten finden sich zu einem Treffen in Chicago zusammen. Die Vampirin Merit erhält von Ethan Sullivan, dem Oberhaupt von Haus Cadogan, den Auftrag, den Anführer der Gestaltwandler als Leibwächterin zu begleiten. Dabei soll sie den Vampiren gleichzeitig als Spionin dienen. Ein gefährliches Unterfangen, denn bald findet sich Merit im Kreuzfeuer eines Konfliktes zwischen Gestaltwandlern und Vampiren wieder, der außer Kontrolle zu geraten droht.
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Seitenzahl: 511
TITEL
MOTTO
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
EPILOG
DANKSAGUNG
IMPRESSUM
Chloe Neill
Mitternachtsbisse
Roman
Ins Deutsche übertragen von Marcel Bülles
»Diplomatie ist die Kunst, ›braves Hündchen‹ zu sagen, bis man einen Stein findet.«
Will Rogers
KAPITEL EINS
Werde Mitglied
Anfang Juni
Chicago, Illinois
Ich befand mich am Anfang der Route 66, dem Ort, wo »Amerikas Hauptstraße« ihre Reise quer durch die Vereinigten Staaten beginnt: Der Buckingham-Brunnen, das Herz des Grant Park, verdankte seinen Namen dem Bruder der Frau, die den Brunnen der Stadt Chicago gespendet hatte. Tagsüber schoss der Brunnen seinen zentralen Strahl fünfundvierzig Meter in die Höhe – eine mächtige Wassersäule zwischen dem Michigansee und Downtown Chicago.
Doch es war bereits Nacht, und dann wurden die Wasserspiele abgeschaltet. Offiziell war der Park geschlossen, aber das hielt eine Handvoll Nachzügler nicht davon ab, sich einen Platz am Brunnen zu suchen oder auf den Stufen zu sitzen, die zum Lake Shore Drive hinabführten, und den Ausblick auf die dunklen glitzernden Wellen des Michigansees zu genießen.
Ich sah auf die Uhr. Es war acht Minuten nach Mitternacht. Ich war hier, weil mir jemand anonyme Mitteilungen hatte zukommen lassen. Die ersten spielten auf eine Einladung an, die ich schließlich mit der letzten erhielt und die mich um Mitternacht an den Brunnen bestellte. Mein geheimnisvoller Freund war also acht Minuten zu spät.
Ich hatte keine Idee, wer mich eingeladen hatte oder warum, aber ich war neugierig genug, um die Fahrt von meinem Zuhause in Hyde Park hierher zu wagen. Ich war auch vorsichtig genug, nicht unbewaffnet aufzutauchen – ich trug einen kurzen Dolch mit perlmuttüberzogenem Griff, den ich mir auf der linken Seite unter meine Kostümjacke geschnallt hatte. Der Dolch war ein Geschenk des Meistervampirs Ethan Sullivan gewesen. Ein Geschenk für die Hüterin seines Hauses. Für mich.
Wie der stereotype Vampir sah ich vermutlich nicht aus, denn die Dienstkleidung des Hauses Cadogan – ein eng anliegender, gut geschnittener schwarzer Hosenanzug – war nicht wirklich das, was man in Horrorfilmen zu sehen bekommt. Meine langen, glatten dunklen Haare hatte ich, wie sonst auch, zu einem hoch sitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden. Außerdem trug ich Stöckelschuhe im Mary-Jane-Stil, die ziemlich gut zum Hosenanzug passten, obwohl mir meine Puma-Sportschuhe lieber gewesen wären. Für Notfälle im Haus hatte ich meinen Piepser an meinem Hosenbund befestigt.
Als Hüterin des Hauses trug ich normalerweise ein Katana bei mir, etwa neunzig Zentimeter geschärften Stahl, aber zu diesem Treffen hatte ich es nicht mitgenommen. Eine blutrote Schwertscheide hätte meiner Meinung nach bei den Menschen zu viel Aufsehen erregt. Immerhin befand ich mich außerhalb der Öffnungszeiten im Park. Die Mitarbeiter des Chicago Police Department hätte es auf jeden Fall auf den Plan gerufen; ein sehr langes Samurai-Schwert würde sie sicherlich nicht glauben lassen, ich wäre nur hier, um ein paar Leute kennenzulernen.
Apropos Leute kennenlernen …
»Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest«, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und sah den Vampir, der mich angesprochen hatte, mit großen Augen an. »Noah?«
Um genauer zu sein, handelte es sich um Noah Beck, den Anführer der abtrünnigen Vampire – Blutsauger, die nicht zu einem der Häuser gehörten.
Noah war kräftig gebaut – seine Schultern waren breit, sein Körper muskulös. Seine gelockten braunen Haare standen ihm vom Kopf ab. Er hatte blaue Augen und heute Abend einen Dreitagebart. Noah war kein Model-Typ, aber mit seiner Figur, seinem kantigen Kinn und der leicht gekrümmten Nase hätte er locker die Hauptrolle in einem Actionfilm übernehmen können. Er war wie immer komplett schwarz gekleidet: schwarze Cargohose, schwarze Stiefel und ein eng anliegendes, schwarzes Ripp-Shirt als Ersatz für das langärmelige Shirt, das er bei kälteren Temperaturen trug.
»Du hast mich hierher eingeladen?«
»Das habe ich«, sagte er.
Da er keine weitere Erklärung folgen ließ, neigte ich meinen Kopf zur Seite und fragte ihn: »Warum hast du mich nicht einfach angerufen und um ein Treffen gebeten?« Oder noch besser: Warum hast du nicht Ethan angerufen? Der hatte normalerweise nicht das geringste Problem damit, mich in die Arme bedürftiger Vampire zu treiben.
Noah verschränkte die Arme vor der Brust, und seine Miene wirkte sehr ernst. Er hatte den Kopf so weit gesenkt, dass sein Kinn fast das T-Shirt berührte. »Weil du Sullivan gehörst und dieses Treffen nichts mit ihm zu tun hat. Es hat mit dir zu tun. Wenn ich diese Briefe unterschrieben hätte, dann wärst du verpflichtet gewesen, ihm von unserem Treffen zu berichten.«
»Ich gehöre Haus Cadogan«, stellte ich klar, denn entgegen der allgemeinen Meinung war ich nicht Ethans persönlicher Besitz. Allerdings hatte ich durchaus den einen oder anderen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. »Was bedeutet, dass ich dir nicht garantieren kann, den Inhalt des Gesprächs für mich zu behalten«, fügte ich mit einem Lächeln hinzu. »Aber das hängt davon ab, was du mir zu sagen hast.«
Noah löste seine Arme, steckte eine Hand in eine seiner Hosentaschen und zog eine dünne rote Karte hervor. Er hielt sie zwischen zwei Fingerspitzen fest und reichte sie mir.
Ich wusste, was auf ihr stand, bevor ich sie entgegennahm. Ich würde die Initialen RG vorfinden und eine in Weiß aufgestempelte Fleur-de-lis. Eine identische Karte war in meinem Zimmer im Haus Cadogan zurückgelassen worden, aber ich wusste immer noch nicht, was die Initialen bedeuteten.
»Was heißt RG?«, fragte ich ihn und gab ihm die Karte zurück.
Noah nahm sie entgegen und steckte sie wieder in die Tasche. Dann sah er sich um, zeigte mit einem Finger auf mich und lief in Richtung See. Ich folgte ihm mit erhobenen Augenbrauen, und dann begann der Geschichtsunterricht.
»Die Französische Revolution war für die europäischen Vampire eine kritische Phase«, sagte er, als wir die Stufen hinuntergingen, die vom Park zur Straße führten. »Als die Terrorherrschaft begann, griff die Hysterie auf die Vampire über – genau wie bei den Menschen. Aber als Vampire damit begannen, ihre Novizen und Meister an das Militär zu verraten, als sie auf offener Straße mit dem Beil der Guillotine geköpft wurden, brach Panik im Conseil Rouge aus – dem Rat, der die Vampire anführte, bevor das Greenwich Presidium die Macht übernahm.«
»Das waren die Zweiten Säuberungen, richtig?«, fragte ich. »Französische Vampire verpfiffen ihre Freunde, um die eigene Haut zu retten. Unglücklicherweise wurden die Vampire, die sie dem Pöbel überlassen hatten, alle hingerichtet.«
Noah nickte. »Genau. Die Vampire des Conseil Rouge waren alt und bestens vernetzt. Sie genossen ihre Unsterblichkeit, und sie hatten kein großes Interesse daran, vom Pöbel gelyncht zu werden. Also verschafften sie sich eine Gruppe von Vampiren, die sie schützen sollte. Vampire, die dazu bereit waren, auch Espenholz auf sich zu nehmen.«
»Ein Geheimdienst für Vampire?«
»Kein schlechter Vergleich«, gab er zu. »Die Vampire, denen dieser Dienst angetragen wurde, nannten sich selbst die Rote Garde.«
Daher das RG. »Da du mir diesen Brief geschickt hast, nehme ich mal an, du gehörst zu ihnen?«
»Ich führe eine Mitgliedskarte tatsächlich bei mir.«
Wir überquerten die Straße, erreichten den Rasen vor dem See und betraten dann den betonierten Uferweg. Als wir stehen blieben, warf ich Noah einen Blick zu und fragte mich, warum ich von ihm Geschichtsunterricht und Informationen über sein Doppelleben erhielt. »Okay, die Geschichtsstunde war ja nett, aber was hat das alles mit mir zu tun?«
»Geduld ist nicht gerade deine Stärke, oder?«
Ich hob eine Augenbraue. »Ich habe einem mitternächtlichen Treffen zugestimmt, von dem du nicht wolltest, dass mein Meister davon erfährt. Ehrlich gesagt bin ich im Moment äußerst geduldig.«
Ein wölfisches Grinsen machte sich langsam auf Noahs Gesicht breit, bis nicht nur seine geraden weißen Zähne entblößt waren, sondern auch seine messerscharfen Fangzähne.
»Es überrascht mich, Merit, dass du es noch nicht erraten hast. Ich will dich anwerben.«
Es dauerte eine geschlagene Minute, bis er wieder das Wort ergriff.
Wir standen schweigend da und sahen gemeinsam auf den See hinaus, auf dem kleine, tanzende Lichter die Segelboote in Ufernähe markierten. Ich war mir nicht sicher, woran er dachte, aber ich überlegte mir sein Angebot.
»Die Dinge haben sich geändert, seit die Garde gegründet wurde«, sagte Noah schließlich, und seine kräftige Stimme hallte durch die Dunkelheit. »Wir sorgen dafür, dass das Presidium seine Macht nicht missbraucht, wir sorgen dafür, dass seine Macht nicht zu groß wird. Wir sorgen auch dafür, dass das Machtverhältnis zwischen Meistern und Novizen halbwegs stabil bleibt. Manchmal stellen wir Nachforschungen an. In seltenen Fällen bereinigen wir ein Problem.«
Kurz gesagt wollte Noah mich für eine Organisation rekrutieren, deren Hauptaufgabe es war, Meistervampire und Greenwich Presidium daran zu hindern, zu viel Macht auf sich zu vereinen oder diese Macht willkürlich einzusetzen. Eine Organisation, deren Mitglieder ihre Meister ausspionierten.
Ich atmete tief durch, und ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit.
Ich wusste nicht, wie Ethan zur Roten Garde stand, aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass mein Beitritt von ihm als schlimmster nur denkbarer Verrat angesehen werden würde. Als ihr Mitglied würde ich mich gegen Ethan stellen, denn ich würde als Novize mit der Aufgabe betraut, ihn zu überwachen und zu bewerten. Die Beziehung zwischen Ethan und mir war ohnehin schwierig; wann immer wir miteinander zu tun hatten, begann ein gnadenloses Tauziehen zwischen unserer gegenseitigen Anziehung und unseren Pflichten. Aber das hier wäre jenseits von Gut und Böse.
Tatsächlich wäre es genau das, was Ethan bereits befürchtete – dass ich das Haus ausspionierte. Er wusste vielleicht nichts von der Einladung, der Roten Garde beizutreten, aber er wusste, dass mein Großvater, Chuck Merit, als Verbindungsmann der Stadt zu den Übernatürlichen arbeitete, und er wusste, dass meine Familie – die Merits (ja, Merit ist mein Familienname) – sich mit Seth Tate, dem Bürgermeister Chicagos, sehr gut verstand. Diese engen Verbindungen bereiteten ihm erhebliche Sorgen. Aber sollte ich mich der Garde anschließen, dann wäre das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Was mich zu einer interessanten Frage führte. »Warum ich?«, fragte ich Noah. »Ich bin gerade mal zwei Monate alt, und ich bin nicht gerade die geborene Kriegerin.«
»Du passt in unser Profil«, sagte er. »Du wurdest ohne deine Zustimmung zur Vampirin gemacht; du scheinst vielleicht auch deswegen eine andere Beziehung zu deinem Meister zu haben. Du kommst aus reichem Hause, aber du weißt auch, welcher Missbrauch damit getrieben werden kann. Als Hüterin wirst du zwar zu einer Soldatin ausgebildet, aber du warst Wissenschaftlerin. Du hast Ethan die Treue geschworen, aber du bist skeptisch genug, ihm nicht einfach blindlings zu gehorchen.«
Diese Aufzählung meiner Eigenschaften reichte vermutlich, um Ethan jeden Tag aufs Neue nervös zu machen. Aber Noah schien überzeugt, dass es genau das war, wonach er suchte.
»Und was genau müsste ich dann tun?«
»Zurzeit suchen wir nach jemandem, der im Verborgenen arbeitet. Du würdest weiterhin im Haus Cadogan bleiben, Hüterin sein und mit deinem Partner Kontakt halten.«
Ich hob die Augenbrauen. »Meinem Partner?«
»Wir arbeiten immer zu zweit«, sagte Noah und deutete mit einem Nicken hinter mich. »Genau aufs Stichwort.«
Ich warf einen Blick über die Schulter, als der Vampir zu uns am Ufer aufschloss. Er hatte auf jeden Fall das Zeug zu einem Spion; ich hatte ihn nicht näher kommen hören, obwohl sich mein Gehör um einiges verbessert hatte. Er war groß gewachsen, schlank und hatte schulterlange rostbraune Haare. Blaue Augen sahen mich unter langen Wimpern an, und er hatte ein kantiges Kinn. Sein Polohemd hatte er sich in die Jeans gesteckt. Beide Oberarme waren tätowiert – auf einem Bizeps prangte ein fliegender Engel, auf dem anderen ein schleichender Teufel.
Ich fragte mich, mit welchen inneren Dämonen er zu kämpfen hatte.
Der Neuankömmling nickte mir kurz zu und sah dann Noah an.
»Merit, Hüterin, Haus Cadogan«, stellte mich Noah vor. Dann warf er mir einen Blick zu. »Jonah, Hauptmann der Wachen, Haus Grey.«
»Hauptmann der Wachen?«, fragte ich laut, denn es erschütterte mich, dass der Hauptmann von Scott Greys Haus Mitglied der Roten Garde war. Ein Vampir in einer Vertrauensposition, dessen Aufgabe es war, den Meister des Hauses zu bewachen, ihn zu beschützen, war insgeheim Mitglied einer Organisation, die von Natur aus den Meistern misstraute? Ich ging davon aus, dass diese Erkenntnis bei Scott Grey nicht gerade Jubelstürme auslösen würde.
Zu meinem Entsetzen hörte ich mich wie Ethan an.
»Wenn du unser Angebot annimmst«, sagte Noah, »wird Jonah dein Partner sein.«
Ich sah zu Jonah hinüber und bemerkte, dass er mich mit gerunzelter Stirn betrachtete. Es lag Neugier in seinem Blick, aber auch Geringschätzung. Offensichtlich war er von dem, was er bisher von der Hüterin Cadogans gehört hatte, nicht sonderlich beeindruckt.
Da ich kein Interesse daran hatte, mich auf einen Krieg mit Ethan einzulassen, und daher auch nicht Jonahs Partnerin werden konnte, fiel es mir leicht, das zu ignorieren.
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist einfach zu viel verlangt.«
»Ich verstehe deine Zurückhaltung«, sagte Noah. »Ich weiß, was es bedeutet, deinem Haus die Treue zu schwören. Ich habe das auch getan. Aber Celina ist freigelassen worden, ob uns das nun passt oder nicht, und ich würde einiges darauf wetten, dass die nahe Zukunft wesentlich gewalttätiger sein wird, als es die letzten Jahre gewesen sind.«
»Das sehe ich genauso«, stimmte ich ihm ernst zu. Wir hatten den mörderischen Umtrieben Celina Desaulniers, der früheren Meisterin des Hauses Navarre, ein Ende gesetzt. Wir hatten der Stadt Chicago versprochen, dass sie in einem europäischen Kerker hocken wird und ihre Strafe für die Morde absitzen muss, die sie zu verantworten hat, aber das Greenwich Presidium hatte Celina wieder freigelassen. Erzürnt über ihre Gefangenschaft war sie nach Chicago zurückgekehrt und hatte nach Rache geschrien, denn die Kontrolle über das Haus Navarre hatte sie auf jeden Fall verloren. Und sie machte mich dafür verantwortlich.
Noah lächelte traurig, als ob er meine Gedanken lesen könnte. »Die Hexenmeister haben bereits vorhergesagt, dass es Krieg geben wird«, sagte er. »Wir befürchten, dass er unvermeidbar ist. Bei zu vielen Vampiren hat sich zu viel Hass auf die Menschen aufgestaut, um noch auf einen Frieden hoffen zu können – und umgekehrt gilt das genauso. Celina hat es auf bemerkenswerte Weise verstanden, diesen Hass zu schüren, und die Märtyrerin zu spielen hat sie ohnehin gut drauf.«
»Dabei hast du noch nicht mal die Sache mit den Formwandlern angesprochen«, fügte Jonah hinzu. »Die gemeinsame Geschichte der Formwandler und Vampire reicht weit zurück, und sie war immer blutig. Trotzdem hält das die Rudel nicht davon ab, sich auf den Weg nach Chicago zu machen.« Er sah mich an. »Es geht das Gerücht um, dass sie sich diese Woche treffen wollen. Passt das zu euren Informationen?«
Ich überlegte kurz, ob ich ihm antworten und damit eine kostbare Information des Hauses Cadogan preisgeben sollte. Doch da diese Information sicherlich nicht lange geheim bleiben würde, entschied ich mich dafür. »Ja. Wir haben gehört, dass sie binnen einer Woche hier sind.«
»Vertreter aller vier Rudel in Chicago«, murmelte Noah, den Blick auf den Boden gerichtet. »Das ist so, als ob die Montagues mit den Capulets in ein Haus ziehen wollten. Eine jahrhundertealte Feindschaft, und beide Familien schlagen in derselben Stadt ihre Zelte auf. Da ist der Ärger vorprogrammiert.« Er seufzte. »Hör zu. Ich bitte dich lediglich darum, es dir durch den Kopf gehen zu lassen. Deine einzige Aufgabe im Moment wäre es, in Haus Cadogan auf Abruf zu bleiben, bis …«
Bis, hatte er gesagt, als ob er den nahenden Konflikt für unvermeidbar hielt.
»Du würdest im Verborgenen bleiben, bis wir den Frieden nicht mehr garantieren können. Sollte dieser Punkt erreicht sein, müsstest du dich bereit erklären, dich uns ganz anzuschließen. Du müsstest dazu bereit sein, dein Haus zu verlassen.«
Ich bin mir sicher, dass man mir mein Entsetzen vom Gesicht ablesen konnte. »Du willst, dass ich Haus Cadogan ohne Hüterin zurücklasse – mitten in einem Krieg?«
»Du musst über den Tellerrand hinausschauen«, warf Jonah ein. »Du würdest deine Dienste, deine Fähigkeiten allen Vampiren zur Verfügung stellen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den Häusern. Die Rote Garde würde dir die Möglichkeit bieten, dich für alle Vampire einzusetzen, nicht nur für die Meister.«
Die eigentliche Aussage war: nicht nur für Ethan. Ich wäre nicht mehr Ethans Hüterin, nicht mehr seine Vampirin. Ich wäre eine Vampirin, die außerhalb der Häuser existierte, die unabhängig von den Meistern und dem Presidium war und die Welt der Vampire schützte … vor Celina und ihren Kriegstreibern.
Ich war mir nicht sicher, was ich von der Anfrage der Roten Garde halten sollte. »Ich muss erst darüber nachdenken«, sagte ich.
Noah nickte. »Das ist eine schwierige Entscheidung, und du solltest dir ernsthaft Gedanken darüber machen. Es geht um nicht weniger als deine Bereitschaft, dein Haus zu verlassen, um sicherzustellen, dass alle Vampire geschützt sind.«
»Wie kann ich dich erreichen?«, fragte ich ihn. Innerlich stellte ich mir außerdem die Frage, ob ich damit bereits einen Schritt getan hatte, den ich nicht mehr rückgängig machen konnte.
»Ich stehe im Telefonbuch als Sicherheitsberater. Bis dahin haben wir uns niemals unterhalten, und du hast auch nie Jonah kennengelernt. Erzähle niemandem davon – weder Freunden noch Verwandten oder Kollegen. Aber denk darüber nach, Merit: Wer braucht mehr eine Hüterin? Die Vampire im Haus Cadogan, denen gut trainierte Wachen und ein mächtiger Meister zur Seite stehen … oder all die anderen da draußen?«
Mit diesen Worten drehten er und Jonah sich um, ließen mich stehen und verschmolzen mit der Dunkelheit.
KAPITEL ZWEI
Feuer im Blut
Eine Woche später
Ich glaube, dass die Trainingsstunde mit guten Absichten angesetzt worden war. Wir, die Vampire des Hauses Cadogan, waren zusammengerufen worden, um einer Demonstration von Selbstverteidigungstechniken beizuwohnen. Das war nicht ungewöhnlich – es wurde schließlich von Vampiren erwartet, dass sie sich verteidigen können. Wer sich Tausende von Jahren vor den Menschen verborgen hält, entwickelt logischerweise einen Hang zum Verfolgungswahn. Und so genossen Ethan und ich unser gemeinsames Training (der guten Absichten), während ich lernte, mit meinen Vampirkräften umzugehen.
Allerdings hatte Ethan entschieden, dass die Umstände (sprich: Celina) mehr Training erforderten. Ich war nicht in der Lage gewesen, mich gegen Celina zu wehren, als sie vor einer Woche vor dem Haus aufgetaucht war, um mich anzugreifen. Ethan hielt mich für eine der stärksten Vampirinnen, und wenn ich es nicht schaffte, mich gegen solche Angriffe zu verteidigen, dann war es nur verständlich, dass er sich um die Sicherheit der anderen dreihundertneunzehn Vampire sorgte.
Also machte ich mich von meinem Zimmer im ersten Stock auf den Weg zum Sparringsraum im Kellergeschoss des Hauses Cadogan. Lindsey, die wie ich der Wache des Hauses angehörte und meine beste Vampirfreundin war, hatte sich mir angeschlossen, um gemeinsam mit mir zu lernen, wie wir uns am besten vor Chicagos schlimmsten Auswüchsen an Vampir-Wahnsinn schützen konnten.
Allerdings hatten wir nicht erwartet, auch noch eine Peepshow geboten zu bekommen.
»Oh mein Gott«, hauchte Lindsey, als wir den Sparringsraum betraten. Wir blieben am Rand der Tatami-Matten stehen, die den Boden bedeckten, und genossen den Anblick mit leicht geöffnetem Mund und großen Augen.
Zwei unsterbliche Vampire im besten Alter bewegten sich über die Matten. Ihre Muskeln spannten sich an und lösten sich, während sie mit bloßen Händen miteinander rangen, um den anderen zu Boden zu schicken. Sie kämpften ohne Waffen, weder Schwert noch Stahl, setzten nur ihre Hände und Füße, Ellbogen und Knie ein. Und die zusätzliche Kraft, die ihnen ihr Dasein als Vampir bescherte.
Beide waren halb nackt. Sie kämpften ohne Schuhe und Oberteile, trugen nur weiße Gi-Hosen, wie es bei Kampfsportlern üblich ist. An ihren Hälsen schimmerte golden das Medaillon des Hauses Cadogan.
Lindsey starrte Luc an, den Hauptmann der Wachen des Hauses Cadogan. Luc war früher Cowboy gewesen und dann in einen Vampirkrieger verwandelt worden. Das bedeutete breite Schultern, einen behaarten Brustkorb und lockige Haare mit blonden Strähnen, die er sich plötzlich aufhörte aus dem Gesicht zu wischen. Seine Muskeln spannten sich an, als er sich bewegte.
Lucs Kontrahent stand ihm gegenüber: Ethan Sullivan, Meister des Hauses Cadogan und der dreihundertvierundneunzig Jahre alte Vampir, der mich in die Welt der Blutsauger gebracht hatte – zwar ohne meine Zustimmung, was bedauerlich war, aber die Alternative wäre ein schneller Tod gewesen. Er war etwas über einen Meter achtzig groß, und etwa die Hälfte seines Körpers – sein flacher Bauch und seine durchtrainierte Brust zusammen mit dem schmalen Streifen blonden Haars, der von seinem Nabel nach unten verlief und unter dem Hosenbund verschwand – glänzte unter einem dünnen Schweißfilm, während er sich zu einem Roundhouse-Kick drehte.
Es machte den Eindruck, als ob Luc den Angreifer spielen sollte, aber Ethan schaffte es recht locker, ihn abzuwehren. Trotz seiner Armani-Anzüge und seines Model-Aussehens war Ethan ein perfekt ausgebildeter Krieger. Als ich ihm mit meinem Katana vor einigen Nächten an die Gurgel gehen wollte, wurde ich daran schmerzhaft erinnert.
Als ich ihn nun beim Kampf betrachtete, bekam ich eine Gänsehaut. Hitze begann durch meinen Körper zu strömen, und ich nahm an, dass sich meine blauen Augen silbern verfärbten. Ethan zuzusehen, wie er sich unter die Angriffe seines Gegners duckte, ihnen auswich und sich ständig drehte, ließ die Hitze zu einem lodernden Feuer werden. Ich befeuchtete meine Lippen und verspürte plötzlich Blutdurst, obwohl ich vor weniger als vierundzwanzig Stunden Blut zu mir genommen hatte. Blut, das der kundenfreundliche Lieferservice »Lebenssaft« in medizinischen Plastikbeuteln brachte. Außerdem hatte ich vor einer Woche Blut eines Vampirs getrunken.
Ich hatte sein Blut getrunken.
Er hatte mich in der letzten Phase meiner Wandlung zum Vampir sein Blut trinken lassen, als ich mit einem solchen Durst aufgewacht war, dass ich für einen einzigen Tropfen getötet hätte. Doch ich musste keine körperliche Gewalt anwenden. Er hatte sich mir freiwillig angeboten, und ich hatte jeden einzelnen Tropfen ausgekostet, während ich in seine silbernen Augen sah, was meine Verwandlung in ein Raubtier irgendwie besiegelte. In einen Vampir.
Hitzewallungen jagten durch meinen Körper, während mein Blick auf seinen Muskeln ruhte, die sich unter der Anstrengung anspannten und lösten und seinen Bewegungen die Anmut eines jagenden Panthers verliehen. Ich hätte die plötzlichen Temperaturschwankungen meines Körpers erklären und darauf zurückführen können, dass sie eine Reaktion meines nun vollständig verwandelten Vampirkörpers waren. Dass der Anblick eines Raubtiers auf der Höhe seiner Macht erregend wirken musste, dass auf jede junge Novizin der Meister, der sie verwandelt hatte, eine solche Wirkung haben musste.
Aber eine solche Erklärung wurde Ethan Sullivan nicht gerecht – nicht einmal annähernd.
Er war fast zu schön, um wahr zu sein. Seine blonden Haare umrahmten ein atemberaubendes Gesicht, für dessen Wangenknochen jedes New Yorker Model die rechte Hand gegeben hätte und dessen Augen smaragdgrün leuchteten. Makellose Haut spannte sich über durchtrainierte Muskeln, und ich konnte bestätigen, dass jeder einzelne seiner gut einhundertachtzig Zentimeter Körpergröße perfekt war. Durch reinen Zufall hatte ich einen Blick auf Ethan werfen können, als er seiner früheren Geliebten Freude spendete, doch sie hatte ihn verraten, nur um sich Celinas räudiger Bande rücksichtsloser Übeltäter anzuschließen.
Es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass er an der Spitze der Nahrungskette stand – egal, welcher Nahrungskette. Vor allem nicht, als ich den Bewegungen seiner schlanken, groß gewachsenen Gestalt durch den Raum folgte.
Ganz besonders nicht, als ich den kleinen Schweißtropfen sah, der seinen langen, langsamen Weg entlang von Ethans flachem Bauch antrat und dabei jeden einzelnen gestählten Muskel zu überwinden hatte. Fast hatte er den Hosenbund seiner Gi-Hose erreicht.
Ich wusste, dass Ethan sich ähnlich zu mir hingezogen fühlte. Er hatte mir angeboten, seine Gefährtin zu werden, noch bevor Amber sich abgesetzt hatte und zum Team Desaulniers gewechselt war. Wir hatten uns das eine oder andere Mal geküsst, aber ich hatte es geschafft, all seine weiterführenden Angebote abzuwimmeln. Ethan wollte mich, da bestand kein Zweifel, und ich war nicht so dumm, seine Attraktivität in Zweifel zu ziehen. Sein gutes Aussehen war nun wirklich nicht zu leugnen.
Dummerweise trieb Ethan mich ständig auf die Palme – er vertraute mir nur widerwillig und warf mir gerne unberechtigte Anschuldigungen an den Kopf –, und er war sich immer noch nicht im Klaren, was ihn und mich anging. Ganz zu schweigen von seinem sonstigen Ballast: Er hielt sich für etwas Besseres, war eingebildet und zögerte keine Sekunde, alle, die ihm nahestanden, für seine politischen Ziele zu missbrauchen. Hinzu kam die Tatsache, dass unser letzter Kuss weniger als vierundzwanzig Stunden vor meiner Trennung von Morgan Greer stattgefunden hatte, dem Vampir, der Celina als Meister des Hauses Navarre ersetzt hatte. Dieser Kuss hatte nicht nur meine Leidenschaft geweckt, sondern auch unerträgliche Schuldgefühle in mir hervorgerufen.
Sicherlich konnte ich eine Beziehung mit einem besseren Mix an Emotionen finden. Mit diesem Gedanken kehrte mein Verstand zurück, und meine Leidenschaft kühlte sich merklich ab.
»Es sollte eingebildeten Vampiren verboten werden, so gut auszusehen«, sagte Lindsey und schnalzte mit der Zunge.
»Du hast völlig recht«, stimmte ich ihr zu und dachte, dass etwas weniger Leidenschaft meine Beziehung zu Ethan wesentlich einfacher gestalten würde. Ich wandte meinen Blick von den kämpfenden Vampiren ab und ließ ihn durch den restlichen Raum schweifen. Die Galerie, die den Sparringsraum umgab, war gut gefüllt, mit Vertretern beiderlei Geschlechts. Alle Frauen – und auch einige der Männer – starrten gebannt auf das Geschehen zu ihren Füßen. Mit hochroten Wangen und verträumtem Blick folgten sie jeder Bewegung.
»Auf der anderen Seite bekommen wir nur durch sie eine solche Fleischbeschau.«
Ich warf ihr einen kurzen Blick zu und hob eine Augenbraue. »Fleischbeschau?«
»Na, du weißt schon« – sie hielt inne und deutete auf ihre Brust – »oben ohne, nur mit männlichen Brüsten. Bist du anderer Meinung?«
Ich richtete meinen Blick wieder auf den Meistervampir, der sich gerade bückte, um ein Bokken, eine hölzerne Trainingswaffe, von einer der Matten aufzuheben. Durch die Bewegung traten seine Muskeln hervor, vor allem die seiner Brust.
»Ich bin absolut deiner Meinung«, antwortete ich. »Durch sie bekommen wir eine beachtliche Fleischbeschau. Und wenn sie ihren Körper schon zu Markte tragen, können sie wohl kaum erwarten, dass wir wegsehen.«
Lindsey nickte mir zustimmend zu. »Ich weiß nicht, woher dieses neue Selbstbewusstsein kommt, aber es gefällt mir.«
»Das ist mein neues Ich«, flüsterte ich ihr zu, und es stimmte. Die Verwandlung in eine vollwertige Vampirin war nicht ohne Probleme verlaufen – sowohl in geistiger als auch körperlicher Hinsicht –, aber ich kam so langsam mit mir selbst zurecht. Den physischen Teil der Verwandlung hatte ich zweimal durchlaufen müssen, weil es beim ersten Mal nicht richtig geklappt hatte. (Ethan hatte mich, weil er von Schuldgefühlen geplagt war, beim ersten Mal betäuben lassen, damit ich nicht so große Schmerzen hätte, und dadurch war die komplette Verwandlung verhindert worden.) Außerdem war ich aus dem Brownstone in Wicker Park ausgezogen, in dem ich mit meiner früheren Mitbewohnerin Mallory gelebt hatte – die früher auch meine beste Freundin gewesen und mittlerweile eine aufstrebende Hexenmeisterin war –, und hatte mir ein Zimmer in Haus Cadogan gesucht. Ich hatte mich bei Treffen mit meinen Eltern und ihren langweiligen Freunden wacker geschlagen, woran ich nur auf Befehl Ethans teilgenommen hatte, weil wir versuchten, Vampir-Raves aus den Schlagzeilen zu halten. Und wenn man mal von den beiden Schaukämpfen absah, die ich Ethan geliefert hatte, hatte ich es geschafft, Celina die Hälfte der Zeit eine Niederlage beizubringen, wenn sie auf einen Kampf aus gewesen war. Meine Kampfstatistik sah also gar nicht so schlecht aus.
Ich hatte schon einiges an Aufregung auf meinem Konto verbuchen können, hier war ich also, eine junge Vampirin in der historischen Funktion einer Hüterin, die das Haus vor allen Wesen bewahrte, mochten sie nun leben oder tot sein. Über Nacht hatte ich mich praktisch von einer Doktorandin in eine Vampirkriegerin verwandelt. Und diese Verwandlung wollte Noah Beck jetzt zu seinen Gunsten nutzen.
»Merit. Merit.«
Obwohl Lindsey meinen Namen mehrmals ausgesprochen hatte, musste sie mich erst anstoßen, um mich aus meiner Erinnerung an das Treffen mit Noah zu holen und in den Sparringsraum des Hauses Cadogan zurückzubefördern. Sie hatte mich mit der Schulter angerempelt, um meine Aufmerksamkeit zu erregen und sie auf Ethan zu richten, der vor mir stand, die Arme in die Hüften gestemmt. Seine schulterlangen blonden Haare hatte er zusammengebunden. Mit erhobener Augenbraue sah er herablassend auf mich nieder. Luc war nirgendwo zu sehen … und alle Blicke waren auf mich gerichtet.
»Ähm, ja?«, fragte ich.
Von der Galerie war Gekicher zu hören.
»Wenn du mit deinen Tagträumen fertig bist«, sagte Ethan in die folgende Stille hinein, »wärst du dann vielleicht so freundlich, auf die Matten zu kommen?«
»Entschuldigt, Lehnsherr«, murmelte ich, schlüpfte aus den Flipflops und betrat die Matten mit meinem Katana. Meine Sportkleidung hatte ich zum Glück bereits angezogen – einen schwarzen Sport-BH und eine Yoga-Hose.
Ich folgte Ethan in die Mitte des Raumes und war mir peinlich bewusst, dass Dutzende Vampire jede unserer Bewegungen verfolgten. Er blieb stehen, drehte sich um und verbeugte sich vor mir. Ich tat es ihm nach.
»Es ist wichtig«, sagte er laut, damit ihn alle hören konnten, »dass ihr auf einen Kampf vorbereitet seid, sollte sich die Notwendigkeit dazu ergeben. Um einen solchen Kampf zu meistern, müsst ihr aber erst einmal die Grundlagen lernen. Und wie ihr alle wisst, beherrscht unsere Hüterin die hohe Kunst des Freikampfs noch nicht …«
Er hielt lange genug inne, um mich ausgiebig zu mustern. Freikampf war halt nicht meine Stärke. Die Katas konnte ich ziemlich gut – die Grundbausteine, aus denen die Schwertkampfkunst der Vampire bestand. Ich war früher Balletttänzerin, und die Bewegungsabläufe hatten etwas von einem Tanz. Sie bestanden aus Positionen, Formen, Schrittabfolgen, die ich lernen und üben konnte, bis ich sie perfekt beherrschte.
Der Freikampf war eine andere Geschichte. Da ich den Großteil meiner Jugend meine Nase in Bücher gesteckt hatte, hatte ich keinerlei Erfahrung mit Kämpfen, abgesehen von etwas Kickbox-Unterricht und einigen Auseinandersetzungen mit Celinas Schergen. Ich kannte meine Schwäche: Ich verbrachte zu viel Zeit damit, den Kampf zu analysieren – auf der Suche nach der Schwäche meines Angreifers und wie ich sie für mich nutzen konnte –, während ich gleichzeitig versuchte, nicht zu viel zu denken. In der letzten Woche war mir das Ganze noch schwerer gefallen, da ich erst mit Luc daran arbeiten musste, den Lärm und die Gerüche zu bewältigen, die mich nach meiner vollständigen Verwandlung zu überwältigen drohten. Mittlerweile hatte ich sie zu einem dumpfen Rauschen reduzieren können.
»Doch die Katas sind ihr Spezialgebiet.« Ethan hob eine Augenbraue, sah mich halb herausfordernd, halb beleidigend an und wich einen Schritt zurück. »Katas, wenn ich bitten darf«, sagte er so leise, dass nur ich den Befehl hören konnte.
»Lehnsherr«, sagte ich. Ich hob das Schwert in meinen Händen, die rechte am Griff, die linke auf der Schwertscheide, und zog es mit einem schnellen, schleifenden Geräusch hervor. Seine blank polierte Klinge schimmerte im Licht. Ich ging an den Rand der Matten und legte die lackierte Schwertscheide auf den Boden.
Dann drehte ich mich mit all dem Selbstbewusstsein und Mut um, die ich aufbringen konnte – sicherlich noch mal mehr als zuvor, jetzt, wo man mich gebeten hatte, einer Geheimorganisation blutsaugender Krieger beizutreten. Ich kehrte zu Ethan zurück, sah ihn an und packte das Katana mit beiden Händen.
»Fang an«, befahl er und wich mehrere Schritte zurück, um mir ausreichend Platz zu verschaffen. Es gab sieben zweihändig ausgeführte Katas und drei weitere, die einhändig ausgeführt wurden. Diese waren für mich noch neu, aber seit meiner Verwandlung hatte ich sie geübt, und, um ehrlich zu sein: Ich wollte ein bisschen angeben. Ethan und ich trainierten erst seit einer Woche zusammen, und er hatte mich die Katas nur auf traditionelle Weise ausführen sehen – eine Kata nach der anderen, die Bewegungen genau festgelegt und präzise ausgeführt. Aber ich konnte noch mehr …
Ich spannte meinen Körper an, das Katana kampfbereit vor mir. »Schnell oder langsam?«
Er runzelte die Stirn. »Schnell oder langsam?«
Ich lächelte gewitzt unter meinem Pony. »Wähle die Geschwindigkeit.«
»Vampire?«, fragte er laut, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Schnell oder langsam?«
Es gab einige Nachzügler, die »Langsam« riefen, aber der größte Teil der Anwesenden rief: »Schnell«.
»Schnell scheint die Antwort zu sein«, sagte er.
Ich nickte, korrigierte meine Balance und fing an. Die erste Kata war ein waagerechter Schwung und die Rückkehr in die Bereitschaftsstellung. Dann folgte ein gerader Schlag nach unten. Die dritte und vierte Kata waren Kombinationen aus den ersten beiden. Der fünften, sechsten und siebten wurden noch Drehungen und Abwehrtechniken hinzugefügt.
In ihrer traditionellen Form, wenn es um Präzision und absolute Kontrolle ging, benötigte ich für jede Kata zwischen zehn und fünfzehn Sekunden.
Wenn ich sie aber schnell ausführte, so brauchte ich für alle zusammen zwanzig Sekunden. Ich hatte bei meinem früheren Trainer Catcher, einem Hexenmeister mit einem Hang zu Katanas und Schwertkampf, gelernt, sie in dieser Geschwindigkeit zu meistern. (Er war übrigens, und das war kein Zufall, Mallorys Freund und Angestellter meines Großvaters.) Catcher verlangte, dass ich die Bewegungsabläufe immer wieder wiederholte, weil er davon ausging, dass sie sich in mein motorisches Gedächtnis einprägen würden – und das hatten sie auch. Als Vampirin war ich schneller, stärker und beweglicher und konnte dank meiner verbesserten Fähigkeiten die Bewegungsabläufe zu einer so schnellen Tanzbewegung zusammensetzen, dass sie vor den Augen zu verschwimmen schien.
Nachdem ich Ethan zum zweiten Mal herausgefordert hatte, war er davon überzeugt, Catcher ersetzen zu müssen. Aber er wusste nicht, wie viel Catcher mir bereits beigebracht hatte …
Ich schloss die siebte Kata ab und kam mit einer letzten Drehung zum Stehen. Das Schwert war zwischen meinen Händen, senkrecht vor meinem Körper. Die Lichter über uns spiegelten sich in der sanften Krümmung der Klinge, und plötzlich trat Stille ein.
Ethan starrte mich an.
»Noch einmal«, sagte er so leise, dass es kaum zu hören war. Seine Augen funkelten, aber ich verwechselte seinen Blick nicht mit Begierde. Zwischen uns funkte es gewaltig, aber Ethan war bei jeder Gelegenheit, und das ohne jeden Zweifel, ein politisch denkendes und handelndes Wesen – ohne Ausnahme.
Ich war eine Waffe.
Ich war seine Waffe.
Dieses Funkeln? Habsucht, nicht mehr und nicht weniger.
»Lehnsherr«, sagte ich und nickte kurz zustimmend. Dann kehrte ich in die Bereitschaftsstellung zurück.
Ich wiederholte die Bewegungen, ließ das Schwert waagerecht über den Boden gleiten, schlug senkrecht nach unten, vollzog eine Kombination aus diagonal und senkrecht nach oben geführtem Angriff, dann eine Kombination aus einer Bogenbewegung und einer Drehung, einen Stoß nach hinten, einen Über-Kopf-Angriff, und beendete meine Übung.
»Noch mal«, befahl er, und ich gehorchte ihm.
Nachdem ich die Katas der Reihe nach erneut wiederholt und eine oder zwei seiner bevorzugten Katas acht- oder neunmal vorgeführt hatte, begann ich die Anstrengung zu spüren. Ich keuchte schwer, und meine Hände, die den rochenhautüberzogenen Griff meines Schwerts umklammerten, waren schweißnass. Als ich aufblickte, bemerkte ich, dass die Vampire auf der hölzernen Galerie, die den Sparringsraum einfasste, sich mit den Armen auf dem Geländer nach vorne beugten und mich neugierig betrachteten. Dieser Blick war mir zur Gewohnheit geworden – entweder zeigten sie an meinen Stärken Interesse, quasi aus Neugier, oder sie hielten mich für eine Irre, weil ich die bedauernswerte Angewohnheit hatte, Ethan herauszufordern.
Ich hatte, nebenbei bemerkt, wirklich vor, diese Angewohnheit abzulegen.
»Sehr gut«, sagte Ethan leise und wandte sich dann an die Zuschauer auf der Galerie. »Ich denke, das beantwortet einige der Fragen über unsere Hüterin. Und wo du schon mal hier bist« – er nickte in meine Richtung –, »gibt es etwas, was unsere neue Vorsitzende des Party-Ausschusses hinzufügen möchte, etwas, was die nächsten Veranstaltungen Cadogans betrifft? Picknicks? Cocktailpartys?«
Ich lief hochrot an. Ethan hatte mich zur Strafe für meine Herausforderung zur Vorsitzenden des Party-Ausschusses ernannt. Verglichen mit anderen Bestrafungen hatte ich noch Glück gehabt. Aber es war dennoch demütigend, und ich brauchte einen Augenblick, um mich wieder in den Griff zu kriegen.
»Ich hatte an die Sommersonnenwende gedacht. Vielleicht ein Barbecue. Ich dachte, wir laden Vampire aus den anderen Häusern ein.«
Es herrschte tiefes Schweigen, während Ethan sich den Vorschlag durch den Kopf gehen ließ – und das Publikum auf sein Urteil wartete.
»Gut«, sagte er schließlich mit einem gebieterischen Nicken und wandte sich dann wieder den Zuschauern zu. Sein Gesichtsausdruck wurde erkennbar ernster.
»Früher haben wir gedacht«, fing er an, »dass unsere Anführer die Anpassung an den Menschen für das einzig Richtige hielten. Dass der beste Weg, um unser Überleben zu sichern, der wäre, von der Bildfläche zu verschwinden und in Frieden mit den anderen Übernatürlichen zu leben.
In gewisser Hinsicht hat Celina das unmöglich gemacht. Bei allem Respekt gegenüber unseren Freunden im Haus Navarre muss ich betonen, dass sie bei jeder Gelegenheit versucht hat, unser Profil zu stärken, uns den Menschen zu entfremden und uns einander zu entfremden.« Es war eine seltene Zurschaustellung seiner Menschlichkeit, als sich eine Sorgenfalte auf seinem Gesicht zeigte und er zu Boden blickte.
»Wir stehen am Rande eines Abgrunds«, sagte er. »Wohin dieser führt, müssen wir erst noch herausfinden. So wie die Dinge liegen, haben wir eine Phase des Friedens und der relativen Ruhe genießen dürfen, eine Phase, in der die Häuser wirtschaftlich erstarkt sind. Aber unser Coming-out hat uns der Öffentlichkeit preisgegeben – einer Öffentlichkeit, die uns nicht immer gewogen war. Ob unsere vermeintliche Berühmtheit lange anhalten wird – wer weiß das schon?
Und in dieser Situation bereiten die Formwandler ein Treffen in Chicago vor, noch diese Woche. Ihr habt vielleicht schon davon gehört. Es ist uns zu Ohren gekommen, dass sie während dieser Versammlung ein für alle Mal darüber entscheiden wollen, ob sie in ihren jeweiligen Gebieten bleiben oder in ihre angestammte Heimat in Alaska zurückkehren. Wenn sie uns zurücklassen und das Blatt sich gegen uns wendet – nun, ich muss euch nicht an unsere Erfahrungen in der Vergangenheit mit den Formwandlern erinnern.«
Unzufriedenes Gemurmel war zu hören, und das Unbehagen der Anwesenden machte sich in der Luft als Magie bemerkbar. Die Vampire waren vor langer Zeit in Schwierigkeiten gewesen, und die Formwandler hatten sich damals zurückgezogen. Für die Verluste, die die Vampire anschließend zu beklagen hatten, gaben sie den Formwandlern die Schuld. Und nun befürchteten sie, dass die Formwandler sich erneut zurückziehen könnten, sollten sich die Menschen wieder gegen die Vampire wenden– dass die Vampire es wären, die die übernatürliche Last zu tragen hätten.
»Wie ihr wisst, gibt es keine offiziellen Bündnisse mit den Rudeln. Solchen Verbindungen sind sie immer aus dem Weg gegangen. Doch es ist immer noch meine Hoffnung, dass sie sich dazu entschließen, uns zu helfen, sollten wir uns gegen Feindseligkeiten, Zorn oder Angst verteidigen müssen.«
Ein Vampir stand auf. »Sie haben uns auch früher nie geholfen!«, rief er hinab.
Ethan betrachtete ihn nachdenklich. »Das haben sie nicht. Aber ihnen gegenüber zu behaupten, dass sie ›uns etwas schulden‹, hat auch nicht geholfen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um neue Verbindungen zu ihnen aufzubauen. Und bis dahin …«
Er hielt inne. Im Raum herrschte völlige Stille, denn die Vampire warteten auf seine nächsten Worte. Ich mochte meine Probleme mit Ethan haben, aber er wusste, wie man ein Publikum fesselt.
»Bis dahin«, fuhr er fort, »bitte ich euch, nicht als euer Meister, sondern als euer Bruder, euer Kollege, euer Freund: Seid vorsichtig. Achtet darauf, welchen Umgang ihr habt. Achtet auf eure Umgebung. Und was am wichtigsten ist: Zögert keinen Moment, zu mir zu kommen! Egal wann, egal wo!«
Ethan räusperte sich, und als er wieder sprach, hatte seine Stimme erneut den klaren, gebieterischen Tonfall des Meisters. »Wegtreten«, sagte er, und die Vampire auf der Galerie verließen den Sparringsraum.
Ethan kam auf uns zu. »Meine Wohnung«, sagte er zu Luc und warf mir dann einen Blick zu. »Du auch.«
»Deine Wohnung?«, fragte ich, aber Ethan hatte sich bereits einer Vampirin zugewandt, die von der Galerie zu ihm gekommen war, und lächelte sie höflich an. Ich kannte sie nicht, aber ihre Absichten waren eindeutig, wenn man von ihrer Hüfthaltung ausging und davon, wie sie geschickt mit den Fingern spielte, als sie ihre langen Haare hinter die Ohren strich. Sie beugte sich zu ihm vor und sagte etwas. Er lachte leise und höflich und fing dann an, ihr zu erklären – einschließlich hilfreicher Gesten –, wie sie ihre Hände korrekt auf den Schwertgriff zu legen hatte.
Ich konnte nichts dagegen tun, dass sich mein Mund angewidert verzog, doch bevor ich einen patzigen Kommentar loswerden konnte, spürte ich, wie jemand an meinem Pferdeschwanz zupfte. Ich warf einen Blick über die Schulter.
»Dann mal los«, sagte Luc.
»Was meinte er mit ›meine Wohnung‹?«
»Wir haben eine Besprechung.«
Das letzte Mal, als wir eine Besprechung gehabt hatten, hatte mir Ethan von den Raves erzählt – Massenfütterungen, bei denen Menschen sich in unfreiwillige Zwischenmahlzeiten verwandelten. »Geht es um die Raves?«
»Heute nicht«, sagte Luc. »Wir haben nichts mehr von Raves gehört, seit der Versuch, uns zu erpressen, fehlschlug. Malik arbeitet an einer Langzeitstrategie. Heute reden wir über Formwandler. Auf geht’s – oder willst du weiter zuschauen?«
Ich streckte ihm die Zunge heraus, folgte ihm aber, als er sich auf den Weg machte.
Im Keller des Hauses Cadogan ging es ums Geschäftliche, meist mit leicht brutalem Einschlag – es gab ein Fitnessstudio, den Sparringsraum, die Operationszentrale, ein Waffenlager. Das Erdgeschoss sowie der erste und zweite Stock waren zur Dekoration da. Angenehme Beleuchtung, französische Antiquitäten, Hartholzfußböden, teure Möbel. Mein erster Eindruck war der eines Fünf-Sterne-Hotels gewesen. Die restlichen Räumlichkeiten waren ebenso nobel, von Ethans männlich wirkendem Büro bis hin zu seiner Luxuswohnung.
Wir gingen die Haupttreppe zum zweiten Stock hinauf. Als wir Ethans Wohnung erreichten, ergriff Luc die Knäufe der Doppeltür, drehte sie und schob die Türflügel auf.
Ich war schon einmal in Ethans Zimmern gewesen, aber nur kurz. Soweit ich es beurteilen konnte, schien Ethans Anteil am zweiten Stock drei Zimmer zu umfassen – das Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und dahinter vermutlich noch ein Badezimmer. Die Wohnung war genauso elegant eingerichtet wie der Rest des Hauses – Hartholzfußböden, mit warmen Farben gestrichene Wände, ein Kamin aus Onyxmarmor, exquisite, maßgefertigte Möbel. Das Ensemble wirkte eher wie eine Suite in einem Hotel gehobener Klasse als das Zuhause eines Vampirs auf dem Höhepunkt seines (unsterblichen) Lebens.
Diesmal widmete ich meiner Suche nach Hinweisen auf die Psyche des Meisters mehr Aufmerksamkeit. Und Hinweise gab es mehr als genug – Erinnerungsstücke an mehr als vierhundert Jahre Lebensgeschichte. An einer Wand hingen Pfeil und Bogen. Ein vermutlich klappbarer Stuhl und ein Tisch, wie sie bei Feldzügen eingesetzt wurden, standen in einer Ecke und waren vielleicht Relikte aus Ethans Zeit als Soldat. Auf einer Truhe, die wie eine Anrichte aussah, befanden sich mehrere Gegenstände. Ich schlenderte hinüber, die Hände hinter dem Rücken, und begutachtete sie. Unter ihnen befanden sich zwei silberne Trophäen, die wie riesige Becher geformt waren, und ein Gemälde, auf dem die Leute Kleidung des frühen neunzehnten Jahrhunderts trugen (Ethan gehörte aber nicht zu ihnen). Außerdem lag dort noch ein flacher Stein, auf dessen Oberfläche Symbole eingeritzt waren.
Nachdem ich mir die Gegenstände angesehen hatte, schaute ich wieder auf und betrachtete den Rest des Raumes. Dabei entdeckte ich es in einer Ecke – dort, in einer Vitrine, stand ein schillerndes Fabergé-Ei.
»Oh, wow«, sagte ich und ging hin, um es mir genauer anzuschauen. Das Licht einer Hängelampe ließ die frühlingsgrüne Emaille glänzen und betonte den fauchenden goldenen Drachen, der sich um das Ei wand.
»Es gehörte Peter«, sagte Luc.
Ich sah zu ihm hinüber. »Peter?«
»Peter Cadogan.« Luc kam mit verschränkten Armen auf mich zu und deutete dann auf die Vitrine. »Der Meistervampir, der Haus Cadogan gegründet hat. Ein Geschenk des russischen Adels.« Er tippte mit dem Finger auf das Glas. »Peter stammte aus Wales, und es stellt den walisischen Drachen dar. Sieh dir das Auge an.«
Mein Blick folgte seinem Fingerzeig. Ein runder roter Edelstein war als Auge des Drachen verwendet worden. Sechs weiße Streifen verliefen von seiner Mitte nach außen.
»Es ist ein Sternrubin«, sagte er. »Äußerst selten.«
»Und unglaublich teuer«, fügte eine Stimme hinter uns hinzu. Wir richteten uns wieder auf und sahen uns um. Ethan kam herein, noch immer in seiner Gi-Hose. Um den Hals trug er ein marineblaues Handtuch, auf das ein silbernes C – Haus Cadogan – gestickt war.
»Ich springe unter die Dusche«, sagte er. »Fühlt euch wie zu Hause.« Er ging in sein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Ich hätte auch gern geduscht«, lautete mein Kommentar.
»Ich weiß. Ich kann dich von hier aus riechen.«
Ich war gerade dabei, unauffällig an meinen Achseln zu schnüffeln, als mir klar wurde, dass er mich nur aufzog. »Sehr witzig.«
»Du bist ein leichtes Opfer.«
»Du hast mir gerade was von dem Ei erzählt.«
»Oh«, sagte Luc und kratzte sich geistesabwesend an der Schläfe. »Also, Peter lernte diese russische Herzogin kennen, und sie haben sich gut verstanden. Alles rein platonisch, soweit ich das verstanden habe, aber er hat ihr auf jeden Fall einen großen Gefallen getan. Sie wollte sich bei ihm erkenntlich zeigen, also hat sie das Ei in Auftrag gegeben und den Rubin als Zugabe mit verarbeiten lassen.«
»Freunde zu haben scheint sich zu lohnen«, stellte ich fest und sprach dann in einem ernsteren Tonfall weiter. »Wo wir gerade von Peter sprechen. Wie steht es denn um einen Ersatz für unseren ehemaligen Kollegen?« Peter Spencer war aus dem Haus exkommuniziert worden, weil er uns an Celina verraten, ihren Erpressungsversuch unterstützt und ihr dabei geholfen hatte, den Hass der Vampire auf die Formwandler zu schüren. Ganz zu schweigen von dem Misstrauen der Menschen gegen Haus Cadogan.
Luc beschäftigte sich damit, ein wenig Staub von der Vitrine zu wischen. »Ich bin noch nicht in der Lage, darüber zu sprechen, Hüterin.«
Ich nickte, denn seine Reaktion überraschte mich nicht wirklich. Er hatte dem Konferenztisch in der Operationszentrale eine ziemliche Delle verpasst, als er vom Verrat Peters erfahren hatte, und sie war zum Sinnbild dieses Verrats geworden. Die Delle hatte man zwar ausgebessert, aber die Lackierung fehlte noch. Es überraschte kaum, dass sich Lucs Begeisterung in Grenzen hielt, einem neuen Mitarbeiter Vertrauen zu schenken.
Ich wollte etwas sagen – mein Verständnis für seine Lage zum Ausdruck bringen oder ein einfaches »Tut mir echt leid für dich« –, doch ein Klopfen an der Tür zum Flur hielt mich davon ab.
»Die Zubereitungen für unseren Gast«, sagte Luc, als ein Mann mit dem weißen Oberteil eines Chefkochs die Tür öffnete. Er lächelte Luc und mir höflich zu und machte Platz, damit seine Kollegin, die ebenfalls in Weiß gekleidet war, einen Servierwagen in das Zimmer schieben konnte.
Der Wagen war überladen mit Tabletts, über die silberne Servierglocken gestülpt waren.
Es war der Zimmerservice.
»Welcher Gast?«, fragte ich, als die Frau die Servierdeckel mit der Effizienz einer Hotelangestellten entfernte und aufeinanderstapelte.
Sie brachte ein breites Speisenangebot zum Vorschein: Kräcker, mehrere Käsesorten, verschiedenste Obstsorten – saftige Beeren, Scheiben butterblumengelber Mangos, frühlingsgrüne Kiwi-Scheiben – und auf Zahnstocher aufgespießte kleine Würstchen. Ich verspürte einen plötzlichen Stich – denn Mallory liebte all diese Dinge. Wir redeten immer noch nicht miteinander, und an sie zu denken tat mir immer noch weh. Also konzentrierte ich mich wieder auf diesen rollbaren Festschmaus … und das Tablett, auf dem kleines Gebäck um einen rosafarbenen, mit Mohn versehenen Dip arrangiert war.
»Der Gast ist Gabriel Keene«, sagte Luc. »Er schaut vorbei, um mit deinem und meinem Lehnsherrn zu sprechen.«
Ich lachte prustend. »Ich nehme an, das bedeutet, ihr bringt mich diese Woche dazu, Blödsinn zusammen mit den Formwandlern zu veranstalten?«
»Ich bin überrascht, Hüterin.« Ethan kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er trug seine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Den obersten Knopf hatte er geöffnet, und auch die Anzugjacke hatte er sich gespart. Luc und ich hatten noch unsere Trainingsklamotten an, was auf eher lockere Kleidungsregeln schließen ließ.
»Wir verwickeln dich so selten in Blödsinn«, sagte Ethan und nickte dann der Frau zu, die den Servierwagen hereingeschoben hatte. »Vielen Dank, Alicia. Mein Kompliment an die Küche.«
Alicia lächelte und sammelte dann ihre Stahldeckel ein. Sie verließ das Zimmer, und der Mann, der ihr die Tür aufgehalten hatte, lächelte uns zum Abschied zu, bevor auch er hinausging und die Tür hinter sich schloss.
»Ihr verwickelt mich bei jeder kleinsten Gelegenheit in Blödsinn.«
»Sie hat nicht ganz unrecht, Lehnsherr.«
Ethan schnalzte mit der Zunge. »Hauptmann meiner Wachen und macht gemeinsame Sache mit der Hüterin. Oh, wie schnell sie sich von mir abwenden.«
»In meinem Herzen steht Ihr an erster Stelle, Lehnsherr.«
Diesmal musste Ethan prustend lachen. »Das werden wir noch sehen. Nun, auf jeden Fall werden wir sehen, wem Gabriel Keene die Treue hält.«
Er warf einen Blick auf die Tabletts, bevor er sich eine Wasserflasche nahm, sie öffnete und einen Schluck trank.
»Nettes Büfett«, teilte ich ihm mit.
Er nickte. »Ich hielt es für höflich, Gabriel etwas anzubieten. Außerdem dachte ich, dass sich deine Aufmerksamkeitsspanne erheblich verlängert, wenn du vorher gefüttert wirst.«
Da musste ich ihm recht geben. Ich liebte es zu essen, und mein unersättlicher Vampir-Stoffwechsel hatte an meinem bisherigen Verhalten nichts geändert – im Gegenteil. »An dieser Stelle sollte noch mal betont werden, Sullivan, dass ich dich nur wegen des geräucherten Fleischs will, und nur deswegen.«
Er lachte kurz. »Der Punkt geht an dich, Hüterin.«
Ich grinste ihn an, schnappte mir ein Stück Käse und verschlang es. Eine satte, urige Note, die aber unter dem seltsamen Nachgeschmack litt, den fast alle teuren Käsesorten haben. »Also«, fing ich an, nachdem ich noch einige von den Käsestücken hinterhergeschoben hatte, »warum besucht Gabriel unser Haus?«
»Du erinnerst dich daran, dass er sich mit uns wegen einiger Sicherheitsvorkehrungen für die Versammlung unterhalten wollte?«
Ich nickte. Gabriel hatte es beiläufig erwähnt, als er vor einer Woche hier gewesen war.
»Nun, es scheint so, als ob du die Sicherheitsvorkehrung bist.«
Ich wurde kreidebleich. »Ich bin die Sicherheitsvorkehrung? Was soll das bedeuten?«
Ethan nahm einen weiteren Schluck aus seiner Flasche, bevor er sie wieder zudrehte. »Das bedeutet, Hüterin, dass wir dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen.«
KAPITEL DREI
Versteckspiel
»Ich habe dich an Gabriel ausgeliehen«, lautete seine Erklärung.
Ich konnte nur blinzeln. »Entschuldige, aber das hörte sich gerade so an, als ob du mich an Gabriel ausgeliehen hättest?«
»Hey«, sagte eine Stimme an der Tür. »Kann ich mich nicht glücklich schätzen, eine Leih-Hüterin zu bekommen?« Ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, hatte Gabriel Keene, Anführer des Zentral-Nordamerika-Rudels, Ethans Wohnung erreicht. Er stand im Türrahmen und hatte die Hände noch auf den Türknäufen. Sein Körper zeichnete sich vor dem Flurlicht dunkel ab.
Gabriel kam herein und machte die Tür zu. »Dein Stellvertreter hat mich hochgeschickt. Ich habe ihm gesagt, dass er auf die Formalitäten verzichten kann.«
»Gabriel«, sagte Ethan, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Gabriel schüttelte sie, und seine schweren schwarzen Stiefel verursachten ein dumpfes Geräusch auf dem Hartholzfußboden.
Sie bildeten einen interessanten Kontrast: Ethan – blond, groß gewachsen, in einem gebügelten Hemd und Anzughose; Gabriel – zerzauste braune Haare, breite Schultern, in Jeans und einem schwarzen T-Shirt. Ethan war ganz bestimmt nicht schlecht, aber Gabriel war einfach nur männlich, und diese Formwandlerenergie brachte die Luft im Raum fast zum Kochen. Tonya, seine sehr schwangere Frau, konnte sich glücklich schätzen.
Als er und Ethan sich mannhaft die Hand geschüttelt hatten, sah Gabriel zu mir herüber. »Was kostet mich denn eine Leih-Hüterin im Moment?«
»Geduld«, sagten Luc und Ethan gleichzeitig.
Die Andeutung eines Lächelns flog über Gabriels Gesicht. Ich verdrehte die Augen.
»Du erinnerst dich an Luc, Hauptmann meiner Wachen?«, fragte Ethan und deutete auf Luc. »Und natürlich an Merit?«
Gabriel nickte uns der Reihe nach zu.
»Nimm dir was zu essen«, sagte Ethan und deutete auf den Servierwagen.
Gabriel schüttelte den Kopf und zeigte dann auf eins von Ethans maßgefertigten Möbelstücken. »Darf ich mich setzen?«
Ethan nickte gnädig, und er und Luc folgten Gabriel in die Sitzecke. Ich schnappte mir einen Kräcker und tat es ihnen gleich, setzte mich aber im Schneidersitz auf den Fußboden.
»War gerade trainieren«, sagte ich mit einem entschuldigenden Lächeln zu Gabriel und deutete auf den leeren Louis-Quatorze-Stuhl neben Luc. »Ich ziehe es vor, mir keinen Vortrag darüber anhören zu müssen, dass ich die Antiquitäten ruiniere.«
»Meine Hüterin hat gerade eine Überdosis Käse und Kohlehydrate intus«, vertraute Ethan Gabriel an. »Bei allem Respekt, ich würde dir raten, sie zu ignorieren, wenn ich du wäre.«
»Die Aufgabe überlasse ich dir. Vielleicht sollten wir zur Sache kommen?«
»Selbstverständlich.«
Gabriel runzelte die Stirn und legte dann den rechten Fuß auf sein linkes Knie. »Es wäre wohl das Beste, wenn ich ganz von vorn anfange. Formwandler sind ein Haufen ziemlich unabhängiger Leute. Ich meine damit nicht, dass wir Einzelgänger sind, genau das Gegenteil ist der Fall. Wir sind immerhin in Rudeln organisiert. Aber wir existieren am Rand der menschlichen Gesellschaft. Die Vampire erwarten bei uns Zelte und Jeeps, Harleys, Rock ’n’ Roll und Jack Daniels.«
Obwohl ich eine solche Beschreibung schon einmal gehört hatte, waren die einzigen anderen Formwandler, die ich außer Gabriel kannte – Jeff Christopher, ein Formwandler Schrägstrich Computergenie und Angestellter meines Großvaters, und Chicagos Breckenridge-Familie, die so reich und betucht war wie niemand sonst –, genau das Gegenteil davon. Allerdings hatten die Breckenridges versucht, uns zu erpressen …
Gabriel zuckte mit den Achseln, und seine Stimme wurde weicher. »Nun, diese Beschreibung ist nicht ganz falsch. Und das bedeutet, dass sich vom Temperament her betrachtet Rudelmitglieder allgemein wenig für Menschen oder andere Übernatürliche interessieren. Strategien und Pläne sind ihnen egal.«
»Wofür interessieren sie sich?«, fragte Luc.
»Familie«, sagte Gabriel. »Ihre Familien, ihre Kinder, die Einheit der Rudel. Sie sind treu und werden der Entscheidung des Rudels ohne Ausnahme folgen. Diese Einstellung lässt sie zuweilen ein wenig engstirnig sein, um es mal vorsichtig auszudrücken.«
Ethan befeuchtete seine Lippen, als ob er ein unangenehmes Thema anzusprechen versuchte. »Es geht das Gerücht um, dass das Rudel nach Aurora zurückkehren wird.«
Aurora war die angestammte Heimat der Formwandler, die Ethan bereits erwähnt hatte, eine kleine, abgelegene Stadt in der Wildnis des nördlichen Alaska. Soweit ich das verstanden hatte, war das der Ort, an dem sich die Formwandler sammelten, wenn sie sich menschlicher Machenschaften entziehen wollten. Und sie konnten sich dort verstecken – wenn die Gewalt ausuferte … oder wenn die Vampire sich mal wieder in Schwierigkeiten gebracht hatten. Es war ihre Zuflucht, wenn es für die Übernatürlichen heikel wurde.
Ich war erst seit drei Monaten Vampirin. Das dazugehörige Chaos war manchmal überwältigend, und ich konnte daher das Verlangen, sich zurückzuziehen, durchaus nachvollziehen. Aber mir gefiel der Gedanke nicht, alleingelassen zu werden.
Ich musste Gabriel zugutehalten, dass er unter Ethans prüfendem Blick nicht zusammenzuckte, doch ein schwacher, magischer Strom erfüllte den Raum, der sich wie ein leises Knurren anfühlte und bitter schmeckte. Ich widerstand dem Bedürfnis, meine Schultermuskulatur zu lockern, um das unangenehme Gefühl loszuwerden. Ich nutzte außerdem meine telepathische Verbindung zu Ethan, um ihn lautlos zu warnen.
Er wird wütend, sagte ich ihm. Sei vorsichtig.
Ich bin bereit, das Terrain zu sondieren, lautete Ethans Antwort. Sie überraschte mich – Ethan war normalerweise bei strategischen Überlegungen recht zurückhaltend.
Ich hatte auch gedacht, dass nur er die Verbindung zwischen uns aufrufen kann. Offensichtlich hatte er mich die ganze Zeit ignoriert.
»Meine Absicht ist es, die Rudel zusammenkommen zu lassen. Die endgültige Entscheidung deswegen treffen die Rudelanführer. Aber davon ausgehend, dass das Gespräch gut verläuft, werden wir die Versammlung einberufen, und dann werden wir entscheiden, ob wir bei den Menschen bleiben oder uns in die Wälder zurückziehen. Und wenn das Rudel entscheidet, dass wir gehen«, fügte Gabriel bedeutungsvoll hinzu, »dann gehen wir.«
»Warum jetzt?«, fragte Ethan.
»Wir wissen, dass die Hexenmeister beginnen, Dinge zu sehen, dass Prophezeiungen gemacht werden. Prophezeiungen eines Krieges. Von Schlachten.«
Ethan nickte. Wir hatten Catcher eine solche Prophezeiung aussprechen hören.
»Habt ihr das Gerede von der Untergrundbewegung gehört?«
Ethan beugte sich vor. »Welche Untergrundbewegung?«
Gabriel wirkte wie ein Mann, der schlechte Nachrichten zu überbringen hatte. »Anti-Blutsauger-Gruppen. Menschen, die glauben, dass das Auftauchen der Vampire ein erstes Zeichen der nahenden Apokalypse ist … oder eines zweiten Bürgerkriegs.«
Ethan wurde still.
»Davon haben wir noch nichts gehört«, sagte Luc. »Keine Gerüchte, kein Gerede.«
»Wie ich schon sagte, es ist noch eine Untergrundbewegung. Wir haben von Treffen im östlichen Tennessee erfahren, aber es hört sich so an, als ob sie noch auf dem Land stattfinden und durch Mundpropaganda und handgeschriebene Flyer beworben werden, so was in der Art. Aber früher oder später wird das Ganze auf elektronischem Weg stattfinden. Wenn das geschieht, wären wir lieber nicht hier.«
Ethan lehnte sich in seinem Stuhl zurück, aber nicht, bevor er nicht einen vielsagenden Blick mit Luc ausgetauscht hatte. Ich nahm an, dass sie telepathisch über eine Strategie sprachen, wie sie an Informationen über die Anti-Blutsauger-Gruppen kommen konnten.
»Du wirst sicherlich verstehen«, sagte Ethan, »dass wir uns Sorgen darüber machen, ihr könntet gehen. Wenn ihr eure Leute, eure Fähigkeiten, eure Macht nehmt und euch in die Wildnis zurückzieht, dann lasst ihr uns zurück.«
Das Wort »allein« sprach Ethan nicht aus – wir müssten uns allein der Flut menschlicher Meinungen entgegenstellen, die, wenn Gabriel zu den Untergrund-Gerüchten recht behielt, sich bereits gegen uns wandten.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Wenn wir hierbleiben, was soll dann aus uns werden? Ich verstehe eure Angst …«
Ethan hielt eine Hand hoch und unterbrach ihn. »Bei allem gebotenen Respekt, Gabriel, aber du verstehst unsere Angst nicht.«
Und schon gab es einen erneuten Adrenalinstoß, diesmal allerdings in Ethans Ecke. Die Spannung war nun spürbar, die gemeinsam empfundene Last vieler feindseliger Jahre zwischen diesen beiden Männern und dem Volk, das sie zu beschützen suchten.
Gabriel stand auf und ging an ein Ende des Raumes. Er lehnte sich an die Wand, brachte Distanz zwischen sich und uns andere, und blickte uns dann wieder an.
»In gewisser Hinsicht habt ihr Glück, weil die Menschen glauben, sie verstünden die Vampire. Sie haben vielleicht geglaubt, dass ihr nur ein Mythos seid, aber sie haben auch geglaubt, sie würden eure Biologie verstehen. Die Menschen haben entweder versucht, sich euch anzuschließen oder euch zu vernichten. Aber was ist mit uns? Wir würden nur als Tiere angesehen werden. Als Forschungsobjekte.«
Obwohl Catcher mir mal gesagt hatte, dass Jeff gut auf sich selbst aufpassen konnte, überwältigte mich das plötzliche Bedürfnis, ihn zu finden und zu umarmen, um sicher zu sein, dass er vor all denjenigen sicher war, die ihm Schaden zufügen wollten.
»Wenn wir bleiben«, sagte Gabriel, den Blick auf den Boden gerichtet, »dann ist ein Coming-out unvermeidbar. Oder wir werden geoutet. Und das, was dann folgt, wird nicht erfreulich sein.«
Die Bedeutung seiner Worte hing schwer in der Luft.
»Dann«, sagte Ethan nach einer kurzen Pause, »ist es vielleicht an der Zeit, dass wir uns gegenseitig als das verstehen, was wir sind, ohne unrealistische Erwartungen zu haben.«
»Ich glaube nicht, dass wir die Dinge ungeschehen machen können«, sagte Gabriel. »Dafür haben wir zu viel erlebt.«
Ich bemerkte das kurze, enttäuschte Aufblitzen in Ethans Augen, und es tat mir weh, es zu sehen. Ich erkannte aber auch meine Gelegenheit und ergriff sie. Ich stand auf, sah von einem zum anderen und setzte ein wenig von Ethans Technik ein, mit der er gerne seine Vorträge hielt.
»Wir haben eine einmalige Gelegenheit«, teilte ich ihnen mit und sah dabei Ethan an. »Die meisten Menschen halten Vampire für cool, zumindest im Augenblick. Die Feindseligkeiten mögen wiederkommen, aber im Moment sind wir sicher.«
Dann wandte ich mich an Gabriel. »Wenn diese Versammlung einberufen wird, dann geht es doch darum, miteinander zu reden, oder? Und darum zu entscheiden, was getan werden muss?« Als er nickte, fuhr ich fort. »Dann habt ihr die Gelegenheit, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ihr habt die Chance, für die Zukunft zu planen, und müsst nicht auf eine Krise reagieren, bei der der Rückzug die einzige verbliebene Möglichkeit ist.«
Ich hielt einen Augenblick inne und blinzelte, um mir darüber klar zu werden, was ich als Nächstes sagen wollte. Als mir keine hübschen Formulierungen einfielen, sagte ich einfach die Wahrheit. »Ich beneide euch beide nicht darum, eine Entscheidung treffen zu müssen, was als Nächstes zu tun ist. Und ich bin noch nicht lange genug Vampir, um dieselbe Last der Vergangenheit mit mir zu tragen. Aber vielleicht ist es ja an der Zeit, etwas anderes auszuprobieren?« Ich sah Gabriel an. »Versammelt euch. Rede mit deinen Leuten über Aurora. Aber denk an die Möglichkeit, mehr von ihnen zu verlangen. Mehr als das, was sie bisher gegeben haben.«