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Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) hat mit seinem ganzen Leben - zunächst als preußischer Beamter, dann als Priester und Bischof - Zeugnis dafür abgelegt, dass Christ zu sein auch verlangt, politisch zu sein. Als Arbeiterbischof hat er die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts zum Thema der Kirche gemacht und damit die Katholische Soziallehre auf den Weg gebracht. Er hat die Sozialpflichtigkeit des Eigentums betont, eine Arbeiterschutzgesetzgebung gefordert und unermüdlich die Frage des gerechten Lohnes gestellt. Er hat darüber nachgedacht, welche Rolle das Christentum in der modernen Gesellschaft spielt, in welchem Verhältnis der Glaube an eine religiöse Wahrheit und politische Freiheit stehen und wie die Beziehung von Kirche und Staat aussehen sollte. Der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx zeigt in diesem Band: Viele der Fragen, die Ketteler gestellt hat, sind auch heute noch oder wieder aktuell. Seine damaligen Antworten können uns inspirieren bei unserer Suche nach Lösungen für die sozialen Konflikte und politischen Fragen unserer Tage.
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Seitenzahl: 132
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Reinhard Marx
Christ sein heißt politisch sein
Wilhelm Emmanuel von Ketteler für heute gelesen
©Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011www.herder.deAlle Rechte vorbehaltenAbbildung S.14: Archiv Herder
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN (Buch): 978-3-451-32428-4ISBN (E-Book): 978-3-451-33871-7
Zur Einleitung: Christ sein heißt politisch sein
Glaube und Soziale Frage: Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811– 1877)
Wilhelm Emmanuel von Ketteler für heute gelesen
Freiheit und Soziale Frage
Eigentum verpflichtet
Frei sein in Christus
Einsatz für die Armen und Schwachen
Die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik
Nachwort
Literaturhinweise
Darf ein Bischof als »Sozialbischof« bezeichnet werden oder ist das eine unzulässige Verkürzung oder gar eine übertriebene Anmaßung? Dieses Attribut wird Wilhelm Emmanuel von Ketteler, anlässlich dessen 200.Geburtstags am 25.Dezember 2011 ich dieses Buch vorlege, immer wieder zugeordnet, und ich meine: zu Recht. Vornehmste Aufgabe eines Bischofs ist es, in seinem Bistum das Evangelium zu verkündigen und die Eucharistie zu feiern. Die Verkündigung der sozialen Botschaft und die soziale Praxis der Kirche sind aber Teil dieser Verkündigung, weil der Glaube sich auswirken muss im persönlichen und gesellschaftlichen Leben. Insofern darf sich der Bischof nicht beschränken auf die scheinbar »eigentlichen« theologischen Fragen, sondern hat auch die Themen der sozialen Gerechtigkeit und die Botschaft von der Befreiung und Würde des Menschen zu bezeugen.
Spiritualität und Weltverantwortung, Mystik und Politik gehören zusammen. Mystik ist keine Weltflucht und Politik keine Glaubensflucht. Vielmehr macht die wahre Frömmigkeit des Evangeliums hellwach für die Not des Nächsten und für Ungerechtigkeit und Unfrieden. Und ebenso gewinnt |8|das politische und karitative Engagement der Kirche erst Tiefenwirkung, wenn es vom Quell echten Glaubens genährt wird. Um diese Wechselwirkung erkennen zu lassen, hilft eine Vergewisserung über das biblische Fundament.
Die Bibel verkündigt einen Gott, der sich ganz auf die Welt einlässt und sie gestalten will nach bestimmten ethischen Prinzipien, zu denen ganz zentral gehören: Recht und Gerechtigkeit, Güte und Erbarmen. Diese Vorstellung durchzieht wie ein roter Faden die ganze Bibel: In ihr begegnet uns ein Gott, der die Welt mit den Menschen, mit seinen Geschöpfen gemeinsam gestalten will. Er erteilt den Auftrag, den Garten Eden, die Erde, zu hegen und zu pflegen. Er schließt seinen Bund mit den Menschen und erneuert diesen Bund auf immer, auch nach dem Sündenfall. Gott befreit sein Volk Israel aus der Knechtschaft und beruft es, in einem ganz konkreten Land zu zeigen, dass es in gewisser Weise am Traum des Paradieses – und damit des richtigen und guten Lebens – festhält.
An diesem großen Auftrag ist das Volk Israel, und auch die Kirche, im Lauf der Geschichte immer wieder gescheitert, aber der Auftrag kann nicht einfach aufgegeben werden. Die Propheten des Alten Testaments, etwa Jesaja, ermahnen das Volk immer wieder, sich darauf zu besinnen und in allem politischen Handeln nie Gottes Bund und Auftrag zu vergessen. Denn: Gott vergisst sein Volk nicht, und Israel soll in all seinen konkreten |9|sozialen Lebensbezügen sichtbares Zeichen der Güte und Gerechtigkeit Gottes sein. Für die Bibel gehören Orthodoxie und Orthopraxie untrennbar zusammen. Eine solche herausfordernde Zentrierung auf die Konsequenzen des Glaubens im konkreten Alltag jedes Einzelnen bis in die politische Dimension hinein zeichnet sowohl das Judentum als auch das Christentum aus.
Jesus von Nazareth steht in dieser biblischen Tradition und kann nur von ihr her verstanden werden. Beim ersten Auftreten Jesu in seinem Heimatort Nazareth reicht man ihm in der Synagoge das Buch des Propheten Jesaja. Er schlägt folgende Stelle auf: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe« (Lk 4, 18f.). Dann beginnt er, den Anwesenden zu bezeugen, dass sich mit seinem konkreten Wirken hier und jetzt dieses Schriftwort erfüllt hat. Es gibt kaum eine deutlichere Stelle, in der sich Jesus so in den Kontext der prophetischen Tradition stellt, und zwar hier in die Tradition des Propheten Jesaja, die bewusst die sozialen und politischen Aspekte der Gesellschaft einbezieht.
Die zentrale Achse der Verkündigung Jesu ist seine Botschaft vom Reich Gottes. Mit Jesu Wirken |10|ist die Zeit erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Die Hoffnung auf das Reich Gottes war zur Zeit Jesu der Kern der Programme verschiedener jüdischer Gruppierungen, aber mit unterschiedlichen Perspektiven. So wollten etwa die Zeloten das Reich Gottes schaffen, indem sie eine politische Revolution in Gang bringen und so einen Gottesstaat verwirklichen. Eine andere Gruppierung, die Pharisäer, verstand das Reich Gottes hingegen als eine geistliche Größe, die in der strikten Befolgung aller Gesetze zum Ausdruck kommt. Beide jeweils einseitigen Botschaften lehnte Jesus ab. Er kehrte das Verständnis von Imperativ und Indikativ um: Nicht indem der Mensch die Gebote Gottes hält oder einen Gottesstaat schafft, kann das Heil erwirkt werden, sondern weil Gott den Menschen geschaffen hat, ihn liebt und ihn in Christus zum Leben befreit, kann der Mensch die Gebote überhaupt erst halten. Vor jedem »Du sollst tun« steht »Du bist geliebt«. Es geht nicht zunächst um die moralische Erfüllung aller Gebote, sondern mit der Annahme des Reiches Gottes ergibt sich eine Veränderung des Lebens, die sich im sozialen und politischen Bereich auswirkt. Das Reich Gottes ist im Wirken Jesu angebrochen, jetzt kannst du anders leben!
Das Reich Gottes ist letztlich reines, überwältigendes Geschenk, das den Menschen allerdings auch radikal verändert und neu orientiert. Mit der Entdeckung des Menschen, dass Gott in Jesus von |11|Nazareth an ihm handelt und ihm bereits die Zusage zum Leben gemacht hat, erfährt der Mensch, dass er die Welt in allen Dimensionen lebensdienlich gestalten kann. Die Jünger Jesu erfahren das immer wieder in Jesu Zuwendung zu den Kindern, den Armen und Ausgegrenzten. In der Gemeinschaft mit Jesus tut sich eine neue Lebenswirklichkeit auf, die ein neues Miteinander bewirkt. Die Verknüpfung von Gottes- und Nächstenliebe steht im Zentrum der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu.
Das Volk, das Jesus sammelt, soll so sein Evangelium und die Konsequenzen daraus in allen Lebensbereichen praktizieren. Für die Kirche liegen die Herausforderungen auf der Hand. Sie ist in ihrer politischen und sozialen Verkündigung dem Programm Jesu verpflichtet. Weder eine Entpolitisierung der Botschaft Jesu mit der Konsequenz einer reinen Innerlichkeit noch die Verwirklichung eines Reiches im Sinne eines klerikalen Gottesstaates werden der Botschaft des Neuen Testaments gerecht. Der Auftrag, die Welt zu gestalten, gründet in der Frohen Botschaft vom Reich Gottes mitten in der Welt, die unvollkommen bleibt, und aus der Gestaltung der Welt verstehen wir seine Frohe Botschaft immer besser. Es ist eine wechselseitige Beziehung.
Seit ihrer Entstehung ist die Katholische Soziallehre maßgeblich von einem Spannungsfeld bestimmt. Es geht um die Unterscheidung von Sozial- und Individualethik und ihr wechselseitiges |12|Verhältnis, um die Reform von Zuständen und um die Reform von Gesinnungen. Sozialethik ist mit individueller Moral nicht einfach gleichzusetzen, man muss auch Strukturen und Institutionen schaffen, die den ethischen Grundoptionen der Bibel entsprechen. Beides ist wichtig: die tätige Hilfe für den Nächsten und die strukturelle Hilfe. Beides ist vom Evangelium her im Blick zu behalten. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10, 25–37) appelliert im Grunde auch daran, dem unter die Räuber Gefallenen nicht nur zu helfen, sondern auch politisch dafür zu sorgen, dass die Wege von Jerusalem nach Jericho sicherer werden. Die tätige Nächstenliebe zielt auch auf strukturelle Fragen der Gerechtigkeit, die unter je neuen Bedingungen neu zu reflektieren und zu verändern sind. Im Gemeinsamen Wort »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz heißt es dazu: »Ein weltloses Heil könnte nur eine heillose Welt zur Folge haben. Der Einsatz für Menschenwürde und Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Solidarität ist für die Kirche konstitutiv und eine Verpflichtung, die aus ihrem Glauben an Gottes Solidarität mit den Menschen und aus ihrer Sendung, Zeichen und Werkzeug der Einheit und des Friedens in der Welt zu sein, erwächst« (101).
Unter dieser Anforderung stand auch schon Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Er hat seine soziale |13|Botschaft, sein soziales Handeln ja nicht einfach »erfunden«, sondern es war für ihn im christlichen Glauben begründet. Selbstverständlich war er geprägt von den besonderen Herausforderungen seiner Zeit, so wie wir vor den Aufgaben unserer Zeit stehen. Auch wenn in unserem Land die Situation mittlerweile eine andere ist, so sind doch Kettelers Themen global immer noch von Bedeutung.
Was wir an Ketteler aber jenseits des historischen Kontextes ablesen können, ist die Berufung für das Politische und für das Religiöse. In beidem leitete Ketteler das Ziel, dem Menschen zu dienen, und zwar gerade, weil der Mensch Ebenbild Gottes und zur ewigen Gemeinschaft mit ihm gerufen ist. An den menschenfreundlichen Gott zu glauben heißt, sich für eine menschenfreundliche Welt einzusetzen. Leib und Seele, irdisches Wohl und ewiges Heil sind nicht zu trennen, sondern aufeinander zu beziehen. Deshalb: Christ sein heißt politisch sein!
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Der Name des 1811 in Münster geborenen Wilhelm Emmanuel von Ketteler begegnet uns auch 200Jahre später noch sehr häufig. Nicht nur in Westfalen und im Bistum Mainz, sondern auch im übrigen deutschsprachigen Raum sind viele Straßen, Schulen, Bildungshäuser, Genossenschaften, Seniorenheime, Jugendeinrichtungen und ganze Wohnsiedlungen nach ihm benannt. Das hat gute Gründe, denn nicht nur in der Kirche, sondern auch in Politik, Staat und Gesellschaft des 19.Jahrhunderts spielte Ketteler eine zentrale Rolle.
In seiner Antrittsenzyklika »Deus caritas est« von 2005 nennt Papst Benedikt XVI.Ketteler einen der Wegbereiter der Katholischen Soziallehre. Besonders verehrt wurde Ketteler auch von dem seligen Johannes Paul II.Mehrfach in seinem Leben, auch schon vor seiner Wahl zum Papst im Oktober 1978, kam Karol Wojtyla nach Mainz. Und immer wieder war es ihm wichtig, bei diesen Besuchen am Grab Kettelers zu beten, der von 1850 bis zu seinem Tod im Jahr 1877Mainzer Bischof war und in der Marienkapelle des dortigen Domes beigesetzt ist. Bei seiner ersten Deutschlandreise als Papst nannte Johannes Paul II.Bischof Ketteler einen |16|»großen Vorkämpfer und Apostel in der Sozialen Frage« des 19.Jahrhunderts.
Dem polnischen Papst war die Soziallehre der Kirche immer ein besonderes Anliegen; er hat drei Sozialenzykliken geschrieben, so viele wie keiner seiner Vorgänger. Als junger Student war er im von Nazi-Deutschland besetzten Polen zur Arbeit in einem Steinbruch und in einer Chemiefabrik gezwungen worden. Drei Jahre lang lernte er so die physischen und psychischen Lasten der einfachen, hart arbeitenden Menschen kennen. Deren Schicksal und Sorgen lagen ihm fortan ganz besonders am Herzen. Seine erste Sozialenzyklika »Laborem exercens« (1981) widmete er deshalb dem Thema der Würde der menschlichen Arbeit.
Zum »Arbeiterbischof« geboren?
Vergleichbare biographische Erfahrungen haben Wilhelm Emmanuel von Ketteler nicht zum »Arbeiterbischof« prädestiniert. Im Gegenteil: Er wurde am 25.Dezember 1811 als Spross eines alten westfälischen Adelsgeschlechtes geboren. Als sechstes von insgesamt neun Kindern des Freiherrn Friedrich von Ketteler und seiner Frau Clementine genoss er die Privilegien und Vorzüge, die eine adelige Herkunft im 19.Jahrhundert mit sich brachte. Seine ersten unbeschwerten Lebensjahre verlebte er auf Schloss Harkotten, dem Stammsitz der Kettelers |17|nahe Warendorf. Dort wurde er von einem Hauslehrer unterrichtet und verbrachte seine Freizeit meist in der Natur. Der Ernst des Lebens begann für ihn jedoch bereits mit 13Jahren, als seine Eltern den sehr lebhaften, nicht immer einfach zu bändigenden Jungen für vier Jahre auf das Jesuiten-Internat in Brig im Schweizer Kanton Wallis schickten. Zurück im Münsterland, machte er 1829 sein Abitur und begann danach zunächst in Göttingen ein Studium der Rechtswissenschaften. Weitere Studienorte waren Heidelberg, München und Berlin, wo er 1833 das Staatsexamen bestand. Nach der Referendarzeit am Oberlandesgericht in Münster und einem einjährigen Militärdienst trat Ketteler 1835 als Verwaltungsbeamter in den preußischen Staatsdienst ein, wo aufgrund seiner adeligen Herkunft, seiner fachlichen wie auch menschlichen Qualitäten eine glänzende Karriere von ihm zu erwarten war.
Wendepunkt
Dann aber kam es zu einem politischen Ereignis, das seinem Leben die entscheidende Wendung gab: Ende 1837 enthob die preußische Regierung den Erzbischof von Köln, Clemens August Droste zu Vischering, seines Amtes und setzte ihn in Haft. Der Grund hierfür war ein Streit über die sogenannte Mischehenfrage. Der preußische Staat hatte |18|per Dekret verfügt, dass – zumindest wenn die Eltern sich nicht einigen konnten – Kinder aus konfessionsverschiedenen Ehen in dem Bekenntnis des Vaters erzogen werden sollten. Das aber stieß auf Widerspruch seitens der Katholiken, vor allem im Rheinland und in Westfalen. Diese Regionen waren erst durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses 1815 zu preußischen Westprovinzen geworden, was in erheblichem Maße einen Zuzug von Soldaten und Beamten aus dem preußischen Kernland nach sich zog. Und diese zum ganz überwiegenden Teil evangelischen jungen Männer gingen natürlich auch in den katholischen Gegenden Westfalens und der Rheinprovinz auf Brautschau, was zu einer Vielzahl von Ehen zwischen Protestanten und Katholikinnen führte. Das preußische Gesetz aber hatte nun zur Konsequenz, dass die in diesen Mischehen geborenen Kinder grundsätzlich evangelisch werden sollten, was viele Katholiken als eine Art schleichende »Zwangsprotestantisierung« ihrer Heimat betrachteten.
Im Hintergrund dieses Streits stand aber noch mehr: Es ging um jenen grundsätzlichen Konflikt zwischen Staat und Kirche, durch den das ganze 19.Jahrhundert geprägt war. Die Kirche wollte auch im modernen Staat ihre beherrschende Stellung behalten und nicht zu einer zivilgesellschaftlichen Institution neben anderen degradiert werden. Der Staat hingegen beanspruchte für seine moderne Bürokratie eine Allzuständigkeit und |19|wollte die überkommene Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Kirche brechen. Der Konflikt war bei diesen unterschiedlichen Interessenlagen in gewisser Weise vorprogrammiert.
Der Kölner Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering hatte in dem Streit um die Behandlung der Mischehen angeordnet, dass seine Priester interkonfessionellen Eheschließungen nur dann noch ihren Segen geben sollten, wenn beide Elternteile erklärten, die aus der Ehe hervorgehenden Kinder sollten katholisch getauft werden. Damit kündigte der Erzbischof eine umstrittene Vereinbarung seines Vorgängers mit der preußischen Regierung und setzte wieder jene Praxis in Kraft, wie sie vom Papst und vom damaligen Kirchenrecht gefordert war. Gesellschaftliche Brisanz hatte diese Anordnung freilich aber auch dadurch, dass betroffenen Paaren seinerzeit nicht der Weg zum Standesamt offenstand. Die Zivilehe gab es in Preußen noch nicht, und wer nicht kirchlich heiraten durfte, konnte gar nicht heiraten. Die preußische Regierung aber schoss bei ihrer Reaktion weit über das Ziel hinaus, indem sie die fromme Haltung des Erzbischofs kurzerhand zu einer Art Putsch umdeutete, ihn wegen staatsfeindlicher Umtriebe anklagte und für eineinhalb Jahre auf der Festung Minden einsperrte. Dieser schwerwiegende Angriff auf die Religionsfreiheit und auf das Selbstverwaltungsrecht der Kirche führte nicht nur zu einem diplomatischen Konflikt zwischen |20|dem Vatikan und Preußen, sondern sorgte auch im breiten katholischen Kirchenvolk für Empörung. Der katholische Volksteil, in Preußen eine Minderheit, fühlte sich – nicht zum ersten Mal – von der eigenen Regierung brüskiert und diskriminiert. Vor die Wahl gestellt, entweder dem Staat oder der Kirche gegenüber loyal zu sein, handelten die meisten Katholiken nach dem Apostelwort: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5, 29).
Gott mehr gehorchen als den Menschen
Auch Wilhelm Emmanuel von Ketteler sah sich zu einer Entscheidung genötigt, bat zunächst um seine Beurlaubung und quittierte im Mai 1838 endgültig seinen Dienst als preußischer Beamter. Er wolle, so schrieb er an seinen Bruder Wilderich, »einem Staate, der Aufopferung meines […] Gewissens fordert, nicht dienen« (SWB II/1, 12). Hier zeigte sich erstmals in aller Konsequenz ein Grundsatz, der fortan Kettelers ganzes Leben prägen sollte: Christ sein heißt auch politisch sein.
Ketteler verfügte seit dem Tod seines Vaters im Sommer 1832 über ein testamentarisch bestimmtes Einkommen, das ihm seine Existenz sicherte. Deswegen machte ihm das Ausscheiden aus dem Staatsdienst keine wirtschaftlichen Sorgen. Allerdings stellte sich für den 26-Jährigen nach der |21|