Das Kapital - Reinhard Marx - E-Book

Das Kapital E-Book

Reinhard Marx

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Beschreibung

Wird unsere Gesellschaft vom Kapital ruiniert oder liegt in ihm die Chance für sozialen Ausgleich und Wohlstand für alle? In seinem Buch "Das Kapital" sucht der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, nach Antworten auf diese drängenden Fragen. Er analysiert schonungslos die Schattenseiten des Kapitalismus im 21. Jahrhundert: Während die Reichen immer reicher werden, nimmt die Armut stetig zu. Doch Marx zeigt auch Wege aus der Krise auf und entwirft eine Vision von sozialer Gerechtigkeit für unsere heutige Welt. Der Autor fordert klare staatliche Regeln für die Wirtschaft und appelliert an die Verantwortung jedes Einzelnen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Denn wie Marx eindringlich mahnt: "Ein Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit hat keine Moral und auch keine Zukunft." Dieses Buch verbindet auf eindrucksvolle Weise die katholische Soziallehre mit angewandter Wirtschaftsethik. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine gerechtere Gesellschaft und einen menschlichen Kapitalismus, der dem Wohl aller dient. Ein unverzichtbarer Denkanstoß für jeden, dem die Zukunft unseres Arbeitsmarkts und unseres Zusammenlebens am Herzen liegt. Das Kapital von Reinhard Marx – jetzt als eBook erhältlich!

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Seitenzahl: 392

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Reinhard Marx

Das Kapital

Ein Plädoyer für den Menschen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ruiniert das Kapital unsere Gesellschaft? Oder gibt es im 21. Jahrhundert die Chance zu sozialem Ausgleich und Wohlstand für alle? Der Erzbischof von München und Freising Reinhard Marx sucht nach Antworten auf diese drängenden Fragen und entwirft eine Vision sozialer Gerechtigkeit für die Welt von heute. Seine Analyse: Nie triumphierte das Kapital schamloser als heute, die Armen werden ärmer und die Reichen immer reicher. Um dem einen Riegel vorzuschieben, fordert Marx vom Staat klare Regeln für die Wirtschaft. Und er appelliert an jeden Einzelnen, sich wieder mehr für die Gemeinschaft einzusetzen, denn »ein Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit hat keine Moral und auch keine Zukunft«.

Inhaltsübersicht

ZitierweiseAktualisiertes VorwortVorwortMarx schreibt an MarxI Freiheit, die ich meine …II Ökonomie für den MenschenIII … und raus bist du!IV Von antiken und modernen RäuberbandenV Das Soziale neu denkenVI Die Karten neu verteilenVII Moral fürs KapitalVIII Globalisierung der GerechtigkeitUm des Menschen willenLiteraturPäpstliche Enzykliken und weitere kirchliche DokumenteSonstige verwendete Literatur
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Anmerkungen zur Zitierweise

Zitate werden direkt im Anschluss an das Zitat belegt mit Autoren-/Herausgebername, ggf. Jahr der Publikation, Seitenangabe.

 

Die Werke von Karl Marx werden zitiert nach der im (Ost-)Berliner Dietz Verlag seit 1957 herausgegebenen Werkausgabe. Abkürzung: MEW (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke).

 

Päpstliche Enzykliken und andere kirchliche Dokumente werden mit Titel und Ziffer belegt. Beispiel: Centesimus annus44.

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Ergänzendes Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Ist die Welt durch die immer noch aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise eine andere geworden? Zuweilen mag man das vermuten, weil zumindest die öffentliche Wahrnehmung dieser globalen Krise sehr stark ist und die Auswirkungen zum Teil erst jetzt in ihrer ganzen Wucht spürbar werden. Viele Medien und Veranstaltungen haben sich schon mit den Ursachen und Auswirkungen dieser weltweiten Krise beschäftigt.

Das Thema ist seitdem zwar mit verschiedenen Schwerpunkten und Akzenten, aber doch beständig auf der medialen, der wirtschaftlichen und der politischen Tagesordnung. Manchmal stehen spezielle Detailfragen zur Klärung an, bei denen die Fachleute mit ihren Kompetenzen gefragt sind. Aber immer wieder geht es in den Diskussionen auch um Wertüberzeugungen, um ethische Prinzipien und um sozialethische Fragen, die von entscheidender Bedeutung für das Gemeinwohl sind.

Und das ist gut, weil wir wirklich eine Grundsatzdebatte über unser Wirtschaftssystem brauchen und deshalb eine Debatte über die ethischen Grundlagen dieses Systems von außerordentlicher Bedeutung ist. Das sind dann keine Themen nur für Spezialisten aus der Finanz- und Wirtschaftsbranche, sondern die Fragen gehen alle an, Arbeitnehmer und Angestellte ebenso wie Arbeitgeber, Lobbyisten und Gewerkschaftsvertreter, Vorstände von börsennotierten Unternehmen und Familienunternehmer, Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger, Politiker in allen Verantwortungsbereichen genauso wie Vertreter der sozialen Einrichtungen und Verbände.

Nach wie vor bin ich fest davon überzeugt, dass sich auch die Katholische Kirche in diesen Fragen vernehmbar zu Wort melden muss. Das war für mich auch der Grund, dieses Buch zu veröffentlichen, das Vorträge und Texte, die aus verschiedenen Anlässen in den letzten zehn Jahren erstellt wurden, in neuer Weise zusammenfasst. Als ich die Arbeiten daran im frühen Herbst 2008 abgeschlossen habe, habe ich die Dimension dieser Krise nicht voraussehen können. Seitdem ist deutlich geworden, dass es nicht um ein paar technische Fehler geht, die gemacht wurden und die leicht zu beheben sind.

Hin und wieder habe ich auch den Eindruck, dass es einfacher sei, wieder zu einem »business as usual« zurückzukehren, ganz so, als ob nichts gewesen sei, und die Krise vorschnell für überwunden zu erklären. Das wird aber nicht weiterführen. Ökonomisch und für die ganze Gesellschaft ist es wichtig, die jetzt anstehenden Probleme sowohl konkret als auch grundsätzlich anzugehen und nachhaltig zu lösen. Es geht schon um sehr grundlegende Fragen, und das System als Ganzes ist auf den Prüfstand gekommen. Gerade diese grundsätzliche Prüfung kann aber dazu beitragen, dass wir die Krise zur Chance wenden können, die zur Neuorientierung beiträgt.

Diese Krise hat noch einmal verdeutlicht, wie eng und vielfältig die weltweiten Beziehungen sind. Die globale Perspektive ist längst fester Bestandteil des alltäglichen Handelns geworden. Und ebenso klar müsste allen Beteiligten sein, dass Globalisierung kein Prozess ist, der sich selbst überlassen werden darf, sondern der gestaltet werden kann und gestaltet werden muss.

Nur weil ein Wirtschaftsbereich stark durch globale Zusammenhänge geprägt ist, kann das ja nicht bedeuten, dass ethische Fragen ausgeklammert werden. Es gibt keine moralfreien Räume, auch nicht im wirtschaftlichen Handeln. Immer geht es auch um Verantwortung und Folgenabschätzung. Wir können auch nicht mehr so tun, als ob wir national begrenzt handeln könnten, ohne dass Entscheidungen Konsequenzen in anderen Ländern der Erde haben.

So hat sich die Finanz- und Wirtschaftskrise bisher schon negativ auf die Erreichung der Milleniumsentwicklungsziele ausgewirkt, so dass sich die Zahl der Armen weltweit nicht verringert hat, sondern sogar erhöht. Wir dürfen aber gerade diese Ziele, auf deren Erreichung die Staatengemeinschaft sich bis 2015 verpflichtet hat, nicht aufs Spiel setzen. Dabei geht es ja nicht um bessere Statistiken und Durchschnittswerte, sondern es geht um Menschen. Es ist national und global vernünftig, nicht das Kapital in den Mittelpunkt zu stellen, sondern den Menschen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat Menschenleben gekostet, das sollten wir nicht vergessen.

Auch Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika Caritas in Veritate, die im Juli 2009 erschienen ist, noch einmal unterstrichen, dass die eine Menschheitsfamilie nur dann tragfähige Institutionen und Strukturen aufbauen kann, die am Weltgemeinwohl orientiert sind, wenn ein gemeinsames ethisches Verständnis möglich ist. Der Heilige Vater fordert auf, die Krise als Chance zu nutzen und eine »neue humanistische Synthese« (Caritas in veritate21) in Gang zu bringen. »Die Krise verpflichtet uns, unseren Weg neu zu planen, uns neue Regeln zu geben und neue Einsatzformen zu finden, auf positive Erfahrungen zuzusteuern und die negativen zu verwerfen. So wird die Krise Anlass zu Unterscheidung und neuer Planung. In dieser eher zuversichtlichen als resignierten Grundhaltung müssen die Schwierigkeiten des gegenwärtigen Augenblicks in Angriff genommen werden« (Caritas in veritate21).

Die Katholische Kirche bringt sich mit ihrer Soziallehre in diese Diskussionen ein. Auf der Grundlage des Evangeliums ergibt sich eine sozialethische Botschaft, die im Geist Jesu nach den Zeichen der Zeit forscht und sich auch nicht scheut, eine normative und kritische Perspektive einzubringen, die allen Menschen guten Willens vermittelbar sein soll. Dazu wollte und will ich auch mit meinem Buch einen Beitrag leisten. Ausgehend von aktuellen Fragestellungen, habe ich in diesem Buch die großen Linien der Katholischen Soziallehre aufgezeigt. Diese Linien haben sich nicht verändert und müssen sich immer wieder neu in den konkreten politischen und gesellschaftlichen Problemlagen bewähren. Deshalb habe ich entschieden, das Manuskript für die Taschenbuchausgabe unverändert zu lassen.

Ich habe mich sehr über die vielen Zuschriften und Einladungen gefreut, die mich seit Erscheinen des Buches erreicht haben. Das hat gezeigt, dass tatsächlich eine Diskussion über die drängenden Fragen verstärkt wurde. Kritik und Zuspruch sind mir gleichermaßen willkommen, weil es wirklich wichtig und auch entscheidend ist, dass wir aus verschiedenen Positionen heraus miteinander im Gespräch bleiben und uns über die Werte verständigen, die unser Leben als Einzelne und als Gemeinschaft prägen. Das ist keine einfache Aufgabe, aber es ist zweifellos lohnend, diese Herausforderung anzunehmen – um des Menschen willen!

 

München, 5. März 2010

 

Dr. Reinhard Marx

Erzbischof von München und Freising

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Vorwort zur gebundenen Ausgabe

Kirche und Politik – eine spannungsvolle Angelegenheit! Soll ein Bischof sich überhaupt zu Fragen von Wirtschaft und Politik äußern? Ist er dafür kompetent? Hat er dazu einen Auftrag? Dieses Buch antwortet auf diese Fragen mit einem klaren Ja. Die Katholische Kirche hat in der Katholischen Soziallehre eine sozialethische Botschaft, die sich letztlich aus dem Evangelium selbst ergibt. So haben es besonders die Päpste der letzten hundert Jahre gesehen und in ihren Enzykliken und Ansprachen entfaltet.

Dennoch habe ich gezögert, dieses Buch vorzulegen, weil ich doch über grundsätzliche Erwägungen hinaus sehr direkt politische und gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit aufgreife und damit die Soziallehre der Kirche im Kontext der aktuellen Politik diskutiere. Ich habe dem Drängen des Verlages und seines unermüdlichen Verlagsleiters Bernhard Meuser schließlich nachgegeben, weil ich glaube, dass die großen Linien der Katholischen Soziallehre sich auch in der konkreten politischen Praxis bewähren und weil die großen Herausforderungen, vor denen wir global stehen, ohne Wertüberzeugungen und ethische Prinzipien nicht gelöst werden können. Hier muss die Kirche sich einbringen, auch auf die Gefahr hin, kritisiert zu werden.

Ausgangspunkt der Überlegungen für dieses Buch ist Karl Marx, nicht nur wegen der Namensgleichheit. Der kleine Hinweis aus Centesimus annus26,4 von Johannes Paul II. beschäftigt mich schon viele Jahre. Mit meinen Worten: Die Wende von 1989 beinhaltet nicht nur »die Krise des Marxismus«, sondern auch den Auftrag, nun in einer globalen sozialen Marktwirtschaft die bessere Alternative zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Armut zu erarbeiten. Sonst werden die falschen Ideen von Karl Marx und seinen Epigonen erneut Zulauf bekommen. Und das wäre verheerend.

Seit meiner Arbeit im Sozialinstitut Kommende in Dortmund, dann als Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Paderborn und schließlich als Bischof habe ich mich auf vielfältige Weise zu sozialethischen Themen geäußert und äußern müssen. Zum Abschluss meiner Lehrtätigkeit habe ich mit meinem Mitarbeiter Helge Wulsdorf ein Lehrbuch zur Christlichen Sozialethik vorlegen können. Manche Artikel, Vorträge, Predigten und Texte sind in den letzten Jahren entstanden. Die Idee, diese vielfältigen Texte und Äußerungen in einer für eine breitere Leserschaft verständlicheren Weise aufzubereiten und zu aktualisieren, hat mich dann doch überzeugt. Die Katholische Soziallehre gehört eben in die allgemeine öffentliche Debatte hinein.

Dieses Buch wäre nicht möglich geworden ohne die intensive Mithilfe von Dr. Arnd Küppers, Assistent am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Universität Freiburg. Er hat sich der Mühe unterzogen, die Vielfalt meiner Vorträge, Artikel und Texte zu sichten und nach dem gemeinsam erarbeiteten Konzept etwas aufzubereiten. Ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht. Dafür sage ich ausdrücklich Dank, auch für die wunderbare Zusammenarbeit.

Danken möchte ich auch meiner Theologischen Referentin Inge Broy, die die Entstehung dieses Buches intensiv begleitet hat und immer wieder durch Kritik und Ermutigung dabei war. Gerade in der Zeit des Wechsels von Trier nach München war das für mich eine große Hilfe.

Natürlich sei dem Pattloch Verlag herzlich gedankt und vor allem Herrn Bernhard Meuser, der durch seine Hartnäckigkeit mein anfängliches Zögern überwunden hat. Auch ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht.

Ich hoffe, dass das Buch Diskussionen – auch kontroverse – hervorruft. Wir brauchen diese Grundsatzdebatte – um des Menschen willen!

 

München, 21. September 2008

 

Dr. Reinhard Marx

Erzbischof von München und Freising

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Statt einer Einleitung

Marx schreibt an Marx

Sehr geehrter Karl Marx, lieber Namensvetter,

 

Sie waren zu Ihren Lebzeiten ein entschiedener Atheist und ein kämpferischer Gegner der Kirche. Und deshalb werden es manche Marxisten, die sich als Ihre legitimen Erben wähnen, sicher als eine Art »Majestätsbeleidigung« empfinden, dass ich, ein katholischer Bischof, Ihnen diesen Brief schreibe. Ich tue es trotzdem. Zum einen, weil ich glaube, dass Sie nach Ihrem Tod einsehen mussten, dass Sie sich mit Ihrer Behauptung der Nicht-Existenz Gottes geirrt haben, und dass Sie deshalb gegenüber einem Mann der Kirche inzwischen milder gestimmt sind. Zum anderen, weil ja überliefert ist, dass Sie selbst kurz vor Ihrem Tod einmal gesagt haben: »Ich weiß nur dies: dass ich kein ›Marxist‹ bin« (MEW22, 69). Dann sollte aber auch, so denke ich, die Meinung einiger kleinlicher Genossen einem fruchtbaren Gespräch zwischen uns beiden nicht im Wege stehen.

Aber dennoch werden Sie sich vielleicht fragen, wieso ich dieses Gespräch mit Ihnen überhaupt aufnehmen möchte. Nun, das hat zunächst einmal mit meiner eigenen Biographie zu tun. Ich habe nämlich nicht nur den gleichen Nachnamen wie Sie, sondern – und das beweist, dass Gott durchaus einen Sinn für hintergründigen Humor hat – ich bin Ende 2001 auch zum Bischof von Trier ernannt worden, jener Stadt also, in der Sie 1818 geboren wurden, in der Sie Ihre Kindheit und Jugend verbracht haben und in der Sie Ihre spätere Frau Jenny kennen und lieben gelernt haben.

Zwar bin ich inzwischen gar nicht mehr in Trier, sondern Erzbischof von München und Freising, aber uns verbindet durchaus noch mehr. Bevor ich Diözesanbischof wurde, habe ich nämlich Christliche Gesellschaftslehre unterrichtet – ein Fach, das von Leuten, die weder mit Ihrem noch mit meinem Denken viel anfangen können, bisweilen als »Herz-Jesu-Marxismus« charakterisiert wird. Diese Leute erkennen ganz richtig, dass die kirchliche Soziallehre ein ganz ähnliches Interesse verfolgt, wie Sie das seinerzeit getan haben: sie möchte soziale Ungerechtigkeiten aufdecken und anprangern, sie möchte den Armen und Ausgebeuteten, denen, die in der Gesellschaft keine Lobby haben, eine Stimme geben und ihnen zu ihrem Recht verhelfen.

Aber wem schreibe ich das … Sie wissen ja nur zu gut, dass die Kirche bereits im 19. Jahrhundert die Soziale Frage nicht allein Ihnen und der von Ihnen ins Leben gerufenen kommunistischen Bewegung überlassen wollte. Sie waren noch nicht einmal geboren, da haben bereits sozial engagierte Christen wie Franz von Baader (1765–1824) und Adam Heinrich Müller (1779–1829) den im 18. Jahrhundert aufkommenden Kapitalismus scharf kritisiert und auf die Not der in den neuartigen Fabriken schuftenden Arbeiter aufmerksam gemacht.

1848 haben Sie mit Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei veröffentlicht. Sie schreiben dort, man könne das kommunistische Programm »in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen« (MEW4, 475). Im selben Jahr hat der katholische Priester und Abgeordnete des Paulskirchenparlaments Wilhelm Emmanuel von Ketteler in seinen berühmten Adventspredigten im Mainzer Dom ebenfalls die damals herrschende Eigentumsauffassung angegriffen, den Egoismus vieler Besitzender und deren Kaltherzigkeit gegenüber der Not der Armen, insbesondere der Arbeiterschaft gegeißelt. Aber anders als Sie wollte Ketteler das Eigentum nicht abschaffen, sondern er betonte schon damals das, was hundert Jahre später in das deutsche Grundgesetz geschrieben wurde: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Sowohl Ketteler als auch Sie haben sich in den dann folgenden Jahren einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Ketteler wurde 1850 auf den Bischofssitz von Mainz berufen. Er ist als »Arbeiterbischof« berühmt geworden, den die Soziale Frage und die Sorge um die Nöte der Industriearbeiterschaft zeitlebens beschäftigt haben. Sie werden sich sicher gut an ihn erinnern, denn seine Findigkeit und Umtriebigkeit sind Ihnen seinerzeit ja gehörig auf die Nerven gegangen. Als Sie 1869 das Rheinland bereisten, haben Sie Friedrich Engels einen Brief geschrieben, in dem Sie sich bitter über das Wirken meines Mitbruders im Bischofsamt beklagt haben: »Bei dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und Fahrt den Rhein herauf, habe ich mich überzeugt, dass energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. Ich werde in diesem Sinne durch die Internationale wirken. Die Hunde kokettieren (z.B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage« (MEW32, 371).

Natürlich konnte es Ihnen nicht gefallen, dass sich ein Kirchenmann, sogar ein Bischof, auf die Seite der Arbeiterschaft stellte. Das passte doch gar nicht zu Ihrer schönen Theorie, nach der die Religion »allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund« der bürgerlich-kapitalistischen Welt, »das Opium des Volks« ist und nach der die Kirche die »Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung« ist (MEW 1, 378 f.). In Ihrer Vorstellung von der damaligen Gesellschaft hätte Ketteler eigentlich die Rolle eines gutmütigen, tumben Büttels der herrschenden Klasse einnehmen müssen, der die Hoffnungslosen auf das Jenseits vertröstet und damit das bürgerlich-kapitalistische System stabilisiert. Das hat Ketteler aber nicht getan. Er hat die Gründung einer christlichen Arbeiterbewegung gefördert. Er hat den Staat aufgefordert, die Arbeiter mit Gesetzen vor Ausbeutung und entwürdigenden Arbeitsbedingungen zu schützen. Und er hat die Arbeiter zur Selbsthilfe ermuntert, hat ihnen geraten, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen, um gegenüber ihren Fabrikherren mit vereinten Kräften auftreten und so gerechte Lohn- und Arbeitsbedingungen durchsetzen zu können. Vor allem Letzteres war Ihnen zuwider, lief es doch auf ein System hinaus, in dem die Arbeiter sich nicht zusammentun, um Revolution zu machen, sondern um ihre Anliegen gemeinsam mit den Arbeitgebern auszuhandeln.

Damit steht es aus der Sicht des Nachgeborenen nun schon 2 : 0 für meinen Mitbruder. Denn wie schon bei dem Privateigentum, so hat sich auch in dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital im 20. Jahrhundert – zumindest in Deutschland und anderen Industrieländern – nicht Ihr Vorschlag eines radikalen Umsturzes, sondern Kettelers Idee eines staatlichen Arbeits- und Sozialrechts und gewerkschaftlicher Selbsthilfe der Arbeiterschaft durchgesetzt. Einer der wohl bedeutendsten lebenden deutschen Philosophen, Jürgen Habermas, der übrigens viele seiner eigenen Gedanken in Auseinandersetzung mit Ihrem Werk entwickelt hat, hat das einmal so ausgedrückt: »Die rechtliche Institutionalisierung der Tarifautonomie ist zur Grundlage einer reformistischen Politik geworden, die eine sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts herbeigeführt hat« (Habermas 1981, Bd. 2, 510). Speziell in Deutschland hat sich im Zuge dieses Prozesses die Soziale Marktwirtschaft herausgebildet. Orthodoxe Marxisten, die unverdrossen Ihren Ideen anhängen, tun sich mit einer plausiblen Erklärung dieser Entwicklung in den kapitalistischen Ländern noch heute schwer.

Ich weiß nicht, ob Sie mit der Sünde der Eitelkeit zu kämpfen haben. Wenn ja, sind Sie vielleicht geneigt nun einzuwenden, dass mein historischer Rückblick nur auf Westeuropa und Nordamerika zutrifft, während vor allem in Osteuropa zumindest zwischenzeitlich Ihre kommunistischen »Jünger« den Lauf der Geschichte bestimmt haben. Aber offen gestanden hege ich große Zweifel daran, dass Sie ernsthaft erwägen, zu so umstrittenen und fragwürdigen Personen wie Lenin oder Stalin argumentativ Zuflucht zu nehmen. Außerdem wissen Sie sehr gut, dass nach Ihrer Geschichtsphilosophie in Russland gar keine Revolution hätte stattfinden dürfen. Der Kapitalismus ist ja nach Ihrer Auffassung ein notwendiges Stadium der Geschichte, durch das die Industriegesellschaft gehen muss, bevor die Akkumulation des Kapitals und die Entfremdung der Arbeiterschaft in dem Punkt kulminieren, an dem die Entwicklung in die kommunistische Revolution umschlägt. Das Zarenreich aber war weder industrialisiert noch bürgerlich-kapitalistisch, sondern ein feudalistisch strukturierter Agrarstaat, als die Bolschewisten unter Berufung auf Sie und Ihre Ideen einen kommunistischen Staat errichteten. Insofern war die russische Revolution eher ein Argument gegen als für Ihre Theorien.

Und dort, wo nach Ihrer Prognose die Revolution hätte zuerst stattfinden sollen – in England –, wartet man noch heute vergeblich auf die Erstürmung Westminsters durch das Proletariat. Zwar ist der derzeitige britische Regierungschef Vorsitzender einer nominell sozialistischen Arbeiterpartei, aber das ist doch eher ein Etikettenschwindel.

Wie dem auch sei, ich schreibe Ihnen heute keineswegs, weil es mir eine zweifelhafte Freude bereiten würde, Ihnen zu sagen, dass Sie von der Geschichte Unrecht bekommen haben und Ketteler als einer meiner geistigen und geistlichen Vorfahren Recht bekommen hat. Ein solches »Nachtreten« entspräche nicht meinem Charakter.

Ich schreibe Ihnen ganz im Gegenteil, weil mir in letzter Zeit die Frage keine Ruhe lässt, ob es am Ende des 20. Jahrhunderts, als der »kapitalistische Westen« im Kampf der Systeme den Sieg über den »kommunistischen Osten« errungen hatte, nicht doch zu früh war, endgültig den Stab über Sie und Ihre ökonomischen Theorien zu brechen. Es sah zwar in der Tat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ganz so aus, als ob Sie sich geirrt hätten. Die durch das Tarifsystem, die Arbeitnehmermitbestimmung und das ganze Sozial- und Arbeitsrecht zu einer Erwerbsbürgergesellschaft gewandelte kapitalistische Industriegesellschaft hatte die Arbeiter von ausgebeuteten Opfern des marktwirtschaftlichen Systems zu Teilhabern an dessen Erfolgen gemacht. Wohlstand für alle schien möglich. Unter diesen Verhältnissen hatte sich, um noch einmal Habermas zu zitieren, »der designierte Träger einer künftigen sozialistischen Revolution, das Proletariat, als Proletariat aufgelöst« (Habermas 1971, 229).

Inzwischen werden wir aber darüber belehrt, dass diese integrierte Erwerbsbürgergesellschaft des 20. Jahrhunderts der historische Ausnahmefall gewesen sei, von dem wir Abschied nehmen müssten. Und das sagen uns nicht etwa die Ihnen und Ihren Theorien verbliebenen Anhänger, sondern das sagen uns manche Wirtschaftsexperten und Politiker. Deren Botschaft lautet: Die heimeligen Zeiten des nationalen Wohlfahrtsstaates sind angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung zu Ende und kommen auch niemals wieder. Auf dem neuen, weltweiten Markt gehe das Kapital in die Länder, in denen es sich am freiesten entfalten könne und in denen es der Staat zur Finanzierung seiner Aufgaben am wenigsten belaste und in Anspruch nehme. Insofern stünden auch die Länder in einer internationalen Wettbewerbssituation und müssten ihre Standorte attraktiv für Investoren machen. Im Zuge dieses Standortwettbewerbs ist weltweit zu beobachten, dass die Steuern auf Unternehmenserträge und Privateinkünfte gesenkt werden, während die von allen Bürgern zu zahlenden Verbrauchssteuern und die kommunalen Abgaben steigen. Dass diese Entwicklung vor allem zu Lasten der Ärmeren geht, ist wohl unbestreitbar.

Unattraktiv für die internationale Investorengemeinschaft soll vor allem vieles von dem sein, was den Arbeitnehmern in den hochentwickelten Ländern in den letzten Jahrzehnten lieb und teuer geworden ist: Tariflöhne, ein hoher arbeitsrechtlicher Schutzstandard, Mitbestimmung und ein starker Sozialstaat. Die Devise ist deshalb: Sozialabbau und Deregulierung. Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen diese Entwicklung, scheinen aber zunehmend machtlos. Sie können sich in der globalisierten Wirtschaft nämlich nicht mehr darauf beschränken, in nationalen Arbeitskämpfen die Arbeitnehmerinteressen gegenüber den Kapitalinteressen zur Geltung zu bringen, sondern sie müssen auch versuchen, das Kapital zu hindern, das zu tun, was Arbeitnehmer in der Regel nicht so leicht können: das Land zu verlassen. Zähneknirschend stimmen sie deshalb immer häufiger sogenannten »Bündnissen für Arbeit« zu, bei denen Arbeitnehmer für den gleichen, manchmal auch einen geringeren Lohn länger und flexibler arbeiten, um drohende Standortverlagerungen ihrer Betriebe zu verhindern.

Die beschleunigten Möglichkeiten des weltweiten Austauschs von Informationen, Gütern und auch vielen Dienstleistungen haben in dem alten Konflikt zwischen Arbeit und Kapital die Gewichte eindeutig zu Gunsten des Kapitals verschoben. Ein zeitgenössischer Soziologe, Manuel Castells, spricht von der modernen »Netzwerkgesellschaft«, in der die Formel gilt: »Kapital ist im Kern global. Arbeit ist in der Regel lokal.« Damit vergrößern sich die Möglichkeiten der Investoren, Spekulanten und Finanzjongleure, während diejenigen, die zum Erwerb auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind, ins Hintertreffen geraten. »Unter den Bedingungen der Netzwerkgesellschaft ist das Kapital global koordiniert, die Arbeit ist individualisiert. Der Kampf zwischen unterschiedlichen Kapitalisten und diversen Arbeiterklassen ist unter den fundamentalen Gegensatz zwischen der nackten Logik der Kapitalströme und den kulturellen Werten der menschlichen Erfahrung subsumiert worden« (Castells 2001, 533 f.).

Die »Modernisierer«, die die alten Wohlstandsgesellschaften, die hochentwickelten Länder der westlichen Hemisphäre, auf »Globalisierungskurs« bringen wollen, klingen eigentlich überall gleich: Wenn wir uns nicht grundlegend änderten, würden wir die Herausforderungen der neuen Zeit nicht bestehen. Es sei zum Überleben unserer Gemeinwesen zwingend notwendig, endlich einige schmerzliche Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen. Zunächst einmal sollen wir Abschied nehmen von dem alten Ideal einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, in der es keine sozialen Klassen mehr gibt. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich würden infolge der Globalisierung und der notwendigen politischen Anpassungsmaßnahmen auch in Europa und Nordamerika in Zukunft wieder zunehmen. Insbesondere die Arbeitnehmer müssten sich auf Einschnitte gefasst machen, denn die Löhne in den hochentwickelten Ländern seien viel zu hoch, um mit den in Entwicklungsländern gezahlten konkurrieren zu können. Wenn die Arbeitnehmer nicht bereit seien, sich von ihrem »Anspruchsdenken« zu verabschieden, seien die Unternehmen gezwungen, in Billiglohnländer abzuwandern und dort zu produzieren.

Aber damit nicht genug: Aufgrund der globalen Konkurrenz der Standorte und des damit einhergehenden Verdrängungswettbewerbs sollen sich die Arbeitnehmer außerdem darauf einstellen, dass immer weniger von ihnen lebenslang ihren Arbeitsplatz werden behalten können. Deswegen sollen sie ihr ganzes Leben lang lernen, um die immer wieder neuen Anforderungen des Marktes erfüllen zu können. Denn wer heute nur über »unterentwickelte« Fähigkeiten verfüge, so belehrt man uns, der werde auch nur noch einen Lohn bekommen können, wie er in den unterentwickelten Regionen dieser Welt gezahlt werde – oder er werde gar keine Arbeit bekommen.

Trotz geringerer Löhne sollen sich die Arbeitnehmer aber darauf einstellen, dass der Staat und die Sozialversicherungen ihnen künftig keinen umfassenden Schutz mehr vor den Wechselfällen des Lebens garantieren können. Deshalb sollen sie mehr Eigenvorsorge betreiben – für das Alter oder für den Fall von Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Weltweit bemühen sich Regierungen, in ihrem Wahlvolk Mehrheiten für einen entsprechenden Umbau der nationalen Sozialsysteme zu gewinnen.

Es ist daher inzwischen so weit gekommen, dass das an sich ja positiv besetzte Wort der »Reform« keine zuversichtlichen Energien in den Köpfen und Herzen der Menschen mehr hervorruft, sondern eher Ängste und Befürchtungen. Der Gedanke des Fortschritts, der sich mit Reformprogrammen verbindet, ist der Vorstellung einer notwendigen Anpassung an globale Herausforderungen gewichen – Anpassungen, die in der Regel Einschränkungen und finanzielle Einbußen bedeuten.

Mich als Bischof in der weltumspannenden katholischen Kirche würde es freilich ein wenig beruhigen, wenn ich feststellen würde, dass mit den Herausforderungen für die Menschen in den wohlhabenden Ländern dieser Welt zugleich die Chancen derjenigen in den armen, bisher benachteiligten Regionen steigen würden. Das ist aber leider nicht so. Das Wohlstandsgefälle zwischen armen und reichen Ländern nimmt vielmehr zu; weltweit steigt die relative Armut an. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass sich im Zuge der weltwirtschaftlichen Entwicklung zwei voneinander grundlegend verschiedene Gruppen von Ländern herausgebildet haben: einerseits Länder, die von der Entwicklung profitieren, andererseits Länder, die den Anschluss verpasst haben und weiter zurückfallen. Aber auch in den Ländern selbst – gerade auch in den sogenannten Schwellenländern – verstärken sich die Unterschiede zwischen Arm und Reich.

Die wirtschaftliche Globalisierung wird dabei im merkantilen Verständnis vorangetrieben. Die Stoßrichtung geht von den reichen Ländern aus in die ärmeren Länder, denen dann nahe gelegt wird, sich nicht abdrängen oder ausgrenzen zu lassen. Das geschieht freilich nicht nur durch gutes Zureden. Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation üben auf Entwicklungsländer einen erheblichen Druck aus, damit diese ihre Kapital- und Gütermärkte öffnen. In einigen auf Kredite dieser Institutionen angewiesenen Ländern haben IWF und Weltbank die grundsätzliche Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik nahezu vollständig an sich gezogen – nicht selten zur Freude ausländischer Spekulanten und zum Schrecken der einheimischen Bevölkerung.

Ich habe überrascht festgestellt, dass Sie, Herr Marx, bereits vor 150 Jahren vorhergesagt haben, uns stehe »die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes« bevor (MEW23, 790). Schon im Manifest der Kommunistischen Partei haben Sie geschrieben: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.«

Und man könnte meinen, man lese eine Kritik an der Politik unserer heutigen internationalen Handels- und Finanzorganisationen, wenn es weiter heißt: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. […] Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde« (MEW4, 466).

Betrachtet man die heutige weltwirtschaftliche Entwicklung, scheinen Sie mit Ihrer Auffassung Recht gehabt zu haben, dass das Kapital stetig nach seiner Vermehrung strebt, dass es in diesem Streben im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos ist und dass die Tendenz zur ökonomischen Globalisierung insofern dem Kapitalismus tatsächlich immanent ist.

Und Sie scheinen ferner mit der Prognose Recht gehabt zu haben, dass von dieser Entwicklung vor allem der Kapitalist profitiert, in dessen Händen sich immer mehr Kapital anhäuft. Denn es kann kaum bestritten werden, dass bisher relativ wenige Menschen mit günstigen Ausgangspositionen von dem Globalisierungsprozess profitieren, geschweige denn ihn aktiv mitgestalten können. Im Mai 2003 äußerte sich Papst Johannes Paul II. in einer Ansprache vor Sozialwissenschaftlern dazu in drastischen Worten: »Es ist bestürzend, eine Globalisierung zu sehen, die die Lebensbedingungen der Armen immer schwieriger macht, die nichts beiträgt, um Hunger, Armut und soziale Ungleichheit zu heilen, und die die Umwelt mit den Füßen tritt. Diese Aspekte der Globalisierung können zu extremen Gegenreaktionen führen: zu Nationalismus, zu religiösem Fanatismus, sogar zum Terrorismus.« Es ist unübersehbar, dass es derzeit vor allem in den Industrieländern des Nordens und in einigen Schwellenländern Gewinner der Globalisierung gibt, während sich die Armutssituationen in weniger entwickelten Ländern vielfach vertiefen. Das Gefälle zwischen Reich und Arm steigt in armen wie in reichen Ländern.

Weltweit leben heute eine Milliarde Menschen in extremer Armut; sie müssen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen, was heißt, dass ihr Überleben unmittelbar bedroht ist. Setzt man die absolute Armutsgrenze bei einem Einkommen von weniger als zwei Dollar pro Kopf und Tag an, so schätzt man die Zahl derer, die ihr Leben unter dieser Grenze bestreiten müssen, auf über 2,5 Milliarden. Dieser dramatischen Armut so vieler Menschen steht ein ebenso dramatischer Reichtum einiger weniger gegenüber. Mehr als die Hälfte des weltweiten Vermögens ist in der Hand von nur zwei Prozent der Menschheit; das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt alleine über 40 Prozent des Weltvermögens. Auf die ganze ärmere Hälfte der Menschheit verteilt sich dagegen lediglich ein einziges kümmerliches Prozent des Weltvermögens (Davies u.a. 2006).

Aber Sie scheinen nicht nur mit Ihrer Theorie von der fortschreitenden Akkumulation und Konzentration des Kapitals Recht gehabt zu haben, sondern auch mit Ihrer These von der Zentralisation des Kapitals, also der »Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist, Verwandlung vieler kleineren in weniger größere Kapitale. […] Das Kapital schwillt hier in einer Hand zu großen Massen, weil es dort in vielen Händen verlorengeht« (MEW23, 654). Im globalen Wettbewerb können sich kleinere und mittlere Betriebe tatsächlich immer schwerer gegen die Konkurrenz der Großen, insbesondere der »Global Player« behaupten. Um das festzustellen, reicht schon ein Blick in die Innenbezirke europäischer oder nordamerikanischer Städte, in denen es immer weniger kleine Händler und Fachgeschäfte gibt. Sie werden verdrängt von der Konkurrenz der großen Handelsketten und Discounter. Von dieser Krise des Einzelhandels sind inzwischen auch die großen Kaufhausketten ergriffen worden. Nicht wenige Bürgermeister fürchten angesichts dieser Entwicklung eine zunehmende Verödung der Innenstädte.

Ebenso wie viele Fachgeschäfte gehen immer mehr mittelständische Unternehmen unter dem Globalisierungsdruck in die Knie. Von ehedem 68 deutschen Rundfunk- und Fernsehgeräte-Herstellern gibt es heute noch ganze zwei als selbständige Unternehmen. Die übrigen 66 sind in größeren Unternehmen aufgegangen, vom Markt verschwunden oder existieren nur noch als Markenzeichen, das nunmehr auf Geräten ausländischer, oft asiatischer Hersteller bei einigen Kunden die Illusion von »Made in Germany« aufrechterhält.[1] Selbst ein großes Traditionsunternehmen wie Grundig mit einst fast 40000 Beschäftigten musste 2003 Insolvenz anmelden. Mit der Billigkonkurrenz aus Asien konnte das Unternehmen nicht mehr mithalten. Und so wurde es von einem Symbol des deutschen Wirtschaftswunders zu einem Menetekel für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Was für die Tendenz bei den Betrieben und Unternehmen gilt, ist auch bei dem Einkommen der Einzelnen zu beobachten: Die Schere geht auseinander – vor allem in den USA, dem kapitalistischen »Musterland«, das in Europa als Vorbild angepriesen wird. Dort ist es tatsächlich zu beobachten: Die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer, und die ehemals breite, sozial abgesicherte Mittelschicht gerät unter Druck. Von 1973 bis 1994, so rechnet der amerikanische Ökonom Lester C. Thurow vor, ist das reale Bruttoinlandsprodukt der USA um 33 Prozent pro Einwohner gestiegen. Der durchschnittliche Wochenlohn für Arbeiter und Angestellte in nicht leitender Funktion fiel im gleichen Zeitraum jedoch um 19 Prozent. 1994 waren die amerikanischen Löhne für diese Arbeitnehmergruppe wieder auf demselben Stand wie Ende der fünfziger Jahre. Das erklärt die erschreckende Zunahme der Zahl der »working poor« in den Vereinigten Staaten, also derjenigen Menschen, die trotz Vollzeitbeschäftigung unterhalb der Armutsgrenze leben.

Im gleichen Zeitraum hat sich das Einkommen der Spitzenverdiener jedoch vervielfacht. Verdiente ein amerikanischer Manager Anfang der siebziger Jahre im Durchschnitt ungefähr das Fünfundzwanzigfache von einem Industriearbeiter, so war es knapp 30 Jahre später bereits das Fünfhundertfache. In den achtziger Jahren setzte eine ähnliche Entwicklung in Großbritannien ein.

In den kontinentaleuropäischen Ländern, in denen sich starke Gewerkschaften gegen die Durchsetzung von Lohnkürzungen stemmen und hohe arbeits- bzw. sozialrechtliche Schutzstandards Entlassungen schwierig und teuer machen, stellten die Unternehmen hingegen immer weniger Mitarbeiter ein. So entwickelte sich parallel zu der angelsächsischen Tendenz der Reallohnverluste in Westeuropa das Phänomen einer strukturell verfestigten Massenarbeitslosigkeit.

Eine wahrhafte Zentralisation des Kapitals aber findet in den Händen der Reichsten der Reichen statt. Laut dem US-Wirtschaftsmagazin Forbes gibt es im Jahr 2008 weltweit 1125 Milliardäre. Sie besitzen zusammen rund 4400 Milliarden Dollar (2760 Milliarden Euro). Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands beträgt rund 2400 Milliarden Euro. Die Zahl dieser »Superreichen« steigt von Jahr zu Jahr. 2007 gab es weltweit 946 Milliardäre, 2006793, und Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren es erst 140. Ich will mit diesen Zahlen keinen Neid schüren. Und ich will erst Recht nicht behaupten, dass ein Reicher ein schlechter Mensch wäre, bloß weil er reich ist.

Es geht mir an dieser Stelle überhaupt nicht darum, das Leben und Handeln Einzelner moralisch zu beurteilen. Ich möchte vielmehr eine weltwirtschaftliche Entwicklung skizzieren, in der ich beunruhigend viel von dem erkenne, worüber Sie, Herr Marx, geschrieben haben.

Ist es also an der Zeit, bei Ihnen Abbitte zu leisten? Ist der Traum vom Wohlstand für alle in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ausgeträumt? Ist der Kapitalismus eine Episode der Geschichte, die zwar länger dauert, als Sie im 19. Jahrhundert vermutet haben, die aber doch irgendwann zu Ende gehen wird, weil das kapitalistische System an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen wird?

Dass es solche inneren Widersprüche gibt, kann kaum bestritten werden. Der heutige Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Zeit als Chef des Internationalen Währungsfonds einmal festgestellt: »Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität.« Dieser Satz dürfte auch für die eifrigen Kapitalisten unverdächtig sein.

In der Tat stellt sich die Frage, wie unsere freiheitlichen Gesellschaften der westlichen Hemisphäre überleben wollen, wenn sie einerseits die Demokratie, also politische Gleichheit für alle propagieren, sich aber andererseits eine Wirtschaftsstruktur leisten, in der die Ungleichheiten in der Verteilung der materiellen Güter und damit auch der Lebenschancen immer weiter zunehmen. Sie, Herr Marx, haben davon gesprochen, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft eine bloß formelle Freiheit garantiert, die reelle Freiheit der Menschen aber sträflich missachtet. Und Sie haben vorhergesagt, dass die Menschen sich das, was ihnen verweigert wird, irgendwann nehmen werden.

Noch ist es freilich nicht so weit; die von Ihnen prophezeite Revolution des Proletariats lässt weiter auf sich warten. Aber der Kapitalismus steht in unseren Tagen erkennbar unter Rechtfertigungsdruck, vielleicht so sehr unter Rechtfertigungsdruck wie in den letzten hundert Jahren nicht mehr. Das ist noch nicht einmal 20 Jahre nach dem Sieg über den großen ideologischen Gegenspieler, den Sowjetkommunismus, mehr als erstaunlich.

Die Anti-Globalisierungsbewegung ist zu einer weltumspannenden politischen Größe geworden, die Menschen ganz unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft in dem Widerstand gegen das internationale kapitalistische Regime vereint. Gewerkschafter und Intellektuelle, Sozialisten und Christen, Jugendliche und Rentner, Studenten und Landarbeiter protestieren Seite an Seite.

Und nicht nur an der Basis tut sich etwas, sondern auch an der Spitze mancher Staaten. Südamerika etwa erlebt einen in der Geschichte noch nicht da gewesenen Linksruck. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez führt sich gelegentlich auf wie ein »linker Messias« Lateinamerikas und probt mit seinem »bolivarischen Sozialismus« den Aufstand gegen das internationale Wirtschaftssystem und die auf dem Kontinent einst allmächtigen Vereinigten Staaten. Er hat die Ölindustrie Venezuelas weitgehend verstaatlicht, amerikanische und europäische Konzerne teilweise enteignet und aus dem Land vertrieben, er duldet Landbesetzungen auf dem Grund und Boden ausländischer Unternehmen, droht mit der Verstaatlichung des Bankensektors und dem Austritt aus IWF und Weltbank.

Auch die meisten anderen lateinamerikanischen Länder haben inzwischen mehr oder weniger linke Regierungen. In ihrer Mehrzahl halten diese zwar gebührenden Abstand zu Chávez und seinem Programm; sie proben keine sozialistische »Revolution von oben«. Aber sie haben auch zu den USA ein distanziertes Verhältnis. Nach Jahrzehnten enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit bringen heute viele Südamerikaner dem großen Nachbarn aus dem Norden Misstrauen, nicht selten offene Feindseligkeit entgegen. Sie sehen in den USA den Hauptakteur eines kapitalistischen »Neoimperialismus«. Die Vereinigten Staaten ihrerseits blicken verständlicherweise mit Sorge auf diese Entwicklungen in ihrer für sie so wichtigen Nachbarschaft.

Aber nicht nur in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern nimmt die Zahl derer zu, die sich partout dem verweigern, was die Globalisierung ihnen angeblich abverlangt. Auch in den alten Industrienationen wehren die Menschen sich zunehmend. Zahlreiche Regierungen, die einen allzu großen Eifer dabei an den Tag gelegt haben, durch Reformen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ihre Länder auf Globalisierungskurs zu bringen, sind abgewählt worden.

Manche Entwicklung in den letzten Jahren und Monaten hat ein Übriges getan, um die Ängste der Menschen vor der Globalisierung zu schüren und ihr Vertrauen in die Marktwirtschaft zu erschüttern. Unternehmen streichen Milliardengewinne ein und bauen gleichzeitig Arbeitsplätze ab. Manager verdienen Millionen und kritisieren gleichzeitig das »Besitzstandsdenken« der Arbeitnehmer. Und die internationale Finanzmarktkrise zeigt, wie stark schon heute anonymes Kapital unser Schicksal bestimmt. Banken und Fonds verspekulieren Milliarden, die Zeche zahlen andere: Nachdem man sich jahrelang jede Einmischung des Staates in den Markt verbeten hat, muss der Steuerzahler nun für die Spekulationsverluste der Banken einstehen. Mehr als neun Milliarden Euro haben die staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die Bundesregierung zur Rettung der Düsseldorfer Privatbank IKB ausgegeben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat vorgerechnet, dass damit jeder deutsche Steuerzahler rund 125 Euro unfreiwillig für eine Bank bezahlt hat, die anschließend ein amerikanischer Finanzinvestor von nahezu allen Risiken befreit praktisch geschenkt bekommen hat.[2]

Und das ist ja kein deutscher Sonderfall. In Großbritannien hat die Regierung die Hypothekenbank Northern Rock mit hohem finanziellem Aufwand vor dem Kollaps gerettet. Und die US-Regierung bewahrte zunächst die Investmentbank Bear Stearns vor dem Untergang, indem sie Risiken der Privatbank bis zu einer Höhe von 30 Milliarden Dollar auf die amerikanische Notenbank übertrug; und dann wurden die beiden größten Baufinanzierer der USA, Fannie Mae und Freddie Mac, in staatliche Obhut genommen, was die amerikanischen Steuerzahler ebenfalls noch viele Milliarden kosten wird. Und dem Versicherungsriesen American International Group AIG kam die US-Regierung gar mit einem Kredit von bis zu 85 Milliarden Dollar (60 Milliarden Euro) zu Hilfe.

Das sind alles private Unternehmen, deren sehr gut bezahlte Manager über Jahre hinweg immer undurchschaubarere, waghalsigere Geschäfte gemacht haben und die mit ihren Finanzprodukten die Gier ihrer Kunden angestachelt haben. Diese Leute wussten durchaus, dass sie dabei hohe Risiken eingehen. Aber das waren ja nicht ihre Risiken, sondern die Risiken ihrer Kunden und ihrer Unternehmen. Und weil die moderne Wirtschaft ja durch und durch vernetzt ist und weil der Finanzmarkt in gewisser Weise so etwas wie das Herz des ganzen Systems ist, muss nun die ganze Gesellschaft, müssen Bürgerinnen und Bürger, die mit diesen durchaus fragwürdigen Geschäften überhaupt nichts zu tun haben, für die Verluste mit ihren Steuergeldern einstehen. Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste werden sozialisiert. Wenn das die Devise ist, dann darf man sich nicht wundern, dass laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung 60 Jahre nach Einführung der Sozialen Marktwirtschaft 73 Prozent der Deutschen die wirtschaftlichen Verhältnisse hierzulande für ungerecht halten.

Wird der Lauf der Geschichte Ihnen am Ende also doch Recht geben, Herr Dr. Marx? Wird der Kapitalismus letztlich doch an sich selbst zugrunde gehen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich hoffe das nicht. Das hat mehrere Gründe. Zum einen sehe ich nicht, wie außerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems die große Zahl der heute weltweit lebenden Menschen mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen versorgt werden könnte. Das alternative Modell der Zentralverwaltungswirtschaft im Sowjetkommunismus jedenfalls ist vollständig gescheitert, wie es Papst Leo XIII. fast dreißig Jahre vor der Oktoberrevolution 1917 vorausgesehen hatte (vgl. Rerum novarum3).

Mir ist bewusst, dass nicht Sie, sondern Ihre bolschewistischen »Jünger« dieses Wirtschaftssystem erdacht und ins Werk gesetzt haben. Aber wo auch immer im Lauf der Geschichte Menschen versucht haben, Ihr Programm der Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu verwirklichen, lief es letztlich auf eine Verstaatlichung hinaus. Das sollte Ihnen zu denken geben. Und diese ungeheure Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen einer kleinen herrschenden Clique führte regelmäßig auch in die politische Diktatur, bisweilen in die totalitäre Diktatur. Sie haben ganz sicher nicht gewollt, dass in Ihrem Namen der Sowjetkommunismus errichtet werden würde. Aber dass er in Ihrem Namen errichtet werden konnte, daran sind Sie mit Ihren Schriften keineswegs unschuldig.

Die Folgen Ihres Denkens waren letztendlich verheerend. Der »real existierende« Sozialismus hat in den Staaten Osteuropas, wie Kardinal Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI., im Jahr 2000 geschrieben hat, »ein trauriges Erbe zerstörter Erde und zerstörter Seelen« hinterlassen (Ratzinger 2000, 9). Ich glaube, man kann hier erkennen, wie ein vollständig falsches Menschenbild, umgesetzt in ein politisches Programm, sich ganz gegen den Menschen richtet, mit furchtbaren Auswirkungen. In seiner Enzyklika Spe salvi beschreibt Papst Benedikt XVI. sehr treffend Ihren grundlegenden Irrtum: »Er hat vergessen, dass der Mensch immer ein Mensch bleibt. Er hat den Menschen vergessen, und er hat seine Freiheit vergessen« (Spe salvi21).

Insofern bleibe ich – trotz allen Respekts für Ihre scharfsinnigen Beobachtungen und Gedanken – ein entschiedener Gegner Ihrer Theorien. Ich bleibe der Tradition meines Mitbruders Bischof Ketteler treu, der sich wie Sie gegen einen primitiven und grenzenlosen Kapitalismus gewendet hat, der das marktwirtschaftliche System aber nicht abschaffen, sondern sozial weiterentwickeln wollte. Ketteler hat schon 1869 gefordert, für die unbestreitbaren »einzelnen schlimmen Folgen desselben die entsprechenden Heilmittel zu suchen und auch die Arbeiter, soweit möglich, an dem, was an dem System gut ist, an dessen Segnungen, Anteil nehmen zu lassen« (Ketteler Werke I. 2, 438).

Dass es im 20. Jahrhundert in den frühindustrialisierten Staaten tatsächlich gelungen ist, diese Forderung umzusetzen, war keineswegs die Abkehr von dem »Königsweg« eines absolut freien Marktes. Dieser »Königsweg« war schon damals eine Sackgasse, und er ist es auch heute noch. Der sozialreformerische Ansatz, den Kapitalismus zu »zähmen« und ihn durch ordnungspolitische Rahmensetzung zur So-zialen Marktwirtschaft hin weiterzuentwickeln, war der einzig richtige Weg, und dieser Weg ist auch heute ohne vernünftige Alternative. Das ist keine christliche Sozialromantik. Für diesen Weg stehen auch die Namen von großen liberalen Ökonomen wie Ludwig Erhard, Walter Eucken, Franz Böhm, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack, um nur einige zu nennen. Ihnen war nach der menschlichen Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs klar, dass die Marktwirtschaft nicht als bloß ökonomische, sondern nur als auch dezidiert moralische Alternative zum Marxismus eine Zukunft haben würde.

Ich halte an der damit begründeten Differenz zwischen einer Sozialen Marktwirtschaft und einem ungebremsten Kapitalismus fest. Ich tue das vor allem aus einer tiefen Überzeugung heraus, dass wir die sozialen Beziehungen in unserer Welt nicht nur effizient, sondern auch gerecht gestalten sollten. Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern hat, wie Alexander Rüstow einmal treffend gesagt hat, »Dienerin der Menschlichkeit« zu sein. Ich hoffe und glaube auch, dass das sehr viele andere Menschen genauso empfinden und denken. Aber auch denen, die diese moralische Überzeugung nicht teilen, rate ich, sich zu überlegen, ob sie nicht wenigstens aus Klugheitserwägungen eine Soziale Marktwirtschaft einem grenzenlosen Kapitalismus vorziehen wollen, denn ein »primitiver Kapitalismus« richtet sich gegen den Menschen und wird deshalb niemals auf Dauer akzeptiert werden. Johannes Paul II. sagt es klar: »Die marxistische Lösung ist zwar gescheitert, aber nach wie vor bestehen Formen der Ausgrenzung und Ausbeutung, insbesondere in der Dritten Welt, sowie Erscheinungen menschlicher Entfremdung, besonders in den Industrieländern, gegen die die Kirche mit Nachdruck ihre Stimme erhebt. Noch immer leben Massen von Menschen in Situationen großen materiellen und moralischen Elends. Sicher beseitigt in vielen Ländern der Zusammenbruch des kommunistischen Systems ein Hindernis in der sachgemäßen und realistischen Auseinandersetzung mit diesen Problemen, er reicht aber nicht aus, sie zu lösen. Es besteht die Gefahr, dass sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die es ablehnt, diese Probleme auch nur zu erwägen. Sie geht vom Vorurteil aus, dass jeder Versuch, sich damit auseinanderzusetzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sei, da sie die Lösung dieser Probleme in einem blinden Glauben dem freien Spiel der Marktkräfte überlässt.« (Centesimus annus42)

Es ist schon eine merkwürdige Ironie der Geschichte, lieber Namensvetter, diejenigen, die Ihre Theorien heute noch wahr werden lassen könnten, sind nicht nur die Marxisten, sondern auch die Kapitalisten, weil sie zu vergessen drohen, dass Politik anders als Wirtschaft funktioniert und dass man Bürger und Wähler nicht wie Arbeitnehmer entlassen kann.

Ich möchte meinen Brief an Sie beschließen mit einem Satz von Oswald von Nell-Breuning, wie Sie ein Sohn der Stadt Trier und der wohl bedeutendste Vertreter der katholischen Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert: »Die katholische Soziallehre sieht in Marx ihren großen Gegner; sie bezeugt ihm ihren Respekt« (Nell-Breuning 1967, 374).

 

In diesem Sinne grüßt Sie Ihr

 

Reinhard Marx

Erzbischof von München und Freising

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IFreiheit, die ich meine …

Marxismus, Liberalismus und Christentum

Als Bischof begegne ich Menschen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft und Stellung. Das ist eine der schönsten Seiten meines geistlichen Amtes. Und bei diesen Begegnungen erzählen mir viele Menschen von ihren Ängsten und Sorgen. Beim Bund katholischer Unternehmer etwa treffe ich auf Inhaber mittelständischer Familienunternehmen, die sich große Sorgen um ihre Betriebe machen. Sie denken dabei keineswegs nur an sich selbst. Sie denken an ihre Kinder, denen sie einmal ein gesundes Unternehmen hinterlassen wollen, aber sie denken auch an ihre Mitarbeiter und deren Familien. Familienunternehmen heißt in deren Fall nämlich nicht selten, dass nicht nur der Betrieb seit über einem halben Jahrhundert oder länger der Familie gehört, sondern dass auch in der Belegschaft einzelne Mitarbeiter schon in der dritten oder vierten Generation dort arbeiten.

Solche Unternehmer würden ihre Mitarbeiter niemals als bloßen Produktionsfaktor, als Manövriermasse im Wettbewerb sehen. Solche Unternehmer haben auch keine Aktionäre, können deshalb auch gar nicht auf den Aktienkurs fixiert sein, sondern sie streben in ihrer Firmenpolitik und ihrem Geschäftsgebaren den nachhaltigen Erfolg an, von dem auch die kommenden Generationen noch profitieren werden. Aber auch solche Unternehmer haben Grund zur Sorge. Sie stöhnen über eine hohe Steuerlast und über eine unflexible Bürokratie. Sie haben Angst, dass das komplizierte Erbschaftsteuerrecht die Zukunft ihrer Betriebe gefährdet. Sie erzählen mir, dass es immer schwerer für sie wird, Kredite von ihren Banken zu bekommen, um notwendige Investitio-nen zu tätigen. Und sie beklagen sich über allzu starre Tarifregelungen, die auf die Großunternehmen zugeschnitten sind und die zu ihren Bedürfnissen vor Ort nicht passen.

Auch bei der Katholischen Arbeitnehmerbewegung begegne ich Menschen mit Sorgen. Es sind Arbeitnehmer, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben; Gewerkschafter, die sich fragen, wie sie die Interessen ihrer Mitglieder in Zukunft noch wirksam vertreten können. Ich begegne Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, die jahrelang vergeblich einen neuen Job gesucht haben und die nun zu resignieren drohen. Sie wissen nicht mehr, wie sie ihr bisheriges Leben aufrechterhalten sollen. Damit meine ich keineswegs nur den materiellen Lebensstandard, sondern ich meine die ganze Lebenshaltung: das Vertrauen in Gott und die Welt, in die eigenen Kräfte und Möglichkeiten der Lebensgestaltung; ich meine das Gefühl, in dieser Gesellschaft dazuzugehören und einen Beitrag leisten zu können.