Claus Schenk Graf von Stauffenberg - Hans Bentzien - E-Book

Claus Schenk Graf von Stauffenberg E-Book

Hans Bentzien

4,5

Beschreibung

Am 20. Juli 1944,12.40 Uhr, detoniert in Hitlers Hauptquartier an der Ostfront eine Bombe. Der Attentäter, Oberst Stauffenberg, ist bereits auf dem Wege zum Flughafen. Sein Ziel ist Berlin. Dort will er den Staatsstreich gegen Hitler, der den Anschlag leicht verletzt überlebte, koordinieren. Gegen Mitternacht wird Stauffenberg hingerichtet. Das ist bekannt. Wie aber wurde gerade er zum Attentäter, zur Symbolfigur des militärischen Widerstandes gegen Hitler? Claus Schenk Graf von Stauffenberg - Jahrgang 1907, jüngster Sohn des württembergischen Oberhofmarschalls, aufgewachsen im Stuttgarter Königsschloss, Schwarmgeist, Schüler, im George-Kreis, Kavallerieoffizier der Reichswehr; Generalstabsoffizier in Hitlers Wehrmacht: Hans Bentzien erzählt diese Biografie spannend, neu und kenntnisreich; er entwirft ein umfassendes Bild des Täters und seiner Zeit. INHALT: Eidbrüchiger Verräter? Adel der Gesinnung Familie und Kindheit Die alte Ordnung wird erschüttert „Nur kleine Schar ist zu der Sicht berufen ...“ - der Einfluss Stefan Georges Berufswunsch: Soldat Die Reichswehr und die Machtübernahme Hitlers „... berechtigt zu den besten Hoffnungen!“ Republik - Monarchie - Neues Reich? Claus Stauffenberg im Jahre 1933 Offizier in der Wehrmacht Wieder im Sattel Großreinemachen in der Wehrmacht Erster Widerstand Erstes Scheitern Fragen und Zweifel Am Vorabend des Krieges Zur Weichsel Der Widerstand meldet sich Zur Maas Der Krieg weitet sich aus Im Generalstab Im Irrgarten zwischen Plan und Realität Planungen für ein Weltreich Der Angriff gegen die Sowjetunion beginnt Weiter mit Hitler oder gegen ihn? „Es gibt nur eine Lösung ...“ Bringen die Hiwis Entlastung? Erst ins Getto, dann ins Gas Im Bunde mit einem anderen Deutschland Erste Ansätze Die Rechnung der Verschwörer Neue Spannungen im Generalstab Aufgabe: Manstein gewinnen! Totaler Krieg in Afrika Weitere Versuche - Verhaftungen Vorbereitungen Plan und Wirklichkeit der Verschwörung In der Zentrale Wie findet man „Persönlichkeiten von Können und Charakter“? Bedrohungen, Zuspitzungen, Konfusionen Vor der Invasion Die zweite Front Verstrichene Gelegenheiten Der 20. Juli 1944

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Impressum

Hans Bentzien

Claus Schenk Graf von Stauffenberg

Der Täter und seine Zeit

ISBN 78-3-95655-453-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 2004 im Verlag Das Neue Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Ist die Geschichte gerecht?

Es tut not, die Geschichte nicht gläubig zu lesen, sondern neugierig-misstrauisch, denn sie dient, die scheinbar unbestechliche, doch der tiefen Neigung der Menschheit zur Legende, zum Mythos - sie heroisiert bewusst oder unbewusst einige wenige Helden zur Vollkommenheit und lässt die Helden des Alltags ins Dunkel fallen.

Stefan Zweig

Eidbrüchiger Verräter?

Am 20. Juli 1944, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, detonierte im Führerhauptquartier „Wolfschanze“ bei Rastenburg eine Bombe. Claus Schenk Graf von Stauffenberg war der Mann, der die Bombe in Hitlers Hauptquartier brachte, um den obersten Vertreter des Deutschen Reiches, den „Führer und Reichskanzler“, wie er sich selber nannte und in allen offiziellen Dokumenten genannt wurde, zu ermorden. Hitler war der Mann, dem die Massen des Volkes zujubelten und als deren Sprecher er sich fühlte. Als Claus von Stauffenberg die Bombe legte, jubelte allerdings kaum noch jemand, und Hitler hielt sich hauptsächlich in einem vielfach gesicherten Lager mitten in einem Wald in der Provinz Ostpreußen auf. Wer zu ihm wollte, musste eine besondere Genehmigung haben, die nur bekam, wer das Vertrauen Hitlers und seiner Umgebung besaß.

Diesen Zugang erhielt Claus von Stauffenberg im Sommer 1944, als er zum Oberst befördert und angesichts der ungeheuren Verluste zum verantwortlichen Offizier für die Beschaffung neuen Kanonenfutters ernannt wurde. Hitlers ungeheure Erwartungen, einsatzfähigen, kampfbereiten Nachschub an jungen Menschen zu bekommen, ruhten besonders auf diesem energischen, klugen Offizier, den er deshalb mehrfach zum Vortrag befahl. Der Generalstabsoffizier von Stauffenberg hatte sich seit dem Frankreichfeldzug 1940 mit dieser Arbeit befasst, in ihr kannte er sich besonders gut aus; ihm war zuzutrauen, dass er aus halben Kindern gute Einheiten formte.

Auch der Autor war ein solches halbes Kind, beim Arbeitsdienst in einem Ausbildungslager, als die Nachricht von einem Attentat auf Hitler bekannt wurde.

Alle Lagerinsassen wurden zum Antreten befohlen, vor der Essenbaracke wartete bereits der Lagerführer, und kaum waren wir im offenen Viereck angetreten, begann die Übertragung des Rundfunks. Nach einer kurzen Musik hörten wir die wohlbekannte Stimme Adolf Hitlers, der dem Volk Ungeheuerliches mitteilte:

„Deutsche Volksgenossen und -genossinnen!

Ich weiß nicht, zum wievielten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Ausführung gekommen ist. Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann geschieht das aus zwei Gründen: Erstens damit Sie meine Stimme hören und wissen, dass ich selbst unverletzt und gesund bin. Zweitens, damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht.

Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab der deutschen Wehrmacht auszurotten. Die Bombe, die von dem Oberst Graf von Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe mir teurer Mitarbeiter sehr schwer verletzt, einer ist gestorben. Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen. Ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrags der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe ... Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind.“

Deutlich wird, wie schnell Wahrheit und Dichtung bereits wenige Stunden nach diesem Ereignis eng zusammenfügt sind. Wahr ist, dass alle Leute wissen wollten, ob Hitler lebte, denn die Verschwörer, die „kleine Clique“, hatten verbreitet, Hitler sei tot. Es stimmt, dass Claus von Stauffenberg die Bombe gelegt hatte, und auch die Folgen waren richtig beschrieben, das Attentat war nicht gelungen. Hitler und seinem Apparat war auch ohne Weiteres zuzutrauen, dass unerbittlich „abgerechnet“ werden würde. Das Wichtigste jedoch, das Motiv zur Tat, blieb unerwähnt, es wurde nicht einmal versucht, damit zu argumentieren.

Inzwischen war auch bekannt geworden, dass Stauffenberg und ein paar eingeweihte Männer seiner Umgebung sofort, „standrechtlich“, erschossen worden waren, und diese Art von Justiz wurde allen angedroht, die sich ihren Pflichten entziehen wollten.

Hing das Attentat mit der besorgniserregenden Lage an den Fronten zusammen? Stimmte es, dass die Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen nicht mehr aufzuhalten waren, wie die Leute hinter vorgehaltener Hand munkelten? Laut wagte man nicht, solche verräterischen Gedanken zu äußern, jetzt schon gar nicht mehr. Der Endsieg durfte nicht bezweifelt werden. Aber diese wenigen Männer - auch darin hatte Hitler recht -, die es besser wissen mussten, hatten doch wohl ihre Zweifel gehabt?

Noch viele andere - Militärs wie Zivilisten - teilten das Schicksal Claus von Stauffenbergs, kamen vor ein Standgericht und wurden als Saboteure, Attentäter und Defätisten erschossen. So erging es jedem, der sich gegen den Krieg wandte - ob als bekannter Oberst oder als unbekannter Unteroffizier. Heute fragt man, ob diese Männer Helden oder Verräter waren. Aber die Fragestellung müsste wohl eher lauten: Wie wird ein Soldat, der geschworen hat, zu gehorchen und auszuführen, was auch immer seine Vorgesetzten ihm befehlen, auch wenn es ihn das Leben kosten sollte, zum Verweigerer der Befehle, zum Gegner, gar zum Attentäter?

Adel der Gesinnung

Nach dem 2. Weltkrieg, als der Autor an einer Grundschule unterrichtete, stellte ein älterer Schüler die Frage, ob er auch auf Menschen geschossen habe und ob es keine Möglichkeiten gegeben hätte, sich zu verweigern. Da war es gut, von Claus Stauffenberg und anderen, die persönlichen Widerstand gegen Hitler und das Naziregime geleistet hatten, berichten zu können. Menschen in den verschiedensten Positionen hatten sich wie Stauffenberg verweigert, hatten versucht, gegen den Wahnsinn des Krieges etwas zu unternehmen, und mancher verlor dabei sein Leben. Und doch waren es unter allen Deutschen nur wenige, die ihr Leben einsetzten, um die Kriegsmaschinerie zu stoppen. Nicht jeder war bereit und besaß den Mut, sich selbst zu opfern. Außerdem fühlten sich die meisten dem Eid verpflichtet, den sie geleistet hatten.

Doch ist es gerechtfertigt, sich auf einen Eid zu berufen, wenn er unter anderen und, wie sich erwies, unter falschen Voraussetzungen abgelegt worden ist?

Mit dieser Frage beschäftigte sich der Widerstandskreis im Militär beständig, nachdem er erkannt hatte, dass Hitler das Volk ins Verderben führte. Viele konnten nicht begreifen, dass ein Eid nur bindet, wenn er von demjenigen, der ihn entgegennimmt, nicht missbraucht wird. Ob das der Fall ist, kann in der Praxis schwer festgestellt werden, denn ein Krieg wird immer im Namen „höherer Werte“ geführt. Auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges stand die Parole: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Dadurch wurde bei jedem Soldaten - die meisten waren gläubig - der Eindruck erweckt, Gott stehe auf der Seite des Deutschen Reiches und seines Kaisers, und damit sei der Krieg gerechtfertigt. Aber auch auf der Gegenseite segneten Priester die Waffen und schickten nach dem Gottesdienst im Namen des Allerhöchsten die Soldaten an die Front. Auf wessen Seite also stand Gott? An dieser Frage litten die Kirchen, denn nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Austrittswelle. Die zurückkehrenden Soldaten und die trauernden Witwen konnten nicht verstehen, dass Gott so viel Leid und Tod gutheißen sollte; so war es nicht weit zu der Erkenntnis, dass sie in seinem Namen für eine verbrecherische Sache missbraucht worden waren.

Auch Claus von Stauffenberg war gläubig, und er brauchte Jahre, viel länger als manche seiner Altersgenossen und Kameraden, den Entschluss zur Verweigerung und zur Tat zu treffen. Wir werden sehen, welche Lebenssituationen und Krisen er überstehen musste, um sich zu entscheiden. So gelangte er bereits früh, in seinen Jugendjahren, zu der Erkenntnis: Adel der Geburt ist nur gerechtfertigt, wenn er von einem Adel der Gesinnung begleitet wird. Wer Vorrechte der Geburt in Anspruch nehmen kann, darf es nur in Verantwortung vor der Gemeinschaft tun. Sein Gewissen, nicht der Zwang der Umstände muss sein Handeln leiten, das erst ergibt innere Ruhe und Gelassenheit.

Ein heute fast vergessener Dichter, Stefan George, verfügte damals über einen erheblichen Einfluss unter der suchenden Jugend. Claus von Stauffenberg gehörte zu seinem Kreis, und über den Jüngling hat der Dichter Verse geschrieben, die uns eine Vorstellung von seiner jungen Persönlichkeit geben:

Bald traf ich ihn, der mattgoldnen Gelocks

austeilte ein Lächeln, wohin er trat,

die heiterste Ruh - von uns allen erklärt

zum Liebling des Glücks bis spät er gestand,

im Halt des Gefährten hab’ er sich verzehrt –

Sein ganzes Dasein ein Opfer.

Das klingt wie eine Vision.

Familie und Kindheit

Aufgewachsen ist Claus von Stauffenberg im Stuttgarter Königsschloss, dem „Altes Schloss“ genannten Bau, der heute ein Landesmuseum beherbergt, nachdem es im 2. Weltkrieg nach einem verheerenden Bombenangriff völlig ausgebrannt war. Die Angestellten des Museums waren überrascht, als der Autor nach der Wohnung des Oberhofmarschalls Alfred Schenk Graf von Stauffenberg fragte - als höchster Beamter des Königs hatte er mit seiner Familie im 2. Stock des Schlosses gewohnt, um immer zur Hand zu sein, wenn der König ihn brauchte. Niemand wusste mehr darüber Bescheid; alle waren ratlos, und außerdem war beim Neuausbau die Anordnung der Räume geändert worden.

In Stuttgart ergab sich jedoch der Kontakt mit einem Jugendfreund Claus von Stauffenbergs und seiner Brüder, Dr. Theodor Pfizer. Er hatte mit ihnen das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium besucht, mit ihnen zusammen gespielt und gelernt und ist bis heute ein Freund der Familie geblieben. Der frühere Oberbürgermeister von Ulm und Präsident der Deutschen Hölderlingesellschaft erinnerte sich gut an die Einzelheiten ihrer Kinder- und Jugendjahre. In den weitläufigen Räumen der Schlosswohnung war reichlich Platz für wilde Spiele, für Konzerte und Dichterabende, ja sogar für die Aufführung von Schauspielen. Die Mutter der drei Jungen Alexander, Berthold und Claus liebte die Literatur und achtete auf eine gründliche Beschäftigung ihrer Kinder mit Literatur, Musik und Theater. Auch sie, Gräfin Caroline von Üxküll-Gyllenband, kam aus altem Adel, ihre Vorfahren lebten zum Teil im Baltikum. Sie vor allem achtete auf die Erziehung der Jungen, denn der Vater Alfred konnte nur selten für die Familie da sein. Dann aber beschäftigte er sich gern mit praktischen Dingen. Er konnte sich als geschickter Handwerker sehen lassen, viele kleinere Arbeiten im Familiensitz Lautlingen erledigte er selbst, er tischlerte und tapezierte, zog Pflanzen und Blumen im Schlossgarten, ja sogar Artischocken in dem rauen Klima der Schwäbischen Alb.

Woher kommt der markante Name des Geschlechts? Ein Stauff ist ein Pokal, und auch die Bezeichnung Schenk weist darauf hin, dass die Männer in der Familie das wichtige Amt eines Mundschenks innehatten. Und in der Tat waren die Stauffenbergs die Mundschenken bei regierenden Fürsten, im 13. Jahrhundert auf jeden Fall, das ist nachgewiesen, bei den Herren der Zolllernburg. Seit dieser Zeit gilt das Amt des Mundschenken als erbliches Reichsamt. Die Stauffenbergs standen also im Dienst des Reiches und seiner Fürsten und hatten selbst als Ministrale jahrhundertelang wichtige Ämter inne. In der Nähe der Zolllernburg soll auch die Stammburg der Stauffenbergs gestanden haben. Wenn man aber in der Nähe von Lautlingen auf einem Felsvorsprung, dem Felsentor, steht und auf den Thierberg sieht, dann scheint sich über der ehemaligen Straße auf einem Plateau der Grundriss einer alten Burg abzuzeichnen. Würde man dort graben, stieße man ganz sicher auf die alten Grundmauern Wie es auch gewesen sein mag - die Stauffenbergs gehörten zu einem alten, wichtigen Geschlecht in Süddeutschland. Sie hatten Besitzungen auch in Franken, und Claus von Stauffenberg ist - am 15. November 1907 - im bayrischen Jettingen geboren, wohin sich Gräfin Caroline zur Niederkunft zurückgezogen hatte. Seine Jugend verbrachte er jedoch in Stuttgart und häufig auch in Lautlingen.

Als er geboren wurde, waren die Stauffenbergs bereits seit über 100 Jahren Reichsfreiherren und gehörten damit zu den oberen Adelsfamilien. Im Range standen sie gleich nach den Fürsten, wurden zu erblichen Grafen erhoben, hatten aber auch wichtige Bischöfe in ihrer Familie, so einen Bischof von Konstanz und Meersburg und den Fürstbischof von Bamberg, Marquart Sebastian, der den fränkischen Besitz Greifenstein erwarb.

Die Mutter Claus von Stauffenbergs gehörte nicht nur als Gattin des Oberhofmarschalls zum Hofe, sie stand als Hofdame der Königin auch in engem Vertrauensverhältnis, ja in freundschaftlicher Beziehung zur Königsfamilie von Württemberg. Die Freundschaft dauerte bis ins hohe Alter. Zwar gehörte der württembergische Königshof zu den kleineren Höfen in Europa - er war erst durch einen Erlass Napoleons entstanden -, doch auch an ihm ging es mit allem gehörigen Zeremoniell zu. Dafür hatte Alfred von Stauffenberg zu sorgen; doch Stuttgart war nicht Berlin oder Paris gleichzusetzen, und so verlief alles etwas weniger streng, die Hofetikette war von der schwäbischen Gemütlichkeit geprägt. Man dachte praktisch und liebte ein offenes Wort, einen guten Rat. Dazu kam eine bemerkenswerte Toleranz in Glaubensfragen. Obwohl der Hof evangelisch war, störte es doch niemanden, dass Graf Alfred der katholischen Kirche angehörte.

Während er als früherer Stallmeister gern mit Pferd und Wagen umging, respektierte er doch auch die Neigungen seiner Frau zu den klassischen Dichtern, zu Goethe und Shakespeare und zu ihrem genialen, unglücklichen Landsmann Hölderlin. Als Claus von Stauffenberg aufwuchs, wurde Hölderlin gerade nach langem Vergessen wiederentdeckt. Die Mutter las aber auch die Dichter ihrer Gegenwart, vor allem George und Rilke, die sie beide auch persönlich kannte. Durch ihre musischen Neigungen wirkte sie auf die Jungen ein und war die beste Verbündete ihres Lehrers, des Gymnasialdirektors Dr. Hermann Binder. Er unterrichtete sie in deutscher und englischer Literatur und förderte auch die Leidenschaft für das Theaterspiel. Alle drei Jungen wirkten in einer Aufführung von Shakespeares „Julius Caesar“ mit, und wenn man auch nur den vierten Akt bewältigte, so waren doch alle daran beteiligt. Die Jungen erarbeiteten alles gemeinsam, fragten einander die Rollen ab und führten auch Regie. Gespielt wurde in der großen Wohnung.

Ihre Kinderwelt war gewiss von den realen Vorgängen im Lande abgetrennt. Als Claus sieben Jahre alt war, begann der erste große Krieg. Doch man lebte in dem Bewusstsein, dass die Dinge im Lande wohlgeordnet waren, wozu die Haltung des Königs beitrug. König Wilhelm überließ die Regierung fachlich kompetenten Leuten, die konservativ und königstreu den kleinen Staat verwalteten. Er war ein Förderer der schönen Künste und der Wissenschaften, in deren Blüte er in seltener Selbstbescheidung den Sinn des Staatswesens überhaupt sah.

Das Land war klein, und so kannte jeder jeden, was man heute noch von Schwaben behauptet, obwohl das gewiss nicht mehr zutrifft. Doch man wusste genau, wer etwas zu sagen hatte, wer etwas zur Blüte des Staates beitragen konnte, und pflegte einen ausgeprägten Gemeinsinn.

Diese tolerante Geisteshaltung prägte auch das Elternhaus Claus von Stauffenbergs. Nicht nur die Neigungen der Eltern waren durchaus verschieden, auch ihre Glaubensrichtungen waren unterschiedlich. Der Vater war katholischen, die Mutter evangelischen Glaubens, und doch führte das alles nicht zu Disharmonien, sondern zu einem Familienklima, in dem man den anderen respektierte.

Die sorgenfreie Erziehung in Elternhaus und Schule prägte die Kindheit. Mit langen Locken, kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen, so kannte man sie im Dorf Lautlingen, so tollten sie auf den Wiesen und in den Wäldern der Umgebung, so liefen sie durch die wenigen, kleinen Gassen des Dorfes. In ihm standen fast alle im Dienste der Schlossherren und waren mit ihnen auf alte, patriarchalische Weise verbunden. Die Dinge des Lebens schienen geordnet, der gemeinsame Kirchgang gab Gelegenheit, sich über familiäre Angelegenheiten zu unterhalten. Erfuhr die Gräfin von einer Krankheit, besuchte sie die Erkrankten, saß an ihrem Bett und hatte immer ein kleines Geschenk dabei - eine Sitte, die sie bis ins hohe Alter beibehielt.

In den Ferien befassten sich die Jungen mit der Landwirtschaft. Von Claus wird erzählt, er hätte sich in der schwierigen Kunst des Grasmähens am Hang geübt. Der Vater erwartet einfach, dass die Jungen sich mit handfesten Dingen beschäftigen. Im Schloss und auf dem Gelände ist genug Platz dafür. Zum Schlossgebäude gehören Wohnungen für die Verwalter und Gärtner. Alles ist von einer halbhohen Mauer geschützt, vier Ecktürme bestimmen das Gesicht des Hofes. Nur ein paar Schritte durch die kleine Pforte, und man ist in der Kirche, die von einem Dorffriedhof umgeben ist. Die Familie Stauffenberg lebt zwar mitten im Dorf unter den Landarbeitern und Bauern, ist aber doch trotz allem von ihnen durch eine Mauer getrennt - fast ein Symbol für das allgemeine Verhältnis von Herrschaft und Gesinde.

Die alte Ordnung wird erschüttert

König Wilhelm II. von Württemberg war alt geworden. Er hinterließ keine leiblichen Kinder, und so stellte sich die Frage des Thronwechsels. Als Nachfolger kam Herzog Albrecht infrage, aber er entstammte einer katholischen Nebenlinie der Familie, und das würde Schwierigkeiten heraufbeschwören, wenn er König würde. Entweder er musste zum evangelischen Glauben übertreten, oder alle seine Untertanen müssten, wie der Landesvater, katholisch werden.

Angesichts dieser Sorgen bemerkte man kaum, dass trotz aller Siegeserwartung an den Fronten in Frankreich und Russland die Lage im Krieg immer schwieriger wurde. Im Sommer 1918 war eine Offensive in Frankreich, in der alles auf eine Karte gesetzt werden sollte, im Abwehrfeuer der Franzosen, Engländer und Amerikaner stecken geblieben, und nun griffen die amerikanischen Tanks an. Im Oktober und November löste sich die Front auf, und die deutschen Armeen fluteten an den Rhein zurück.

Gleichzeitig deuteten sich in den Betrieben revolutionäre Aktionen an. In den Großstädten, auch in Stuttgart, begannen die Gewerkschaftsobleute den Generalstreik vorzubereiten. Als die Meldung vom Aufstand der Matrosen in Kiel und in anderen Häfen der Hochseeflotte eintraf, lief eine Revolutionswelle durch das ganze Land auf Berlin zu, wo am 9. November die Kaiserstandarte vom Schloss eingezogen und die rote Fahne gehisst wurde.

Das Kaiserreich war gestürzt, alle Fürstentümer und kleinen Königreiche wurden zu Teilen der unteilbaren, demokratischen Republik Deutschland erklärt. Die Republik wurde an diesem November gleich zweimal ausgerufen: Eine demokratische Republik von dem sozialdemokratischen Politiker Philipp Scheidemann, eine sozialistische Republik von dem kommunistischen Politiker Karl Liebknecht. Um diese Frage, ob Deutschland eine demokratische oder sozialistische Republik sein sollte, entbrannten Kämpfe, die bis zum Jahre 1923 andauerten und zum Teil militärische Formen annahmen.

Die Novemberrevolution 1918 enthob den württembergischen Hof seiner religiösen Sorgen, der König musste abdanken und tat es zum Erstaunen des elfjährigen Claus auch ohne jeden Widerstand. Die Königsfamilie räumte das Schloss und zog um in das kleine Landschloss nach Bebenhausen. Die Aktion wurde von dem besorgten Oberhofmarschall geleitet. Graf Alfred blieb auch weiterhin in den Diensten des Königs als Verwalter des Rentamtes, welches das gesamte Vermögen der Königsfamilie, ihren privaten und anfangs auch den staatlichen Besitz betreute.

Die Lage des Königs war eine völlig andere geworden: Er war nunmehr nur noch der Herzog von Württemberg und sonst ein Privatmann wie alle anderen - eine Situation, an die sich nicht nur Wilhelm, sondern auch sein Finanzverwalter gewöhnen musste. Graf Alfred von Stauffenberg blieb seinem König treu und schlug sich für die Familie mit den republikanischen Behörden bis zur Fürstenabfindung 1928 herum.

Für die Familie Stauffenberg bedeutete der Umschwung, dass sie die nunmehr der Republik gehörenden Räume des Alten Schlosses verlassen und einige Häuser weiterziehen musste. Sie nahm Wohnung in den Zimmern des Rentamtes, was keine einschneidende Umstellung in ihrem Leben bedeutete. Man blieb in Stuttgart, das Einkommen war etwas geringer, aber die Jungen brauchten nicht die Schule zu wechseln. Lautlingen blieb erhalten.

Der ehemalige König Wilhelm verstarb drei Jahre später in Bebenhausen. Seine Witwe hielt noch lange Kontakt zur Gräfin Caroline von Stauffenberg, besuchte sie oft in Lautlingen und erkundigte sich nach den Kindern.

Für die große Familie der Stauffenbergs erwuchs aus der neuen Lage die Vierteilung des Besitzes. Jede Linie erhielt einen Stammsitz, Graf Alfred und seine Familie behielten Lautlingen. Auch hier hatte sich äußerlich nichts geändert. Ebenfalls behielt das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium seine altsprachliche Tradition bei. Nach dem Deutschen standen das Griechische und Latein an wichtiger Stelle, während in den Realgymnasien die Mathematik und die Naturwissenschaften bevorzugt wurden. Innerhalb der Schule gab es keine Privilegien. Wer Aufnahme in die alte Bildungsanstalt fand, gehörte ohnehin zu den tonangebenden Familien; das hatte sich durch die Revolution nicht geändert. In diesen Kreisen trauerte man mehr oder weniger offen den guten, alten Zeiten nach, in denen Deutschland noch etwas in der Welt galt.

Die Siegermächte verlangten Ersatz für die Schäden, die durch den Krieg angerichtet worden waren; außerdem wurden Zahl und Bewaffnung der klein gewordenen deutschen Streitmacht auf die Verteidigungsfähigkeit begrenzt. Nur 100 000 Mann durfte das Heer umfassen. Gegen dieses „Diktat von Versailles“ entwickelte sich eine permanente nationalistische Stimmung, die deutschnationalen Kreise fühlten sich beleidigt und entehrt und griffen diejenigen an, die in Versailles den Friedensvertrag unterzeichneten - als ob die eine andere Wahl gehabt hätten. Der Staatssekretär Matthias Erzberger, der den Waffenstillstand unterzeichnet hatte, wurde von rechtsradikalen Offizieren ermordet. Er blieb nicht das einzige Opfer nationalistischen Denkens. In den Jahren nach der Revolution, in denen Claus von Stauffenberg zum Mann heranwuchs, suchten alle nach dem weiteren Weg des deutschen Volkes, und neben demokratischen, radikalen und sozialistischen Stimmungen kamen, wie in der Romantik, auch verklärende Träume vom alten Reich auf. Man befürchtete sogar, das Abendland mit seinen kulturellen Werten werde untergehen.

In den Kreisen des Adels dachte man durchweg konservativ, war dem Alten zugewandt, den Zeiten, als „man noch etwas galt“, und durch den Abstand der Jahre verklärte sich die Wirklichkeit, man beschwor selbst das Mittelalter als eine glückliche Zeit. Die Träume von einer nicht technisierten Welt, von „reinen“ Haltungen und Taten bestimmten auch manche Debatten der Gymnasiasten. Konnte man nicht eine Welt ohne die Nachteile des gegenwärtigen Lebens bauen? Aus der griechischen und römischen Zeit wurden Parallelen zur Gegenwart gezogen, aber eine Antwort konnten auch diese Denkspiele nicht geben.

Die Stauffenbergsöhne hatten dabei das Glück, eine Tante in ihrer Familie zu wissen, die das Leben von seiner schlimmsten Seite kannte. Tante Alexandrine, eine Schwester der Mutter, war unverheiratet geblieben, weil sie ihr Leben in den Dienst an den Kranken und Verwundeten des Krieges gestellt hatte. An der Seite einer bedeutenden Frau, der Schwedin Elsa Brandström, war sie als Oberin des Deutschen Roten Kreuzes in die Kriegsgefangenenlager bis weit nach Osten, nach Sibirien, gegangen, um die furchtbare körperliche und seelische Not der Soldaten zu lindern. Wenn ihre Chefin „Engel der sibirischen Gefangenen“ genannt wurde, hatte auch sie daran guten Anteil. Da sie in den Ferien oft in Lautlingen weilte, erzählte sie den Jungen von ihren Erlebnissen und öffnete ihnen auf ihre Weise die Augen für die Schattenseiten des Lebens.

Doch es gab auch die andere Seite, die kaum verbrämten Heldengeschichten des Walter Flex und des Gorch Fock, die den Lesestoff der Schüler bildeten. Sie priesen die Kriegstaten, und wenn der Held auch untergehen musste - vorher hatte er viele Feinde vernichtet, und sein Tod zeigte ihn als moralisch überlegen und verehrungswürdig. Die geistige Situation war also verworren, und es bereitete manche Schwierigkeit, sich darin zurechtzufinden. Das Lernen stand jedoch vornean, wer etwas erreichen wollte, musste gute Noten haben, und die waren nicht einfach zu erlangen. Die Schule achtete auch auf die Teilnahme am außerschulischen Leben, wozu der Besuch von Vorträgen gehörte. Im Geschichtsverein und im literarischen Klub traf man sich, und im Salon der Mutter ging es regelmäßig interessant zu. Wenn sie zum Tee lud, durften die Jungen anspruchsvollen Gesprächen lauschen. Selbstverständlich besuchte man das Theater, allerdings immer ohne den Vater. Er betrat das ehemalige Hoftheater nicht mehr, nachdem das königliche Wappen an der Loge entfernt war. Die Jungen störte das nicht, sie besuchten selbst solche Stücke wie Schillers „Braut von Messina“ und diskutierten deren historische Probleme. Antworten für die Gegenwart daraus zu finden, war schwierig; doch das politische Interesse wurde dadurch geweckt - was der Vater gern sah.

Das soll jedoch nicht bedeuten, dass der Vater die literarischen Neigungen seiner Jungen in jeder Beziehung billigte. In der gesamten Jugendbewegung grassierte damals eine Hölderlin-Manie, der auch die Stauffenbergjungen verfallen waren. Darüber spottete er mild und zeigte kaum Verständnis. Als Pragmatiker ließ er sie jedoch gewähren und war klug genug, ihre musischen Interessen nicht zu behindern. Ein altes Foto gibt uns Aufschluss über die drei. Sie waren oft zusammen, aber glücklich waren sie erst, wenn sie Zeit für das gemeinsame Musizieren hatten. In ihrem Trio spielte Alexander das Klavier, Berthold die Geige, und Claus leistete seinen Part auf dem Cello. Das damalige Musikzimmer in Lautlingen, in dem noch der alte Flügel steht, ist heute eine Stauffenberg-Gedenkstätte.

In Deutschland organisierte sich die Jugend seit der Jahrhundertwende zu ihrem bewussten Teil in der Jugendbewegung. Ihren Höhepunkt hatte sie bereits zur Zeit des 1. Weltkrieges überschritten, doch vorher stellte sie durchaus eine politische Kraft dar. Sie war durchweg pazifistisch geprägt und initiierte bedeutende Manifestationen gegen den drohenden Krieg. Ihre Krise begann, als trotz emphatischer Worte die Mehrheit der Jugend begeistert und freiwillig in den Krieg zog. In der Nähe des Gymnasiums sahen die Schüler um Stauffenberg mit eigenen Augen, welche Folgen ein Krieg hatte. Gedenksteine erinnerten an die vielen ehemaligen Mitschüler, die im Felde geblieben waren.

Die Jugendbewegung suchte nun, nachdem ihr Versagen deutlich geworden war, nach neuen Inhalten, die das Leben erfüllen konnten. Bei gemeinsamen Wanderungen, an Lagerfeuern, in literarischen und musikalischen Feierstunden besprach man den Sinn des Lebens. Die Arbeiterjugend hatte ihre eigenen Organisationen, die Sozialistische Arbeiterjugend und den Kommunistischen Jugendverband. Die bürgerliche Jugend vereinte ihre verschiedenen Gruppen in der Bündischen Jugend, und eine, wohl die kleinste von allen, waren die Neupfadfinder, in denen Berthold und Claus von Stauffenberg Mitglieder wurden. In diesem exklusiven Jugendverein trafen sich die Söhne aus den besseren Häusern und pflegten unter Gleichaltrigen ihre unklare Sehnsucht nach mittelalterlicher Romantik. Ihre Gedanken schweiften zurück nach Griechenland, dem Land der Sehnsucht ihres Hölderlin, suchten aber das glückliche Leben auch im alten, bäuerlichen Russland eines Iwan Turgenjew. Sie lasen die Bibel und die europäischen Klassiker, warteten auf den Neuen Menschen und besprachen leidenschaftlich, wie er sein sollte. Ja, sie wollten selbst diese neuen Menschen sein und einer alten Erwartung aus der Zeit des Urchristentums entsprechen: Der Mensch ist gut!

Nicht aus der aufklärerischen Philosophie, sondern aus der Literatur, nicht aus den Begriffen, sondern aus den Sprachbildern holten sie sich die Quellen ihres Fühlens und Handelns. So ist die Jugendbewegung dieser zwanziger Jahre angefüllt mit romantischen Erscheinungen. Man pries die in der spätromantischen Wandervogelzeit wiedererweckten wandernden Scholaren. Wenn sie an den Lagerfeuern saßen und die Lieder aus dem „Zupfgeigenhansl“ sangen, versetzten sie sich in eine bessere Welt, abseits von den unwägbaren Fährnissen der Nachkriegszeit. Das politische Ziel, der ewige Weltfriede, war im Krieg mit Füßen getreten worden. Es musste eine neue Ethik her, ein Wertgefüge, an das man sich im Leben halten konnte. Bei den Neupfadfindern beschäftigte man sich mit dem Idealbild des Ritters, eines anständigen Soldaten also, der mit starker Hand das schwach gewordene Reich und die Schwachen in ihm zu schützen vermochte.

Den jungen Schwarmgeistern war es ernst mit einer neuen Welt, in der neue ethische Grundsätze gelten sollten, da sie an der alten alles beklagten: Die Durchdringung des Lebens mit Technik und die ihr folgende Hast, im Politischen die Republik ohne einen festen Mittelpunkt, wie ihn angeblich die deutschen Kaiser gebildet hatten. Die umständliche und kontroverse Meinungsbildung in der täglichen Praxis der Parlamente und der über dreißig Parteien hielten nicht nur sie für unüberschaubar. Außerdem verachteten sie alles, was „links“ war, ohne die Auffassungen der Arbeiterparteien und der Liberalen genau zu kennen. Sie hielten sich für den eigentlichen Staat, die Elite, die Avantgarde, den Vortrupp. Sie wollten vorangehen, die Welt zu verbessern.

In Goethes, Shakespeares und Hölderlins Werken fanden sich so viele Gedanken und Bilder, mit denen man sich ein neues Reich erschaffen konnte, ohne die umständlichen politischen Prozeduren der Weimarer Republik vornehmen zu müssen. Und so war hier schon bei vielen der Boden bereitet für ein „Tausendjähriges Reich“, das ihnen verheißen worden war von der Bibel, von der Reichsidee des Mittelalters - und von einem damals noch kaum bekannten Mann, der so anders war als alle anderen Politiker, schockierend fanatisch und Massen gewinnend. Er berief sich auf die Vorsehung und stellte sich als eines ihrer Werkzeuge hin, dem aufgetragen worden sei, die Welt im Namen der germanischen Rasse (der er selber allerdings nicht angehörte) zu erretten. Das alles klang für ihre suchenden Gemüter edel und begeisternd.

In den Programmsatzungen der Neupfadfinder war von den Gefahren des Weges, die dieser neue Prophet wies, allerdings noch nichts zu spüren. Seit 1920 standen ihre Mitglieder unter hehren Zielen verbunden: Sie strebten nach der Erneuerung des inneren und äußeren Lebens „im Glauben an eine kommende deutsche Kultur“. Dafür sei ein neuer Mensch die Voraussetzung, das Ziel aber sei das neue Reich. Um es zu gewinnen, bedürfe es einer kraftvollen, herben Lebensart. Nun ja, ähnliche Worte schrieben auch andere Gruppen der bündischen Jugend in ihre Schriften, die weit mehr, als wir heute annehmen, die Haltungen der jungen Menschen bürgerlicher Herkunft prägten. Anders war es bei den Jugendverbänden der Arbeiterbewegung: Sie stellten sich in den Dienst der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für die Verbesserung der realen Lebensbedingungen.

Diese Welt war den Stauffenbergsöhnen völlig fremd, sie hatten nie Berührung mit ihr gehabt. Aus ihrer Sicht war ihr Bund der Ausgangspunkt für eine bessere Welt. Aus ihm sollte das Volk entstehen, wirkend in einem Staat, der von Männern priesterlichen Denkens geleitet wurde. In diesem Sinne bezeichneten auch sie sich als Staat. Sie waren bereits der Staat, der als Quelle aller weiteren Wohlfahrt anzusehen war. Ihr Bund war ein Jugendreich, seine Mitglieder die unbefleckten, weißen Ritter. Ihre Bundeszeitung, geleitet von ihrem Vorsteher, einem Pfarrer aus Berlin, trug programmatisch diesen Namen: „Der weiße Ritter“.

Sicher sind viele Ideen dieser Bündischen Jugend später belächelt und vergessen worden; und dennoch brachte diese Bewegung einige, wenn auch unklare ethische Maximen hervor, die schließlich dazu führten, dass aus „weißen Rittern“ die Mitglieder der „Weißen Rose“ wurden. Die Studenten der Münchner Universität riefen in mehreren Flugblättern zum Sturz Hitlers auf. Wie Claus von Stauffenberg hatten auch sie sich ein eigenes Bild vom Reich ihrer Sehnsucht gemacht, das nun durch den Krieg beschmutzt wurde. Ihr erstes Flugblatt vom Juni 1942 erinnerte die Deutschen daran, dass sie, ein Kulturvolk, sich wie eine seichte, willenlose Herde von Mitläufern, denen das Mark aus dem Innersten gesogen und nun ihres Kernes beraubt worden sei, bereit seien, sich in den Untergang hetzen zu lassen.

Der Antifaschismus der „Weißen Rose“, das beweisen auch ihre weiteren Flugblätter, bezog seinen Grund aus den Ideen der Dichtung und einer idealistischen Auffassung vom Staat. Sie nahmen Friedrich Schiller als Zeugen dafür, dass die Kräfte des Abgrunds wohl den halben Erdkreis „übersiegen“ können, aber sie und alle, die sich an sie gehängt haben, gehen gesetzmäßig zugrunde, weil sie den freien Willen des Menschen missachteten.

Das unklare Verhältnis zum verschwommenen Begriff der „Masse“ teilen sie mit der Arbeiterbewegung. Auch sie treten selbstlos für die „Masse“ ein und meinen damit ihr Vaterland, das sie mit Hölderlin begriffen. Doch trotz allen ehrenwerten Mutes bis zum Selbstopfer liegt hier eine Achillesferse; sie wurden, wenn überhaupt, gehört, doch nicht verstanden. Der Begriff der Masse, besonders da, wo er sie als „passive“ versteht, enthält bereits das unwillkürliche Eingeständnis, wenig oder nichts über die Gesetze, welche die Welt bewegen, zu wissen. Einige, die Eingeweihten, stellen sich über die absolute Mehrheit des Volkes, und obwohl sie sich als die Wissenden bezeichnen, verstehen sie doch von der Kraft des Volkes, auf das sie sich berufen, recht wenig oder gar nichts.

Aber gerade die Unbestimmtheit der Begriffe erschien den elitär denkenden jungen Leuten eine ausreichende Grundlage für die Beurteilung der Welt und ihrer Gebrechen zu sein. Im Leben der Jugendgruppen wollten sie ihrer Veränderung näherkommen. Theodor Pfizer beschreibt, wie sie um das Lagerfeuer oder zu Weihnachten um den Tannenbaum standen, Hand in Hand, gemeinsam mit ihren Lehrern, das Liedgut der Jugendbewegung anstimmten und den Versen Hölderlins und Georges lauschten. Ja, die Dichter erschienen ihnen als die eigentlichen Führer, die Herrscher im Geistigen, dem Eigentlichen und Bestimmenden im Leben. Die Dichter blieben, sie hatten Bestand, sie gaben der deutschen Seele das Bild ihres Vaterlandes, das sie so nötig brauchten in der Zeit vermeintlicher Schande in einem ungeliebten Staat.

In diesen komplizierten Denkkonstruktionen, in denen ein Begriff den anderen bedingt, fanden sie das für jeden Fall lebensnotwendige Gedankengut, ohne sich ganz von den praktischen Dingen des Lebens, die man in ihrer Unerbittlichkeit unterschätzte, ja verachtete, abzuwenden. Ihre eigenen, privaten Umstände zwangen sie nicht dazu, sich für reale Ziele engagieren zu müssen. So suchten sie den reinen Adel des Geistes, der ihnen wichtiger erschien als der Adel der Geburt, der nichts gelte und bedeute. Auf die Gesinnung komme alles an. Neue Kräfte erhoben in der Gesellschaft ihre Ansprüche, wie sollte man sich zu ihnen verhalten? Man konnte sich nur durch höhere Gesinnung in den zu erwartenden Auseinandersetzungen behaupten.

Diese Fragen stellten sich die jungen Leute damals noch nicht konsequent, und auch ihre Lehrer wussten nicht immer, dass sie eines Tages unerbittlich fragen würden. Zu stark war der Glaube an den Wahrheitsanspruch der klassischen antiken und deutschen Dichtung verbreitet. Man bewegte sich frei in der griechischen Gedankenwelt und ihren Systemen, und auch in den Nachahmungen der Kulte übte man sich, die in der Jugendbewegung an die Stelle der als unbrauchbar erwiesenen Religionen trat. An den Feuern fühlte man sich zum „eingeweihten Kreis“ gehörig. In dem 1943 von Berthold und Claus von Stauffenberg für den Widerstand gegen Hitler ausgearbeiteten Eid heißt es in diesem Geiste und in dieser Sprache: „Wir wollen Führer, die, aus allen Schichten des Volkes wachsend, verbunden den göttlichen Mächten durch großen Sinn, Zucht und Opfer, den anderen vorangehen.“ Mit Ausnahme der Aussage, die Führer sollten aus allen Schichten hervorgehen - inzwischen war klar geworden, dass man die Masse nicht wie eine Herde führen könne - wäre dieser Eid auch an einem Lagerfeuer im Jahre 1924 möglich gewesen. Hitler erkannten sie zur Zeit ihres Eides nicht mehr an, da er sie enttäuscht hatte. Er war der „Widerchrist“, wie Stefan George ein Gedicht überschrieb. Hitlers selbst ernanntes Führertum besaß für sie weder Sinn noch Zucht, noch war es den göttlichen Mächten verbunden, obwohl er sie dauernd im Munde führte. Die Opfer ließ er andere bringen. Wofür? Warum? Die bohrende Frage nach dem Warum ist die eigentlich revolutionäre Frage. Sie forscht nach den tiefsten Gründen, die die Welt innerlich zusammenhalten - und auf der Suche nach ihnen finden die Jungen eine Spur, die des Meisters Stefan George.

„Nur kleine Schar ist zu der Sicht berufen ...“ - der Einfluss Stefan Georges

Den bohrenden, unbewusst quälenden Fragen gab der Dichter Stefan George Form und Gewicht. Der heute weitgehend unbekannte Lyriker war damals ein verehrter Sprecher der nationalen Jugend. Er wird heute von vielen Literaturwissenschaftlern abgelehnt, weil sie ihm vorwerfen, er habe mit seiner Dichtung, seit Ende des vorigen Jahrhunderts, also immerhin fünfzig Jahre lang, den Hitlerfaschismus vorbereitet. Außerdem gilt seine Lyrik zwar als sprachgewaltig, doch lediglich als hohle Gedankenlyrik, die sich ziere, gesellschaftliche Funktionen zu übernehmen. Und doch löste sein Werk bereits zu Lebzeiten in einem wichtigen Teil der Jugend nachhaltige Wirkungen aus. George fühlte sich als Sachwalter Hölderlins und war verdienstvoll an dessen Wiederentdeckung beteiligt. Mitten im Krieg erschien die erste größere Gesamtausgabe des Dichters aus Schwaben. George geriet aber zu Lebzeiten bereits ins Zwielicht, weil er sich als ein selbst ernannter König der Dichter fühlte und gab. Er brauche keinerlei Bestätigung durch andere, sondern sei sich selbst genug, Beifall durch andere mache seine verantwortliche Wirkung nur fragwürdig, meinte er. In Wirklichkeit war George immer auf der Suche nach Bestätigung, und er glaubte, sie in begabten jungen Menschen zu finden, die er um sich scharte, in seinen Kreis aufnahm. Von ihnen erhoffte er sich Anregung und schließlich auch Fortsetzung, denn er war schon nicht mehr jung, als er immer noch eine Art Dichterakademie in Anlehnung an Platon betrieb.

Sie war jedoch alles andere als eine Schule, er praktizierte sie auf eigene Weise. Ohne festen Wohnsitz, zog er wie ein mittelalterlicher König von Pfalz zu Pfalz. Er hielt sich immer bei einem seiner Jünger auf, versammelte bei diesem die anderen Anhänger und empfing von ihnen Lobpreisung und Anerkennung. Auf diesen Zusammenkünften waren nur zugelassene Schüler anwesend, sie empfingen die Auszeichnung, seine Werke aus eigenem Munde zu vernehmen. Diese Anerkennung kam nur den Auserwählten, Würdigen zugute.

Wenn seine Anhänger zu ihm eilten, erhofften sie sich zugleich ein treffendes, wegweisendes Wort des Meisters über ihre eigenen Arbeiten. Er sah ihre Gedichte oder Prosaseiten durch, und auch kleine, gedankenreiche Passagen oder kluge Beobachtungen konnten vor seinem Auge bestehen. Sein Urteil galt unbeschränkt an diesem Dichterhof; wer anderer Meinung war, ging in der Regel seine eigenen Wege und trennte sich, oft genug auch im Zorn, von ihm.

Die Jünger fühlten sich als der eigentliche Staat, den man erstreben sollte, dem man angehören wollte. Über die Zulassung traf der Dichter allein die Entscheidung, dann erst war man auserwählt. Irgendwelche demokratischen Spielregeln sucht man vergebens. Obwohl der Dichterkreis sich nach und nach veränderte, blieb sein Kern doch fast konstant.

Georges Dichtungen stellen angesichts der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts mit allen auch negativen Folgen für das Leben in den Städten eine Kulturkritik dar, wie wir sie auch zu anderen Zeiten beobachten. Die Zeiten werden demnach immer schlechter, die früheren Zustände erscheinen verklärt. George beschreibt mit seiner gewaltigen Sprachkraft die Zukunft als nahezu ausweglos, er malt schaurige Endzeitbilder, in fatalistischer Stimmung treiben die Menschen und die von ihnen erschaffenen Dinge dem Chaos zu. Dabei verwendet er Figuren und Bilder aus der germanischen Mythologie und schließt damit an eine verbreitete „völkische“ Geisteshaltung an, die wir auch bei Wagner finden. Das „Völkische“ wiederum ist ein Begriff, der mit dem deutschnationalen Denken in der Zeit um die Jahrhundertwende durchaus konform geht. Viele Denker beschwören „das Völkische“. Auch im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten taucht das Volk in allen Variationen auf, die Bürger werden als „Volksgenossen“ bezeichnet, Hitler behauptet, „vor dem Volk“ alle Verantwortung zu tragen. So wird das vorhandene vorgeprägte nationalistische Denken ohne Schwierigkeiten in den „nationalen Sozialismus“ Hitlers übernommen. Das ist der Grund, warum der Sänger des Völkischen, Stefan George, in den Ruch eines Vorläufers der Nazibewegung geriet.

Er betrachtete das Volk völlig undifferenziert, es ist für ihn eine allgemeine, abstrakte Kategorie, eine amorphe Masse, die hoffnungslos, weit unter der Elite stehend, im Dumpfen verharrt. Sie hat keine andere Wahl bis zu dem Tag, an dem die Posaunen ertönen und die Toten wiederkehren. Diese allgemeinen Vorhersagen kennt man bereits aus den Religionen und der Literatur, aber George trägt sie erneut besonders eindringlich vor. Der suchenden Jugend erscheint er als der deutscheste aller Dichter, begabt mit einem prophetischen Blick; George ist der Hölderlin ihrer Tage.

Als George die Stauffenbergjungen kennenlernte, begriff er ihre besonderen Begabungen wie vor ihm bereits ein anderer bedeutender Dichter, Rainer Maria Rilke. Mit ihm stand die Mutter Caroline in kurzzeitigem Briefwechsel, und sie hatte ihm mit einer Schilderung ihrer Überlegungen zur Erziehung der Jungen nach dem Krieg auch ein Foto geschickt, das die drei im Jahre 1915 zeigt und noch aus dem Alten Schloss stammt. In einem seiner vier Briefe an Gräfin Caroline antwortet Rilke nach der Betrachtung des Bildes: „... Ich verstehe jetzt die Sorge, die Sie in Ihrem vorletzten Brief als Mutter von drei Söhnen aussprechen, aber ich erkenne in der liebevollen Gruppe doch auch wieder das große überwiegende Glück, das Ihnen mit drei schönen und schon im jetzigen Augenblicke so vielfach künftigen Knaben geschenkt worden ist.“

Das Urteil über das Foto muss etwa in den Revolutionstagen abgegeben worden sein, die voller Unruhe über die weitere Zukunft waren. Rilke beruhigte die Mutter. Wie aber mögen die Studenten Alexander und Berthold und der erst sechzehnjährige Claus auf den alternden George gewirkt haben, als er sie kennenlernte! Zuerst wurde ihm Alexander vorgestellt, vermittelt durch einen Verwandten der Mutter, den Historiker Woldemar Graf von Üxküll. Danach wollte George auch Berthold kennenlernen. Wahrscheinlich hatte Alexander, der sehr gern Gedichte schrieb, auch von seinem Bruder berichtet, der sich gleichfalls als Dichter versuchte. Der Meister nahm beide in seinen Kreis auf, dem sie seit dem Jahre 1923 angehörten. Ein Jahr später folgte auch Claus, eingeführt durch einen guten Bekannten Georges, Professor Albrecht von Blumenthal aus Jena.

Claus bestand wahrscheinlich vor dem prüfenden Blick Georges, weil er bereits zu dieser Zeit ein guter Kenner seines Werkes war. Er sprach dessen schwierige Gedichte auswendig und hat sie sein Leben lang in wichtigen Momenten zitiert. Dazu kam, dass auch er sich in Gedichten versuchte; zweifellos hat er sie dem Meister vorgelegt. Doch mit Gedichten kamen viele, die in den Kreis aufgenommen werden wollten; das reichte nicht für eine enge, freundschaftliche Bindung, dafür musste auch gegenseitige Sympathie vorhanden sein. George war von Claus’ heiterer, offener, jugendlicher Erscheinung beeindruckt. Während andere Mitglieder des „Staats“ hin und wieder auch den Tadel des Meisters spürten oder von ihm zurechtgewiesen wurden, erfreute sich Claus von Stauffenberg seiner kritiklosen Anerkennung, und das wohl wegen seines unschuldigen Charakters.

Als er in den Kreis eintrat, war er bei Weitem der Jüngste. Über den Eindruck, den er auf die anderen machte, besitzen wir ein Zeugnis von Ludwig Thormaehlen: „Eine Trennung, einen Abstand zwischen Denken und Tun, Empfinden und Handeln, gab es bei Claus nicht. Vielleicht besaß er nicht die Weite des Hintergründigen des Berthold, die Vielfalt und Fülle des Alexander, aber er war dafür aus einem Guss, ohne Gehemmtheit, dazu tief, lauter und kräftig.“

Dem Meister Stefan George stand Claus von Stauffenberg in natürlicher Verehrung und Liebe gegenüber. Seine Briefe tragen die Anrede:

„Mein geliebter Meister!“ Alle Zeugnisse aus dem Kreis enthalten die Gewissheit, dass er seine Stellung als Jünger ernst genommen hat. Davon zeugen die häufigen Besuche bei George, auch noch während der Militärdienstzeit, bis hin zum Beistand am Sterbebett. Mancher betrachtete verhohlen George als Tyrannen, doch Claus von Stauffenberg hat ihn sicher nicht so empfunden, denn für ihn besaß der Meister eine natürliche Autorität, und also geschah die Unterordnung unter seinen Willen und sein Urteil freiwillig. Bereits vor dem 1. Weltkrieg hatten seine Schüler ihn den „Kritiker seiner Zeit“ und „Propheten der Zukunft“ genannt, nunmehr kam aber für den Dichter eine neue, selbst gewählte Rolle hinzu. Er wollte Lehrer einer neuen Jugend sein, in ihren Geist den Keim der Erneuerung pflanzen, und damit erklärt sich, dass aus dem Kreis „der Staat“ wurde, in dem sie, die Auserwählten, die (geistige) Regentschaft ausübten.

In dieser Welt lebte Claus von Stauffenberg mit seinem Denken, und er, der ohnehin dem „Adel der Gesinnung“ anhing, nahm seine Zugehörigkeit zum „Staat“ sehr ernst, bis zu seiner letzten Stunde. Aus dieser grundsätzlichen Haltung entspringt später auch seine Stellung zum Nationalsozialismus. Obwohl er mit den völkischen Ideen vertraut war und ihnen bejahend gegenüberstand, lehnte er die Hitlersche Massenpartei mit ihrem rüden, kleinbürgerlichen Gehabe ab und ganz besonders den Antisemitismus. Dieser „Führer“ war das genaue Gegenteil der Führergestalt, die George in seinen Visionen des künftigen Reiches vorschwebte, das auf einem Bund aller ritterlichen Menschen beruhen sollte. Solche Menschen fanden die Georgeaner bei den Nazis nicht. Als einige der Schüler in den Krisenjahren 1932 und 1933, als die Nazis stärker wurden, dieser Bewegung positiv gegenüberstanden, billigte George die Zurechtweisung dieser Sympathisanten durch einen Freund. Er unterstrich dessen Kritik noch: „Wenn die an die Regierung kommen, dann muss in Deutschland jeder mit einer Schlinge um den Hals herumlaufen, sodass man gleich bequem zuziehen kann.“

Die Denkweise des sechzehnjährigen Claus von Stauffenberg zu der Zeit, als er in den „Staat“ aufgenommen wurde, umreißt ein Gedicht von ihm, das um die richtige Lebenshaltung kreist. Es ist seinem Bruder Berthold gewidmet und klingt wie eine Antwort auf die vielen Diskussionen, die sie geführt hatten:

Nur kleine schar ist zu der sicht berufen

Nur kleine schar hat von dem hehren held geträumt

Sie schweigen stille haben nichts mit euch gemein

Sie knieen gläubig an des Meisters stufen.

So ist in mir zu herrschen dunkles wissen

Und jugend künftig kraft und grösse ahnend.

Unglaublich ist was mich bewegt

Unfasslich ist was mich gezeugt.

Wo noch grösse und tat bekannt

Nimmer solle feige hoheit heucheln.

Denn war Alexander herrlich Cäsar mächtig

Platon weise und Achilles schön

Wo blieb macht dann Weisheit herrlichkeit

Ruhm und Schönheit wenn nicht wir sie hätten

Des Staufers und Ottonen blonde erben.

Er gehörte zum inneren Kreis der Meisterschüler. Inzwischen versammelte George auch noch andere, ihn inspirierende Leute aus dem weiteren Kulturleben in einem zweiten Kreis um sich.

Waren sie aufgenommen in den geheimen Staat, das heilige Deutschland, und mit seinen Regeln bereits vertraut, erhielten sie einen neuen Namen, der von George selbst ausgewählt und verliehen wurde. In den Zusammenkünften sprach man sich nur mit diesen „Decknamen“ an, und damit wurde eine sonderbar unwirkliche Atmosphäre geschaffen. Auf diese Weise sollte jede Art von bürgerlichen Unterschieden abgelegt werden.

Alexander trug den Namen Offa, Berthold nannte man Adjib (der Wunderbare).

Berthold galt weder als Schüler noch als Jünger, er wurde vom Meister als sui generis, als Mensch gleichen Ranges, anerkannt. Claus erhielt keinen zweiten Namen, sondern wurde von allen unter seinem richtigen Namen gerufen. Wie er beurteilt wurde, sagt in der etwas überschwänglichen Sprache des Kreises Thormaehlen in einem Gutachten, das uns in die Beziehungswelt des Kreises blicken lässt: „An Außergewöhnlichem hatten seine Brüder vielleicht mehr miterhalten, aber eine herrliche Einheitlichkeit des Wesens war ihm zuteilgeworden, die Vollkommenheit einer mutvollen, geweckten, lebendigen Männlichkeit, eines Reichtums ohne lastende oder unbewältigte Gaben. Man hatte ihn nicht nur gern, er erregte Enthusiasmus und Entzücken sofort und überall, wo er auftrat.“

Die äußere Umgebung war natürlich nicht imstande, die Beziehungen der jungen Männer und ihres Meisters zu durchschauen. Die sonderbaren Reden und Gesten, die tunikaähnlichen Gewänder und ihre seltsamen Zeremonien nährten das Gerücht, der Georgekreis sei homoerotisch. Als die Mutter davon erfuhr, beunruhigte sie diese Nachricht so sehr, dass sie sich auf den Weg machte, George darüber zu befragen. Sie traf ihn in Heidelberg und ließ sich von ihm über Sinn und Ziel des Kreises unterrichten, wonach sie keine Einwände mehr gegen die Teilnahme ihrer Söhne erhob.

Claus von Stauffenberg hatte den Meister zum ersten Mal in den Herbstferien 1924 getroffen. George hielt sich zu dieser Zeit in Berlin auf, wo Claus seine beiden Brüder an ihrem Studienort besuchte. Sie nahmen ihn mit, und er war gewiss erstaunt, als er den großen Dichter in einem Pförtnerhäuschen antraf, das zu einer Villa im Grunewald gehörte. Hier lebte er genügsam, und vom Zeitpunkt ihres Zusammentreffens an gehörte Claus zum Kreis. Er war kein direkter Jünger, kein Reichsunmittelbarer, gehörte aber zum inneren Kreis, denn er hatte direkten Zugang zum Meister, und das war entscheidend. Durch die räumliche Entfernung konnte er ohnehin nicht häufig an den Sitzungen teilnehmen; zu gering war deshalb das Gewicht seiner Stimme, auch hatte er keinen Mittelsmann (Mentor), der ihn betreute.

Doch er traf hier einen Jünger, mit dem er Freundschaft schloss, Max Kommerell, das spätere Mitglied der „Weißen Rose“. Wenn sie sich bei den Sitzungen trafen, tauschten sie sich aus, danach schrieben sie Briefe. Allerdings war das schon zu der Zeit, als Kommerell mit George brach, und als seine Zugehörigkeit zum Kreis endete, bedeutete das für alle, den Umgang mit dem Abgefallenen einzustellen. Claus von Stauffenberg muss aber seine Haltung gefallen haben; Kommerell wollte sich nicht mehr bevormunden lassen, wie er sagte, und ging seiner eigenen Wege. So brach Claus nicht mit Max, hielt ihre Freundschaft aufrecht und lud ihn zu sich ein. Er fühlte sich nicht an solche Scheingesetze gebunden, allerdings verhinderten andere, dass Kommerell der Einladung nachkommen konnte.

Eine weitere Freundschaft entstand mit dem etwas jüngeren Bildhauer Frank Mehnert. Er ist der Fotograf der Porträts von Claus Stauffenberg und Stefan George, und er bat Stauffenberg, ihm zu sitzen. Das dabei entstandene Porträt seines Kopfes stammt aus dem Jahre 1928, als er kurz vor seiner Ernennung zum Leutnant stand. Es gibt Aufschluss über den Charakter des jungen Offiziers. Wir entdecken sein feines Gefühl für die Umwelt und zugleich entschlossene Tatkraft, die er nun, nachdem er seinen Weg gefunden hatte, beweisen wollte. Diese Plastik zeigt am besten, wer im Kreis als „Täter“ angesehen wurde: der Aktivist, der geistig motivierte Tatmensch.

Seine schon früher gewonnene Auffassung, nur ihre kleine Schar sei wissend und zur historischen Sicht auf die Dinge berufen, nur sie seien die wahren Erben der großen Könige des Mittelalters, der Staufer und Ottonen, festigte er nun in Georges „Staat“, in den er eingetreten war. Wenn er dort auch die Überzeugung gewann, seine dichterischen Versuche würden den Ansprüchen des Meisters nicht standhalten, so bedeutete ihre Aufgabe keineswegs eine Abkehr vom „Staat“ und seinen tragenden Ideen. Ohne Zweifel bildet sich bei Claus von Stauffenberg in den Jahren unter dem direkten Einfluss Stefan Georges die Überzeugung, aus der sein konsequenter Einsatz letztlich entspringt: Der Auserwählte trägt Verantwortung vor dem Volk, steht in der Pflicht, zur Tat bereitzustehen, auch wenn sie nur durch Opfer oder Selbstopfer erfolgen kann. Pflicht - Verantwortung - Tat - Opfer, das ist der Kreislauf seiner Ethik.

Immer wieder kreist Stauffenbergs Denken um die Gestalt des Täters. Das heute ganz anders gebrauchte Wort bezeichnet bei ihm einen tatkräftigen, aktiven, vorangehenden handelnden Menschen. Es ist der Sammelbegriff für optimistische Vorausschau. Im Handeln des Täters zeigt sich die männliche Bewährung als das Höchste, als die eigentliche Bestimmung des Mannes.

Der Kreis war die anerkannte Form gesellschaftlicher Kommunikation. Sie beruhte auf gleichen Interessen und auf erlebter Freundschaft, ähnlich wie in der Neupfadfinder-Gruppe. Der kleine Kreis gleich gesonnener Menschen war zu überschauen, man kannte und schätzte einander. Wer die Ziele verriet oder ihnen nicht mehr folgen wollte, wurde ausgeschlossen, sodass der Kreis berechenbar blieb.

In der Verschwörung des 2.0. Juli finden wir eine ähnliche Organisationsstruktur. Wer von Stauffenberg eingeweiht wurde, von dem erwarteten auch die anderen unbedingten Einsatz und selbstverständliche Pflichterfüllung. Daraus abzuleiten, Claus von Stauffenberg hätte gegen Hitler gewissermaßen im geistigen Auftrag Georges gehandelt, ist abwegig und verbietet sich allein dadurch, dass Claus ein Täter, kein Werkzeug war.

Im Kreis entstand als Ziel das „Neue Reich“, so lautet auch der Titel des letzten Gedichtbandes von Stefan George, der 1928 erschien. In einer Veranstaltung des Kreises las der Meister selbst zwei Gedichte, darunter auch das „Geheime Deutschland“. Beim Begriff „Neues Reich“, das dann viele in Übereinstimmung mit den Nazis das „Dritte Reich“ nennen, denkt niemand an eine demokratische Staatsform. Zwar findet man bei den Georgeanern keine ausdrückliche Ablehnung der Republik, doch da sie sich prinzipiell nicht mit Tagespolitik befassen, sehen sie in Parteien und Parlamenten lediglich eine Herrschaft der Masse, die für sie nicht infrage kommt. Das geheime Deutschland sieht indessen „das Geschick des kommenden Tages“, die Zukunft, als ein „Wunder, undeutbar für heut’“ an. Auf dieser mystischen Grundlage ist nichts Dauerhaftes zu bauen, und so folgten viele direkte oder indirekte Anhänger Georges dann auch den Verkündern des Dritten Reiches, die konkrete und praktische Programme für seinen tausend Jahre währenden Bestand veröffentlichten; dass sie auf Eroberung anderer Länder und die Vernichtung von Völkern gerichtet waren, sahen damals nur wenige.

Die Brüder Stauffenberg machten die Politik Hitlers nicht mit. Zwar konnten sie sich ihr nicht ganz entziehen - schließlich standen sie im Dienste des Staates, Alexander als Historiker, Berthold als Jurist und Claus als Soldat - doch sie billigten die mehr und mehr sichtbar werdenden Folgen nicht nur nicht, sondern sie lehnten die menschenverachtende Praxis ab und bekämpften sie schließlich.

Claus dachte immer wieder und lange vor 1943 an das Attentat. Es musste zu einem Zeitpunkt geschehen, „wohl bis eine Stunde in der Härte ihres Schlages und in der Größe ihrer Erscheinung das Zeichen gebe“. Diese Stunde werde den Beginn der europäischen Erneuerung aus Deutschland heraus einläuten, sie bedürfe daher einer großen Täterfigur, eines Cäsar, eines Napoleon Bonaparte würdig.

Die Gestalt des Täters, im Georgekreis ein ständiges Thema, ist nicht zu verwechseln mit dem von Nietzsche angekündigten Übermenschen. Er solle vielmehr ein höchstem Anspruch genügender Mensch sein. Diese Meinung Georges war zugleich auch eine Absage an Hitler, der sich als eine Art Übermensch aufführte und vorgab, im Auftrage der Vorsehung zu handeln. Allerdings benutzte Hitler sehr oft Begriffe aus der völkischen Ideologie und nahm gern die Pose des Sehers und des Propheten ein.

In der Idee der nationalen Wiedergeburt trafen sich die Ideologien, lehnten doch auch die Georgeaner alles Internationale als marxistisch ab. Stattdessen vertrat man eine Selbstbehauptung gegenüber den Siegermächten. Insofern steckte der konservative Geist tief im Georgekreis wie in allen führenden Kreisen der Gesellschaft, worin zugleich eine Erklärung dafür liegt, warum die Zahl der Widerständler gegen den Faschismus so gering war. Hatte Hitler nicht versprochen, das Tausendjährige Reich zu gründen? So ließ man ihm die geforderte Zeit, und er nutzte sie. Doch statt in einen blühenden Garten, den er versprochen hatte, verwandelte er Deutschland in eine Ruinenlandschaft.

Es war die Irrationalität im Geistigen, welche durch Rassen- und Herrenideologie die moralischen Grundlagen vernichtet und als Folge davon die militärische Eroberung und Zerstörung der europäischen Länder inspiriert hatte. Und die meisten sahen zu und machten sogar mit. Wer sich Moralität bewahrte, fand zu einer Gegenposition und rettete damit die Ehre des Vaterlandes. Der Weg dahin war verschlungen und steinig, und als zusätzliche Tragik beobachten wir ein Bild der uneinigen Gegenpartei. Erst als es schon zu spät war, versuchte sie, die historischen Versäumnisse zu korrigieren, und die drei Brüder Stauffenberg erwiesen sich dabei als konsequente Männer. Sie handelten aus Verantwortung vor ihrem Volk und rächten zugleich damit die unsägliche Beleidigung ihrer Jugendträume durch den „Widerchrist“.

Berufswunsch: Soldat

Der junge Claus von Stauffenberg und seine Eltern erwogen verschiedene Berufe. Die Wahl erwies sich als nicht leicht. Wäre es nach der Neigung gegangen, hätte er Musik studiert. Obwohl er gern und gut auf dem Cello musizierte, reichte die Leistung jedoch nicht aus, um diesem geliebten Instrument Hervorragendes zu entlocken, das den Vergleich mit den Meistern standhielt - so weit schätzte er sich richtig ein. Einige Zeit vor dem Abitur liebäugelte er damit, Architekt zu werden. Warum er diesen Gedanken nicht weiterführte, kann niemand mehr sagen, seiner stark entwickelten Fantasie hätte ein schöpferischer Beruf schon entsprochen. Wie auch immer, er ließ diesen Plan fallen, und die Vorbereitungen für das Abitur beherrschten vorerst den Schulalltag. Allerdings erhielt er die Erlaubnis, sich auf die entscheidende Prüfung privatim in Lautlingen vorzubereiten. Da er in diesen Jahren häufig kränkelte, hatte er einiges nachzuholen und übte mit einem Privatlehrer. Anfang März 1926 bestand er das Abitur mit der Note „Befriedigend“ und lag damit im Durchschnitt der Klasse. In den Fächern Geschichte, Erdkunde, Französisch und Mathematik erzielte er gute Noten. Die Anforderungen waren hoch gesteckt, eine Zwei bedeutete bereits eine große Leistung.

Jedermann war erstaunt, als bekannt wurde, Claus wolle in die Reichswehr eintreten. Der Jugendfreund Theodor Pfizer sieht sich heute noch außerstande, Gründe dafür anzugeben. Es seien keinerlei Anzeichen für einen solchen Entschluss erkennbar gewesen. Allerdings erinnerte er sich an einen Ausflug zu Claus’ Lieblingsplatz, dem Felsentor. Gemeinsam mit Berthold bereitete sich Theodor Pfizer im Schloss auf juristische Universitätsprüfungen vor, und in dieser Zeit wanderten er und Claus in der Morgenfrühe den einstündigen Weg zu diesem Felsvorsprung. Dabei führten sie ein ernstes Gespräch über den Platz im Vaterland, den sie suchten, über ihre Verantwortung und den Anteil, den man der Gemeinschaft geben müsse.

Solche Gespräche sind bei jungen Männern gewiss nichts Ungewöhnliches, doch folgt daraus noch nicht die Wahl des Soldatenberufes. Wahrscheinlich, so ist zu vermuten, mag auch die wirtschaftliche Lage der Familie eine Rolle gespielt haben. Wir wissen die eigentlichen Ursachen nicht, sie scheinen auch nicht mehr ergründbar zu sein. Ob die Herkunft der Mutter vom Generalfeldmarschall Neidhard von Gneisenau eine Rolle gespielt hat? Der Ururgroßvater von Claus war ein berühmter Feldherr. Als Generalstabschef der preußischen Truppen unter Blücher hatte er maßgeblich die Pläne zur Niederwerfung Napoleons ausgearbeitet. In der Notzeit des Vaterlandes gehörte er zu den patriotischen Kräften, die nicht aufgaben, auch als die militärische Lage angesichts der Siege des französischen Kaisers schier ausweglos erschien.

Wenn man die bisherigen Lebensumstände des jungen Stauffenberg näher ansieht, so war eine Neigung zu einem einfachen, anspruchslosen Leben zu erkennen. Obwohl er in einem Schloss leben konnte, zog er doch eine bescheidene Kammer in einem der Ecktürme der Schlossmauer vor. Heute sind dort Ausrüstungen eines Wandervereins untergebracht. In diesem kargen Raum schlug er sein Feldbett auf. Ein Tisch mit Stuhl, seine Bücher und einige Bilder bildeten die weitere Ausstattung. Dieses Turmzimmer war schon ein gewisser Fortschritt. Vorher hatte er seinen Leseplatz im alten Nussbaum eingerichtet, doch wohl bald gemerkt, dass man hier ins Träumen kam, zu intensivem Studium war der luftige Ort nicht geeignet.

Seine geschichtlichen Neigungen waren gut entwickelt, und so beschäftigte er sich wie seine Brüder mit „dem schmerzensreichen Werden eines neuen Deutschland und mit ihren Hoffnungen und Berufswünschen“, wie Theodor Pfizer sich erinnert. Doch der Weg dahin schien ihnen zu unbestimmt, die Konturen des „neuen Deutschland“ waren noch nicht ausgeprägt.

Die Monarchen hatten versagt, aber was an die Stelle der Monarchie getreten war, die Republik, fand ihren Beifall auch nicht. Vielleicht musste ein Führer her, ein Mann von Gesinnung, der das neue Reich schaffen konnte?

Solcherart Überlegungen, die in der Weimarer Republik durchaus nicht nur bei den elitären Jugendgruppen herumgeisterten, enthielten auch zwangsläufig die „völkischen Ideen“, die Hitler und sein Propagandachef Goebbels frühzeitig aufgegriffen hatten. Es gibt keine Zeugnisse aus dieser Zeit, aus denen man ablesen könnte, wie im Einzelnen die jungen Männer darüber dachten, aber dass sie sich damit beschäftigten, darf man aus folgendem Umstand ableiten. Als Berthold, der ältere, eingeweihte Bruder, nach dem 20. Juli 1944 von der Gestapo verhört wurde, befragte man ihn zu ihren Überzeugungen und zu ihrem Verhältnis zum „nationalen Sozialismus“. Berthold skizzierte die anfänglichen Hoffnungen in die Hitlerbewegung folgendermaßen:

„Der Gedanke des Führertums, der selbstverantwortlichen und sachverständigen Führung, verbunden mit dem einer gesunden Rangordnung, und dem der Volksgemeinschaft, der Grundsatz ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ und der Kampf gegen die Korruption, die Betonung des Bäuerlichen und der Kampf gegen den Geist der Großstädte, der Rassegedanke und der Wille zu einer neuen deutschbestimmten Rechtsordnung erschienen uns gesund und zukunftsträchtig ...“

Doch dann drückt er die tiefe Enttäuschung über die tatsächlichen Zustände aus:

„Gegen den Gedanken der Volksgemeinschaft wurde verstoßen, indem gegen die oberen ‚Intellektuellen‘ gehetzt und überhaupt das Ressentiment des Kleinbürgers geweckt wurde. Den Grundsatz ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ verrieten die Führer, indem sie eine noch nie gekannte Korruption einführten. Statt einer Stärkung des Landes kam es zu einer Landflucht, statt einer Rechtsordnung kamen wir zu einer Rechtlosigkeit. Ein Regime, das so gegen seine eigenen tragenden Ideen handelt, hat sein Lebensrecht verwirkt.“

Aus diesen etwas gekürzten Ausführungen geht hervor, dass die Jungen durchaus, wie andere auch, an bestimmte, den Interessen ihres Standes entsprechende Naziparolen geglaubt hatten - gingen sie doch mit ihrem eigenen Denken überein. In wenigen Jahren - Berthold stand bereits seit 1938 in der Widerstandsbewegung - war jedoch die Ernüchterung eingetreten, da die Ideen, an die sie geglaubt hatten, „... in der praktischen Durchführung durch das Regime fast alle in ihr Gegenteil verkehrt“ worden waren. Wir werden am weiteren Lebensweg des Soldaten Claus von Stauffenberg sehen, in welcher Weise sein in idealistischen Bahnen geprägtes Denken Wandlungen unterlag. Manchmal wird behauptet, er habe ernsthaft an den Nationalsozialismus geglaubt, doch ist dies in keiner Weise bestätigt. Hier liegt vielmehr der Umstand vor, dass er spürte, zu einem Teil die von ihm bei Stefan George gelernten und erfahrenen Gedankengänge bei den Nazis wiederzufinden.

In der Judenfrage ging er durchaus nicht mit den Nazis konform. Wie George hielt auch er sie für aufgebauscht. Sein Meister sah ganz andere Gefahren, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass die Nationalsozialisten an die Vernichtung des jüdischen Volkes gehen würden, sonst hätte er nicht gesagt: „Wenn ich an das denke, was Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren bevorsteht, ist mir die Judensache im Besonderen nicht so wichtig.“ Er sah wohl, dass zu den Juden ein falsches Verhältnis vorlag, aber das hatte es bei anderen schon gegeben. Einen grausamen militanten Antisemitismus sich vorzustellen, war niemand von ihnen in der Lage; mittelalterliche Pogrome im 20. Jahrhundert? Undenkbar!

Nein, Claus von Stauffenberg war auf ganz andere Weise von den Ideen der „nationalen Revolution“, wie die Nazis ihre Bewegung nannten, berührt. Der Gedanke einer konservativen Revolution - eigentlich ein Widerspruch in sich - tauchte damals verschiedentlich auf, und in ihm steckte das Dilemma der bürgerlichen und aristokratischen Jugend. Sie erhofften energische Bewegungen zur Veränderung der Gesellschaft, aber ihre wesentlichen Grundsätze wollten alles beim alten lassen. Das aber ist nirgends durchführbar. Es klingt teilweise schön und überzeugend, wenn Hofmannsthal und George die Abkehr des Lebens von der Technik verlangen. Mit der Technik sollte noch allerlei mehr über Bord geworfen werden: Die Korruption, der Opportunismus, die Freidenkerei, der Rationalismus, die theoretischen Auffassungen der Arbeiterbewegung, die demokratische Gesellschaft insgesamt.

Seit 1789 verbindet man mit dem Begriff „Revolution“ gesellschaftlichen Fortschritt, da mag nun das Gegenteil, der Begriff „konservative Revolution“, ungewöhnlich klingen, aber er stellt nichts weiter dar als die Begründung für eine angeblich revolutionäre Haltung kleinbürgerlicher Schlägertrupps mit ihrem halbmilitärischen Gebaren. Diese Zusammenhänge waren in den zwanziger Jahren der aristokratischen Jugend nicht klar, sie hatte Mühe, eine Beziehung zur Demokratie zu finden, sie stand dem Volke, das sie zu repräsentieren vorgab, in Wahrheit unendlich fern. Wie sollte es auch anders sein? Claus von Stauffenberg kannte nur die auf der Familie beruhende Organisation der Adelsgeschlechter, die locker gefügte Jugendorganisation und den georgeanischen „Staat“.

Die Reichswehr und die Machtübernahme Hitlers

Auch als Soldat blieb Claus in Verbindung mit dem Meister, wenn es ihm auch Mühe bereitete, häufig bei den Sitzungen des Kreises anwesend zu sein. Er stand bei den 17-er Reitern in Bamberg. Vielleicht trat er bei den Reitern ein, um im Zeitalter der Motorisierung auch des Heeres sich die Vorstellung einer Ritterexistenz zu bewahren. Die Stadt Bamberg war dafür sehr geeignet. Im Dom steht die überirdische Gestalt des reinen Ritters, dort wirkte einer der Stauffenbergschen Vorfahren als Fürstbischof und begründete gleichzeitig den Besitz der Familie an Burg Greifenstein, die, in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen, seit dem 17. Jahrhundert im Besitz der Stauffenbergs war. In Anspielung auf diese Tradition wurde Claus scherzhaft von seinen Kameraden „der Bamberger Reiter“ genannt. Hohe Gesinnung aus ritterlicher Haltung wird ihm von verschiedenen Seiten bestätigt. Als er 1927, wie jeder zukünftige Offizier der Reichswehr, die Dresdener Infanterieschule besuchen muss, halten ihn seine Kameraden eher für einen Künstler oder Wissenschaftler. Er absolvierte nicht nur ohne Anstrengungen das Studienpensum, sondern lehnte auch die beim Kommiss üblichen rüden Manieren und Zoten über die Weiblichkeit ab. In dienstlichen Besprechungen erhob er oftmals die Stimme zu wichtigen Fragen des Zusammenlebens in der Kaserne. Während die anderen in der Regel lauten Lustbarkeiten nachgingen, besuchte er die Dresdener Sehenswürdigkeiten und Museen. Sein Lehrgangskamerad Manfred von Brauchitsch berichtete denn auch aus der Erinnerung, dass sich alle gefragt hätten: „Wie kam er nur in unseren Haufen, er gehörte doch gar nicht hierher!“

Die Aufnahme in die Reichswehr, die Stauffenberg sich zum Ziel gesetzt hatte, war nicht selbstverständlich. Es war gar nicht so sicher, dass ein Bewerber bei der Reichswehr auch wirklich angenommen wurde. In den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages wurde das Berufsheer auf eine Stärke von 100 000 Mann festgeschrieben. Reichswehrangehörige durften sich politisch nicht betätigen. Das Offizierskorps, aber auch die Unteroffiziere und längerdienenden Mannschaften, hatten daher einen besonderen Korpsgeist entwickelt und empfanden sich als ein Staat im Staate, ja als seine eigentlich bestimmende und erhaltende Kraft.

Die Bamberger Reiter galten, wie die anderen Kavallerieregimenter auch, als eine Elitetruppe. Die Familie Stauffenberg hatte in ihr einen guten alten Bekannten, der sicher helfend eingesprungen wäre, wenn es wegen der unsteten Gesundheit des Kandidaten Schwierigkeiten gegeben hätte. Seine Hilfe war aber zum Glück nicht nötig, und die Gesundheit Claus von Stauffenbergs wurde durch den Reiterdienst eher gebessert.

Die Kavallerie galt Ende der zwanziger Jahre bereits als anachronistische Waffengattung, sie spielte jedoch in den Plänen der Reichswehrführung eine besondere Rolle. Durch sie sollte das bewegliche Element der Kampfführung auf die zukünftigen motorisierten Truppen übertragen werden. Als Claus dort eintrat, spürten die Bamberger Bürger noch nichts von diesen Plänen, wie eh und je exerzierten die Reiter in ihrem beschaulichen Städtchen und durchzogen, als Höhepunkt ihres Umrittes, das Brückentor des Rathauses, das inmitten der Regnitz liegt, vorweg die berittene Musik. Ein Foto zeigt Claus von Stauffenberg, wie er an der Spitze eines Trupps durch eben dieses Rathaustor zieht.

Die alte Stadt erweckt auch wegen ihrer bedeutenden Geschichte im historisch interessierten und gebildeten Stauffenberg besonderes Interesse. Die alte Burg der Babenberger wird um 900 zum ersten Mal erwähnt, hundert Jahre später wird der Domhügel Bischofssitz. Der Dom wurde in unmittelbarer Nachbarschaft zur Königspfalz errichtet, man sieht deren Reste noch in der heutigen „Hoffhaltung“. Die Gründer des Bistums, Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde - beide heiliggesprochen - ruhen im Dom unter einem Grabmal, das von Tilman Riemenschneider geschaffen wurde, gleich neben der Gestalt des königlichen Ritters im Ostchor.

Die Bamberger Reiter waren ebenso exklusiv wie die anderen drei Kavalleriedivisionen, der Geist in den Offizierskasinos wurde durch den Adel bestimmt. Bei den Kavalleristen lag der Anteil der Adligen weit höher als in den anderen Truppenteilen der Reichswehr, wo er um zwanzig Prozent zählte. Je höher die Ränge, desto größer der Anteil des Adels, bei den Generälen betrug er gut die Hälfte. Mit den Jahren wuchs der Anteil des Adels am Offizierskorps der Reichswehr absolut. Wie Claus von Stauffenberg bemühten sich auch Söhne aus anderen angesehenen Familien verstärkt um die wenigen Plätze. Bei sinkendem ökonomischem Einfluss und geringer werdenden Einnahmen war es immer schwerer geworden, die Söhne standesgemäß zu versorgen.

Bei dieser schwieriger werdenden Lage des Adels musste es geradezu als ein Glücksfall angesehen werden, dass auf den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert ein kaiserlicher Feldmarschall folgte. Für den Adel wirkte das wie eine Aufforderung, die wichtigen Positionen in der Armee als eigene Domäne anzusehen. Damit wuchsen zugleich Hoffnungen, dass der Einfluss des Militärs auf das gesamte gesellschaftliche Leben wieder steigen würde, nachdem er durch die Novemberrevolution 1918 so stark reduziert worden war. Die Reichswehr hatte in der ungeliebten Republik eine eigene Überlebensstrategie entwickelt, formuliert und durchgesetzt von ihrem Chef, dem General Hans von Seeckt. Sie bestand im Wesentlichen darin, neben der Republik zu stehen und, wenn verlangt, gegen die linken Bewegungen vorzugehen. Als in einer angespannten Situation der damalige Reichspräsident Ebert den General von Seeckt fragte, wo denn die Reichswehr stehe, antwortete dieser selbstbewusst: „Sie steht hinter mir!“, und meinte damit, dass sie nicht hinter der Republik und ihrem Präsidenten, der laut Verfassung die höchste Befehlsgewalt ausübte, stünde.

In dieser Anekdote zeigt sich, mit welchem Selbstverständnis in der Reichswehr gedient wurde, nunmehr auch von Claus Stauffenberg. Er sollte, wie alle Offiziere, offiziell neutral sein und sich keinesfalls politisch betätigen, jedoch war die Reichswehr als Korporation selbst eine wichtige konservative Kraft, die in völliger Sicherheit ihre antirepublikanische Politik betreiben konnte, was schließlich auch Hitler an die Macht brachte.