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Long Island in den 1940er-Jahren: Charles und Grace Shepard sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen, und Evan verliebt sich in die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten sie, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Rachels Mutter Gloria teilen ... Bald liegen die Nerven blank.
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend – von »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ).
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Seitenzahl: 302
DAS PORTRÄT EINES AMERIKANISCHEN SOMMERS
Charles und Grace Shepard leben in den 1940er-Jahren im Städtchen Cold Spring Harbor auf Long Island. Sie sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen. Während die trinkfreudige Mutter Gloria Charles anhimmelt, der für sie den Lockruf des »alten Geldes« verkörpert, verliebt sich Evan in Glorias Tochter, die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten die beiden, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Gloria teilen …
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend. Meisterhaft und mit nur wenigen Pinselstrichen gelingt es Richard Yates, »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ), psychologische Fallstricke, Lebenslügen und Selbstbetrug aufzudecken – und dabei doch immer auch ein Herz für seine Figuren zu haben.
RICHARD YATES wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Wie Ernest Hemingway prägte Richard Yates eine Generation von Schriftstellern. Die DVA publiziert Yates’ Gesamtwerk auf Deutsch, zuletzt erschien der Roman Eine strahlende Zukunft. Das Debüt Zeiten des Aufruhrs wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen von Regisseur Sam Mendes verfilmt. Cold Spring Harbor, zuerst veröffentlicht 1986, ist Yates’ letzter vollendeter Roman.
Richard Yates
Cold Spring Harbor
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Deutsche Verlags-Anstalt
Für Kurt Vonnegut
KAPITEL 1
Alle Sorgen wegen Evan Shepards rüpelhaften, pubertären Verhaltens waren überstanden, als er 1935, mit siebzehn, für Automobile entflammte. Das unablässige Schikanieren schwächerer Jungen, die plumpen Beleidigungen gegenüber Mädchen, seine stümperhaften, peinlichen Bagatelldelikte – nichts davon spielte noch eine Rolle, außer als unangenehme Erinnerung. Er entdeckte seine Liebe für ausgedehnte, temporeiche Fahrten über Long Island und war schon bald mit der Mechanik jedes Wagens vertraut, den er in die Finger bekam. Wenn er in der staubigen Einfahrt seines Elternhauses einen Wagen akribisch auseinanderschraubte oder wieder zusammenbaute, war Evan manchmal tagelang für die Welt verloren.
Für Charles Shepard, seinen Vater, war es stets eine Freude, vom Fenster aus zuzuschauen, wie sein Sohn allein draußen in der Sonne arbeitete. Noch ein Jahr zuvor hätte niemand geahnt, dass dieser Junge je lernen würde, seine Gedanken zu ordnen und auf eine nützliche Tätigkeit zu richten; und war das nicht der Beginn des Erwachsenwerdens? War es nicht das, was einem Mann half, Willen und Entschlossenheit zu entwickeln?
Ja, natürlich, so war es; um die schmerzliche, dringende Notwendigkeit von Willen und Entschlossenheit im Leben – in jedermanns Leben – wusste Charles Shepard aus langer, hilfloser Erfahrung. Er war ein ehemaliger Armeeoffizier, ein Mann mit romantischen Denkgewohnheiten, die er stets zu unterdrücken versucht hatte, und oft sah es so aus, als hätte sich seine eigene Begeisterungsfähigkeit mit dem Waffenstillstand von 1918 in nichts aufgelöst.
Als leidenschaftlicher junger Second Lieutenant der Infanterie, frisch vermählt mit dem hübschesten Mädchen beim Offiziersball und fest davon überzeugt, dass sie für ihn beten würde, war er erst drei Tage nach Kriegsende in Frankreich eingetroffen – seine Enttäuschung so enorm, dass ihn etliche Offiziere voller Ungeduld hatten auffordern müssen, sich nicht so kindisch aufzuführen.
»Tu ich doch gar nicht«, hatte er beharrt, »tu ich doch nicht.« Doch er hatte immer gewusst, dass es vor der Wahrheit kein Entrinnen gab; er befürchtete sogar, dass sein Leben nun bis ans Ende von einem misslichen Gefühl des Scheiterns überschattet sein würde.
»Ich weiß, dass ich dich immer lieben werde«, schrieb er seiner Frau aus Le Havre, »aber abgesehen davon habe ich offenbar in so ziemlich alles andere das Vertrauen verloren. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass fast nichts auf der Welt einen Sinn ergibt.«
Nach seiner Rückkehr in die Staaten, umgeben von jauchzenden, vor Freude johlenden Männern, die es kaum erwarten konnten, aus der Armee entlassen zu werden, fasste Charles einen jähen, unpopulären Entschluss. Er blieb beim Militär.
Dass die Gründe für diese Entscheidung alles andere als klar waren, bemerkte er daran, dass sie ihm jahrelang keine Ruhe ließen, als wären sie Antworten in einem diffusen kleinen dreiteiligen Katechismus: Das Militär war geradezu eine Berufung; es bot die Sicherheit, die ein Ehemann und Vater stets brauchen würde; und irgendwann brach vielleicht ein weiterer Krieg aus.
Er wurde eine Ewigkeit nicht befördert und befürchtete schon, der älteste First Lieutenant aller Zeiten zu werden, zudem bestanden fast all seine Aufgaben aus sterbenslangweiliger Büroarbeit.
Fort Devens, Fort Dix, Fort Benning, Fort Meade – jeder Stützpunkt bemühte sich tapfer, sich von den anderen zu unterscheiden, doch sie waren alle gleich. Es war schlichtweg die Hölle, aufgebaut auf Gehorsam. Nicht einmal in der streng gehüteten Privatsphäre der Unterkünfte verheirateter Offiziere, nicht einmal nachts vergaß man, wo man sich befand und warum man dort war, das galt selbst für die Ehefrauen. Wenn man bedachte, dass sich wahrscheinlich ihr ganzes restliches Leben an den Vorschriften eines Militärstützpunkts in Friedenszeiten orientieren würde, konnte man nicht ernsthaft behaupten, man sei überrascht – erschrocken durchaus, aber nicht überrascht –, dass eine Ehefrau, die so aufgeweckt und temperamentvoll war wie Grace Shepard, einen Nervenzusammenbruch erlitt.
Seit ihrem ersten Klinikaufenthalt wusste Charles, dass er sich um seine baldige Entlassung aus der Armee bemühen musste, und dafür sprach inzwischen noch ein weiteres Problem: Seine Sehschärfe hatte rapide nachgelassen und verschlechterte sich immer mehr. Ironischerweise erhielt er im selben Jahr eine interessante Aufgabe. Bei seiner überfälligen Beförderung zum Captain wurde ihm das Kommando über eine Schützenkompanie übertragen.
Ach, er mochte diese zweihundert Männer – sogar die Sonderlinge und Nörgler. Schon nach wenigen Wochen war er stolz auf sie, stolz, sich ihren Respekt erworben zu haben. Tagtäglich genoss er die Augenblicke, die ihn in dem Glauben bestärkten, dass er für seine Leute sorgte, auf sie aufpasste, die ihn darauf vertrauen ließen, dass sie das auch wussten; und nie wurde er es leid, sie »der Captain« oder »der Kompaniechef« sagen zu hören.
Wenn er lange Märsche in voller Feldausrüstung mit ihnen unternahm, genoss er den Rhythmus, den Schweiß und die disziplinierte Anstrengung, obwohl er sich nicht immer sicher sein konnte, dass er die Strecke bewältigen würde. Und wenn er an anderen Tagen die aufgeklappten, ungeladenen Springfield-Gewehre inspizierte, während die Männer kerzengerade, völlig reglos und mit ausdruckslosen Gesichtern in Formation standen, dann wünschte er, die Kompanie in einen von ihm selbst herbeifantasierten Krieg führen zu können. Fast alle von ihnen würden sich im Feld auszeichnen, weil fast alle Kämpfe die normalen Anforderungen überstiegen; und sobald der Krieg vorbei wäre, würden ihre Toten rechtzeitig zum Trinken und Lachen und für die hübschen Mädchen wieder lebendig werden.
Wäre Grace wieder vollständig genesen, hätte er versuchen können, sich durch die ganzen Sehtests zu mogeln, um so lange wie möglich bei der Kompanie zu bleiben, doch das war ihm nicht vergönnt. Sie erlitt einen zweiten Zusammenbruch, und diesmal wusste er, dass er nicht länger zögern durfte. Noch bevor sie aus der Klinik kam, hatte er vereinbart, aus dem Offiziersdienst auszuscheiden.
Während sie alles regelten und ihre Sachen packten, spielte Charles tagelang mit dem Gedanken, irgendwo hinzuziehen, wo keiner von ihnen zuvor gewesen war – Kalifornien oder Kanada –, wo die Anforderungen, ein neues Leben aufzubauen, ihnen frischen Mut geben könnten. Andererseits hatten die Shepards immer auf Long Island gelebt, sie waren Grasebenen, Kartoffelfarmen und einen nach Salzwasser riechenden Wind gewohnt, und darum war es vernünftiger, dorthin zurückzukehren. Mithilfe seiner kleinen, aber ausreichenden Pension kaufte er an der Nordküste, am Ortsrand von Cold Spring Harbor, ein kleines, aber ausreichendes braunes Holzhaus.
Binnen kurzer Zeit kannte man ihn im Ort als würdevollen, höflichen Mann, der für seine Familie stets die Lebensmittel einkaufte und sich um die Wäsche kümmerte, weil seine Frau kränklich war. Haltlosen Gerüchten zufolge war er ein Kriegsheld oder hatte mit anderen Taten geglänzt; die Leute wären vermutlich überrascht gewesen zu hören, dass er als Captain in den Ruhestand gegangen war, denn sein Erscheinungsbild und sein Auftreten erinnerten eher an einen Colonel: Man konnte sich vorstellen, wie er einem Bataillon oder einem ganzen Regiment die Parade abnahm und mit ernster Miene beobachtete, wie die Männer vorbeimarschierten. Manchmal, wenn man sah, wie er sich auf der Straße mit Einkaufstüten oder Wäschesäcken abmühte, sein graues Haar vom Wind zerzaust und die dicke Brille halb von der Nase gerutscht, bekam diese Vorstellung etwas Komisches; doch niemand machte sich je über ihn lustig, nicht einmal in der Kneipe.
»Ich bin wieder da, Liebes«, rief er Grace eines Nachmittags zu, stellte eine große Tüte voll Lebensmittel auf dem Küchentisch ab und redete in derselben Lautstärke weiter, während er alles an seinen Platz räumte. »Ich glaube, Evan bastelt schon seit etwa zehn Stunden an diesem Motor herum. Keine Ahnung, woher er die Energie nimmt. Geschweige denn die Sorgfalt.«
Als er die Lebensmittel eingeräumt hatte, holte er Eiswürfel und machte zwei Gläser Bourbon mit Wasser, eins mit einem doppelten Schuss Whiskey. Dann ging er durchs Wohnzimmer auf die beschattete Glasveranda, wo Grace auf einer Liege ruhte, und drückte ihr den doppelten Bourbon vorsichtig in die wartende, ausgestreckte Hand.
»Ist es nicht bemerkenswert, wie sehr sich ein Junge verändern kann? In ein paar Monaten?«, fragte er, während er sich mit seinem eigenen Drink dicht neben sie, auf einen schlichten Stuhl setzte. Der Tag war anstrengend gewesen, doch jetzt konnte er sich eine halbe Stunde ausruhen, bis es Zeit war, das Abendessen zuzubereiten.
In bestimmten Augenblicken, wenn das Licht und der Alkohol sich zu ihrem Vorteil auswirkten, konnte Grace noch immer das hübscheste Mädchen beim Offiziersball sein. Charles hatte gelernt, mit der Geduld eines Liebhabers auf diese Augenblicke zu warten und sie, sobald sie kamen, auch zu genießen, doch sie waren immer seltener geworden. Meistens – beispielsweise an diesem Nachmittag – verspürte er keine Lust, Grace auch nur anzublicken, weil sie erbärmlich aussehen würde: schwerfällig, unzufrieden, still um den Verlust ihrer selbst trauernd.
Ein freundlicher älterer Militärarzt in Fort Meade hatte bei einem Gespräch über ihren Zustand einmal das Wort »Neurasthenie« verwendet – und nachdem Charles es im Wörterbuch nachgeschlagen hatte, war er zu dem Schluss gekommen, damit leben zu können. Doch später in New York hatte ein wesentlich jüngerer ziviler Arzt gesagt, der Begriff sei so altmodisch und unpräzise, dass er in der modernen Medizin keinen Nutzen mehr habe. Und dann hatte dieser jüngere Mann wie ein übertrieben selbstsicherer Verkäufer auf etwas gedrängt, das er als »psychotherapeutische Behandlung« bezeichnete.
»Tja, wenn wir uns über Worte streiten wollen, Doktor«, hatte Charles mit letzter Beherrschung gesagt, »dann muss ich Ihnen sagen, dass ich in Worte, die mit ›psych‹ beginnen, nicht das geringste Vertrauen habe. Ich glaube nicht, dass ihr Leute wisst, was ihr auf diesem seltsamen, unberechenbaren Fachgebiet tut, und ich bezweifle, dass sich das jemals ändern wird.«
Er hatte weder seine Äußerung noch dass er kurz darauf aufgestanden war und die Praxis verlassen hatte je bedauert, obwohl es dem Arzt die Gelegenheit gab, dazusitzen und so pikiert und eitel, so verächtlich und triumphierend auszusehen wie ein Porträtfoto von Sigmund Freud persönlich. Manches, was man tat, war bereuenswert; anderes nicht.
Noch vor Kurzem, als ihre Probleme mit Evan einen Höhepunkt erreicht hatten, war der heimtückische Strom psychiatrischen Kauderwelschs hier in seinem eigenen Haus neuerlich geflossen, ohne dass Charles es hätte verhindern können. Verschiedene Leute hatten ihn gedrängt, für Evan »professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen« oder »eine professionelle Behandlung zu prüfen«; das Witzige war, dass er sich erinnern konnte, versucht gewesen zu sein, diesem Geschwätz beizupflichten, und sei es nur, weil das übrige Geschwätz noch viel beunruhigender war – es war von Bewährung und Jugendgericht, sogar von einer Besserungsanstalt die Rede gewesen. In jener Zeit hatte er oft das Gefühl gehabt, es pausenlos mit der wütenden Stimme eines Fremden, der sich am Telefon über Evan beklagte, oder mit Polizisten an der Haustür zu tun zu haben.
Ja, es war wirklich bemerkenswert, wie sich ein Junge verändern konnte. Und vielleicht pendelte sich so etwas tatsächlich von selbst ein, wenn man der Sache Zeit ließ; vielleicht musste man es aushalten und konnte bloß abwarten, was als Nächstes passierte.
Wenn man sich auf der Glasveranda leicht im Stuhl vorbeugte und durch den unbeschatteten Teil eines Fensters blickte, konnte man trotz Sehschwäche die Konturen Evan Shepards sehen, der gerade in der Einfahrt sein Tagwerk beendete – das Werkzeug wegräumte, sich müde aufrichtete und die Hände an einem sauberen Lappen abwischte.
»Und weißt du, was noch überraschend ist, Liebes?«, sagte Charles. »Bei Evan? Er sieht viel besser aus. Im Gesicht, meine ich. Das war wirklich nicht zu erwarten, aber aus ihm ist ein sehr … ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann geworden.«
»Oh, ich weiß«, sagte Grace Shepard, die zum ersten Mal an diesem Tag einen Ton von sich gab und auch zum ersten Mal lächelte. »O ja, ich weiß. Kann man wohl sagen.«
Und beide spürten, dass sie nicht die Einzigen waren, denen das auffiel.
KAPITEL 2
Sogar die Mädchen, die Evan Shepard vor einem Jahr noch abstoßend gefunden hatten, waren sich inzwischen einig, dass er gut aussah; zumindest ein Mädchen jedoch hatte schon immer so gedacht, auch wenn sie das ihren Freundinnen nie anvertraut hatte.
Mary Donovan war schlank, hatte kräftiges, lockeres dunkelrotes Haar und ein hübsches Gesicht, das andere Mädchen als »fesch« bezeichneten, und schwärmte insgeheim schon seit dem siebten Schuljahr für Evan Shepard. Für sie war es schrecklich gewesen, von seinen Problemen zu hören – wie er einem kleineren Jungen mit einem Ziegelstein ein Loch in den Kopf geschlagen hatte; wie ihn die Polizei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen und über Nacht eingesperrt hatte, »um ihm eine Lektion zu erteilen«; wie er in einen Eisenwarenladen eingestiegen und beim Griff in die Kasse erwischt worden war – und vielleicht war sie, abgesehen von seinen Eltern, in Cold Spring Harbor der erste Mensch, den die tief greifenden Veränderungen interessierten, die plötzlich in ihm vorgingen.
Mary hatte immer gedacht, dass sie mal einen Sportler zum Freund haben würde – warum nicht? –, darum war sie leicht enttäuscht, dass Evan sich nicht sportlich betätigte, obwohl er für jedes Team kräftig und beweglich genug zu sein schien. Dennoch stellte sie schon bald fest, dass es aufregend war zu sehen – zu beobachten –, wie er seinen Wagen beherrschte. Wenn er nachmittags an der Schule losbrauste, ließ er den Kies aufspritzen, bremste dann scharf am Highway, wo er den Kopf reckte, sein schönes Profil zeigte und, das wellige schwarze Haar oft von leichtem Wind zerzaust, auf eine Lücke im Verkehr wartete; dann bog er rasch und wunderbar selbstsicher auf die rechte Spur, röhrte davon, bis ihre Augen ihn nicht mehr ausmachen konnten, und noch weiter. Er war zum Fahren geboren, und im Herzen mindestens eines Mädchens brachte er damit eine Saite zum Schwingen.
Wenn sie allein dastand, um ihm nachzublicken, die Schulbücher an die Brüste gedrückt, weil die anderen Mädchen sie ebenso trugen, begriff sie allmählich, dass ihr Leben sich grundlegend ändern würde.
Konnte sie nachts nicht schlafen, lag sie manchmal in ihrem wohlriechenden Zimmer wach und gab sich ihren Fantasien hin. Dann stellte sie sich vor, ihre eigenen Hände seien die von Evan Shepard. Sie ließ sie über ihren Körper gleiten, ihn an verschiedenen Stellen streicheln und war diesen Händen zu Willen, bis die süße Anspannung kaum noch zu ertragen war; und schließlich brachte sie die krampfhaften Zuckungen und den hilflosen kleinen Schrei zustande, die bedeuteten, dass sie nun wahrscheinlich einschlafen konnte. Wenn sie Evan Shepard nach so einer Nacht morgens in der Schule sah, errötete sie und schämte sich so sehr, als kenne er ihr Geheimnis und könne es allen erzählen.
Während der Oberstufe brachte Evan eines Herbstnachmittags in einem laut hallenden Highschoolflur den Mut auf, Mary zu fragen, ob sie mit ihm ins Kino gehen wolle, und sie sagte Ja.
Nach der Vorstellung an jenem Abend umarmten und küssten sie sich wie junge Filmstars in der mondhellen Ungestörtheit seines geparkten Wagens, bis sich Mary mit vielversprechend geschürzten Lippen von ihm löste. Sie schälte sich aus ihrer Bluse und ließ sie bis zur Taille hinabgleiten; dann griff sie mit beiden Händen hinter sich, um ihren BH zu öffnen, und als sie ihn abgestreift hatte, sah sie Evan unsicher an, als wollte sie fragen, ob sie das Richtige getan habe.
»Oh«, sagte er mit vor Ehrfurcht gedämpfter Stimme. »Oh, du bist schön. Oh, du bist wirklich schön, Mary.«
Eine ihrer hübschen Brüste in der Hand und die andere unglaublicherweise im Mund, wusste er von den unablässigen Erzählungen anderer Jungen, dass er als Nächstes versuchen musste, die freie Hand »in ihr Höschen zu bekommen«. Doch kaum hatte er damit begonnen, als Mary ihn neuerlich überraschte. Sie wand sich, nahm eine andere Stellung ein und spreizte schüchtern die Beine, um es ihm leichter zu machen.
»O Evan«, sagte sie. »O Evan.«
Und wenig später rissen sie sich für einen Augenblick in geflüstertem Einverständnis zusammen, verließen in schmerzlicher Entbehrung den Vordersitz und sanken wollüstig in den Fond.
Die Liebe mag nicht alles auf der Welt sein, doch darüber machten sie sich erst Gedanken, nachdem sie verheiratet waren. Sie hätten mit der Eheschließung warten können, bis beide ein paar Jahre älter waren, hätte Mary nicht kurz nach Beginn ihrer Liebesaffäre festgestellt, dass sie schwanger war. So mussten sie es ihren Eltern erzählen, und alles ging ziemlich hektisch vonstatten. Man arrangierte eine bescheidene Hochzeit, mietete eine kleine Zweizimmerwohnung in der nahe gelegenen Handelsstadt Huntington, und ein Freund von Marys Vater verschaffte Evan einen Job in einer dreißig Kilometer entfernten Werkzeugmaschinenfabrik. Es war ungelernte Arbeit zu einem Lehrlingslohn, doch es gab Grund zu der Hoffnung, dass man Evans mechanisches Geschick bald erkennen würde; und mit Sicherheit war es besser als gar nichts.
Das Baby war ein Mädchen und wurde nach Marys Großmutter Kathleen genannt. Es wurden jede Menge Familienfotos gemacht, und auf allen außer einem zeigten Evan und Mary ein theatralisches Lächeln. Auf der einzigen Ausnahme, einem Bild, das man kurz darauf wegwarf, wirkten die beiden so ängstlich und verzweifelt, als würden sie lieber woanders sein und alles machen, nur nicht für dieses Foto posieren.
Zu dieser Zeit konnten sich die Erwachsenen beider Familien bereits wieder ihren eigenen Problemen widmen; doch auch wenn es niemand in Worte fasste, dürften alle gewusst haben, dass Kinderehen selten Bestand haben.
Evan begann, nachts allein ziellos durch die Gegend zu fahren, um in der Dunkelheit stirnrunzelnd nachzudenken. Es war großartig, eine hübsche Frau zu haben, die nach einem verrückt war – das ließ sich nicht leugnen. Dennoch konnte es einem zu denken geben. Sollte das etwa alles sein? Immer wieder schlug er mit der Hand aufs Lenkrad, denn er konnte nicht glauben, dass sein Leben schon vor seinem neunzehnten Geburtstag so festgelegt war.
Auch Mary war nicht glücklich. Natürlich musste man die Highschool besuchen, damit man alles über Jungen, die Liebe und das ganze Drumherum erfuhr; doch dann sollten noch vier Jahre College folgen, und nach dem College musste man eine Zeit lang in New York leben, einen Job haben, schöne Kleidung kaufen, auf Partys gehen und ein paar … na ja, ein paar interessante Leute kennenlernen. War es nicht so? Und wusste das nicht jeder?
Ach, wäre es doch bloß nicht so belastend, zu wissen, dass Evan sie über alles liebte, dass er ohne sie völlig aufgeschmissen war – dann könnte sie sich jetzt darauf konzentrieren, einen Ausweg zu finden.
Wenn sie ihre Tochter aus dem Gitterbett oder der Badewanne nahm und in ihre runden, hübschen Augen schaute, stellte Mary manchmal fest, dass sie sich zwingen musste, ein freundliches Gesicht zu machen, weil sie befürchtete, selbst ein Säugling könne die Verbitterung und Ablehnung in ihrem Blick erkennen.
Kam es zu Streitigkeiten, waren sie lang und schroff und stetig wiederkehrend.
»Lässt du mich irgendwann mal ein eigenständiger Mensch sein, Evan?«
»Wie meinst du das, ›ein eigenständiger Mensch‹«?
»Ach, du weißt schon. Und wenn nicht, dann hat’s keinen Zweck, dass ich’s dir zu erklären versuche.«
»Aber was meinst du mit ›dich lassen‹? Mir scheint, du kannst jederzeit sein, wer du willst.«
»O Gott; vergiss es. Du wüsstest ganz genau, was ich sagen will, wenn du dir mich mal woanders als an diesem Herd, an diesem Spülbecken oder in diesem Bett vorstellen würdest.«
»Oh. Dann wird das jetzt eins dieser Gespräche, bei denen wir die halbe Nacht aufbleiben, uns den Mund fusselig reden und nicht mal bumsen können? Denn wenn’s schon wieder darum geht, dann ohne mich. Ich bin nämlich müde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie müde ich bin.«
»Du bist müde. Du bist müde. Hör mal, Mister Lehrling, ich bin so müde, dass ich schreien könnte.«
»Aber was zum Teufel willst du sonst noch, Mary? Du willst ausgehen und andere Männer kennenlernen? Ist es das? Du willst für andere Männer die Beine breit machen? Liebling, ich sag dir mal was: Ich bin dumm; ich bin wirklich dumm; aber so dumm nun auch wieder nicht.«
»Ach, wenn du bloß wüsstest, Evan. Wenn du bloß ahnen könntest, wie dumm du wirklich bist.«
»Ja? Tatsächlich?«
»Ja.«
Doch als sie sich anderthalb Jahre nach der Hochzeit trennten, gab es gar keinen Streit. In dem schlichten Bedürfnis, schnell aus der Wohnung in Huntington herauszukommen und voreinander zu fliehen, schienen sie beide zu wissen, dass jeder weitere Streit so peinlich wäre, als würde man in der Öffentlichkeit gegenüber einem Fremden die Beherrschung verlieren.
Mary regelte, dass ihre Eltern sich um das Baby kümmerten, schrieb sich an der Long Island University ein und war angeblich schon sechs Monate später mit einem Studenten der Zahnmedizin aus Hempstead verlobt.
Evan zog wieder zu seinen Eltern und arbeitete weiter in der Werkzeugmaschinenfabrik. Er wusste nicht, was er sonst anfangen sollte, und es fiel auch niemandem etwas Besseres ein – obschon sein Vater versuchte, ihm ein paar ermutigende Ratschläge allgemeiner Natur zu geben.
»Tja, Evan, das dürfte jetzt eine schwierige Zeit für dich werden«, sagte er eines Abends, als sie noch am Esstisch sitzen blieben, nachdem Grace nach oben gegangen war. »Aber du wirst feststellen, dass manchmal alles von selbst wieder besser wird. Man darf den Mut nicht verlieren, auch wenn man vielleicht bloß abwarten kann, was als Nächstes passiert.«
KAPITEL 3
1941 wurde in Lower Manhattan eine berühmte Klinik für Optometrie eröffnet, in der Leute mit starker Sehschwäche Brillen erhielten, die in ihrem Alltag erstaunliche Verbesserungen bewirken sollten.
Charles Shepard ließ sich einen Termin geben, sobald er im April jenes Jahres davon hörte; doch statt allein im Zug nach New York zu fahren, bat er seinen Sohn, ihn dort hinzubringen.
»Aber dann verliere ich einen ganzen Tageslohn«, sagte Evan erwartungsgemäß, doch Charles hatte genau die richtige Antwort parat und äußerte sie im genau richtigen ruhigen Ton.
»Spielt keine Rolle«, sagte er, »und das weißt du auch.«
Evan war kurz verwirrt, schien dann aber zu begreifen – oder zumindest zu sehen, dass sich diese Fahrt vielleicht lohnen würde, wenn der alte Mann etwas auf dem Herzen hatte.
Er war jetzt dreiundzwanzig, arbeitete immer noch in der Fabrik und wohnte weiter bei seinen Eltern, und sein Vater hegte seit Langem den Verdacht, dass er den Weg des geringsten Widerstands ging: Aus den gewohnten Bahnen auszubrechen hätte Ehrgeiz erfordert, und von dieser Eigenschaft war bei ihm noch nichts zu erkennen. Dem Jungen mochte einst eine kriminelle Karriere gedroht haben, doch der erwachsene Mann war von reiner Trägheit befallen. Obendrein wurde er unübersehbar immer attraktiver – die Mädchen warfen ihm überall verblüffte Blicke voller Hilflosigkeit zu –, und das Witzige daran war: Für jemanden, der so blendend aussah, schien es nicht richtig, so wenig im Kopf zu haben.
ENDE DER LESEPROBE
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Die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel Cold Spring Harbor bei Delacorte Press/Seymour Lawrence, USA.Der Übersetzung lag die 2008 bei Vintage Random House, London, UK, erschienene Taschenbuchausgabe zugrunde.
1. Auflage Copyright © 1986 by Richard YatesCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenSchutzumschlaggestaltung: LNT-Design, KölnGestaltung und Satz: DVA /Brigitte MüllerGesetzt aus der StoneISBN 978-3-641-15963-4www.dva.de