Easter Parade - Richard Yates - E-Book

Easter Parade E-Book

Richard Yates

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ein Meister der Zwischentöne« Deutschlandradio Kultur

Sarah und Emily wachsen in den USA der 1930er-Jahre auf. Sie leiden unter den Launen ihrer rastlosen Mutter, die mit den Mädchen von einer Stadt in die nächste zieht. Über die Jahre hätten sich die Schwestern nicht unterschiedlicher entwickeln können. Sarah heiratet früh und bekommt drei Söhne, Emily macht Karriere und stürzt sich von einer Affäre in die nächste. Beide scheinen endlich das Leben zu führen, das sie immer wollten. Doch Sarahs Ehe ist nicht so glücklich, wie alle glauben. Und erst als Emily ihren Job verliert, wird ihr bewusst, wie einsam sie in Wirklichkeit ist …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 316

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



RICHARD YATES wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Das Debüt »Zeiten des Aufruhrs« wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen verfilmt.
 
 
 
Easter Parade in der Presse:
 
»Easter Parade zeigt erneut Yates’ Meisterschaft, den Lesern schmerzvolle Biographien auf beklemmende Weise nahe zu bringen. Ein makelloses Werk.« Die Welt
 
»Ein geradezu unheimlich aktuelles Buch – und ein berückend schönes, tief trauriges dazu.« FAZ
 
»Atemberaubend. Ein wunderbarer Roman.« DIE ZEIT
 
»Über so viel Leseglück kann man nur ins Jubilieren geraten.« Der Tagesspiegel
 
»Yates schreibt packend und fühlt sich mühelos in das Leben seiner Charaktere ein. Eine aufrüttelnde Geschichte.« The New York Times
 
Außerdem von Richard Yates bei Penguin lieferbar:
 
Elf Arten der Einsamkeit
Verliebte Lügner
Eine letzte Liebschaft
Zeiten des Aufruhrs
Cold Spring Harbor
 
 
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Richard Yates

EASTER PARADE

Roman

Aus dem Englischen von Anette Grube

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel The Easter Parade bei Delacorte Press, New York.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt. Copyright © 1976 by Richard Yates Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlag: bürosüd nach einem Entwurf von Semper Smile Umschlagmotiv: © Stuart O’Sullivan / Getty Images ISBN 978-3-641-24607-5V003www.penguin-verlag.de
Für Gina Catherine
TEIL EINS
1. KAPITEL
Keine der Grimes-Schwestern sollte im Leben glücklich werden, und rückblickend schien es stets, daß die Probleme mit der Scheidung ihrer Eltern begonnen hatten. Das war 1930, als Sarah neun Jahre alt war und Emily fünf. Ihre Mutter, die von den Mädchen »Pookie« genannt werden wollte, zog mit ihnen fort aus New York und mietete ein Haus in Tenafly, New Jersey, weil sie glaubte, die Schulen wären dort besser, und weil sie hoffte, in der Vorstadt eine Laufbahn als Immobilienmaklerin einschlagen zu können. Es klappte nicht – kaum einer ihrer Pläne, unabhängig zu werden, klappte -, und sie verließen Tenafly nach zwei Jahren wieder, aber die Mädchen verbrachten dort eine unvergeßliche Zeit.
»Kommt euer Vater denn nie nach Hause?« fragten andere Kinder, und immer übernahm es Sarah, zu erklären, was eine Scheidung ist.
»Seht ihr ihn manchmal?«
»Klar sehen wir ihn.«
»Wo lebt er?«
»In New York City.«
»Was macht er?«
»Er schreibt Überschriften. Er schreibt die Überschriften für die New York Sun.« Und so, wie sie es sagte, war klar, daß die anderen beeindruckt sein sollten. Jeder konnte ein großtuerischer, verantwortungsloser Reporter sein oder ein verläßlicher Langweiler, der die Artikel überarbeitete; aber der Mann, der die Überschriften verfaßte! Der Mann, der täglich die komplizierten Nachrichten durchlas, um die wesentlichen Punkte auszuwählen, und sie dann mit ein paar wohl überlegten Worten kunstvoll zusammenfaßte, damit sie auf begrenztem Raum Platz fanden – das war ein vollendeter Journalist und ein Vater, der diese Bezeichnung verdiente.
Einmal, als die Mädchen ihn in der Stadt besuchten, führte er sie durch das Haus der Sun, und sie sahen alles.
»Die erste Ausgabe wird gleich gedruckt«, sagte er, »wir gehen runter in die Druckerei und schauen zu; dann führe ich euch oben herum.« Er ging mit ihnen eine eiserne Treppe hinunter, auf der es nach Druckerschwärze und Zeitungspapier roch, und in einen großen unterirdischen Raum, in dem in Reihen die hohen Rotationspressen standen. Überall liefen Arbeiter herum, die steife kleine quadratische Hüte aus kompliziert gefalteten Zeitungen trugen.
»Warum haben sie Papierhüte auf, Daddy?« fragte Emily.
»Also, wahrscheinlich werden sie behaupten, damit keine Druckerschwärze in ihre Haare kommt, aber ich glaube, sie haben sie auf, damit sie keß aussehen.«
»Was heißt ›keß‹?«
»Na, ungefähr so wie dein Bär«, sagte er und deutete auf eine mit Granaten besetzte Anstecknadel in Form eines Teddybären, die sie an diesem Tag an ihrem Kleid trug und von der sie gehofft hatte, daß er sie bemerken würde. »Das ist ein sehr kesser Bär.«
Sie sahen zu, wie die geschwungenen, frisch gesetzten Metalldruckplatten auf Förderrollen zu den Zylindern glitten, in denen sie festgeklemmt wurden; dann ertönte ein Klingeln, und die Pressen setzten sich in Bewegung. Der Stahlboden unter ihren Füßen bebte, und es kitzelte, und der Lärm war so überwältigend, daß sie nicht sprechen konnten: Sie konnten einander nur anschauen und lächeln, und Emily hielt sich die Ohren zu. Weiße Streifen Zeitungspapier liefen in alle Richtungen durch die Maschinen, und fertige Zeitungen kamen in ordentlicher, überlappender Fülle heraus.
»Wie findet ihr das?« fragte Walter Grimes seine Töchter, als sie die Treppe wieder hinaufgingen. »Jetzt schauen wir uns die Redaktion an.«
Es war eine weite Fläche voller Schreibtische, an denen Männer saßen und auf Schreibmaschinen einhämmerten. »Dort vorn, wo die Schreibtische zusammengeschoben sind, das ist die Lokalredaktion«, sagte er. »Der Lokalredakteur ist der kahle Mann, der gerade telefoniert. Und der Mann dort drüben ist noch wichtiger. Er ist der Chefredakteur.«
»Wo ist dein Schreibtisch, Daddy?« fragte Sarah.
»Oh, ich arbeite am Redaktionstisch. Am Rand. Siehst du, dort drüben?« Er deutete auf einen großen halbrunden Tisch aus gelbem Holz. Ein Mann saß in der Mitte, und sechs weitere Männer saßen zu beiden Seiten neben ihm, lasen oder schrieben mit Bleistiften.
»Schreibst du dort die Überschriften?«
»Überschriften sind ein Teil meiner Arbeit, ja. Es ist folgendermaßen: Wenn die Reporter und Redakteure mit ihren Geschichten fertig sind, geben sie sie einem Laufburschen – zum Beispiel dem jungen Mann dort -, und er bringt sie zu uns. Wir prüfen die Grammatik, die Rechtschreibung und die Zeichensetzung, dann schreiben wir die Überschriften, und dann sind sie druckfertig. Hallo, Charlie«, sagte er zu einem Mann, der auf dem Weg zum Wasserspender an ihnen vorbeikam. »Charlie, darf ich dir meine Mädchen vorstellen. Das ist Sarah, und das ist Emily.«
Der Mann beugte sich aus der Hüfte vor und sagte: »Hallo, ihr Süßen, wie geht’s euch?«
Als nächstes zeigte er ihnen den Raum mit den Fernschreibern, wo sie zusahen, wie Nachrichten aus aller Welt eingingen, dann die Setzerei, wo alles gesetzt und die Seiten gestaltet wurden. »Seid ihr bereit fürs Mittagessen?« fragte er. »Wollt ihr zuerst auf die Toilette?«
Als sie im Frühlingssonnenschein durch den City Hall Park gingen, hielt er sie beide an der Hand. Sie trugen leichte Mäntel über ihren besten Kleidern, weiße Söckchen und schwarze Lacklederschuhe, und es waren hübsche Mädchen. Sarah war dunkelhaarig mit einem Ausdruck vertrauensvoller Unschuld, den sie nie verlieren würde; Emily war einen Kopf kleiner, blond, dünn und sehr ernst.
»Das Rathaus macht nicht viel her, meint ihr nicht auch?« sagte Walter Grimes. »Aber seht ihr dort drüben zwischen den Bäumen das große Gebäude? Das dunkelrote? Das ist die World – war, sollte ich sagen; sie hat letztes Jahr zugemacht. Die wichtigste Tageszeitung in ganz Amerika.«
»Aber jetzt ist die Sun die beste Zeitung, oder?« sagte Sarah.
»O nein, Liebes. Die Sun ist keine besondere Zeitung.«
»Nein? Warum nicht?« Sarah schien bekümmert.
»Sie ist ziemlich reaktionär.«
»Was bedeutet das?«
»Das bedeutet sehr, sehr konservativ; sehr für die Republikaner.«
»Sind wir keine Republikaner?«
»Deine Mutter schon, Liebes. Ich nicht.«
»Oh.«
Er trank zwei Whiskeys vor dem Essen, für die Mädchen bestellte er Ginger-ale; dann, als sie ihr Chicken à la King und Kartoffelbrei aßen, sprach Emily zum ersten Mal, seit sie das Büro verlassen hatten. »Daddy? Wenn du die Sun nicht magst, warum arbeitest du dann dort?«
Sein langes Gesicht, das beide Mädchen als gutaussehend empfanden, wirkte müde. »Weil ich arbeiten muß, Häschen«, sagte er. »Es wird immer schwieriger, Arbeit zu finden. Wenn ich sehr talentiert wäre, würde ich vermutlich woanders hingehen, aber ich bin nur – ihr wißt schon – ich bin nur ein Mann am Redaktionstisch, ein Korrektor.«
Es war nicht viel, was sie nach Tenafly mitnahmen, aber zumindest konnten sie noch immer sagen, daß er die Überschriften schrieb.
»… Und wenn du glaubst, daß es einfach ist, Überschriften zu schreiben, dann täuschst du dich!« sagte Sarah eines Tages nach dem Unterricht zu einem unverschämten Jungen auf dem Schulhof.
Emily aber nahm es immer sehr genau, und kaum war der Junge außer Hörweite, erinnerte sie ihre Schwester an die Tatsachen. »Er ist nur ein Korrektor«, sagte sie.
 
Esther Grimes, oder Pookie, war eine kleine rührige Frau, die ihr Leben dem Ziel verschrieben zu haben schien, die schwer faßbare Eigenschaft, die sie »Flair« nannte, zu erlangen und beizubehalten. Sie brütete über Modezeitschriften, kleidete sich geschmackvoll und versuchte, ihr Haar auf verschiedene Weise zu frisieren, aber ihre Augen blickten immer verwirrt, und sie lernte nie, den Lippenstift innerhalb der Grenzen ihres Mundes aufzutragen, so daß ihr Gesicht einen Ausdruck benommener und verletzlicher Unsicherheit annahm. Sie fand mehr Flair bei den Reichen als in der Mittelklasse und war so in der Erziehung ihrer Töchter bestrebt, ihnen die Posen und Verhaltensweisen des Wohlstands nahezubringen. Sie entschied sich stets für »feine« Gemeinden, ob sie es sich nun leisten konnte oder nicht, und sie versuchte, in Dingen der Schicklichkeit strikt zu sein.
»Liebes, ich wünschte, du würdest das nicht tun«, sagte sie eines Morgens während des Frühstücks zu Sarah.
»Was tun?«
»Die Toaststücke in die Milch tunken.«
»Oh.« Sarah zog ein langes vollgesogenes Stück gebutterten Toasts aus ihrem Glas Milch und hob es tropfend an ihren gespitzten Mund. »Warum nicht?« fragte sie, nachdem sie es gekaut und geschluckt hatte.
»Darum. Es sieht einfach nicht fein aus. Emily ist ganze vier Jahre jünger als du, und sie macht keine solchen Babysachen.«
Das kam noch dazu: Sie suggerierte immer, auf Hunderte von Arten, daß Emily mehr Flair besaß als Sarah.
Als klar war, daß ihr als Immobilienmaklerin in Tenafly kein Erfolg beschieden sein würde, begann sie, regelmäßig ganztägige Ausflüge in andere Kleinstädte oder nach New York zu machen und die Mädchen bei anderen Familien zu lassen. Sarah schien sich an ihren Abwesenheiten nicht zu stören, Emily dagegen schon: Sie mochte die Gerüche fremder Häuser nicht; sie konnte nichts essen; sie sorgte sich den ganzen Tag und stellte sich gräßliche Verkehrsunfälle vor, und wenn Pookie ein, zwei Stunden zu spät kam, um sie abzuholen, weinte sie wie ein Baby.
Eines Tages im Herbst blieben sie bei einer Familie namens Clark. Sie brachten ihre Papierankleidepuppen mit für den Fall, daß sie sich selbst überlassen wurden, was wahrscheinlich schien – die drei Kinder der Clarks waren Jungen -, aber Mrs. Clark hatte ihrem ältesten Sohn Myron eingeschärft, sich als guter Gastgeber zu erweisen, und er nahm seine Pflichten ernst. Er war elf und verbrachte fast den ganzen Tag damit, vor ihnen anzugeben.
»He, schaut mal«, rief er beständig. »Schaut mal her.«
Am Ende des Gartens der Clarks befand sich eine waagrechte Eisenstange auf zwei Metallpfosten, und Myron konnte sehr gut turnen. Er lief immer wieder auf die Stange zu, das Hemd hing ihm flatternd aus dem Pullover, ergriff sie mit beiden Händen, schwang die Fersen erst unter der Stange durch, dann über sie hinweg und ließ sich an den Knien herunterhängen; dann hielt er sich erneut mit den Händen fest, schwang die Beine nach hinten und prallte in einer kleinen Staubwolke mit den Füßen auf dem Boden auf.
Später führte er seine Brüder und die Grimes-Mädchen in einem komplizierten Kriegsspiel an, danach gingen sie ins Haus, um seine Briefmarkensammlung anzuschauen, und als sie in den Garten zurückkehrten, gab es nicht mehr viel zu tun.
»He, seht mal«, sagte er. »Sarah ist gerade so groß, daß sie unter die Stange paßt, ohne sie zu berühren.« Es stimmte: Zwischen Kopf und Stange war ein guter Zentimeter Luft. »Ich weiß, was wir tun«, sagte Myron. »Sarah soll so schnell, wie sie kann, unter der Stange durchrennen, und sie wird grade so durchpassen, und das wird wirklich toll aussehen.«
Eine Entfernung von ungefähr dreißig Metern wurde abgemessen; die anderen standen auf der Seite, um zuzusehen, und Sarah fing an zu laufen, ihr langes Haar wehte. Was keiner bedacht hatte, war, daß die laufende Sarah größer war als die stehende Sarah – Emily wurde es den Bruchteil einer Sekunde zu spät klar, als sie nicht einmal mehr Zeit hatte aufzuschreien. Sarah prallte knapp oberhalb des Auges gegen die Stange, mit einem Geräusch, das Emily nie vergessen würde – ding! -, und dann lag sie auf der Erde, wand sich und schrie, ihr Gesicht blutüberströmt.
Emily machte in die Hose, als sie mit den Clark-Jungen ins Haus rannte. Auch Mrs. Clark schrie kurz auf, als sie Sarah sah; dann wickelte sie sie in eine Decke – sie hatte gehört, daß Unfallopfer bisweilen einen Schock erleiden – und fuhr sie ins Krankenhaus, Emily und Myron auf dem Rücksitz. Sarah hatte mittlerweile aufgehört zu weinen – sie weinte nie viel -, aber Emily hatte gerade erst angefangen. Sie weinte auf dem Weg ins Krankenhaus und auf dem Flur vor der Notaufnahme, aus der Mrs. Clark dreimal herauskam und sagte: »nichts gebrochen« und »keine Gehirnerschütterung« und »sieben Stiche«.
Dann waren sie wieder im Haus – »Ich habe noch nie erlebt, daß irgend jemand Schmerzen so gefaßt erträgt«, sagte Mrs. Clark mehrmals -, und Sarah lag auf dem Sofa im abgedunkelten Wohnzimmer, ihr Gesicht lila und blau geschwollen, ein dicker Verband über einem Auge und ein Handtuch mit Eis auf dem Verband. Die Jungen waren wieder im Garten, aber Emily wollte das Wohnzimmer nicht verlassen.
»Deine Schwester muß ruhen«, sagte Mrs. Clark zu ihr. »Lauf jetzt raus, Liebes.«
»Ist schon okay«, sagte Sarah mit einer seltsam distanzierten Stimme. »Sie kann bleiben.«
Emily durfte also bleiben, was wahrscheinlich nur gut war, weil sie sich gewehrt und getreten hätte, wenn jemand versucht hätte, sie von der Stelle auf dem häßlichen Teppich der Clarks zu entfernen, auf der sie stand und sich in die nasse Faust biß. Sie weinte nicht mehr; sie betrachtete ihre im Schatten liegende Schwester und wurde von Welle über Welle eines schrecklichen Verlustgefühls erfaßt.
»Ist schon okay, Emmy«, sagte Sarah mit dieser weit entfernt klingenden Stimme. »Ist schon okay. Sei nicht traurig. Pookie wird bald kommen.«
Sarahs Auge trug keinen Schaden davon – ihre großen dunkelbraunen Augen blieben das hervorstechende Merkmal eines Gesichts, das schön werden sollte -, aber für den Rest ihres Lebens zog sich eine hauchfeine blauweiße Narbe von der Augenbraue auf das Lid, wie ein zittriger, zögerlicher Bleistiftstrich, und Emily konnte sie nie ansehen, ohne daran zu denken, wie gefaßt ihre Schwester den Schmerz ertragen hatte. Sie erinnerte sie auch immer wieder an ihre eigene Anfälligkeit für Panik und ihre unerklärliche Angst vor dem Alleinsein.
2. KAPITEL
Es war Sarah, die Emily die ersten Auskünfte über Sex gab. Sie aßen Orangeneis am Stiel und lagen in einer zerrissenen Hängematte im Garten ihres Hauses in Larchmont, New York – einer weiteren Vorstadt, in der sie nach Tenafly lebten -, und während Emily zuhörte, füllte sich ihr Kopf mit wirren, beunruhigenden Bildern.
»Du meinst, sie stecken ihn in dich hinein?«
»Genau. So weit es geht. Und es tut weh.«
»Und wenn er nicht reinpaßt?«
»Oh, er paßt. Sie machen’s so, daß er paßt.«
»Und dann?«
»Und dann kriegst du ein Kind. Deswegen tut man’s erst, wenn man verheiratet ist. Außer, kennst du Elaine Simko aus der achten Klasse? Sie hat’s mit einem Jungen getan, und dann hat sie angefangen, ein Kind zu kriegen, und deswegen mußte sie von der Schule. Niemand weiß, wo sie jetzt ist.«
»Bist du sicher? Elaine Simko?«
»Ganz sicher.«
»Aber warum hat sie so etwas getan?«
»Der Junge hat sie verführt.«
»Was bedeutet das?«
Sarah leckte lange und bedächtig an ihrem Eis. »Du bist zu jung, um es zu verstehen.«
»Bin ich nicht. Aber du hast gesagt, daß es weh tut, Sarah. Wenn es weh tut, warum sollte sie dann -«
»Also, es tut weh, aber es fühlt sich auch gut an. Du weißt schon, wenn du manchmal in der Badewanne liegst, oder wenn du vielleicht deine Hand dort unten hintust und reibst, und es fühlt sich -«
»Oh.« Und Emliy senkte verlegen den Blick. »Ich verstehe.«
Sie sagte oft »ich verstehe« zu Dingen, die sie nicht ganz verstand – und das tat auch Sarah. Zum Beispiel verstand keine von beiden, warum ihre Mutter es für notwendig befand, so oft umzuziehen – kaum schlossen sie an einem Ort Freundschaften, zogen sie in den nächsten -, aber sie stellten es nie in Frage.
Pookie war in vielerlei Hinsicht unergründlich. »Ich erzähle meinen Kinder alles«, brüstete sie sich vor anderen Erwachsenen. »In unserer Familie gibt es keine Geheimnisse.« Und im nächsten Augenblick senkte sie die Stimme, um etwas zu sagen, was die Mädchen nicht hören sollten.
Gemäß den Vereinbarungen, die bei der Scheidung getroffen worden waren, besuchte Walter Grimes die Mädchen zwei- oder dreimal im Jahr in dem Haus, das sie gerade gemietet hatten, und manchmal übernachtete er auf dem Wohnzimmersofa. In dem Jahr, als Emily zehn war, lag sie am Weihnachtsabend lange wach und horchte auf das ungewohnte Geräusch der Stimmen ihrer Eltern unten – sie redeten und redeten -, und weil sie wissen mußte, was los war, verhielt sie sich wie ein Baby: Sie rief nach ihrer Mutter.
»Was ist denn, Liebes?« Pookie schaltete das Licht an und beugte sich über sie; sie roch nach Gin.
»Ich hab’ Bauchweh.«
»Möchtest du ein bißchen Natron?«
»Nein.«
»Was möchtest du dann?«
»Ich weiß nicht.«
»Sei nicht albern. Ich deck’ dich jetzt zu, und du denkst an all die schönen Dinge, die du zu Weihnachten gekriegt hast, und schläfst ein. Und ruf mich nicht noch mal, versprochen?«
»Okay.«
»Weil Daddy und ich was sehr Wichtiges zu besprechen haben. Wir reden über Dinge, über die wir vor langer, langer Zeit schon hätten sprechen sollen, und wir kommen zu einem neuen – zu einem neuen Einvernehmen.«
Sie gab Emily einen nassen Kuß, schaltete das Licht aus und ging rasch wieder hinunter, wo sie weiter und weiter sprachen, und Emily wartete in einem warmen Wohlgefühl des Glücks auf den Schlaf. Sie kamen zu einem neuen Einvernehmen! So etwas mochte eine geschiedene Mutter in einem Film sagen, kurz bevor die große Musik für den Abspann einsetzte.
Aber der nächste Morgen verlief wie alle anderen letzten Morgen seiner Besuche: Beim Frühstück war er so ruhig und höflich wie ein Fremder, und Pookie mied seinen Blick; dann rief er ein Taxi, das ihn zum Bahnhof brachte. Zuerst glaubte Emily, daß er nur in die Stadt zurückfuhr, um seine Sachen zu holen, aber diese Hoffnung verflüchtigte sich während der folgenden Tage und Wochen. Sie fand nie die Worte, um ihre Mutter danach zu fragen, und Sarah gegenüber erwähnte sie es nicht.
Beide Mädchen hatten, was Zahnärzte einen Überbiß und Kinder Hasenzähne nennen, aber Sarah hatte es schlimmer getroffen: Als sie vierzehn war, konnte sie kaum mehr den Mund schließen. Walter Grimes erklärte sich einverstanden, für die kieferorthopädische Behandlung aufzukommen, und das bedeutete, daß Sarah einmal in der Woche mit dem Zug nach New York fuhr, um den Nachmittag mit ihm zu verbringen und sich ihre Zahnspange nachstellen zu lassen. Emily war neidisch, sowohl auf die Kieferorthopädie als auch auf die Besuche in der Stadt, aber Pookie erklärte ihr, daß sie sich die gleichzeitige Behandlung beider Mädchen nicht leisten konnten; sie wäre später an der Reihe, wenn sie älter wäre.
Sarahs Zahnspange war schrecklich: Unansehnliche weiße Essensreste verfingen sich darin, und jemand in der Schule nannte sie eine wandelnde Eisenwarenhandlung. Wer käme auf die Idee, so einen Mund zu küssen? Wer könnte es auch nur ertragen, ihrem Körper über längere Zeit nahe zu sein? Sarah wusch ihre Pullover sehr vorsichtig in dem Bemühen, die Farbe in den Achseln zu bewahren, aber ohne Erfolg: Ein marineblauer Pullover verblich unter den Armen zu einem Rotkehlcheneiblau und ein roter zu einem gelblichen Rosa. Ihr starkes Schwitzen schien wie ihre Zahnspange ein Fluch.
Ein anderer Fluch ereilte beide Mädchen, als Pookie verkündete, daß sie ein wunderbares Haus in einer wunderbaren kleinen Stadt namens Bradley gefunden habe und sie im Herbst dort hinziehen würden. Sie konnten kaum mehr zählen, wie oft sie schon umgezogen waren.
»Also, es war doch nicht so schlimm, oder?« fragte Pookie sie nach ihrem ersten Schultag in Bradley. »Erzählt es mir.«
Emily – eins von nur zwei neuen Mädchen in der sechsten Klasse – hatte den ganzen Tag lang schweigende Feindseligkeit erdulden müssen und meinte, daß es vermutlich okay gewesen sei. Aber Sarah, in der ersten Klasse der High School, sprudelte nur so über vor Neuigkeiten, wie toll es gewesen war.
»Es gab extra eine Versammlung für die neuen Mädchen«, sagte sie, »und jemand hat Klavier gespielt, und alle alten Mädchen sind aufgestanden und haben ein Lied gesungen. Das ging so:
Hallo, neue Mädchen, hier seid ihr nun. Können wir irgendwas für euch tun? Daß ihr hier seid, freut uns sehr, ihr bringt gute Laune und noch viel mehr. Hallo, neue Mädchen, hier seid ihr nun.«
»Na, so was!« sagte Pookie erfreut. »Das war aber nett.«
Und Emily konnte nur angewidert das Gesicht abwenden. Es mochte »nett« gewesen sein, aber es war heimtückisch; sie erkannte die hintergründige Heimtücke in so einem Lied.
Die Grundschule und die High School befanden sich im selben großen Gebäude, und das bedeutete, daß Emily untertags, wenn sie Glück hatte, hin und wieder einen Blick auf ihre Schwester werfen konnte; es bedeutete zudem, daß sie nachmittags gemeinsam nach Hause gehen konnten. Die Vereinbarung lautete, daß sie sich nach dem Unterricht in Emilys Klassenzimmer trafen.
Aber eines Freitags während der Footballsaison wartete und wartete Emily im leeren Klassenzimmer, und als Sarah sich immer noch nicht blicken ließ, zog sich ihr Magen vor lauter Angst zusammen. Als Sarah schließlich doch kam, sah sie komisch aus – sie lächelte komisch -, und hinter ihr trampelte ein finster dreinblickender Junge herein.
»Emmy, das ist Harold Schneider«, sagte sie.
»Hallo.«
»Hallo.« Er war groß und muskulös und voller Pickel.
»Wir fahren zu dem Spiel nach Armonk«, erklärte Sarah. »Sag Pookie einfach, daß ich zum Abendessen zu Hause bin, okay? Es macht dir doch nichts aus, wenn du allein nach Hause gehen mußt, oder?«
Das Problem war nur, daß Pookie am Morgen nach New York gefahren war, nachdem sie beim Frühstück gesagt hatte: »Also, ich glaube, daß ich vor euch nach Hause komme, aber versprechen kann ich’s nicht.« Das hieße nicht nur, daß sie allein nach Hause gehen, sondern auch daß sie allein in dem leeren Haus sitzen und die schmucklose Einrichtung und die tickende Uhr anstarren und warten müßte. Und sollte ihre Mutter jemals nach Hause kommen – »Wo ist Sarah?« -, wie sollte sie ihr dann erzählen, daß Sarah mit einem Jungen namens Harold in eine Stadt namens Armonk gefahren war? Das kam nicht in Frage.
»Wie kommt ihr dorthin?« fragte sie.
»Mit Harolds Auto. Er ist siebzehn.«
»Ich glaube nicht, daß Pookie damit einverstanden wäre, Sarah. Und das weißt du auch. Du gehst besser mit mir nach Hause.«
Sarah wandte sich hilflos an Harold, dessen großes Gesicht sich zu einem kleinen ungläubigen Lächeln verzogen hatte, als wollte er sagen, daß ihm so ein ungezogenes Kind noch nie im Leben begegnet sei.
»Emmy, sei doch nicht so«, flehte Sarah sie an mit einem Zittern in der Stimme, das andeutete, daß sie den Kürzeren ziehen würde.
»Wie denn? Ich sage doch nur, was du auch weißt.«
Und letztlich gewann Emily. Harold Schneider schlurfte kopfschüttelnd davon (er fand wahrscheinlich ein anderes Mädchen, bevor das Spiel begann), und die Grimes-Schwestern gingen gemeinsam nach Hause – das heißt hintereinander, Emily vorneweg.
»Verdammt, verdammt, verdammt«, sagte Sarah hinter ihr auf dem Gehsteig. »Dafür könnte ich dich umbringen« – sie lief drei Schritte und trat ihrer Schwester kräftig in den Hintern, so daß Emily auf die Hände fiel und ihre Schulbücher verstreute, die Mappe mit den losen Blättern klappte auf, und die Seiten lagen überall herum -, »ich könnte dich umbringen dafür, daß du alles kaputtgemacht hast.«
Ironischerweise war Pookie zu Hause, als sie ankamen. »Was ist denn los?« fragte sie, und als Sarah die Geschichte weinend erzählte – eins der wenigen Male, daß Emily sie weinen sah -, stellte sich heraus, daß sämtliche Fehler des Nachmittags auf Emilys Konto gingen.
»Und sind denn viele Leute zu dem Spiel gefahren, Sarah?« fragte Pookie.
»Oh, ja. Alle aus den oberen Klassen und überhaupt alle …«
Pookie blickte weniger verwirrt drein als üblich. »Also, Emily«, sagte sie streng, »wie du dich verhalten hast, war überhaupt nicht gut. Hast du mich verstanden? Es war überhaupt nicht gut.«
Es gab auch bessere Zeiten in Bradley. Im Winter fand Emily ein paar Freundinnen, mit denen sie nach der Schule rumalberte, und sie machte sich weniger Sorgen, ob Pookie zu Hause sein würde oder nicht; und in diesem Winter begann Harold Schneider, mit Sarah ins Kino zu gehen.
»Hat er dich schon geküßt?« fragte Emily nach der dritten oder vierten Verabredung.
»Geht dich nichts an.«
»Ach, komm schon, Sarah.«
»Na gut. Ja. Hat er.«
»Wie ist es?«
»Ungefähr so, wie man es sich vorstellt.«
»Oh.« Und Emily wollte fragen: »Stört ihn deine Zahnspange nicht?«, überlegte es sich jedoch anders. Statt dessen fragte sie: »Was findest du überhaupt an Harold?«
»Ach, er ist – sehr nett«, sagte Sarah und fuhr fort, ihren Pullover zu waschen.
Auf Bradley folgte eine andere Stadt und dann noch eine; in der letzten Stadt machte Sarah ihren High School-Abschluß, ohne Pläne fürs College zu schmieden, das sich ihre Eltern sowieso nicht hätten leisten können. Ihre Zähne standen jetzt gerade, und sie trug keine Spange mehr; sie schien überhaupt nicht mehr zu schwitzen und hatte eine schöne, vollbusige Figur, so daß sich die Männer auf der Straße nach ihr umdrehten und Emily vor Neid ganz krank wurde. Emilys Zähne standen immer noch ein wenig vor und sollten nie korrigiert werden (ihre Mutter hatte ihr Versprechen vergessen); sie war groß und dünn und hatte kleine Brüste. »Du bist so grazil wie ein Fohlen, Liebes«, versicherte ihr ihre Mutter. »Du wirst sehr attraktiv werden.«
1940 zogen sie zurück nach New York, und die Wohnung, die Pookie fand, war keine gewöhnliche Wohnung: Es war ein ganzes einst nobles, jetzt schäbiges Stockwerk auf der Südseite des Washington Square, mit Fenstern, die auf den Park hinausgingen. Sie kostete mehr, als Pookie sich leisten konnte, aber sie knauserte bei anderen Ausgaben; sie kauften keine neuen Kleider und aßen häufig Spaghetti. Die Armaturen in Küche und Bad waren verrostete Antiquitäten, aber die Decken waren ungewöhnlich hoch, und Besucher versäumten nie zu bemerken, daß die Wohnung »Charakter« habe. Sie befand sich im Erdgeschoß, was bedeutete, daß die Fahrgäste in den Doppeldeckerbussen auf der Fifth Avenue hereinschauen konnten, wenn sie Richtung Norden um den Park fuhren, und darin schien Pookie eine beträchtliche Menge Flair zu entdecken.
Wendell L. Willkie war in diesem Jahr der republikanische Präsidentschaftskandidat, und Pookie schickte die Mädchen als freiwillige Mitarbeiterinnen in das landesweite Hauptquartier von etwas, das sich Vereinigte Willkie-Clubs von Amerika nannte. Sie glaubte, es wäre gut für Emily, die etwas zu tun brauchte; und, wichtiger noch, sie glaubte, daß Sarah dort die Möglichkeit hätte, »Leute kennenzulernen«, worunter Pookie geeignete junge Männer verstand. Sarah war neunzehn, und keiner der Männer, die sie bislang gemocht hatte, angefangen bei Harold Schneider, war ihrer Mutter als geeignet erschienen.
Sarah lernte in den Willkie-Clubs tatsächlich Leute kennen; nach ein paar Wochen brachte sie einen jungen Mann namens Donald Clellon mit nach Hause. Er war blaß und sehr höflich und zog sich so sorgfältig an, daß einem als erstes seine Kleidung ins Auge sprang: Nadelstreifenanzug, schwarzer Mantel mit Samtkragen und eine schwarze Melone. Die Melone wirkte etwas kurios – sie war seit Jahren nicht mehr in Mode -, aber er trug sie mit so großer Autorität, daß man meinen konnte, sie wäre es demnächst wieder. Und er sprach auf die gleiche sorgfältige, nahezu pedantische Art, wie er sich kleidete: statt »so etwas« sagte er »etwas dieser Art«.
»Was findest du eigentlich an Donald?« fragte Emily.
»Er ist sehr reif und sehr rücksichtsvoll«, sagte Sarah. »Und er ist sehr – ich weiß nicht, ich mag ihn einfach.« Sie hielt inne und senkte den Blick wie ein Filmstar in einer Nahaufnahme. »Ich glaube, daß ich vielleicht in ihn verliebt bin.«
Auch Pookie mochte ihn, anfänglich – es war erfreulich, daß Sarah einen so aufmerksamen Verehrer hatte -, und als sie feierlich ihre Zustimmung zu ihrer Verlobung erbaten, weinte sie ein bißchen, erhob jedoch keine Einwände.
Walter Grimes wurde die Verlobung als vollendete Tatsache präsentiert, und er war es, der die Fragen stellte. Wer genau war dieser Donald Clellon eigentlich? Wenn er, wie er behauptete, siebenundzwanzig war, was hatte er vor dem Willkie-Wahlkampf getan oder gearbeitet? Wenn er so gebildet war, wie seine Manieren nahelegten, auf welchem College hatte er studiert? Woher stammte er?
»Warum hast du ihn nicht einfach gefragt, Walter?«
»Ich wollte den Jungen nicht beim Mittagessen in die Mangel nehmen, während Sarah daneben sitzt. Ich dachte, du wüßtest die Antworten.«
»Oh.«
»Willst du damit sagen, daß du ihn überhaupt nichts gefragt hast?«
»Er schien immer so – nein, habe ich nicht.«
Es folgten mehrere spannungsgeladene Befragungen, meistens spätabends, nachdem Pookie auf sie gewartet hatte, und Emily stand vor der Wohnzimmertür und lauschte.
»… Donald, da ist etwas, was ich nicht verstanden habe. Von wo genau bist du her?«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt, Mrs. Grimes. Ich wurde hier in Garden City geboren, aber meine Eltern sind oft umgezogen. Ich bin hauptsächlich im Mittleren Westen aufgewachsen. An mehreren Orten im Mittleren Westen. Nach dem Tod meines Vaters zog meine Mutter nach Topeka, Kansas; dort lebt sie noch immer.«
»Und wo bist du aufs College gegangen?«
»Ich dachte, das hätte ich Ihnen auch erzählt, als wir uns kennenlernten. Tatsache ist, daß ich nicht aufs College gegangen bin; wir konnten es uns nicht leisten. Ich hatte Glück und fand Arbeit in einer Anwaltskanzlei in Topeka; nach Mr. Willkies Nominierung habe ich dort für den Willkie-Club gearbeitet, bis ich hierher versetzt wurde.«
»Oh. Ich verstehe.«
Das schien für einen Abend zu reichen, aber es folgten weitere.
»… Donald, wenn du nur drei Jahre in der Anwaltskanzlei gearbeitet hast und wenn du gleich nach der High School dort angefangen hast, wie kannst du dann -«
»Oh, nicht gleich nach der High School, Mrs. Grimes. Ich hatte zuerst mehrere andere Jobs. Auf dem Bau, schwere Arbeiten, Dinge dieser Art. Alles, was ich kriegen konnte. Ich mußte meine Mutter unterstützen.«
»Ich verstehe.«
Letztlich, nachdem Willkie die Wahl verloren und Donald einen vagen Job bei einer Brokerfirma gefunden hatte, widersprach er sich so oft, bis er zugab, daß er nicht siebenundzwanzig war; er war einundzwanzig. Seit einiger Zeit übertrieb er sein Alter, weil er sich immer älter gefühlt hatte als seine Altersgenossen; alle in den Willkie-Clubs hatten gedacht, er wäre siebenundzwanzig, und als er Sarah kennenlernte, sagte er automatisch »siebenundzwanzig«. Konnte Mrs. Grimes eine Unüberlegtheit dieser Art nicht verstehen? Konnte Sarah es nicht verstehen?
»Ja, aber Donald«, sagte Pookie, und Emily bemühte sich, jede Nuance des Gesprächs mitzubekommen, »wenn du in dieser Hinsicht nicht die Wahrheit gesagt hast, wie sollen wir dir in anderen Dingen dann noch vertrauen?«
»Wie Sie mir vertrauen sollen? Sie wissen doch, daß ich Sarah liebe; Sie wissen, daß mir im Aktienhandel eine gute Zukunft bevorsteht -«
»Wie können wir das wissen? Nein, Donald, das reicht nicht. Das reicht überhaupt nicht …«
Nachdem die Stimmen verstummt waren, riskierte Emily einen kurzen Blick ins Wohnzimmer. Pookie blickte selbstgefällig drein, Sarah niedergeschlagen; Donald Clellon saß da, das Gesicht in den Händen vergraben. Rund um den Scheitel seines gut frisierten, pomadisierten Haars war eine Einkerbung, wo seine Melone aufgesessen hatte.
Sarah brachte ihn nicht mehr mit nach Hause, aber sie fuhr fort, ihn mehrmals in der Woche zu treffen und mit ihm auszugehen. Die Heldinnen aller Filme, die sie je gesehen hatte, bedeuteten ihr, daß sie keine andere Wahl hatte; und abgesehen davon, was war mit all den Leuten, denen sie ihn als »meinen Verlobten« vorgestellt hatte?
»… Er ist ein Lügner!« schrie Pookie. »Er ist ein Kind! Wir wissen nicht einmal, was er ist!«
»Das ist mir egal«, schrie Sarah. »Ich liebe Donald und werde ihn heiraten!«
Und Pookie blieb nichts weiter übrig, als mit den Händen zu fuchteln und zu weinen. Der Streit endete normalerweise damit, daß beide in unterschiedlichen Teilen der muffigen, eleganten alten Wohnung in Tränen ausbrachen, während Emily horchte und an ihren Fingerknöcheln saugte.
Aber mit dem neuen Jahr änderte sich alles: Über ihnen zog eine Familie ein, die Pookie auf Anhieb interessant fand. Sie hießen Wilson, ein Paar mittleren Alters mit einem erwachsenen Sohn, und sie waren englische Kriegsflüchtlinge. Sie hatten den Blitz in London miterlebt (Geoffrey Wilson war zu zurückhaltend, um viel darüber zu sprechen, aber seine Frau Edna konnte schreckliche Geschichten erzählen), und sie waren nur mit den Kleidern auf dem Leib und den Dingen, die sie in ihren Koffern tragen konnten, in dieses Land geflüchtet. Das war anfänglich alles, was Pookie über sie in Erfahrung brachte, aber sie war darauf bedacht, sich vor den Briefkästen aufzuhalten in der Hoffnung, weitere Gespräche anzuknüpfen, und bald schon wußte sie mehr.
»Die Wilsons sind eigentlich gar keine Engländer«, erzählte sie ihren Töchtern. »Ihrem Akzent hört man es überhaupt nicht an, aber sie sind Amerikaner. Er ist aus New York – er stammt aus einer alten New Yorker Familie -, und sie ist eine Tate aus Boston. Sie sind vor vielen Jahren wegen seines Berufs nach England gegangen – er hat in England eine amerikanische Firma vertreten -, und Tony ist dort geboren und in ein englisches Internat gegangen. Ein privates Internat. Ich habe mir schon gedacht, daß er in einem englischen Internat war, weil er so bezaubernde Ausdrücke benutzt – er sagt ›Nun denn‹ und ›Mumpitz‹ und solche Dinge. Jedenfalls sind sie wunderbare Menschen. Hast du schon mit ihnen gesprochen, Sarah? Du, Emily? Ich weiß, daß sie euch gefallen würden. Sie sind so – ich weiß nicht, so wunderbar englisch.«
Sarah hörte geduldig, aber nicht interessiert zu. Die anstrengende Verlobung mit Donald Clellon begann sich bemerkbar zu machen: Sie war sehr blaß und hatte an Gewicht verloren. Leute aus dem Willkie-Wahlkampf hatten ihr für ein symbolisches Gehalt Arbeit im Büro von United China Relief vermittelt; sie war die Vorsitzende des Debütantinnenkomitees, eine Bezeichnung, die Pookie nur allzugern aussprach, und ihre Arbeit bestand in der Beaufsichtigung der reichen Mädchen, die auf der Fifth Avenue freiwillig Geld sammelten, um die chinesischen Massen in ihrem Krieg gegen die Japaner zu unterstützen. Es war keine schwere Arbeit, aber Sarah kam jeden Abend erschöpft nach Hause, manchmal war sie sogar zu müde, um noch mit Donald auszugehen, und sie verbrachte viel Zeit in grüblerischem Schweigen, das weder Pookie noch Emily brechen konnten.
Und dann geschah es. Der junge Tony Wilson lief eines Morgens eilig die Treppe herunter, seine feinen englischen Schuhe berührten kaum die verzogenen Stufen, als gerade Sarah in die Eingangshalle trat, und sie stießen beinahe zusammen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie.
»Entschuldigen Sie. Sind Sie Miss Grimes?«
»Ja. Und Sie sind -«
»Tony Wilson. Ich wohne oben.«
Sie sprachen nicht länger als drei oder vier Minuten, und dann entschuldigte er sich erneut und verließ das Haus, aber es reichte, um Sarah wie eine Schlafwandlerin in die Wohnung zurückkehren zu lassen. Sie gestattete sich, zu spät zur Arbeit zu kommen; die Debütantinnen und die chinesischen Massen konnten warten. »Oh, Emmy«, sagte sie, »hast du ihn schon gesehen?«
»Ich bin gelegentlich in der Eingangshalle an ihm vorbeigekommen.«
»Und ist er nicht großartig? Ist er nicht der – der schönste Mann, den du jemals -«
Pookie betrat das Wohnzimmer, die Augen aufgerissen, die unsicheren Lippen glänzend vom Fett des Frühstücksspecks. »Wer?« fragte sie. »Du meinst Tony? Oh, wie froh ich bin; ich wußte, daß er dir gefallen würde, Liebes.«
Und Sarah mußte sich in einen der mottenzerfressenen Sessel setzen und den Atem anhalten. »Oh, Pookie«, sagte sie. »Er sieht – er sieht aus wie Laurence Olivier.«
Es stimmte, obwohl es Emily bislang nicht aufgefallen war. Tony Wilson war mittelgroß, breitschultrig und gut gebaut; das gewellte braune Haar fiel ihm lässig in die Stirn und über die Ohren; er hatte volle Lippen und einen humorvollen Mund, und seine Augen schienen beständig über einen feinsinnigen privaten Scherz zu lachen, den er vielleicht erzählen würde, wenn man ihn besser kannte. Er war dreiundzwanzig Jahre alt.
Wenige Tage später klopfte er an die Tür, um zu fragen, ob Sarah ihm demnächst das Vergnügen eines gemeinsamen Abendessens gönnen würde, und das war das Ende von Donald Clellon.
Tony hatte nicht viel Geld – »Ich bin ein Arbeiter«, sagte er, was hieß, daß er in einer großen Flugzeugwerft der Marine auf Long Island arbeitete und höchstwahrscheinlich etwas von »streng geheimer Bedeutung« tat -, aber er besaß ein 1929er Oldsmobile-Cabrio und fuhr es mit Flair. Er machte mit Sarah Ausflüge in die hintersten Ecken von Long Island oder Connecticut oder New Jersey, wo sie, wie Sarah es immer beschrieb, in »wunderbaren« Restaurants aßen, und sie kamen stets rechtzeitig zurück, um in einer »wunderbaren« Bar namens Anatole’s, die Tony auf der Upper East Side entdeckt hatte, noch etwas zu trinken.
»Also, dieser junge Mann ist etwas ganz anderes«, sagte Walter Grimes am Telefon. »Ich mag ihn; man muß ihn einfach mögen …«
»Unsere Kinder scheinen sich gut zu verstehen, Mrs. Grimes«, sagte Geoffrey Wilson eines Nachmittags, während seine Frau lächelnd neben ihm stand. »Vielleicht sollten wir uns auch besser kennenlernen.«
Emily hatte ihre Mutter schon oft mit Männern flirten sehen, aber noch nie so offen, wie sie mit Geoffrey Wilson flirtete. »Oh, das ist großartig!« rief sie bei jedem noch so kleinen Witz, den er machte, und dann löste sie sich in kehliges Lachen auf, drückte den Mittelfinger kokett gegen die Oberlippe, um zu verbergen, daß sich ihr Zahnfleisch zurückzog und ihre Zähne schlecht wurden.