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"Ein moderner Klassiker... ein fulminanter Roman."
DIE ZEIT
1955, in einer Vorstadt nahe New York: Hinter dem gepflegten Vorgarten tobt ein Ehekrieg. Frank und April Wheeler, einst ein junges, hoffnungsfrohes und vielversprechendes Paar, drohen unter dem Druck der allgemeinen Erwartungen an eine glückliche Ehe und ein erfolgreiches Berufsleben zugrunde zu gehen. Harmlose Äußerungen entzünden sich zu Hasstiraden und steigern sich zu bedrohlicher Wortlosigkeit.
Richard Yates’ Debütroman machte ihn in den USA schlagartig bekannt und sorgte auch in Deutschland dafür, dass Jahre nach dem Tod des Autors das Yates-Fieber ausbrach.
»Das eindringliche Psychogramm einer Ehe, die von Beginn an den Virus des Scheiterns in sich trägt. (…) Eine Tragödie hinter pastellfarbenen Fassaden.« Brigitte
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Seitenzahl: 524
Richard Yates wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Das Debüt Zeiten des Aufruhrs wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen verfilmt.
Stimmen zu Richard Yates:
»Yates ist eine Art Gott der Eingeweihten. Viele der besten US-amerikanischen Schriftsteller haben von ihm gelernt.« Eva Menasse
»Ein Meister der Sprache. Klar und messerscharf: Kein Wort ist zuviel und trotzdem ist alles gesagt.« Bayerischer Rundfunk
»Richard Yates seziert Lebenslügen – kühl, schnörkellos, herzergreifend.« Welt am Sonntag
»Richard Yates ist einer der großen Existentialisten und Fatalisten der Moderne.« Die Zeit
Außerdem von Richard Yates lieferbar:
Elf Arten der Einsamkeit. Short Storys
Easter Parade. Roman
Verliebte Lügner. Short Storys
Eine besondere Vorsehung. Roman
Ruhestörung. Roman
Eine gute Schule. Roman
Eine strahlende Zukunft. Roman
Cold Spring Harbor. Roman
Eine letzte Liebschaft. Short Storys
Richard Yates
Zeiten des Aufruhrs
Roman
Aus dem Amerikanischen von Hans Wolf
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Die Originalausgabe erschien 1961 unter dem Titel »Revolutionary Road« bei Little, Brown & Co., Boston, Massachusetts, USA.
Der Übersetzung lag die 2000 bei Vintage Books, a division of Random House Inc., New York, erschienene Neuausgabe zugrunde.
Copyright © 1961, 1989 by Richard Yates
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Umschlag: Cornelia Niere nach einem Entwurf von Rothfos & Gabler, Hamburg
Covermotiv: Stephen Schauer
SL · Herstellung: BB
ISBN 978-3-641-33122-1V001
www.penguin-verlag.de
Für Sheila
Ach! wo Liebe sanft und wild zugleich!
JOHN KEATS
Als die letzten Geräusche der Generalprobe verklungen waren, blieben die Laurel Players noch eine Weile stumm und hilflos stehen und schauten blinzelnd über das Rampenlicht in den leeren Zuschauerraum. Sie wagten kaum zu atmen, als die gedrungene Gestalt des Regisseurs zwischen den verwaisten Sitzreihen auftauchte und gemessen zu ihnen auf die Bühne trat; scheppernd zog er eine Trittleiter aus der Kulisse, erstieg sie auf halbe Höhe und wandte sich den Schauspielern zu, um ihnen unter mehrfachem Räuspern zu sagen, daß sie eine verdammt talentierte Truppe seien, eine wundervolle Truppe, mit der sich arbeiten lasse.
»Es war ja nicht grade leicht«, sagte er mit aufblitzenden Brillengläsern. »Wir hatten hier eine Menge Probleme, und ehrlich gesagt, hatte ich mich schon mehr oder weniger damit abgefunden, meine Erwartungen zurückschrauben zu müssen. Schön, nun hört mal zu. Das klingt jetzt vielleicht abgedroschen, aber irgendwas ist hier heute abend passiert. Als ich heute abend hier gesessen habe, ist mir plötzlich zutiefst klar geworden, daß ihr zum erstenmal mit ganzem Herzen dabei wart.« Er legte die rechte Hand mit gespreizten Fingern auf die Brusttasche seines Hemds, um zu zeigen, was für ein einfaches, greifbares Ding das Herz war, dann ballte er die Hand zur Faust, bewegte sie in einer langen Kunstpause bedächtig und stumm hin und her, kniff ein Auge zu und formte die feuchte Unterlippe zu einem triumphierenden, stolzen Ausdruck. »Morgen abend noch mal so«, sagte er, »und wir liefern eine Wahnsinnsvorstellung ab.«
Vor Erleichterung hätten sie heulen können. Statt dessen brachen sie in Hurrarufe und Gelächter aus, schüttelten einander die Hände und küßten sich, einer ging einen Kasten Bier holen, und wenig später scharten sie sich im Parkett ums Klavier und sangen Lieder, bis man sich schließlich einhellig darauf einigte, nun lieber Schluß zu machen und sich einem erholsamen Schlaf zu überlassen.
»Bis morgen!« riefen sie, glücklich wie Kinder; auf der Heimfahrt im Mondschein kurbelten sie die Fenster ihrer Wagen hinunter und ließen die Luft mit ihren erquickenden Düften nach Lehmerde und frischen Blüten herein. Für manche der Laurel Players war es das erste Mal, daß sie die Ankunft des Frühlings bewußt zur Kenntnis nahmen.
Das war im Jahr 1955, und der Ort lag in Westconnecticut, wo man drei inzwischen gewachsene Siedlungen unlängst an einen breiten, tosenden Highway die sogenannte Route Twelve, angebunden hatte. Die Laurel Players waren Laiendarsteller, eine durchaus ansehnliche und ernsthafte, sorgsam aus jüngeren Erwachsenen der drei Ortschaften zusammengestellte Truppe, und dies sollte ihr erster Auftritt werden. Den ganzen Winter über hatte man sich in den Wohnzimmern der Mitspieler zu begeisterten Gesprächen über Ibsen, Shaw und O’Neill getroffen, und in einer Abstimmung hatte sich eine praktisch denkende Mehrheit schließlich für den »Versteinerten Wald« entschieden; die Rollenverteilung war vorab festgelegt worden, und alle konnten spüren, daß ihr Eifer mit jeder Woche zunahm. Insgeheim mochten sie ihren Regisseur für einen komischen kleinen Vogel halten (was er in gewisser Hinsicht auch war – er konnte offenbar nur in tiefernstem Ton reden und beendete seine Sätze oft mit einem leichten Kopfschütteln, das seine Wangen in Bewegung setzte), aber sie hatten ihn gern, respektierten ihn und glaubten fest an nahezu alles, was er äußerte. »Jedes Stück verdient, daß der Schauspieler sein Bestes gibt«, hatte er ihnen einmal gesagt, und ein andermal: »Denkt immer dran. Wir führen hier nicht bloß ein Stück auf. Wir gründen ein öffentliches Theater, und das ist schließlich was ganz Besonderes.«
Das Problem war, daß sie von Anfang an befürchteten, sich zu blamieren, und diese Furcht war, weil sie sie nicht zugeben wollten, noch schlimmer geworden. Die Proben fanden zunächst samstags statt – immer, so schien es, an jenen windstillen Februar- oder Märznachmittagen, wenn der Himmel weiß und die Bäume schwarz erscheinen und die braunen Äcker und Hügel nackt und zaghaft unter den zurückweichenden Schneefeldern hervorscheinen. Sooft die Players vor ihre Häuser traten und einen Moment innehielten, um sich die Mäntel zuzuknöpfen oder die Handschuhe überzustreifen, erblickten sie eine Landschaft, zu der eigentlich nur ein paar sehr alte, verwitterte Häuser paßten; dies ließ die eigenen Wohnstätten bedeutungslos, vergänglich und so lächerlich deplaziert erscheinen, als hätte man eine große Menge nagelneuen Spielzeugs über Nacht draußen liegen und naß werden lassen. Auch ihre Autos waren irgendwie unpassend – unnötig groß, schimmerten sie in Bonbon- oder Eiscremefarben, schienen vor jedem Schlammspritzer zusammenzuzucken und krochen schüchtern die holprigen Straßen hinab, die aus allen Richtungen zu dem tiefen, ebenen Betonstreifen der Route Twelve führten. Dort angelangt, schienen die Wagen sich endlich entspannen zu können, in ihrem ureigenen Element, einem langgezogenen lichten Tal aus buntem Plastik, Spiegelglas und rostfreiem Stahl – King Kone, Mobilgas, Shoporama, Eat –, doch irgendwann mußten sie der Reihe nach abbiegen und die gewundene Landstraße hinauffahren, die zur zentralen High School führte; sie mußten bremsen und auf dem friedlichen Parkplatz vor der Aula anhalten.
»Hallo!« riefen die Players einander zaghaft zu.
»Hallo! ...« »Hallo! ...« Widerstrebend betraten sie das Gebäude.
Mit ihren schweren Schuhen stapften sie über die Bühne, tupften sich die Nase mit Kleenex ab und studierten stirnrunzelnd ihren unsauber abgezogenen Text; ein durch den Raum gehendes, erleichtertes Lachen konnte schließlich die Situation entspannen, und man einigte sich wiederholt darauf, daß noch viel Zeit bleibe, um die Probleme zu lösen. Doch viel Zeit blieb in Wirklichkeit nicht mehr; alle waren sich darüber im klaren, und auch verstärkte Probenarbeit schien die Sache nur noch schlimmer zu machen. Lange nachdem es an der Zeit gewesen wäre, »das Ding«, so der Regisseur, »endlich auf die Beine zu stellen, zum Laufen zu bringen«, war das Ganze nach wie vor eine steife, formlose, unmenschlich schwere Bürde; die Players registrierten immer wieder in ihren gegenseitigen Blicken die Vorahnung des Scheiterns, im kleinlauten Nicken und Lächeln beim Abschied, in der hektischen Eile, mit der sie zu ihren Wagen aufbrachen und nach Hause fuhren, wo vielleicht noch ältere, weniger deutliche Vorahnungen des Scheiterns auf sie lauerten.
Doch nun, heute abend, vierundzwanzig Stunden vor der Premiere, hatten sie es irgendwie geschafft. Wie beschwipst vom ungewohnten Gefühl des Geschminkt- und Kostümiertseins hatten sie an diesem ersten warmen Abend des Jahres ihre Furcht vergessen: Sie hatten sich von der Dynamik des Stückes erfassen, mitreißen und es wie eine Woge über sich hereinstürzen lassen; es klang vielleicht abgedroschen (und wenn schon), aber sie waren mit ganzem Herzen dabei gewesen. Was konnte man mehr verlangen?
Auch die Zuschauer, die am darauffolgenden Abend in einer langen, akkuraten Wagenschlange eintrafen, waren sehr ernst. Wie die Players hatten sie größtenteils den Beginn des mittleren Alters gerade erreicht und trugen die Art von gepflegter Kleidung, die die New Yorker Modemacher als sportlichen Schick bezeichneten. Was Bildung, Beruf und Gesundheit betraf, lagen sie sichtlich über dem Durchschnitt, und es war außerdem zu spüren, daß sie diesen Abend für wichtig hielten. Als sie der Reihe nach den Saal betraten und ihre Plätze einnahmen, wußten sie alle und sagten es auch immer wieder, daß »Der versteinerte Wald« eigentlich nicht zu den großen Stücken der Weltliteratur zähle. Dennoch sei es ein gutes Theaterstück, dessen Botschaft nicht nur den dreißiger Jahren entsprach, sondern in jeder Hinsicht auch heute noch gültig sei (»sogar noch gültiger«, beschied ein Mann mehrmals seiner Frau, die ihm, nickend und auf den Lippen kauend, zustimmte, »sogar noch gültiger, wenn man’s bedenkt«). Allerdings war die Attraktion nicht das Stück selbst, sondern die Darstellertruppe – die mutige Idee als solche, der Elan und die Hoffnung, die sich damit verband: die Geburt eines wirklich guten öffentlichen Theaters in ihrer Mitte. Ebendies hatte sie angelockt, so viele von ihnen, daß der Zuschauerraum mehr als halb voll war, und ebendies sorgte dafür, daß sie, als die Lichter erloschen, still dasaßen, in gespannter Erwartung des Vergnügens.
Der Vorhang hob sich zu einem Bühnenbild, dessen hintere Wand vom Zusammenstoß mit einem Helfer noch schwankte, der die Bühne in letzter Minute verlassen hatte, und die ersten paar Dialogzeilen wurden durch ein unbeabsichtigtes Scharren und Krachen hinter den Kulissen beeinträchtigt. Das kleine Durcheinander zeigte die wachsende Hysterie der Darsteller an, doch vor dem Rampenlicht wurde dadurch nur der Eindruck verstärkt, es stehe etwas ganz Besonderes bevor. Es war, als wollten die Schauspieler beschwichtigend sagen: einen Augenblick, es hat noch nicht richtig angefangen. Wir sind alle ein bißchen nervös, aber haben Sie etwas Geduld. Und schon bald gab es keine Notwendigkeit zur Rechtfertigung mehr, denn das Publikum widmete seine Aufmerksamkeit der jungen Frau, die die Heldin Gabrielle spielte.
Ihr Name war April Wheeler, und bereits bei ihrem ersten Erscheinen auf der Bühne ging ein gerauntes »wunderschön« durch die Zuschauerreihen. Ein wenig später stupste man sich hoffnungsvoll an und flüsterte: »Sie ist wirklich gut«; einige, die zufällig wußten, daß sie keine zehn Jahre zuvor eine der führenden Schauspielschulen New Yorks besucht hatte, nickten in gebührendem Stolz. Sie war neunundzwanzig, eine hochgewachsene, aschblonde Frau, deren aristokratische Schönheit auch durch die amateurhafteste Beleuchtung nicht beeinträchtigt werden konnte; für ihren Part war sie ganz offensichtlich die Idealbesetzung. Selbst daß sie um die Hüften und Schenkel eine Spur zu füllig war, weil sie zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, spielte keine Rolle, denn sie bewegte sich mit der sinnlichen Anmut der Jungfräulichkeit; wer zufällig einen Blick auf Frank Wheeler geworfen hätte, den rundgesichtigen, intelligent wirkenden jungen Mann, der, sich nervös auf die Faust beißend, in der letzten Zuschauerreihe saß, hätte gesagt, er sehe eher wie ihr Verehrer und nicht wie ihr Ehemann aus.
»Manchmal komm ich mir vor, als würd ich am ganzen Leib Funken sprühen«, sagte sie gerade, »und dann möcht ich raus und was ganz Verrücktes tun, was Wunderbares ...«
Die übrigen Schauspieler, die hinter den Kulissen kauerten und zuhörten, bewunderten sie plötzlich. Oder zumindest waren sie bereit, sie zu bewundern – selbst diejenigen, die ihr bei den Proben gelegentlich ihre mangelnde Bescheidenheit übelgenommen hatten; auf einmal war sie ihre einzige Hoffnung.
Der Hauptdarsteller war am Morgen an Darmgrippe erkrankt. Mit hohem Fieber war er im Theater erschienen, hatte behauptet, er fühle sich gut genug, um zu spielen, hatte sich dann aber fünf Minuten vor der Vorstellung in seiner Garderobe erbrochen; dem Regisseur war nichts weiter übriggeblieben, als ihn nach Hause zu schicken und die Rolle selbst zu übernehmen. Alles geschah so rasch, daß niemand mehr auf den Gedanken kam, vor die Bühne zu treten und den Ersatzmann anzukündigen; ein paar Nebendarsteller erfuhren davon sogar erst, als sie die Stimme des Regisseurs auf der Bühne den vertrauten Text sprechen hörten, den sie vom anderen Schauspieler zu hören erwarteten. Der Regisseur gab sich alle erdenkliche Mühe und verlieh jeder Textzeile einen fast professionellen Schliff, doch es ließ sich nicht leugnen, daß er – gedrungen, nahezu kahlköpfig und schier blind ohne seine Brille, die er auf der Bühne nicht tragen wollte – vom Äußeren her für die Rolle des Alan Squier überhaupt nicht geeignet war. Bereits sein erster Auftritt hatte dafür gesorgt, daß die Mitspieler einander ins Wort fielen und vergaßen, wo sie zu stehen hatten, und nun, im ersten Akt, mitten in seinem bedeutenden Monolog über die Nutzlosigkeit seines Daseins – »Ja, Verstand ohne Sinn, Lärm ohne Geräusch, Gestalt ohne Gehalt« – stieß er beim Gestikulieren mit der Hand ein Glas Wasser um, dessen Inhalt sich über den Tisch ergoß. Er versuchte die Sache mit einem Kichern und einer Reihe improvisierter Zeilen zu überspielen – »Seht ihr? So nutzlos bin ich. Dann will ich mal aufwischen helfen –, doch der Rest der Textstelle war ruiniert. Der Virus des Scheiterns, der die ganzen Wochen über geschlummert hatte, war nun schlagartig aktiv geworden und hatte sich von dem hilflos sich erbrechenden Mann aus verbreitet, bis alle Mitspieler infiziert waren – außer April Wheeler.
»Hättest du was dagegen, daß ich dich liebe?« sagte sie gerade.
»Nein, Gabrielle«, sagte der Regisseur, vor Schweiß glänzend. »Da hätte ich bestimmt nichts dagegen. «
»Findest du mich attraktiv?«
Der Regisseur begann mit dem Bein unter dem Tisch auf und ab zu wippen. »Es gibt bessere Ausdrücke, um dich zu beschreiben.«
»Wieso fangen wir dann nicht wenigstens mal damit an?«
Sie war nun ganz auf sich alleine gestellt und wurde mit jeder Textzeile sichtlich schwächer. Vor dem Ende des ersten Akts merkten nicht nur die Players, sondern auch die Zuschauer, daß sie ihre Rolle nicht mehr im Griff hatte, und bald waren alle peinlich berührt. Mittlerweile bewegte sie sich abwechselnd zwischen unechten Bühnengebärden und furchtsamer Reglosigkeit; sie zog verkrampft die Schultern ein, und trotz der dicken Schminke war zu erkennen, daß ihr die Schamröte in Hals und Gesicht stieg.
Dann folgte der polternde Auftritt von Shep Campbell, dem jungen, rothaarigen Ingenieur, der den Gangster Duke Mantee spielte. Die ganze Truppe hatte sich wegen Shep von Anfang an Sorgen gemacht, doch andererseits waren er und seine Frau Milly, die bei der Beschaffung der Requisiten und bei der Werbung geholfen hatte, so begeisterte und freundliche Leutchen, daß niemand sich zu der Empfehlung hatte durchringen können, ihn zu ersetzen. Das Ergebnis dieser Nachsicht war nun – und auch Campbells Nervosität trug dazu bei –, daß er eine seiner Schlüsselzeilen vergaß und andere so rasch und leise sprach, daß sie jenseits der sechsten Reihe nicht mehr zu hören waren; mit seinem ständigen Kopfnicken, den hochgekrempelten Ärmeln und dergleichen agierte er nicht wie ein Gangster, sondern eher wie ein übereifriger Kaufmannsgehilfe.
In der Pause ging das Publikum grüppchenweise nach draußen; man rauchte, spazierte unbehaglich durch den High-School-Flur, studierte die Anschlagstafel und rieb sich die feuchten Hände an den schmalgeschnittenen Hosen und eleganten Baumwollhemden ab. Niemand wollte zurück in den Saal und den zweiten und letzten Akt über sich ergehen lassen, aber dann taten sie es doch alle.
Auch die Players kamen wieder, und ihr einziger Gedanke, klar wie der Schweiß auf ihren Gesichtern, bestand inzwischen darin, dieses wahrhafte Trauerspiel so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Die Aufführung schien sich stundenlang hinzuziehen, eine grausame, endlose Geduldsprobe; April Wheelers Darbietung war so schlecht wie die der anderen, wenn nicht sogar noch schlechter. Auf dem Höhepunkt des Stücks, bei der Sterbeszene, die laut Regieanweisung durch Schüsse von draußen und Feuerstöße aus Dukes Maschinenpistole untermalt hätte sein sollen, war Shep Campbell beim Abfeuern seiner Waffe so unkonzentriert und gerieten die anschließenden Gewehrschüsse hinter der Bühne so laut, daß der Dialog der Liebenden im ohrenbetäubenden, qualmenden Durcheinander unterging. Das Fallen des Vorhangs war ein wahrer Gnadenakt.
Der gedämpfte Applaus wurde bewußt so lange ausgedehnt, daß es zwei Vorhänge gab; beim einen waren die Players gerade auf dem Weg in die Seitenkulissen und stießen, als sie kehrtmachten, miteinander zusammen, der andere erwischte die drei Hauptdarsteller in einem flüchtigen Tableau menschlicher Trostlosigkeit: der Regisseur blinzelte kurzsichtig vor sich hin, Shep Campbell hatte zum erstenmal an diesem Abend den passenden grimmigen Blick aufgesetzt, April Wheelers Gesicht war zu einem steifen Lächeln erstarrt.
Kurz darauf gingen die Lichter an, und niemand im Publikum wußte, wie er sich verhalten oder was er sagen sollte. Mrs. Helen Givings, die Immobilienmaklerin, ließ mit unsicherer Stimme immer wieder ein »sehr hübsch« vernehmen, doch die meisten Zuschauer blieben stumm und steif und fingerten, als sie aufstanden und in die Gänge zwischen den Reihen traten, nach ihren Zigarettenpäckchen. Ein eifriger Schüler, der an diesem Abend die Beleuchtung bedient hatte, sprang mit quietschenden Turnschuhen auf die Bühne und rief einem unsichtbaren Gefährten oben in den Soffitten ein paar Anweisungen zu. In selbstbewußter Pose stand er im Rampenlicht, das Gesicht mit den glänzenden Pickeln erfolgreich im Schatten haltend, während er sich stolz so drehte, daß die Gerätschaften des Elektrikers – Messer, Zangen, Kabelrollen – zu sehen waren, die an einem profihaften Werkzeuggürtel aus Ölleder hingen, den er lässig über einer der prallen Gesäßhälften seiner Latzhose trug. Dann gingen die Lichter aus, der Junge trat im Halbdunkel ab, und der Vorhang wurde zu einer stumpfen Wand aus grünem Samt. Nun sah man nur noch die Gesichter der Zuschauer, die durch die Gänge und Hauptausgänge hinausstrebten. Beflissen und mit großen Augen bewegten sie sich paarweise voran, als wäre ein ruhiger und geordneter Abgang von dieser Stätte auf einmal ihr einziges Lebensziel, ja, als würden sie überhaupt erst wieder zu leben beginnen, wenn sie draußen wären, weg von den wabernden, rosafarbenen Auspuffschwaden und dem knirschenden Kies des Parkplatzes, draußen, wo sich der schwarze Himmel für immer und ewig wölkte und wo Hunderte von Tausenden von Sternen funkelten.
Franklin H. Wheeler zählte zu den wenigen, die gegen den Strom schwammen. Er tat dies mit zaghafter Bedächtigkeit und, wie er hoffte, mit Würde; vorsichtig schritt er zwischen den Sitzreihen hindurch zur Bühnentür, nickte mit den Worten »Verzeihung ... Entschuldigung« lächelnd einigen bekannten Gesichtern zu und hielt dabei die Hand in der Hosentasche, um seine Knöchel zu verbergen und abzutrocknen, nachdem er die ganze Aufführung hindurch an ihnen herumgekaut hatte.
Er war adrett und kräftig, ein paar Tage weniger als dreißig Jahre alt, hatte kurzgeschorenes schwarzes Haar und verfügte über jenes unaufdringlich gute Aussehen, das einem Werbefotografen zur Darstellung eines kritischen Konsumenten von gutgemachter, aber preisgünstiger Ware dienen könnte. Doch trotz des Mangels an hervorstechenden Zügen war sein Gesicht ungewöhnlich wandelbar: mit jedem Wechsel des Ausdrucks ließ es plötzlich eine völlig andere Person erkennen. Wenn Frank Wheeler lächelte, war er ein Mann, der sehr wohl wußte, daß man sich über das Scheitern einer Laienaufführung nicht viel Kopfzerbrechen zu machen brauchte, ein liebenswürdiger, vernünftiger Mann, der genau die richtigen Trostworte für seine Frau hinter der Bühne finden würde; aber in den Momenten, in denen er nicht lächelte, während er sich durch die Menge schob, deutete sich in seinen Augen das schwache chronische Fieber der Verwirrtheit an, und da schien es eher, als hätte er selbst Trost nötig.
Das Problem war, daß er am Nachmittag in der Stadt, wie gelähmt von dem, was er als den »denkbar ödesten Job« bezeichnete, die ganze Zeit über seine Kraft aus der Vorstellung von Szenen bezogen hatte, die an diesem Abend noch ablaufen sollten: wie er nach Hause eilen, lachend seine Kinder in die Luft schwingen, einen Aperitif hinunterkippen und bei einem frühen Abendessen mit seiner Frau plaudern würde, wie er sie anschließend, seine beruhigende Hand auf ihrem straffen, warmen Schenkel (»Wenn ich doch bloß nicht so nervös wäre, Frank!«), zur High School fahren würde, wie er gebannt und stolz dasitzen, dann aufstehen und bei fallendem Vorhang in den donnernden Beifall einstimmen würde, wie er sich begeistert und aufgewühlt durch die jubelnde Menge hinter der Bühne durchkämpfen und seiner Frau den ersten tränenreichen Kuß abfordern würde (»War es wirklich gut, Liebling? War es wirklich gut?«) und wie sie schließlich beide, in der bewundernden Gesellschaft von Shep und Milly Campbell, irgendwo auf einen Drink Station machen und, unter dem Tisch einander die Hände haltend, das Ganze noch einmal durchsprechen würden. Nirgends in diesen Vorstellungen hatte er das Gewicht und den Schock der Realität vorausgesehen; nichts hatte ihn davor gewarnt, daß er von dem faszinierenden, strahlenden Anblick eines Mädchens, das er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, überwältigt sein würde, daß dessen Blicke und Gebärden ihm vor Sehnsucht die Kehle zuschnüren würden, und daß dieses Mädchen vor seinen Augen dann wieder vergehen und sich in das reizlose, leidende Geschöpf verwandeln würde, dessen Existenz er jeden Tag seines Lebens zu leugnen versuchte, das er jedoch ebenso gut und schmerzlich kannte wie sich selbst, eine magere, verklemmte Frau, deren gerötete Augen vorwurfsvoll blitzten, deren falsches Lächeln beim Applaus ihm so vertraut war wie seine Füße, seine klamme, immer nach oben rutschende Unterwäsche und sein herber Geruch.
An der Tür blieb er stehen, nahm die Hand aus der Hosentasche und begutachtete sie; eigentlich hatte er damit gerechnet, daß sie zu einem Klumpen aus Blut und Knorpel verformt war, aber sie wies nur ein paar rosarote Flecken auf. Schließlich zog er die Jacke zurecht, schritt durch die Tür und ging die Treppe hinauf in einen hohen, staubigen, vom grellen Schein einer nackten Glühbirne und tiefen Schatten erfüllten Raum, wo die Laurel Players, deren Schminke glänzte, in weitläufig verteilten Zweier- und Dreiergrüppchen umherstanden und aufgeregt mit ihren bleichen Besuchern sprachen.
»Nein, im Ernst«, sagte jemand. »Habt ihr mich gehört oder nicht?« Und jemand anders sagte: »Was soll’s, auf jeden Fall war’s ein Riesenspaß.« Der Regisseur, umgeben von einer kleinen Schar New Yorker Freunde, zog gierig an einer Zigarette und schüttelte den Kopf. Shep Campbell, mit Schweißperlen bedeckt, hatte noch sein Maschinengewehr in der Hand, war aber eindeutig wieder er selbst; er stand neben der Vorhangschnur, hatte den freien Arm um seine kleine, zerzauste Frau gelegt, und beide demonstrierten ihre Entschlossenheit, das Ganze mit einem Lachen abzutun.
»Frank?« Milly Campbell hatte sich winkend auf die Zehenspitzen gestellt und rief seinen Namen durch die zu einem Trichter geformten Hände, als wäre die Menschenmenge größer und lauter, als sie in Wirklichkeit war. »Frank! Wir sehen dich und April dann nachher noch, ja? Auf einen Drink!«
»In Ordnung!« rief er zurück. »In ein paar Minuten!« Er winkte und nickte Shep zu, als dieser in gespieltem Salut das Maschinengewehr hob.
In der Ecke sah er einen der kleineren Gangster im Gespräch mit einem molligen Mädchen, das im ersten Akt eine dreißig Sekunden währende Unterbrechung verursacht hatte, weil ihm das Stichwort entfallen war; es hatte offenkundig geweint, doch nun schlug es sich aufgekratzt an die Stirn und sagte: »Mein Gott! Ich hätte mich umbringen können!«; der Gangster wischte sich die fettige Schminke vom Mund und sagte: »Ach wo, ich finde, es war trotzdem ein Riesenspaß, oder nicht? Und das ist doch bei so was die Hauptsache.«
»Verzeihung«, sagte Frank Wheeler und drückte sich an den beiden vorbei zur Tür der Garderobe, die sich seine Frau mit ein paar anderen teilte. Er klopfte und wartete einen Moment; als er sie »herein« sagen zu hören glaubte, öffnete er die Tür und spähte vorsichtig nach drinnen.
Sie war allein, saß kerzengerade vor einem Spiegel und rieb sich die Schminke ab. Ihre noch immer geröteten Augen blinzelten; sie bedachte ihn kurz mit einem Lächeln, wie sie es bereits auf der Bühne gezeigt hatte, und wandte sich dann wieder dem Spiegel zu. »Hallo«, sagte sie. »Schon fertig zum Aufbruch?«
Er schloß die Tür und trat auf sie zu, die Mundwinkel so gestrafft, daß seine Miene, wie er hoffte, Liebe, Humor und Mitgefühl ausdrückte; eigentlich wollte er sich zu ihr niederbeugen, sie küssen und sagen: »Hör mal, du warst wunderbar.« Doch durch ein fast unmerkliches Schulterzucken gab sie ihm zu verstehen, daß sie nicht angefaßt werden wollte, worauf er nicht wußte, wohin mit den Händen, bis ihm schließlich der Gedanke kam, daß »du warst wunderbar« das falscheste war, was er sagen konnte – es wäre herablassend oder zumindest unreif, sentimental und viel zu pathetisch gewesen.
»Tja«, sagte er statt dessen. »Das war ja wohl nicht grad ein durchschlagender Erfolg, wie?« Er steckte sich lässig eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Schwung seines klickenden Zippos an.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. »Ich bin gleich fertig.«
»Schon gut, laß dir nur Zeit.«
Er schob beide Hände in die Hosentaschen, zog die Zehen ein und sah auf seine Füße hinunter. Hätte er vielleicht doch lieber »du warst wunderbar« sagen sollen? Fast alles, so schien es nun, wäre besser gewesen als das, was er gesagt hatte. Aber darüber würde er später nachgrübeln müssen; im Augenblick blieb ihm nichts weiter übrig, als dazustehen und an den doppelten Bourbon zu denken, den er sich mit den Campbells irgendwo auf dem Heimweg genehmigen würde. Er betrachtete sich im Spiegel, spannte die Wangenmuskulatur an und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um sein Gesicht straffer und gebieterischer wirken zu lassen, wie er es seit seiner Jugend schon öfter vor dem Spiegel getan und wie es bisher noch kein Foto exakt wiedergegeben hatte – bis er schließlich erschrocken feststellte, daß sie ihn beobachtete. Ihre Augen im Spiegel ruhten einen unangenehmen Moment lang auf seinen, dann senkte sie den Blick und starrte den mittleren Knopf seiner Jacke an.
»Hör mal«, sagte sie. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Das Problem ist ...« Es war, als benötigte sie ihre ganze Kraft, um ihre Stimme nicht zittern zu lassen. »Das Problem ist, Milly und Shep wollten mit uns nachher noch irgendwohin. Würdest du ihnen sagen, daß wir nicht können? Vielleicht wegen der Babysitterin oder so.«
Er wandte sich von ihr ab und blieb mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen, steifbeinig stehen – wie ein Anwalt in einem Bühnenstück, der sich gerade ein feinsinniges, moralisches Argument durch den Kopf gehen läßt. »Na ja«, sagte er, »das Problem ist, ich hab schon zugesagt. Das heißt, ich hab sie grad draußen getroffen und gesagt, daß wir mitgehen.«
»Oh. Würde es dir dann was ausmachen, nochmal rauszugehen und das Ganze für ein Mißverständnis zu erklären? Wär doch bestimmt nichts dabei.«
»Hör mal«, sagte er. »Jetzt fang bloß nicht so an. Ich hab einfach gedacht, es wär doch recht lustig, sonst nichts. Außerdem säh das doch ziemlich unhöflich aus, oder? Oder nicht?«
»Das heißt also, du machst es nicht.« Sie schloß die Augen. »Na schön, dann sag ich’s ihnen. Vielen Dank.« Ihr nacktes, von Creme glänzendes Gesicht im Spiegel wirkte wie das einer Vierzigjährigen und so verhärmt, als litte es körperlichen Schmerz.
»Moment mal«, sagte er. »Immer mit der Ruhe, bitte. Das hab ich doch gar nicht gesagt. Ich hab bloß gesagt, sie würden das verdammt unhöflich finden, sonst nichts. Und sie würden’s unhöflich finden. Ich kann nichts dafür.«
»Na schön. Dann geh eben allein mit, wenn du unbedingt willst – gib mir die Wagenschlüssel.«
»Herrgott, fang jetzt bloß nicht wieder mit den Wagenschlüsseln an. Wieso mußt du dauernd ...«
»Hör zu, Frank.« Ihre Augen waren noch immer geschlossen. »Ich möchte mit diesen Leuten nicht ausgehen. Zufällig fühl ich mich nicht besonders wohl, und ich ...«
»Schon gut.« Er wich zurück und streckte seine steifen, zitternden Hände aus, als wollte er die Länge eines kleinen Fisches anzeigen. »Schon gut. Schon gut. Tut mir leid. Ich sag’s ihnen. Bin gleich wieder da. Tut mir leid.«
Der Fußboden schwankte unter ihm wie das Deck eines fahrenden Schiffes, als er in die Seitenkulisse zurückging, wo ein Mann mit einer Kleinbildkamera soeben ein paar Aufnahmen machte (»Bitte so bleiben – so ist gut. So ist gut«) und der Darsteller, der Gabrielles Vater gespielt hatte, dem molligen Mädchen, das offenbar kurz vor dem nächsten Tränenausbruch stand, gerade erklärte, das einzig richtige sei, die ganze Angelegenheit als eine neue Erfahrung zu verbuchen.
»Seid ihr dann soweit?« wollte Shep Campbell wissen.
»Tja«, sagte Frank, »ihr müßt wohl leider auf uns verzichten. April hat der Babysitterin nämlich versprochen, daß wir früh heimkommen, und wir wollen ...«
Die beiden Campbells verzogen bedrückt und enttäuscht das Gesicht. Milly schob die Unterlippe zwischen die Zähne und ließ sie langsam wieder frei. »Na so was«, sagte sie. »April macht die ganze Geschichte wohl furchtbar zu schaffen, wie? Armes Mädchen.«
»Nein, nein, ihr geht’s gut«, erklärte Frank. »Daran liegt’s nicht, wirklich nicht. Ihr geht’s gut. Es ist tatsächlich bloß wegen der Babysitterin.« In den zwei Jahren ihrer Freundschaft war es die erste Lüge dieser Art, und diese Lüge ließ alle drei, während sie stockend das Ritual lächelnder Gutenachtwünsche hinter sich brachten, zu Boden schauen – aber es war nicht zu ändern.
Sie wartete in der Garderobe auf ihn und hatte vorsorglich ihr freundliches Gesellschaftsgesicht aufgesetzt für den Fall, daß man auf dem Weg nach draußen einem der Laurel Players begegnete, doch es gelang den beiden, die anderen zu meiden. Sie gingen zusammen durch eine Seitentür, die in einen fünfzig Meter langen, leeren, hallenden Flur führte, dann schritten sie wortlos, ohne einander zu berühren, über die vereinzelten Mondlichtstreifen, die sich auf dem marmornen Fußboden abzeichneten.
Der Geruch nach Schule, nach Bleistiften, Äpfeln und Klebstoff trieb ihm im Halbdunkel einen Schmerz in die Augen; er war wieder vierzehn, in dem Jahr, als er in Chester, Pennsylvania – nein, in Englewood, New Jersey – gelebt und jede freie Minute Pläne geschmiedet hatte, mit dem Zug zur Westküste zu fahren. Auf einer Eisenbahnkarte war er verschiedenen Strecken nachgegangen und hatte viele Male durchgespielt, wie er sich in dem Hobodschungel längs der Bahn behaupten würde (höflich, aber notfalls auch mit den Fäusten); im Schaufenster eines Army-und-Navy-Ladens hatte er sich Stück für Stück seine Garderobe zusammengesucht: Jeansjacke und passende Hose, ein khakifarbenes Armeehemd mit Schulterklappen, hohe Arbeitsstiefel mit Stahlkappen vorne und hinten. Ein alter Filzhut seines Vaters, den er mit unter das Schweißband gestopftem Zeitungspapier in Paßform gebracht hatte, hätte der Kleidung eine glaubwürdige Note ehrbarer Armut verliehen, und in seinem Pfadfinderrucksack, kunstvoll mit Klebeband drapiert, um das Pfadfinderemblem zu verdecken, wäre alles Nötige untergekommen. Das beste an diesem Plan war seine absolute Geheimhaltung, zumindest bis zu dem Tag, als Frank auf dem Schulkorridor einen dicken Jungen namens Krebs, der damals fast so etwas wie sein bester Freund war, spontan fragte, ob er ihn begleiten wolle. Krebs war völlig überrascht – »In einem Güterzug, meinst du?« – und begann dann lauthals zu lachen. »Mannometer, ich lach mich tot, Wheeler. Was glaubst du wohl, wie weit du mit einem Güterzug kommst? Wo hast du bloß immer deine Schnapsideen her? Aus dem Kino oder so? Soll ich dir mal was sagen, Wheeler? Willst du wissen, wieso dich jeder für einen Spinner hält? Weil du einer bist, deswegen.«
Während er so durch die ihm vertrauten Gerüche schritt und das fahle Profil seiner neben ihm gehenden Frau betrachtete, bezog er in das aufkommende Gefühl von Rührung auch sie und ihre traurige Kindheit mit ein. Das gelang ihm nicht oft, denn die meisten ihrer Erinnerungen kamen stets nur zögerlich ans Licht und boten kaum echte Gefühlsinhalte (»Ich habe immer gewußt, daß sich keiner was aus mir macht, und ich habe es auch jeden wissen lassen, daß ich das weiß«), doch der Geruch nach Schule rief ihm nun eine bestimmte Begebenheit ins Gedächtnis, von der sie ihm einmal erzählt hatte, von einem Vormittag in Rye Country Day, als sie mitten im Unterricht von einer ungewohnt heftigen Monatsblutung überrascht worden war. »Zuerst hab ich einfach bloß dagesessen«, hatte sie ihm erzählt. »Das war das Blöde daran, und dann war’s zu spät.« Und er stellte sich vor, wie sie von ihrer Bank aufgesprungen und, einen roten Fleck von der Größe eines Ahornblattes auf ihrem weißen Leinenrock, unter den völlig verblüfften Blicken von dreißig Jungen und Mädchen aus dem Zimmer gerannt war, wie sie in alptraumhafter Stille, vorbei an anderen leise murmelnden Klassenzimmern, durch den Gang geeilt war, wie sie ihre Bücher fallen gelassen, sie aufgehoben hatte und, eine gleichmäßige Spur von Blutstropfen auf dem Fußboden hinterlassend, wieder weitergelaufen war, wie sie zum Erste-Hilfe-Raum gestürmt und vor lauter Angst nicht hineingegangen war, wie sie statt dessen durch den nächsten Gang zu einem Notausgang gehastet war, dort ihre Strickjacke ausgezogen und um Taille und Hüften gebunden hatte, wie sie dann, als sie hinter sich Schritte gehört oder zu hören geglaubt hatte, durch die Tür nach draußen auf den sonnigen Rasen getreten und schließlich nach Hause gegangen war, nicht zu eilig und mit erhobenem Kopf, so daß jeder, der zufällig aus einem der hundert Fenster geschaut hätte, überzeugt gewesen wäre, sie sei wie üblich auf dem Nachhauseweg von der Schule und trage auch ihre Strickjacke wie üblich.
Damals hatte sie vermutlich den gleichen Gesichtsausdruck gehabt wie jetzt, als sie die Tür eines Notausgangs öffnete und auf den Hof der nur wenige Meilen von Rye entfernten Schule hinaustrat, und ihre Gehweise war wohl ebenfalls die gleiche gewesen.
Er hatte gehofft, sie würde im Wagen dicht neben ihm sitzen – er wollte ihr beim Fahren den Arm um die Schultern legen –, aber sie drängte sich mit abgewandtem Kopf an die Beifahrertür, machte sich ganz klein und beobachtete die vorbeihuschenden Lichter und Schatten der Landstraße. Mit großen Augen und einem feierlichen Zug um den Mund saß er hinter dem Steuer, bis er schließlich, sich die Lippen leckend, glaubte etwas sagen zu müssen.
»Weißt du was? Du warst in dem ganzen Stück die einzige Person, die was getaugt hat. Ohne Spaß, April. Im Ernst.«
»Schön«, sagte sie. »Danke.«
»Du hättest bei der verdammten Sache eben einfach nicht mitmachen sollen.« Er öffnete mit der freien Hand den Kragen, um sich den Hals zu kühlen, aber auch um den erwachsenen, kultivierten Griff nach Seidenschlips und Oxfordhemd zu genießen. »Am liebsten würd ich mir den Kerl, wie heißt er gleich, mal richtig vorknöpfen. Den Regisseur.«
»War nicht seine Schuld.«
»Na ja, dann war’s eben die ganze Bagage. Weiß Gott, die waren hundsmiserabel, alle miteinander. Wir hätten’s von Anfang an besser wissen müssen. Ich hätte es besser wissen müssen, darauf läuft es raus. Du hättest bei dieser elenden Truppe doch nie mitgemacht, wenn die Campbells und ich dich nicht dazu überredet hätten. Weißt du noch, wie wir zum erstenmal davon gehört haben? Und wie du gesagt hast, am Ende ist das bloß eine Bande von Nichtskönnern? Tja, ich hätte eben nur auf dich hören sollen.«
»In Ordnung. Könnten wir jetzt vielleicht mal damit aufhören?«
»Natürlich.« Er versuchte ihr den Schenkel zu tätscheln, reichte aber über den breiten Sitz nicht hinüber. »Natürlich. Ich möchte bloß nicht, daß du dich deswegen ärgerst, sonst nichts.«
Selbstbewußt und elegant steuerte er den Wagen von der holprigen Seitenstraße auf die harte, glatte Gerade der Route Twelve, wo er dann endlich das Gefühl hatte, sich auf festem Grund zu bewegen. Ein erfrischender Wind wehte herein, zauste sein kurzes Haar und kühlte ihm den Kopf; nach und nach sah er das Fiasko der Laurel Players im wahren Licht. Es lohnte sich einfach nicht, daß man sich darüber ärgerte. Intelligente, vernunftbegabte Menschen wurden mit derlei Dingen ebenso spielend fertig wie mit den noch schlimmeren Absurditäten eines todlangweiligen Jobs in der City oder eines todlangweiligen Zuhauses in der Vorstadt. Wirtschaftliche Umstände konnten einen zu solchen Lebensverhältnissen zwingen, wichtig dabei war nur, daß man sich von ihnen nicht infizieren ließ. Wichtig war immer, daß man sich auf sich selbst besann.
Und nun, wie schon oft bei dem Versuch, sich auf sich selbst zu besinnen, ließ er in Gedanken die ersten Nachkriegsjahre Revue passieren, den baufälligen Häuserblock in der Bethune Street, in jenem Viertel von New York, wo der schmucke Westrand des Village an die Lagerhallen am Hafen grenzt, wo abends die Salzbrise und nachts das tiefe Dröhnen der Schiffshörner die Luft mit der Verheißung von Seereisen erfüllen. Mit knapp über zwanzig, als er die stolzen Titel »Veteran« und »Intellektueller« ebenso kühn getragen hatte wie seine gründlich gealterte Tweedjacke und ausgewaschene Khakihose, hatte er einen von drei Schlüsseln zu einer Ein-Zimmer-Wohnung in jener Straße besessen. Über die beiden anderen Schlüssel und das Recht, die Wohnung jede zweite und dritte Woche zu nutzen, hatten zwei seiner Kommilitonen vom Columbia College verfügt, die Miete von siebenundzwanzig Dollar hatten die drei untereinander geteilt. Die beiden Kommilitonen, ein ehemaliger Jagdflieger und ein ehemaliger Marinesoldat, waren älter und von größerer Weltläufigkeit als Frank – sie konnten offenkundig auf einen großen Fundus an willigen Mädchen zurückgreifen, mit denen sie diese Wohnung nutzten –, aber es dauerte nicht lange, da begann Frank sie zu seiner eigenen Überraschung einzuholen; überhaupt machte er damals in manchen Belangen mit verblüffender Schnelligkeit Boden gut und gewann in schwindelerregender Weise an Selbstvertrauen. Der einsame Betrachter von Eisenbahnkarten war zwar nie auf einen Güterwagen gehüpft, doch inzwischen hätte ihn wohl keiner wie Krebs mehr als Spinner bezeichnet. Die Army hatte ihn mit achtzehn eingezogen, in die abschließende Frühjahrsoffensive gegen Deutschland geschickt und ihm vor der Verabschiedung noch eine verwirrende, aber aufregende einjährige Tour durch Europa verordnet; seither hatte das Leben ihn von Erfolg zu Erfolg getragen. Die losen Fäden seines Wesens, die ausschlaggebend waren dafür, daß er zu Träumereien neigte und sich unter den Mitschülern und anschließend unter den Soldaten einsam fühlte, schienen sich plötzlich zu einem festen und ansehnlichen Strang zusammengebunden zu haben. Zum erstenmal in seinem Leben wurde er bewundert, und der Umstand, daß Mädchen tatsächlich mit ihm ins Bett gehen wollten, war nur wenig bemerkenswerter als seine weitere, damit konkurrierende Entdeckung – daß Männer, und zwar intelligente Männer, ihm zuhören wollten. Seine Schulnoten lagen selten über dem Durchschnitt, doch seine Leistungen bei den nächtelangen, bierseligen Gesprächsrunden, die sich allmählich um ihn gebildet hatten, waren keineswegs durchschnittlich – Gesprächsrunden, die oft mit einem allseitigen zustimmenden Gemurmel endeten und damit, daß man sich an die Stirn schlug zum Zeichen, daß der alte Wheeler wieder einmal den Punkt getroffen hatte. Das einzige, was er brauche, hieß es, sei Zeit und die Freiheit, sich selbst zu finden. Diverse große Karrieren wurden ihm prophezeit; Übereinstimmung herrschte darin, daß seine künftige Tätigkeit irgendwo »auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften« liege, wenn auch nicht direkt auf dem der Schönen Künste – zumindest aber werde es sich um eine handeln, die lange und stete Hinwendung verlange –, was bedeute, daß er sich früh und auf Dauer nach Europa zurückziehen müsse, das er oft als einzigen Erdteil bezeichnete, in dem zu leben sich lohne. Frank selbst hegte, wenn er nach einer solchen Diskussion bei Tagesanbruch durch die Straßen ging oder nachts in der Wohnung in der Bethune Street im Bett lag und nachdachte – sofern sie ihm gerade zur Verfügung stand, er aber kein Mädchen dabeihatte –, kaum einen Zweifel an seinen außergewöhnlichen Vorzügen. Waren die Biographien großer Männer nicht gezeichnet von dieser Art jugendlicher Suche, von der Auflehnung gegen die Väter und deren Lebensweise? Eigentlich konnte er sogar dankbar dafür sein, daß er kein bestimmtes Interessengebiet hatte: Ohne spezielle Ziele waren ihm auch keine speziellen Grenzen gesetzt. Zunächst einmal war die Welt, das Leben selbst sein erklärtes Interessengebiet.
Doch die Collegezeit zog sich hin; zahllose kleine Depressionen suchten ihn heim, die sich in den ersten Wochen der Collegeferien noch verstärkten, als die beiden anderen Männer immer weniger Gebrauch von ihren Wohnungsschlüsseln machten und er sich allein in der Bethune Street aufhielt, zur Sicherung seines Lebensunterhalts Gelegenheitsarbeiten annahm und sich dabei seine Situation durch den Kopf gehen ließ. Vor allem setzte ihm zu, daß ihm bisher keines der Mädchen, die er inzwischen kannte, ein ungetrübtes Triumphgefühl vermittelt hatte. Eine war, abgesehen von ihren unverzeihlich dicken Fesseln, sehr hübsch gewesen, eine andere wiederum hochintelligent, aber besessen von der enervierenden Neigung, ihn zu bemuttern; jedenfalls hatte er sich eingestehen müssen, daß keine wirklich toll gewesen war. Er stellte keineswegs in Frage, was er unter einem tollen Mädchen verstand, obwohl er sich noch nie einem auf Reichweite genähert hatte. Auf den verschiedenen High Schools, die er besucht hatte, hatte es zwei oder drei gegeben, die ihn verächtlich links liegen gelassen und sich statt dessen für ein paar Collegestudenten aus der Umgebung interessiert hatten; die wenigen, die ihm während der Armyzeit zu Gesicht gekommen waren, hatte er meistens hinter den fernen goldenen Fenstern eines Offiziersklubs, begleitet von den Klängen der Tanzmusik, nur ganz flüchtig und klein gesehen; auch in New York waren ihm seither viele Mädchen aufgefallen, doch sie waren immer gerade in ein Taxi ein- oder aus einem Taxi ausgestiegen, unter dem Begleitschutz grimmig blickender Männer, die aussahen, als wären sie niemals jung gewesen.
Warum nicht einfach davon ablassen? Mußte sich ein ernster, nikotinfleckiger Jean-Paul-Sartre-Typ Mann nicht logischerweise auf den ernsten, nikotinfleckigen Jean-Paul-Sartre-Typ Frau beschränken? Doch das wäre ein Bekenntnis zur Niederlage gewesen, und eines Abends, auf einer Party in Morningside Heights, beflügelt von vier kräftigen Schluck Whiskey, entschied er sich für das Bekenntnis zum Sieg. »Ich glaube, ich hab Ihren Namen nicht mitgekriegt«, sagte er zu einem außergewöhnlich tollen Mädchen, dessen leuchtendes Haar und herrliche Beine ihn quer durch den ganzen Raum voller fremder Leute angelockt hatten. »Sind Sie Pamela?«
»Nein«, sagte sie. »Pamela ist die da drüben. Ich bin April. April Johnson.«
Schon nach fünf Minuten stellte er fest, daß er April Johnson zum Lachen bringen konnte, daß er nicht nur die Aufmerksamkeit ihrer großen grauen Augen anhaltend zu fesseln vermochte, sondern daß ihre Pupillen, während er mit ihr sprach, konzentriert hin und her huschten, als wären Form und Beschaffenheit seines Gesichts etwas, das größtes Interesse verdiente.
»Was machen Sie denn so?«
»Ich bin Hafenarbeiter.«
»Nein, ich meine, in Wirklichkeit.«
»Das ist die Wirklichkeit.« Er hätte ihr zum Beweis seine Handflächen gezeigt, hätte er nicht befürchtet, daß sie den Unterschied zwischen Schwielen und Blasen kannte. Die vorangegangene Woche über war er unter der Führung eines grobschlächtigen Kommilitonen allmorgendlich im Hafen »angetreten« und hatte unter der Last von Obstkisten gewankt. »Ab nächsten Montag hab ich allerdings einen besseren Job. Als Nachtkassierer in einer Cafeteria.«
»Ja, aber das mein ich doch gar nicht. Ich meine, was interessiert Sie in Wirklichkeit?«
»Süße ...« (und er war noch so jung, daß ihn die Kühnheit, nach derart kurzer Bekanntschaft schon »Süße« zu sagen, erröten ließ) »... Süße, wenn ich darauf eine Antwort hätte, dann würde ich uns beide in einer halben Stunde zu Tode langweilen.«
Fünf Minuten später, beim Tanzen, stellte er fest, daß sich April Johnsons Rücken so tadellos an seine Hand schmiegte, als wäre er eigens dafür bestimmt; und fast auf den Tag genau eine Woche darauf lag sie wie durch ein Wunder nackt neben ihm im ersten blauen Tageslicht in der Bethune Street, strich ihm mit dem zierlichen Zeigefinger von der Augenbraue zum Kinn übers Gesicht und flüsterte: »Wirklich, Frank. Ich mein es ernst. Du bist der interessanteste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.«
»Weil es sich einfach nicht lohnt«, sagte er nun und jagte die blau erleuchtete Tachonadel auf der letzten Highwaymeile auf nahezu hundert. Inzwischen waren sie fast zu Hause. Sie würden sich noch ein paar Drinks genehmigen, April würde vermutlich ein bißchen weinen – was ihr guttäte –, und dann würden sie beide darüber lachen, sich im Schlafzimmer einschließen, sich die Kleider abstreifen, und im Mondschein würden Aprils runde kleine Brüste über ihm auf und ab hüpfen, und es gab keinen Grund, warum es nicht sein sollte wie in den alten Zeiten.
»Ich find es ja schon schlimm genug, mitten unter diesen verdammten kleinen Vorstadttypen leben zu müssen – und ehrlich gesagt, ich zähle die Campbells dazu –, mitten unter diesen Leuten leben zu müssen, wo uns jeder kleine Stinker an den Karren fährt – was meinst du dazu?« Er sah kurz von der Straße weg und stellte im Licht der Armaturenbeleuchtung zu seiner Verblüffung fest, daß sie das Gesicht in den Händen barg.
»Ich hab doch schon ja gesagt. In Ordnung, Frank. Würdest du jetzt bitte aufhören zu reden? Du machst mich noch wahnsinnig.«
Er fuhr sofort langsamer, brachte den Wagen auf dem sandigen Seitenstreifen zum Halten und schaltete den Motor und die Scheinwerfer aus. Dann rutschte er über den Sitz und versuchte sie in den Arm zu nehmen.
»Nein, Frank, bitte nicht. Laß mich einfach in Ruhe, ja?«
»Schatz, ich will doch bloß ...«
»Laß mich in Ruhe. Laß mich endlich in Ruhe!«
Er zog sich wieder hinters Lenkrad zurück und schaltete die Scheinwerfer ein, doch als er den Wagen starten wollte, versagten ihm die Hände den Dienst. Statt dessen blieb er eine Weile so sitzen und lauschte, wie das Blut in seinem Ohr pochte.
»Mir scheint«, sagte er schließlich, »hier läuft im Moment so ziemlich alles verkehrt. Ich meine, du ziehst hier grad eine ganz gute Madame-Bovary-Nummer ab, aber ein paar Dinge würd ich schon noch gern klarstellen. Erstens, ich kann nichts dafür, daß die Aufführung so beschissen war. Zweitens, es ist ganz bestimmt nicht meine Schuld, daß du vielleicht doch keine Schauspielerin bist, und je eher du über diese kleine Schmierenkomödie wegkommst, um so besser wird’s uns allen gehen. Drittens, ich taug einfach nicht für die Rolle des tumben Vorstadt-Ehemanns; seit wir hier rausgezogen sind, willst du mir diese Rolle immer wieder aufzwingen, aber da mach ich nicht mit, verdammt noch mal. Viertens ...«
Sie sprang aus dem Wagen und lief rasch und anmutig, um die Hüften ein wenig zu füllig, im Scheinwerferlicht davon. Als er ausstieg und ihr nacheilte, dachte er einen Moment lang, sie wolle sich umbringen – in solchen Momenten war sie zu fast allem fähig –, doch dann blieb sie zwischen dem dunklen Gestrüpp am Straßenrand stehen, direkt neben einem leuchtenden Schild mit der Aufschrift: Kein Durchgang. Er ging hinter ihr her, blieb aber, schwer atmend und verunsichert, ein Stück weiter weg stehen. Sie weinte nicht, sie stand mit dem Rücken zu ihm nur da.
»Was zum Teufel«, sagte er. »Was zum Teufel soll das? Komm zurück in den Wagen.«
»Nein. Einen Moment noch. Laß mich einfach noch einen Moment hier stehen, ja?«
Er ließ die zitternden Arme sinken, dann, als sich hinter ihnen das Geräusch und die Lichter eines Wagens näherten, steckte er die Hand in die Hosentasche und nahm, um den Schein zu wahren, eine lockere Haltung ein. Der Wagen fuhr vorüber und beleuchtete dabei das Schild und Aprils angespannten Rücken, dann huschten seine Rücklichter davon, und das Dröhnen der Reifen verebbte zu einem fernen Summen und schließlich ganz. Zur Rechten, in einem schwarzen Sumpf, quakten Laubfrösche laut und durchdringend. Weiter vorn, zwei oder drei Meilen entfernt, erhob sich die Erde hoch über die vom Mond beschienenen Strommasten und formte sich zu dem Hügel von Revolutionary Hill, an dessen Gipfel die einladenden Panoramafenster der Revolutionary-Hill-Siedlung leuchteten. In einem dieser Häuser wohnten die Campbells; vielleicht saßen sie auch in einem der Wagen, deren Scheinwerfer soeben hinter den beiden aufleuchteten.
»April?«
Sie gab keine Antwort.
»Hör mal«, sagte er. »Wollen wir uns nicht einfach ins Auto setzen und darüber reden? Anstatt auf der Route Twelve rumzulaufen?«
»Hab ich nicht klar und deutlich gesagt«, sagte sie, »daß ich darüber nicht reden möchte?«
»Schon gut«, sagte er. »Schon gut. Herrgott, April, ich bemüh mich dauernd, nett zu sein, so gut ich kann, aber ich ...«
»Wie schön von dir«, sagte sie. »Wie schrecklich, schrecklich schön von dir.«
»Moment mal ...« Er zog die Hand aus der Hosentasche und richtete sich auf, aber dann schob er, da weitere Wagen auftauchten, die Hand wieder zurück. »Jetzt hör mal einen Moment zu.« Er versuchte zu schlucken, doch seine Kehle war ganz trocken. »Ich weiß nicht, was du hier beweisen willst«, sagte er, »und ehrlich gesagt, ich glaube, du weißt es auch nicht. Aber eins weiß ich. Ich weiß verdammt gut, daß ich das hier nicht verdient habe.«
»Du bist dir ja immer so wunderbar sicher«, sagte sie, »wenn’s darum geht, was du verdient hast und was nicht.« Sie rauschte an ihm vorbei zum Wagen zurück.
»Halt, warte doch mal!« Er stolperte durch das Gestrüpp hinter ihr her. Weitere Wagen fuhren inzwischen aus beiden Richtungen vorüber, aber er kümmerte sich nicht mehr darum. »Jetzt warte doch mal, gottverdammt!«
Sie lehnte sich rücklings an den Kotflügel und verschränkte die Arme – ein effektvolles Bild der Entsagung –, er hielt ihr drohend den Zeigefinger vors Gesicht.
»Jetzt hör mir mal zu. Diesmal kommst du mir nicht so einfach damit davon, daß du mir jedes Wort im Mund umdrehst. Diesmal weiß ich, verdammt noch mal, daß ich im Recht bin. Weißt du, was du bist, wenn du dich so benimmst?«
»Oh Gott, wärst du heut abend doch bloß zu Hause geblieben.«
»Weißt du, was du bist, wenn du dich so benimmst? Krank bist du. Einfach krank.«
»Und weißt du, was du bist?« Ihr Blick fuhr an ihm auf und ab. »Widerwärtig bist du.«
Kurz darauf geriet der Streit außer Kontrolle. Mit zitternden Armen und Beinen, die Gesichter haßerfüllt verzerrt, ging man die Schwachpunkte des anderen immer heftiger an, legte Schleichwege um die gegenseitigen Bollwerke frei, ergriff rasch jede Chance, die Taktik zu wechseln, ein Täuschungsmanöver durchzuführen und dann den Kampf wiederaufzunehmen. In einer Verschnaufpause eilte man in Gedanken um Jahre zurück, auf der Suche nach alten Waffen, mit denen sich alte Wunden aufreißen ließen; und so ging es immerfort weiter.
»Oh nein, du hast mir nie was vorgemacht, Frank, du doch nicht. All deine schönen moralischen Grundsätze, deine ›Liebe‹ und deine fadenscheinigen kleinen ... meinst du, ich weiß nicht mehr, wie du mich mal ins Gesicht geschlagen hast, weil ich gesagt hab, ich kann dir nicht verzeihen? Mir war schon immer klar, daß ich dein Gewissen bin und dein Mülleimer – und dein Prellbock. Bloß weil du mich sicher in der Falle hast, glaubst du ...«
»Du in der Falle! Ich lach mich gleich tot! Du in der Falle!«
»Ja, ich.« Sie formte ihre Hand zu einer Kralle und faßte sich ans Schlüsselbein. »Ich. Ich. Ich. Oh du armseliger, fehlgeleiteter ... Schau dich doch mal an! Schau dich an und sag mir, wie du überhaupt nur« – sie warf den Kopf zurück, ihre entblößten Zähne schimmerten weiß im Mondlicht – »wie du überhaupt nur auf die Idee kommen kannst, ein Mann zu sein!«
Er schwang die bebende Faust, um ihr mit dem Handrücken einen Hieb an den Kopf zu versetzen, worauf sie sich, ein Häufchen Elend vor Angst, an den Kotflügel kauerte, doch statt sie zu schlagen, wich er wie ein tänzelnder Boxer zurück und ließ die Faust mit aller Kraft auf das Wagendach donnern. Viermal hieb er auf den Wagen: Bong! Bong! Bong! Bong!; sie stand nur da und sah ihm zu. Als er aufgehört hatte, war meilenweit nur noch das durchdringende Gequake der Laubfrösche zu hören.
»Hol dich der Teufel«, sagte er ruhig. »Hol dich der Teufel, April.«
»In Ordnung. Können wir jetzt bitte nach Hause fahren?«
Schwer atmend, mit ausgetrocknetem Mund und zitternden Gliedern setzten sich die beiden wie ein steinaltes, müdes Paar in den Wagen. Er ließ den Motor an und fuhr vorsichtig weiter, bis zur Biegung am Fuß von Revolutionary Hill und anschließend die geteerte Serpentine der Revolutionary Road hinauf.
Zwei Jahre zuvor hatten sie diese Strecke, als zustimmend nickende Beifahrer im Kombi von Mrs. Helen Givings, einer Immobilienmaklerin, zum erstenmal zurückgelegt. Am Telefon war Mrs. Givings höflich, aber zurückhaltend gewesen – oft genug kamen Leute aus der Stadt hier heraus und verschwendeten die Zeit der Maklerin damit, daß sie unakzeptable Kaufbedingungen aushandeln wollten –, doch schon von dem Augenblick an, als die Wheelers aus dem Zug gestiegen waren, hatte Mrs. Givings, wie sie später ihrem Mann erzählte, in den beiden ein Paar erkannt, mit dem es, trotz der niedrigen Preiskategorie, nur wenig Probleme geben würde. »Sie sind einfach süß«, sagte sie zu ihrem Mann. »Die junge Frau ist absolut hinreißend, und der junge Mann hat, so scheint es, eine tolle Anstellung in der Stadt – er ist sehr nett, wenn auch ein bißchen reserviert –, jedenfalls tut es richtig gut, mit solchen Leuten Geschäfte zu machen.« Mrs. Givings hatte sofort begriffen, daß die beiden etwas Besonderes wollten – eine kleine umgebaute Scheune oder Remise oder auch einen alten Gasthof – irgend etwas mit ein wenig Charme –, und es war ihr sehr unangenehm, sagen zu müssen, daß solche Dinge derzeit schlicht nicht mehr zu haben seien. Aber sie beschwor sie, nicht den Mut sinken zu lassen; sie wisse da ein kleines Plätzchen, das ihnen unter Umständen zusagen würde.
»Nun ja, die Straße dorthin läßt natürlich ein bißchen zu wünschen übrig«, erläuterte sie, als sie von der Route Twelve abbogen; ihr Blick huschte wie der eines Vogels zwischen den beiden erfreuten, aufmerksamen Gesichtern und der Straße hin und her. »Wie Sie sehen, gibt es hier hauptsächlich Häuser aus Hohlziegel und überall stehen Kleintransporter – hier wohnen Installateure, Schreiner, kleine Handwerker und so. Und da vorn« – sie deutete mit ihrem Zeigefinger wie mit einer Pistole durch die Windschutzscheibe, wobei ein paar Armbänder klirrend gegen das Lenkrad schlugen – »da vorn führt die Straße dann hoch und um ein absolut scheußliches Neubaugebiet namens Revolutionary-Hill-Siedlung herum – große, plumpe Häuser, Maisonettewohnungen, alle in total ekelhaften Pastellfarben und außerdem furchtbar teuer, ich weiß gar nicht, wieso. Nein, aber das, was ich Ihnen zeigen will, hat damit überhaupt nichts zu tun. Einer von unseren properen kleinen Bauunternehmern hat es gleich nach dem Krieg hingestellt, noch bevor diese ganze schreckliche Bauerei angefangen hat. Wirklich ein süßes kleines Häuschen ist das, in einem süßen kleinen Ambiente. Schlicht, klare Linien, guter Rasen, wunderbar geeignet für Kinder. Es kommt gleich nach der nächsten Kurve, und die Straße ist hier auch schon viel besser, oder? Jetzt kann man’s schon sehen – da vorn. Sehen Sie das kleine weiße Häuschen? Süß, nicht wahr? Wie es da so keck an dem kleinen Hang sitzt.«
»Ah ja«, sagte April, als das Haus hinter den spindeldürren Stämmen nachgewachsener Eichen auftauchte und näher ins Blickfeld rückte, ein kleines Holzhäuschen, das hoch auf einem Fundament aus nacktem Beton thronte und dessen übergroßes Hauptfenster wie ein gewaltiger schwarzer Spiegel wirkte. »Doch, ich glaube das ist – ganz hübsch, findest du nicht auch, Liebling? Auch wenn es natürlich ein Panoramafenster hat; ohne das geht’s ja anscheinend nicht.«
»Scheint so«, sagte Frank. »Andererseits meine ich, daß so ein Panoramafenster nicht unbedingt ein Eingriff in unsere Persönlichkeit sein muß.«
»Großartig«, rief Mrs. Givings, und ihr Lachen umschmeichelte die beiden; sie fuhren in die Einfahrt und stiegen aus, um sich das Haus anzusehen. Als sie dann, flüsternd Meinungen austauschend, über die kahlen Fußböden schritten, wich ihnen Mrs. Givings, beruhigend und fürsorglich auf sie einredend, nicht von der Seite. Doch, mit dem Haus ließ sich etwas anfangen. Ihr Sofa würde hier hinpassen, der große Tisch dort, die feste Bücherwand würde dem Panoramafenster etwas von seiner erdrückenden Wucht nehmen, eine geschickte Anordnung von sparsamem Mobiliar würde dem steifen Vorstadtcharakter des allzu symmetrisch geschnittenen Wohnzimmers entgegenwirken. Andererseits war gerade die Symmetrie des Ganzen unleugbar ansprechend – die Ecken waren allesamt rechtwinklig, die Dielen wiesen keine Lücken und Unebenheiten auf, die Türen hingen perfekt in den Angeln, sie schlossen sauber und völlig geräuschlos. In der Freude darüber, wie leicht sich die Türknäufe betätigen ließen, konnten die beiden sich durchaus vorstellen, hier zu Hause zu sein. Bei der Besichtigung des makellosen Badezimmers spürten sie schon im voraus das Vergnügen, in der großen Wanne in Dampf gehüllt zu baden, sie sahen ihre Kinder barfüßig durch den Flur laufen, wo es keinen Schimmel, keine Späne, Splitter und Kakerlaken mehr geben würde. Doch, mit dem Haus ließ sich etwas anfangen. Ihr zunehmend in Unordnung geratenes Leben ließ sich vielleicht neu ordnen und, umgeben von Bäumen, in diese Räume einfügen. Und auch wenn es einige Zeit in Anspruch nahm – wer könnte angesichts dieses geräumigen und hellen, dieses sauberen und ruhigen Hauses davor zurückschrecken?
Als das Haus, dessen Küche und Stellplatz für das Auto hell erleuchtet waren, nun in der Dunkelheit vor ihnen auftauchte, spannten sie die Muskeln an und preßten zum Zeichen ihrer Entschlossenheit die Lippen zusammen. April ging als erste hinein, stolperte durch die Küche und lehnte sich, um das Gleichgewicht zurückzugewinnen, an den Kühlschrank, Frank folgte ihr. Dann betätigte sie einen Wandschalter, im Wohnzimmer wurde es schlagartig hell. Geblendet vom Licht schien es, als ob das Zimmer schwämme, als ob die Einrichtung durch die Luft schwebte, und selbst als sich die Augen gewöhnt hatten, schien diese Ruhe nur vorübergehend zu sein. Das Sofa stand da, der große Tisch dort, aber es hätte genausogut umgekehrt sein können; die Bücherwand kämpfte gehorsam mit dem Panoramafenster um die Vorherrschaft, doch sie wäre ebensogut als Leihbibliothek durchgegangen. Die übrigen Möbelstücke hatten dem Raum in der Tat die Überkorrektheit genommen, konnten aber auch keinen edlen Eindruck entstehen lassen. Stühle, Couchtisch, Stehlampe und Lesepult, sie standen da wie willkürlich gruppierte Auktionsstücke. Nur hinten in der Ecke waren Anzeichen eines ersprießlichen Zusammenlebens zu sehen – ein abgetretener Teppich, zerknautschte Kissen, volle Aschenbecher –, und dies war der Alkoven, den sie noch keine sechs Monate zuvor widerstrebend eingerichtet hatten: die Domäne des Fernsehapparates (»Warum nicht? Sind wir das den Kindern nicht schuldig? Außerdem zeugt es langsam von billigem Snobismus, wenn man keinen Fernseher hat ...«)
Mrs. Lundquist, die Babysitterin, war auf dem Sofa eingeschlafen und lag verborgen hinter der Lehne. Nun richtete sie sich auf und rückte damit schlagartig ins Blickfeld; blinzelnd und mit knirschenden falschen Zähnen versuchte sie zu lächeln und fingerte im aufgelösten grauen Haar nach den Haarnadeln.
»Mommy?« rief eine hohe, hellwache Stimme aus dem Kinderzimmer hinter dem Flur. Es war die sechsjährige Jennifer. »Mommy? War die Aufführung gut?«
Als Frank Mrs. Lundquist nach Hause fuhr, wählte er zweimal eine falsche Abzweigung (Mrs. Lundquist wurde unsanft gegen die Wagentür und das Armaturenbrett gedrückt und bemühte sich in der Dunkelheit, ihre Angst hinter einem starren Lächeln zu verbergen – sie hielt ihn für betrunken), und auf der einsamen Rückfahrt preßte er die ganze Zeit über die Hand an den Mund. Er versuchte, so gut es ging, den Streit vor seinem inneren Auge noch einmal ablaufen zu lassen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er wußte nicht einmal, ob er wütend war oder zerknirscht, ob er sich nach Vergebung sehnte oder nach der Kraft, zu vergeben. Seine Kehle war vom Brüllen noch rauh, und seine Hand pochte noch von den Hieben auf den Wagen – daran erinnerte er sich noch sehr gut –, doch sonst wußte er nur noch, wie sie beim Applaus mit hochgezogenen Schultern, mit unechtem, prekärem Lächeln dagestanden hatte, und dies machte ihn vor Reue ganz schwach. Ausgerechnet heute abend so eine Auseinandersetzung! Er mußte das Lenkrad mit beiden Händen festhalten, denn die Straßenlichter verschwammen vor seinen Augen.
Das Haus war dunkel; als er heranfuhr, ließ ihn dessen Anblick, eine langgezogene milchige Silhouette im Dunkel von Bäumen und Himmel, an den Tod denken. Rasch durchquerte er Küche und Wohnzimmer, schritt behutsam, am Kinderzimmer vorbei, auf Zehenspitzen durch den Flur ins Schlafzimmer und machte leise die Tür hinter sich zu.
»April, hör mal«, flüsterte er. Er streifte die Jacke ab, trat an das dunkle Bett, ließ sich auf die Kante sinken und saß dann in der klassischen Pose eines zerknirschten Menschen zusammengesunken da. »Hör mir mal bitte zu. Keine Sorge, ich faß dich nicht an. Ich will dir bloß sagen, daß es – ich kann nur sagen, daß es mir leid tut.«
Dieser Streit war einer von den übleren, einer von denen, die tagelang weitergingen. Aber zumindest waren sie nun hier, alleine und friedlich in ihren eigenen vier Wänden, statt sich auf dem Highway anzubrüllen; zumindest war die Sache nun in ihr zweites Stadium getreten, in die lange, ruhige Zeitspanne danach, die früher stets – kaum vorstellbar – zur Versöhnung geführt hatte. Sie würde nun nicht mehr vor ihm davonlaufen, und auch er würde nun nicht mehr kochen vor Wut, dazu waren sie beide zu müde. Schon früh in seiner Ehe waren diese Perioden des gegenseitigen Anschweigens schlimmer gewesen als der demütigende Lärm, der sie ausgelöst hatte: jedesmal dachte er, diesmal gibt es keinen würdigen Ausweg mehr. Aber dann hatte es doch immer wieder einen mehr oder weniger würdigen Ausweg gegeben, der durch den schlichten Vorgang der Abbitte, des anschließenden Abwartens und nicht allzu großen Nachdenkens darüber herbeigeführt worden war. Inzwischen war ihm diese Haltung so vertraut wie eine unbequeme, häßliche alte Jacke. Sie ließ sich mit einer gleichsam sinnlichen Lässigkeit tragen, denn sie gab ihm die Möglichkeit, Stolz und eigenen Willen zeitweilig abzulegen.