Elf Arten der Einsamkeit - Richard Yates - E-Book

Elf Arten der Einsamkeit E-Book

Richard Yates

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ein Meister der Zwischentöne« Deutschlandradio Kultur

Ob Angestellter in einem kleinen Büro in Manhattan, ob Feldwebel in Texas oder Tuberkulosepatient auf Long Island: Richard Yates’ Figuren sind allesamt darum bemüht, ihr unglückliches Leben in den Griff zu bekommen. Sie hassen ihre Arbeit, trinken zu viel und träumen von besseren Zeiten. Sie schlingern zwar dem Untergang entgegen, aber sie weigern sich, ihre Illusionen aufzugeben.
Mit unerbittlicher Schärfe, aber tiefer Sympathie für seine Figuren, entlarvt Richard Yates die Schattenseiten des amerikanischen Traums. Meisterhafte Short Storys aus einer Welt, die ihre Ideale zu verlieren droht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 345

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Richard Yates wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Das Debüt »Zeiten des Aufruhrs« wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen verfilmt.

Elf Arten der Einsamkeit in der Presse:

»… ein großes literarisches Dokument aus dem Amerika der Nachkriegszeit.« DeutschlandRadio Kultur

»Ein Klassiker der amerikanischen Moderne.«Süddeutsche Zeitung

»Diese Geschichten sind im Wortsinn einfach genial, sie sind kristallklar, in Sprache und Form, erbarmungslos und empathisch zugleich. Yates ist der Enkel Tschechows aus New Jersey.« Welt am Sonntag

»Die elf Kurzgeschichten sind funkelnde Kammerspiele, eindringlich und zugleich von kühler Eleganz.«Freie Presse

Außerdem von Richard Yates lieferbar:

Easter Parade

Verliebte Lügner

Eine letzte Liebschaft

Zeiten des Aufruhrs

Cold Spring Harbor

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Richard Yates

Elf Arten der Einsamkeit

Short Stories

Aus dem Amerikanischen von Anette Grube und Hans Wolf

Die Erzählungen Doktor Schleckermaul, Alles, alles Gute und Überhaupt keine Schmerzen wurden von Hans Wolf übersetzt, alle übrigen von Anette Grube.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel Eleven Kinds of Loneliness bei Little, Brown & Co., Boston, Massachusetts, USA.

Der Übersetzung lag der 2001 bei Henry Holt and Company, LLC, New York, erschienene Sammelband The Collected Stories of Richard Yates zugrunde.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 1957, 1961, 1962, 2001 by the Estate of Richard Yates

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Deutsche Verlags-Anstalt, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd nach einem Entwurf von Roland Eschlbeck

Umschlagmotiv: Getty Images/Ledner

ISBN978-3-641-24606-8V002

www.penguin-verlag.de

Doktor Schleckermaul

Miss Price wußte von dem neuen Jungen bloß, daß er sein Leben größtenteils in einem Waisenhaus verbracht hatte und daß »Tante und Onkel«, die grauhaarigen Leute, bei denen er inzwischen wohnte, die rechtmäßigen, vom Wohlfahrtsamt der Stadt New York bezahlten Pflegeeltern waren. Ein weniger engagierter oder weniger phantasievoller Lehrer hätte vielleicht auf mehr Einzelheiten gedrängt, aber Miss Price war mit diesem schlichten Überblick zufrieden. Ja, er genügte, um sie mit dem Gefühl eines Auftrags zu erfüllen, was ihre Augen schon am ersten Morgen, beim Eintritt des Jungen in die vierte Klasse, hell wie die Liebe leuchten ließ.

Er kam früh und setzte sich in die hinterste Reihe, kerzengerade, mit exakt unter dem Tisch gekreuzten Füßen, die Hände mitten auf der Schreibplatte verschränkt – als mache ihn die Symmetrie weniger verdächtig; als die übrigen Kinder hintereinander hereinmarschierten und ihre Plätze einnahmen, bedachte ihn jeder mit einem langen, ausdruckslosen Blick.

»Wir haben heute morgen einen neuen Klassenkameraden«, sagte Miss Price; sie brachte das Offensichtliche so betont hervor, daß alle am liebsten gekichert hätten. »Er heißt Vincent Sabella und kommt aus New York City. Ich weiß, wir werden unser Bestes tun, damit er sich wie zu Hause fühlt.«

Hierauf fuhren die Mitschüler herum und starrten ihn an, so daß er den Kopf ein wenig einzog und auf seinem Sitz hin und her rutschte. Normalerweise trug der Umstand, daß einer aus New York kam, dem Betreffenden ein gewisses Prestige ein, denn für die meisten Kinder war die Stadt ein ehrfurchtgebietender Ort für Erwachsene, der ihre Väter tagtäglich verschluckte und den sie nur selten, und dann in den besten Kleidern, zum Vergnügen besuchen durften. Andererseits war auf den ersten Blick zu erkennen, daß Vincent Sabella überhaupt nichts mit Wolkenkratzern zu tun hatte. Auch ohne sein verfilztes schwarzes Haar und die graue Haut hätte ihn seine Aufmachung verraten: eine lachhaft neue Cordhose, lachhaft alte Turnschuhe und ein gelbes, viel zu kleines Sweatshirt, auf dessen Vorderseite die kargen Überreste einer aufgedruckten Mickymaus zu sehen waren. Er stammte eindeutig aus jenem Viertel von New York, das man durchqueren mußte, wenn man mit der Bahn in Richtung Grand Central unterwegs war – aus jenem Viertel, wo die Leute ihr Bettzeug über die Fenstersimse hängten und sich den ganzen Tag von Langeweile benebelt hinauslehnten und wo man nichts als schnurgerade, tiefe Straßenzüge sah, die sich im Wirrwarr der Gehwege allesamt ähnelten und in denen es von graugesichtigen, in irgendein hoffnungsloses Ballspiel vertieften Jungen wimmelte.

Die Mädchen fanden ihn nicht besonders hübsch und wandten sich ab; die Jungen hingegen setzten ihre Musterung fort und begutachteten ihn mit leisem Grinsen von oben bis unten. Er zählte zu der Sorte von Jungen, die sie gewöhnlich für »knallhart« hielten, zu der Sorte, deren Blick ihnen in unvertrauter Umgebung schon so manches Mal Unbehagen bereitet hatte; hier bot sich eine einzigartige Chance zur Vergeltung.

»Wie sollen wir denn zu dir sagen – Vincent?« erkundigte sich Miss Price. »Ich meine, was ist dir lieber, Vincent oder Vince oder … oder wie?« (Es war eine rein akademische Frage; auch Miss Price wußte, die Jungen würden »Sabella« zu ihm sagen, und die Mädchen würden ihn überhaupt nicht ansprechen.)

»Vinny’s okay«, antwortete er mit sonderbar krächzender Stimme, die sich in den häßlichen Straßen seines Viertels offenbar heiser geschrien hatte.

»Ich habe dich leider nicht verstanden«, sagte Miss Price und reckte den hübschen Kopf seitwärts nach vorne, so daß ihr Haar ein Stück über die Schulter wogte. »Sagtest du Vince?«

»Vinny’s recht«, wiederholte er und rutschte unruhig hin und her.

»Vincent, ja? Na schön, also dann Vincent.« Ein paar Mitschüler kicherten, aber keinem wäre es eingefallen, die Lehrerin zu korrigieren; der Spaß würde größer sein, wenn man das Mißverständnis stehen ließ.

»Ich mache mir nicht die Mühe, dir jeden einzelnen hier mit Namen vorzustellen, Vincent«, fuhr Miss Price fort, »im Lauf des Unterrichts lernst du ja die Namen sowieso kennen, oder? Und wir erwarten auch nicht, daß du schon am ersten Tag oder so richtig mitarbeitest; laß dir nur Zeit, und wenn du etwas nicht gleich verstehst, dann genier dich nicht und frag einfach nach.«

Er ließ ein undeutliches Krächzen hören und setzte ein flüchtiges Lächeln auf – gerade lange genug, um zu zeigen, daß er gelbe Zähne hatte.

»Also dann«, sagte Miss Price und ging zur Tagesordnung über. »Wir haben Montagmorgen, und als erstes stehen die Erlebnisberichte auf dem Programm. Wer möchte anfangen?«

Sechs oder sieben Hände gingen hoch, Vincent Sabella war vorerst vergessen; Miss Price zuckte in gespielter Verwirrung zurück. »Du liebe Güte, heute haben wir aber viele Erlebnisberichte«, sagte sie. Die Idee zu diesen Berichten – eine fünfzehnminütige Veranstaltung, bei der die Kinder an jedem Montag ihre Wochenenderlebnisse schildern sollten – stammte von ihr, und sie war verständlicherweise stolz darauf. Auf der letzten Lehrerkonferenz hatte der Schulleiter sie dafür gelobt und betont, daß dies einen großartigen Brückenschlag zwischen den Welten der Schule und des Zuhauses darstelle und darüber hinaus eine vorzügliche Methode sei, den Kindern Selbstvertrauen und sicheres Auftreten beizubringen. Das Ganze verlange umsichtige Kontrolle – die Schüchternen müßten aus der Reserve gelockt, die Vorlauten gebremst werden –, aber im allgemeinen, so Miss Price gegenüber dem Schulleiter, hätten alle Spaß daran. Besonders heute hoffte sie, daß es Spaß machen würde, schon um Vincent Sabella die Befangenheit zu nehmen, und deswegen rief sie Nancy Parker als erste auf; niemand konnte so wie Nancy die Zuhörer in Bann halten.

Die Mitschüler verstummten, als Nancy anmutig nach vorne trat; auch die zwei oder drei Mädchen, die sie insgeheim verachteten, mußten, wenn sie ihren Erlebnisbericht vortrug, Entzücken vortäuschen (so beliebt war sie), und den Jungen, deren größtes Vergnügen darin bestand, sie auf dem Pausenhof unter Gekreisch auf den Boden zu schubsen, blieb nichts weiter übrig, als sie mit albern zaghaftem Lächeln anzublicken.

»Also …«, fing sie an und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund; die ganze Klasse lachte.

»Aber Nancy«, sagte Miss Price. »Du kennst doch die Regel mit dem Also, wenn man mit einem Erlebnisbericht beginnt.«

Nancy kannte die Regel; sie hatte sie nur verletzt, um die Lacher einzuheimsen. Sie unterdrückte ein Kichern, strich mit den zarten Zeigefingern über die Seitennähte ihres Rocks und begann, diesmal richtig, von vorn. »Am Freitag hat meine ganze Familie einen Ausflug im neuen Wagen von meinem Bruder gemacht. Mein Bruder hat sich letzte Woche einen neuen Pontiac gekauft, und er wollte uns alle auf eine Fahrt mitnehmen – um den Wagen mal auszuprobieren und so. Wir sind in die Innenstadt von White Plains gefahren und haben dort in einer Wirtschaft zu Abend gegessen, und hinterher wollten wir alle ins Kino, in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber mein Bruder hat gesagt, der Film wär’ zu gruslig und so, und ich wär’ noch zu jung dafür – oh, war ich vielleicht sauer auf ihn! Und sonst, Moment. Am Samstag war ich den ganzen Tag zu Hause und hab meiner Mutter geholfen, das Brautkleid für meine Schwester zu nähen. Meine Schwester ist nämlich verlobt, und meine Mutter näht das Brautkleid für sie. Das war am Samstag, und am Sonntag ist ein Freund von meinem Bruder zum Abendessen gekommen, und später am Abend mußten die zwei zum College zurück, und ich hab’ lang aufbleiben und mich von ihnen verabschieden dürfen und so, und ich glaub’, das war alles.« Nancy hatte immer ein sicheres Gespür dafür, wie man sich kurzfaßt – oder vielmehr, wie man das Ganze kürzer erscheinen läßt, als es tatsächlich gewesen war.

»Sehr gut, Nancy«, sagte Miss Price. »Wer ist der nächste?«

Der nächste war Warren Berg; er schritt nach vorne und rückte sich dabei sorgfältig die Hose zurecht. »Am Samstag bin ich zum Mittagessen rüber zu Bill Stringer«, begann er in seinem unverblümten Von-Mann-zu-Mann-Stil; in der vorderen Reihe rutschte Bill Stringer vor Verlegenheit hin und her. Berg und Bill Stringer waren dicke Freunde, und ihre Erlebnisberichte überschnitten sich oft. »Nach dem Essen sind wir mit dem Rad in die Innenstadt von White Plains gefahren. Bloß daß wir dann Dr. Jekyll und Mr. Hyde gesehn haben.« An dieser Stelle nickte er in Richtung Nancy, die, als sie einen leisen, neidischen Seufzer hören ließ, erneut ein paar Lacher einheimste. »Der Film war übrigens echt gut«, fuhr er mit wachsender Begeisterung fort. »Es geht da um so ’nen Typ, der …«

»Um einen Mann, der«, korrigierte Miss Price.

»Um einen Mann, der irgend so was Chemisches zusammenmixt und das Zeug dann trinkt. Und jedesmal wenn er’s trinkt, verwandelt er sich in ein richtiges Ungeheuer. Du siehst erst, wie er das Zeug trinkt, und dann, wie seine Hände auf einmal ganz schuppig werden, als wär’ er ein Reptil oder so, und dann, wie sich sein Gesicht in ein richtiges Gruselgesicht verwandelt – mit Fangzähnen und so. Die direkt aus dem Mund rausragen.«

Die Mädchen schüttelten sich vor Vergnügen. »Tja«, sagte Miss Price, »ich glaube, es war wohl doch klug von Nancys Bruder, daß er sie das nicht sehen lassen wollte. Und was hast du dann nach dem Film getan, Warren?«

Ein enttäuschtes »Oooch!« ging durch die Klasse – jeder wollte noch mehr über die Schuppen und Fangzähne hören –, aber Miss Price hatte es gar nicht gern, wenn die Erlebnisberichte in Nacherzählungen von Filmen ausarteten. Ohne große Begeisterung fuhr Warren fort, nach dem Film hätten sie bloß noch bei Bill Stringer im Hof herumgealbert, bis zur Abendbrotzeit. »Und am Sonntag«, sagte er, wieder munterer, »ist Bill Stringer zu mir gekommen, und mein Dad hat uns geholfen, ’nen alten Reifen auf ein langes Seil zu ziehen. Das Seil hängt an ’nem Baum. Hinter unserm Haus ist doch so ein steiler Abhang – wie ’ne Schlucht –, und wir montieren also den Reifen ans Seil, und dann hältst du dich dran fest, läufst ein kurzes Stück, hebst irgendwann die Füße hoch, und schon rauschst du über die ganze Schlucht und wieder zurück.«

»Das hört sich ja toll an«, sagte Miss Price und warf einen Blick auf ihre Uhr.

»Und ob das toll ist«, bestätigte Warren. Aber dann fügte er, sich wieder die Hose zurechtrückend, mit gerunzelter Stirn hinzu: »Klar, ist auch ganz schön gefährlich. Wenn du den Reifen losläßt oder so, dann stürzt du übel ab. Brauchst bloß auf ’nen Stein oder so was zu knallen, und schon hast du dir’s Bein oder’s Rückgrat gebrochen. Aber mein Dad hat gemeint, er vertraut darauf, daß wir gut auf uns aufpassen.«

»Na schön, Warren, ich fürchte, mehr Zeit haben wir dafür nicht«, sagte Miss Price. »Für einen Erlebnisbericht reicht’s gerade noch. Wer möchte? Arthur Cross?«

Ein leises Stöhnen ertönte, denn Arthur Cross galt als der größte Langweiler der Klasse, und seine Erlebnisberichte waren immer zum Einschlafen. Diesmal handelte es sich um die dröge Schilderung eines Besuches bei seinem Onkel auf Long Island. An irgendeiner Stelle unterlief ihm ein Versprecher – er sagte »Botormoot« statt »Motorboot« –, worauf alle lachten, mit jenem spöttischen Unterton, den sie sich eigens für Arthur Cross vorbehielten. Doch das Gelächter erstarb jäh, als sich ein rauhes, trockenes Krächzen aus der hinteren Reihe hineinmischte. Vincent Sabella lachte ebenfalls, so daß die gelben Zähne deutlich zu sehen waren; alles starrte ihn an, bis er schließlich verstummte.

Als die Erlebnisberichte beendet waren, begann der Unterricht. An Vincent Sabella dachten die Kinder eigentlich erst wieder in der großen Pause, und da auch nur insofern, als sie darauf achteten, ihn von allem auszuschließen. Er befand sich weder unter den Jungen, die sich um eine Reckstange scharten und der Reihe nach einen Felgaufschwung vollführten, noch stand er bei denen, die in der hinteren Ecke des Pausenhofs flüsternd den Plan ausheckten, Nancy Parker auf den Boden zu schubsen. Genausowenig gehörte er zu denen, die – eine größere Gruppe, darunter sogar Arthur Cross – einander im Kreis hinterherjagten, eine stürmische Variante des Fangspiels. Zu den Mädchen konnte er sich natürlich nicht stellen, auch nicht zu den Jungen aus den anderen Klassen, und so stellte er sich eben zu keinem. Er verharrte am Rand des Pausenhofs, direkt vor dem Schulgebäude, und tat zunächst so, als sei er vollauf mit den Schnürsenkeln seiner Turnschuhe beschäftigt. Er kauerte sich auf den Boden, band die Schnürsenkel auf und zu, richtete sich auf und machte wie zur Probe ein paar federnde, leichtfüßige Schritte; dann ging er wieder in die Hocke und hantierte erneut an den Schnürsenkeln herum. Nach fünf Minuten brach er die Sache ab, hob eine Handvoll Kiesel auf und begann sie auf ein unsichtbares, mehrere Meter entferntes Ziel zu werfen. Damit verbrachte er abermals fünf Minuten, aber noch blieben weitere fünf Minuten übrig, und ihm fiel nichts anderes mehr ein, als einfach dazustehen, die Hände zunächst in den Taschen, dann in die Hüften gestemmt, schließlich mit männlich über der Brust verschränkten Armen.

Miss Price stand im Eingang und sah sich das alles mit an; die ganze Pause über fragte sie sich, ob sie in den Hof gehen und einschreiten sollte. Dann entschied sie sich doch lieber dagegen.

Auch tags darauf gelang es ihr, diesen Drang während der Pause zu unterdrücken, und so an jedem weiteren Tag dieser Woche, obwohl es ihr von Mal zu Mal schwerer fiel. Eines jedoch ließ sich nicht unterdrücken – daß ihre wachsende Befangenheit im Unterricht sichtbar wurde. Sämtliche Fehler, die Vincent Sabella bei den Schularbeiten beging, sah sie ihm öffentlich nach, selbst solche, die mit dem Umstand, daß er noch neu war, gar nichts zu tun hatten, wohingegen sie seine Leistungen eigens hervorhob. Daß sie den Jungen unbedingt fördern wollte, war allzu offensichtlich, vor allem dann, wenn sie es auf besonders geschickte Weise versuchte; als sie zum Beispiel einmal eine Rechenaufgabe erläuterte, sagte sie: »Also angenommen, Warren Berg und Vincent Sabella gehen in einen Laden, und jeder hat fünfzehn Cent; eine Zuckerstange kostet zehn Cent. Wie viele Zuckerstangen hat dann jeder?« Am Ende der Woche war der Junge auf dem besten Weg, zur schlimmsten Sorte von Lieblingsschülern zu werden – zum Opfer eines mitleidigen Lehrers.

Am Freitag kam Miss Price zu dem Schluß, es wäre wohl am besten, mit ihm einmal unter vier Augen zu sprechen und zu versuchen, ihn aus der Reserve zu locken.

Sie könnte etwas zu den Bildern sagen, die er im Kunstunterricht gemalt hatte, das wäre womöglich ein guter Einstieg; jedenfalls beschloß sie, die Sache in der Mittagspause in Angriff zu nehmen.

Das einzige Problem bestand darin, daß die Mittagspause neben der großen Pause für Vincent Sabella der schwierigste Teil des Tages war. Er ging nämlich nicht wie die anderen Kinder für eine Stunde nach Hause, sondern brachte sein Mittagessen in einer zerknitterten Tüte mit in die Schule und verzehrte es dann im Klassenzimmer – was immer eine peinliche Situation herbeiführte. Die Kinder, die den Raum als letzte verließen, sahen ihn, die Papiertüte in der Hand, unverändert an seinem Pult sitzen, und wenn zufällig eines wegen einer vergessenen Mütze oder eines liegengelassenen Pullis noch einmal zurückkam, überraschte es ihn, während er schon beim Essen war – vielleicht verbarg er dann ein hartgekochtes Ei vor den Blicken oder wischte sich mit der Hand verstohlen die Mayonnaise vom Mund. Es verbesserte die Situation keineswegs, als Miss Price nun, das Klassenzimmer noch halb voll mit Kindern, auf ihn zutrat, sich anmutig auf die Kante des Nachbartisches setzte und damit zu verstehen gab, daß sie sich ein Stück ihrer Mittagspause abknapste, um bei ihm zu sein.

»Vincent«, begann sie, »ich wollte dir schon die ganze Zeit sagen, wie gut mir deine Bilder gefallen haben. Sie sind wirklich sehr schön.«

Er murmelte etwas vor sich hin und ließ den Blick zu der Gruppe von Kindern wandern, die soeben zur Tür hinausgingen. Miss Price sprach einfach weiter und setzte ihr Loblied auf die Bilder lächelnd fort; als sich die Tür hinter dem letzten Kind geschlossen hatte, konnte er ihr endlich seine Aufmerksamkeit schenken. Er tat das zunächst nur sehr zaghaft; doch je länger sie redete, um so mehr schien er sich zu entspannen, bis sie schließlich merkte, daß sie ihn tatsächlich beruhigte. Es war so einfach und zufriedenstellend, als streichle man eine Katze. Sie hatte das Thema Bilder mittlerweile beendet und dehnte nun ihr Lob triumphierend auf weitere Felder aus. »Es ist nie leicht«, sagte sie, »wenn man an eine neue Schule kommt und sich auf die … na ja, auf die neue Arbeit und die neuen Arbeitsmethoden einstellen muß, und ich glaube, bis jetzt hast du deine Sache sehr gut gemacht. Das glaube ich wirklich. Aber sag mal, meinst du denn, es wird dir bei uns gefallen?«

Er blickte kurz zu Boden und antwortete: »Denk’ schon«; dann wandte er sich ihr wieder zu.

»Das freut mich sehr. Bitte laß dich nicht beim Essen stören, Vincent. Iß ruhig weiter, das heißt, wenn’s dir nichts ausmacht, daß ich hier bei dir sitze.« Inzwischen war es allerdings mehr als klar, daß ihm dieser Umstand überhaupt nichts ausmachte; er begann ein Lyoner-Sandwich auszupacken, und sie hatte das sichere Gefühl, daß er die ganze Woche über noch nie so einen gesunden Appetit gehabt hatte. Es hätte nun nicht einmal mehr eine große Rolle gespielt, wenn ein Mitschüler hereingekommen wäre und ihm zugesehen hätte, andererseits war es wohl auch ganz gut, daß das nicht geschah.

Miss Price machte es sich auf dem Pult ein wenig bequemer, schlug die Beine übereinander und ließ einen der schlanken, bestrumpften Füße ein Stück aus dem Mokassin gleiten. »Natürlich«, fuhr sie fort, »dauert es immer ein bißchen, bis man sich in einer neuen Schule einigermaßen zurechtgefunden hat. Für ein neues Klassenmitglied zum Beispiel ist es, na ja, nie leicht, sich mit den übrigen Schülern anzufreunden. Ich meine damit, du mußt dir keine Sorgen machen, wenn die anderen am Anfang ein bißchen unhöflich zu dir sind. In Wirklichkeit sind sie genauso wie du darauf aus, Freundschaften zu schließen, sie sind bloß etwas schüchtern. Es braucht eben alles ein wenig Zeit und Mühe, bei dir wie bei ihnen. Nicht gar so viel, natürlich, aber doch ein wenig. Diese Erlebnisberichte zum Beispiel, die wir montags morgens haben – die eignen sich sehr gut dazu, daß man einander besser kennenlernt. Normalerweise fühlt sich niemand verpflichtet, einen Erlebnisbericht vorzutragen; so etwas tut man bloß, wenn man Lust dazu hat. Und das ist nur eine Möglichkeit, anderen die eigene Person näherzubringen; es gibt noch viele, viele weitere Möglichkeiten. Vor allem mußt du immer dran denken, daß Freundschaften zu schließen zu den natürlichsten Sachen der Welt gehört und daß es bloß eine Frage der Zeit ist, bis du so viele Freunde hast, wie du willst. Zunächst einmal, Vincent, hoffe ich doch, daß du wenigstens mich als deinen Freund betrachtest und daß du dich nicht genierst, zu mir zu kommen, wenn du einen Rat oder sonst etwas brauchst. Willst du das tun?«

Er nickte und schluckte dabei einen Bissen hinunter.

»Gut.« Sie stand auf und strich sich den Rock über den langen Schenkeln glatt. »So, jetzt muß ich gehen, sonst verpaß ich noch mein Mittagessen. Aber ich bin froh, daß wir mal ein bißchen miteinander geredet haben, Vincent, und ich hoffe, es wird nicht das letzte Mal sein.«

Es war vermutlich ein Glück, daß sie aufgestanden war, denn hätte sie noch eine Minute länger auf dem Pult gesessen, dann hätte Vincent Sabella die Arme um sie geschlungen und sein Gesicht im warmen Flanell ihres Schoßes vergraben, und mehr wäre nicht nötig gewesen, um die engagierteste und phantasievollste aller Lehrerinnen aus der Fassung zu bringen.

Als Miss Price dann am Montagmorgen zu den Erlebnisberichten aufrief, war sie vollkommen überrascht, denn Vincent Sabellas ungewaschene Hand zählte zu denen, die als erste und am eifrigsten in die Höhe gingen. Besorgt erwog sie zunächst, jemand anders anfangen zu lassen, aber aus Angst, seine Gefühle zu verletzen, sagte sie dann doch so sachlich wie möglich: »Bitte schön, Vincent.«

Ein gedämpftes, kaum hörbares Kichern ging durch die Klasse, als der Junge zuversichtlich nach vorne trat und sich seinem Publikum zuwandte. Er wirkte allzu zuversichtlich: gewisse Anzeichen – die Haltung der Schultern, das Schimmern in den Augen – ließen darauf schließen, daß er von schrecklicher Panik erfaßt war.

»Am Samstag hab’ ich mir den Film da angeguckt«, verkündete er.

»Angesehen, Vincent«, korrigierte Miss Price sanft.

»Mein’ ich doch«, sagte er, »hab’ ich mir den Film da angeschaut. Dr. Schleckermaul und Mr. Hide.«

Ein wildes, vergnügtes Gelächter brach aus, und alle berichtigten im Chor: »Doktor Jekyll!«

Bei dem Lärm konnte er nicht weitersprechen. Miss Price stand wütend auf. »So ein Fehler kann jedem mal passieren!« sagte sie. »Ihr habt überhaupt keinen Grund, so unhöflich zu sein. Erzähl weiter, Vincent, und bitte entschuldige diese völlig alberne Unterbrechung.« Das Gelächter klang ab, aber alle schüttelten noch spöttisch den Kopf. So ein Fehler wäre natürlich keinem passiert; hier erwies sich, daß der Junge nicht nur ein hoffnungsloser Dummkopf, sondern auch ein Lügner war.

»Mein’ ich doch«, fuhr er fort, »Dr. Schlecker und Mr. Hide. Hab’ ich ’n bißchen verwechselt. Jedenfalls, ich hab’ gesehn, wie ihm seine Zähne und so aus’m Mund rausgekommen sind, und das war schon toll. Und dann am Sonntag sind meine Mutter und mein Vater hergekommen, daß sie mich in ihrem Wagen mitnehmen. In so ’nem Buick. Mein Vater sagt: Vinny, Lust auf ’nen kleinen Ausflug? Ich sag’: Klar, wo soll’s ’n hin? Da sagt er: Wo de willst. Und da sag’ ich: Kutschiern wir einfach ’n Stück durch die Gegend, fahrn auf irgend’ne große Straße und machen uns ’nen schönen Tag. Und da kutschiern wir dann los – also bestimmt achtzig bis hundert Kilometer – und fahrn so auf’m Highway, und auf einmal hängt uns ’n Bulle hintendran. Mein Vater sagt: Keine Angst, den schütteln wir ab, und drückt voll auf die Tube. Meine Mutter kriegt ganz schön die Muffe, aber mein Vater sagt: Keine Angst, Schatz. Er will nämlich abbiegen, daß er vom Highway runterkommt und den Bullen abhängt. Aber grad wie er abbiegt, da legt der Bulle auf einmal los und fängt an zu schießen.«

Die paar Mitschüler, die es über sich brachten, ihn anzuschauen, hatten inzwischen den Kopf zur Seite geneigt und fixierten ihn mit halboffenem Mund, etwa so, wie man einen gebrochenen Arm oder einen Zirkusclown anstarrt.

»Wir haben’s grad noch geschafft«, fuhr Vincent mit schimmernden Augen fort, »bloß die eine Kugel hat mein’n Vater an der Schulter erwischt. Hat ihm nich groß weh getan – war nämlich nur ’n Streifschuß –, und meine Mutter hat ihm dann ’nen Verband drumgemacht und so, aber mit dem Fahren war’s halt erst mal aus, und wir haben ihn zu ’nem Arzt bringen müssen. Und da sagt mein Vater: Vinny, meinste, du kannst ’n Stück fahren? Ich sag’: Klar, wenn de mir zeigst, wie. Und da zeigt er mir, wie man aufs Gas drückt und auf die Bremse und so, und da bin ich dann zum Arzt kutschiert. Meine Mutter sagt: Bin richtig stolz auf dich, Vinny, bist ganz allein gefahren. Jedenfalls, wir sind dann zum Arzt, und dort is’ mein Vater versorgt worden und so, und dann is’ er mit uns wieder nach Haus gefahrn.« Er war außer Atem. Nach einer unbehaglichen Pause sagte er: »Und das war alles.« Dann ging er rasch zu seinem Platz zurück; der steife Stoff seiner neuen Cordhose erzeugte bei jedem Schritt einen leisen Pfeifton.

»Na, das war ja sehr … sehr unterhaltsam, Vincent«, sagte Miss Price; sie versuchte so zu tun, als wäre überhaupt nichts geschehen. »Schön, wer möchte als nächster?« Niemand meldete sich.

An diesem Tag gestaltete sich die große Pause für ihn noch schlimmer als sonst; zumindest war dies so, bis er einen Ort gefunden hatte, wo er sich verbergen konnte – einen schmalen, lediglich mit ein paar Notausgängen versehenen Betonkorridor, der zwischen zwei Gebäudeteilen der Schule hindurchführte. Es war dort beruhigend düster und kühl – er blieb, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, stehen und beobachtete den Eingang; der Pausenlärm war so weit weg wie der Sonnenschein. Aber als es schließlich läutete, mußte er wieder zurück in die Klasse; eine Stunde später war Mittagspause.

Miss Price ließ ihn allein, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatte. Dann verharrte sie, die Hand am Türgriff, eine volle Minute vor dem Klassenzimmer und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Schließlich trat sie ein und setzte sich zu einem weiteren kleinen Gespräch neben ihn; er war gerade dabei, den Rest eines mit Paprikakäse belegten Sandwiches hinunterzuschlucken.

»Vincent«, begann sie, »dein Erlebnisbericht heute morgen hat uns allen gefallen, aber ich glaube, es hätte uns noch besser – viel besser – gefallen, wenn du uns statt dessen etwas aus deinem wirklichen Leben erzählt hättest. Ich meine«, fuhr sie rasch fort, »mir ist zum Beispiel aufgefallen, daß du heute morgen eine hübsche neue Windjacke angehabt hast. Die ist doch neu, oder? Hat sie dir deine Tante am Wochenende gekauft?« Er bestritt es nicht.

»Na, dann hättest du uns doch erzählen können, wie du mit deiner Tante in das Geschäft gegangen bist, um die Jacke zu kaufen, und was du dann hinterher so alles gemacht hast. Das wäre ein richtig guter Erlebnisbericht geworden.« Sie hielt einen Moment inne und sah ihm zum erstenmal unverwandt in die Augen. »Du verstehst doch, was ich damit sagen will, Vincent, oder?«

Er wischte sich ein paar Brotkrümel von den Lippen, blickte zu Boden und nickte.

»Und du denkst das nächste Mal dran, ja?«

Er nickte erneut. »Darf ich mal bitte kurz raus, Miss Price?«

»Natürlich.«

Er ging auf die Knabentoilette und übergab sich. Dann wusch er sich das Gesicht, trank einen Schluck Wasser und kehrte ins Klassenzimmer zurück. Miss Price war inzwischen an ihrem Pult beschäftigt und blickte nicht auf. Um sich nicht noch einmal mit ihr einlassen zu müssen, schlenderte er hinaus in die Garderobe und setzte sich auf eine der langen Bänke, wo er einen liegengebliebenen Überschuh aufhob und in den Händen hin und her drehte. Kurz darauf hörte er das Geplapper zurückkehrender Kinder; um nicht in der Garderobe entdeckt zu werden, stand er auf und ging zum Notausgang. Als er die Tür aufschob, stellte er fest, daß sie in den Durchgang führte, wo er sich heute morgen versteckt hatte, und schlüpfte nach draußen. Einen Augenblick stand er einfach da und betrachtete die blanke Betonmauer; dann fand er in der Hosentasche ein Stück Kreide und schrieb alle unflätigen Ausdrücke, die ihm gerade einfielen, in dreißig Zentimeter großen Blockbuchstaben an die Wand. Er hatte bereits vier Wörter geschrieben und versuchte sich an ein fünftes zu erinnern, da hörte er hinter sich an der Tür ein Schlurfen. Arthur Cross stand da, hielt die Tür auf und las mit großen Augen, was er an die Mauer gekritzelt hatte. »Mann«, sagte Arthur mit ehrfürchtigem Flüstern. »Mann, dafür kriegen sie dich dran. Dafür kriegen sie dich echt dran.«

Erschrocken, aber dann plötzlich vollkommen ruhig ließ Vincent Sabella die Kreide in der Hand verschwinden, hakte die Daumen unter den Gürtel und wandte sich Arthur mit drohendem Blick zu. »Ah ja?« sagte er. »Wer will mich denn verpetzen?«

»Also verpetzen will dich keiner«, sagte Arthur Cross beklommen, »aber es wär’ besser für dich, wenn du nicht solche Wörter …«

»Alles klar«, sagte Vincent und trat einen Schritt vor. Seine Augen waren schmale Schlitze, er hatte die Schultern eingezogen und den Kopf vorgeschoben, wie Edward G.Robinson. »Alles klar. Mehr will’ch nich’ wissen. Kann nämlich Petzer nich’ leiden, kapiert?«

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da erschienen Warren Berg und Bill Stringer an der Tür – gerade rechtzeitig, um das, was er sagte, noch mitzubekommen und die Wörter an der Mauer zu sehen; Vincent wandte sich ihnen zu. »Und das gilt auch für euch, kapiert?« sagte er. »Alle beide.«

Das Erstaunliche war, daß sich die Gesichter der beiden zu dem gleichen albernen, beschwichtigenden Lächeln verzogen, das auch Arthur Cross aufsetzte. Erst als sie einander kurz angesehen hatten, waren sie imstande, Vincents Blick mit dem gebührenden Maß an Verachtung zu erwidern, aber da war es bereits zu spät. »Hältst dich wohl für ganz schön schlau, Sabella, eh?« sagte Bill Stringer.

»Kann dir doch egal sein, was ich find’«, erklärte Vincent. »Du hast gehört, was ich gesagt hab’. Und jetzt gehn wir wieder rein.«

Den anderen blieb nichts weiter übrig, als zur Seite zu treten, ihm den Weg frei zu machen und ihm völlig verblüfft in die Garderobe zu folgen.

Nancy Parker war es, die petzte – obwohl man es bei jemandem wie Nancy Parker natürlich nicht unbedingt als Petzen bezeichnen konnte. Sie hatte von der Garderobe aus alles mitgehört; sobald die Jungen hereinkamen, warf sie einen verstohlenen Blick in den Durchgang, sah die Wörter an der Mauer, setzte ein strenges Stirnrunzeln auf und begab sich unverzüglich zu Miss Price. Miss Price war gerade dabei, die Klasse für den Nachmittag zur Ordnung zu rufen, als Nancy auf sie zutrat und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Die beiden verschwanden in der Garderobe – von wo kurz darauf das Zuschlagen der Notausgangstür ertönte –, und als sie in die Klasse zurückkehrten, war Nancy vor lauter Gerechtigkeitssinn rot im Gesicht, Miss Price hingegen leichenblaß. Der Vorfall fand keine Erwähnung. Der Unterricht nahm den ganzen Nachmittag über seinen gewöhnlichen Verlauf, aber es ließ sich nicht übersehen, daß Miss Price außer sich war, und erst als sie die Kinder um fünfzehn Uhr entließ, brachte sie die Sache zur Sprache. »Vincent Sabella bleibt bitte noch auf seinem Platz.« Sie nickte den übrigen Schülern zu. »Das war’s für heute.«

Während das Klassenzimmer sich leerte, setzte sie sich ans Pult, schloß die Augen, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den schmalen Nasenrücken und versuchte sich Einzelheiten eines Buches über schwer verhaltensgestörte Kinder ins Gedächtnis zu rufen, das sie irgendwann einmal gelesen und an das sie nur noch vage Erinnerungen hatte. Alles in allem hätte sie die Verantwortung für Vincent Sabellas Einsamkeit vielleicht nie übernehmen dürfen. Vielleicht verlangte die ganze Sache nach einem Spezialisten. Sie holte tief Luft.

»Komm doch mal her und setz dich neben mich, Vincent«, sagte sie; als er Platz genommen hatte, blickte sie ihm ins Gesicht. »Ich möchte, daß du mir die Wahrheit sagst. Hast du diese Wörter draußen an die Wand geschrieben?«

Er starrte zu Boden.

»Schau mich an«, sagte sie; er schaute sie an. Sie hatte noch nie so hübsch ausgesehen: die Wangen waren leicht gerötet, die Augen leuchteten, und ihr lieblicher Mund hatte sich zu einem Ausdruck verlegenen Mißfallens verzogen. »Zunächst einmal«, sagte sie und reichte ihm eine kleine, mit Plakatfarbe verschmierte Emailschüssel, »möchte ich, daß du mit dieser Schüssel zur Knabentoilette gehst und sie mit warmem Wasser und Seife füllst.« Er kam der Aufforderung nach; als er, die Schüssel sorgsam so haltend, daß das Seifenwasser nicht überschwappte, wieder zurückkehrte, kramte sie aus der unteren Pultschublade ein paar alte Lappen hervor. »Hier«, sagte sie, wählte einen der Lappen aus und schob die Schublade sachlich zu. »Damit wird’s gehen. Den machst du naß.« Sie führte ihn zum Notausgang, stellte sich in den Durchgang und sah ihm schweigend zu, wie er die Wörter abwusch.

Als er die Aufgabe erledigt hatte und Lappen und Schüssel weggeräumt waren, setzten sich die beiden wieder an Miss Prices Pult. »Du glaubst jetzt bestimmt, ich bin dir böse, Vincent«, sagte sie. »Nein, bin ich nicht. Ich wünschte fast, ich wäre es – das würde das Ganze viel einfacher machen –, aber ich bin einfach nur verletzt. Ich wollte ein guter Freund für dich sein, und ich glaube, du wolltest auch mein Freund sein. Aber so etwas … also es fällt schon sehr schwer, mit jemand gut Freund zu sein, der so etwas tut.«

Dankbar sah sie, daß er Tränen in den Augen hatte. »Vincent, vielleicht verstehe ich ein paar Dinge besser, als du denkst. Vielleicht verstehe ich auch, daß jemand, der so etwas tut, es manchmal gar nicht deswegen tut, weil er einen anderen damit verletzen will, sondern weil er unglücklich ist. Er weiß, daß er was Schlimmes tut, und er weiß auch, daß er hinterher nicht glücklicher ist, aber er tut es trotzdem. Und wenn er dann merkt, daß er einen Freund verloren hat, ist er furchtbar traurig, aber dann ist es schon zu spät. Getan ist getan.«

Sie ließ diese ernste Bemerkung kurz in der Stille des Zimmers widerhallen, dann sprach sie weiter. »Ich kann das nicht einfach vergessen, Vincent. Aber vielleicht können wir trotzdem Freunde bleiben, bloß dieses eine Mal – solange ich davon ausgehen kann, daß du mich nicht verletzen wolltest. Du mußt mir allerdings versprechen, daß du es ebenfalls nicht vergißt. Denk immer daran: Wenn du so etwas tust, dann verletzt du diejenigen, die sehr gern deine Freunde wären, und damit verletzt du dich selbst. Versprichst du mir, daß du immer daran denken wirst, Engelchen?«

Das »Engelchen« kam so unwillkürlich wie die schlanke Hand, die sich auf die Schulter seines Pullis legte; beides sorgte dafür, daß er den Kopf noch tiefer hängen ließ.

»Gut«, sagte sie. »Jetzt darfst du gehen.«

Er holte seine Windjacke aus der Garderobe und verließ, ihren müden unsicheren Blick meidend, den Raum. Die Gänge waren verwaist, und bis auf das dumpfe Klopfen eines Mops, den der Hausmeister immer wieder gegen eine ferne Wand schob, herrschte Stille. Vincents Schritte auf den Gummisohlen gesellten sich zu der Stille ebenso wie das einsame leise Geräusch, das ertönte, als er den Reißverschluß seiner Jacke hochzog, und das sanfte Seufzen der mächtigen, automatischen Eingangstür. In dieser Stille war der Schreck um so größer, als er – er hatte bereits ein paar Meter auf dem betonierten Fußweg zurückgelegt – auf einmal merkte, daß zwei Jungen neben ihm gingen: Warren Berg und Bill Stringer. Die beiden lächelten ihn erwartungsvoll, beinahe freundlich an.

»Und, was hat sie mit dir gemacht?« fragte Bill Stringer.

Total überrumpelt, hätte es Vincent fast nicht rechtzeitig geschafft, sein Edward-G.-Robinson-Gesicht aufzusetzen. »Geht euch nix an«, sagte er und ging schneller.

»Nein … hey, jetzt wart doch mal«, sagte Warren Berg; die beiden fielen in Trab, um mit ihm Schritt zu halten. »Was hat sie denn nun gemacht? Hat sie dich zusammengeschissen, oder was? Hey, jetzt warte doch mal, Vinny.«

Der Name ließ ihn am ganzen Leib erzittern. Er stemmte die Hände in die Jackentaschen und zwang sich dazu, weiterzugehen; dann sagte er mit bemüht ruhiger Stimme: »Geht euch überhaupt nix an, hab’ ich gesagt. Laßt mich in Ruhe.«

Aber die beiden waren inzwischen auf gleicher Höhe mit ihm. »Mann, die hat dich doch garantiert richtig zur Sau gemacht«, fuhr Warren Berg unbeirrt fort. »Was hat sie denn gesagt? Na komm, erzähl schon, Vinny.«

Diesmal war der Name zuviel für ihn. Sein Widerstand brach, die Knie gaben ihm nach, und sein Schritt verlangsamte sich zu einem trägen Schlendern, was nun immerhin ein Gespräch zuließ. »Nix hat sie gesagt«, erklärte er schließlich; und nach einer theatralischen Pause fügte er hinzu: »Sie hat statt dessen ’s Lineal sprechen lassen.«

»Das Lineal? Du meinst, sie ist mit dem Lineal auf dich los?« Die beiden machten ein fassungsloses Gesicht, entweder vor Ungläubigkeit oder vor Bewunderung, aber je länger sie zuhörten, um so mehr sah es nach Bewunderung aus.

»Auf die Fingerknöchel«, sagte Vincent mit zusammengepreßten Lippen. »Auf jede Hand fünfmal. Sie sagt: Mach mal ’ne Faust. Leg sie da aufs Pult. Dann nimmt se ’s Lineal, und Patsch! Patsch! Patsch! Fünfmal. Wenn ihr nich’ völlig bescheuert seid, könnt ihr euch sicher denken, wie weh das tut.«

Miss Price, die sich, während die Eingangstür leise hinter ihr zuging, den Kamelhaarmantel zuknöpfte, traute kaum ihren Augen. Das konnte nicht Vincent Sabella sein – dieser durch und durch normale, durch und durch glückliche, von aufmerksam zuhörenden Freunden flankierte Junge da vorn auf dem Gehweg. Aber er war es, und bei diesem Anblick hätte sie vor Freude und Erleichterung am liebsten laut aufgelacht. Was auch immer passiert war, alles schien gut zu werden. Ganz gleich, wie oft sie sich in guter Absicht durchs Dunkel getastet hatte, so etwas hätte sie niemals vorhersehen und schon gar nicht herbeiführen können. Aber es war so, und es bewies einmal mehr, daß sie das Verhalten von Kindern niemals begreifen würde.

Sie beschleunigte den anmutigen Schritt, überholte die Jungen und lächelte ihnen im Vorbeigehen zu. »Schönen Abend noch, Jungs«, rief sie, wie um sie fröhlich zu segnen; als sie dann die drei verblüfften Gesichter sah, wurde ihr Lächeln noch breiter, und sie sagte verlegen: »Meine Güte, wird langsam richtig kalt, nicht wahr? Deine Windjacke hält sicher hübsch warm, Vincent. Du bist zu beneiden.« Die Jungen nickten ihr schüchtern zu; sie wünschte noch einmal einen schönen Abend, drehte sich weg und setzte ihren Weg zur Bushaltestelle fort.

Tiefes Schweigen folgte ihr. Warren Berg und Bill Stringer sahen ihr nach, bis sie hinter der Ecke verschwunden war; dann wandten sie sich Vincent Sabella zu.

»Von wegen Lineal!« sagte Bill Stringer. »Von wegen Lineal!« Empört gab er Vincent einen Schubs, so daß er stolpernd an Warren Berg stieß; der schubste ihn wieder zurück.

»Mann, du lügst ja wohl immer, Sabella, wie? Du lügst ja wohl immer!«

Durch die Schubserei aus dem Gleichgewicht gebracht, die Hände in die Jackentaschen gestemmt, versuchte Vincent vergeblich seine Würde zu bewahren. »Is’ mir doch egal, ob ihr mir glaubt!« sagte er, und weil ihm sonst nichts mehr einfiel, wiederholte er: »Is’ mir doch egal, ob ihr mir glaubt!«

Aber er ging inzwischen allein. Warren Berg und Bill Stringer waren bereits auf der anderen Straßenseite; sie bewegten sich im Rückwärtsgang und blickten in wütender Verachtung zu ihm zurück. »Das mit dem Polizisten, der auf deinen Vater geschossen hat, war genauso gelogen«, rief Bill Stringer.

»Und das mit dem Film auch«, fügte Warren Berg hinzu; dann krümmte er sich plötzlich mit gekünsteltem Lachen, formte die Hände zu einem Trichter und brüllte: »Hey, Doktor Schleckermaul!«

Der Spitzname war nicht besonders gut, klang aber echt – ein Name, der wahrscheinlich die Runde machen, sich rasch durchsetzen und hängenbleiben würde. Die beiden stießen einander an und riefen im Chor:

»Was ist, Doktor Schleckermaul?«

»Wieso läufst du nicht gleich mit Miss Price nach Hause, Doktor Schleckermaul?«

»Tschüs, Doktor Schleckermaul!«

Ohne sie zu beachten, marschierte Vincent Sabella weiter und wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann machte er kehrt und lenkte den Schritt wieder in Richtung Schule; er durchquerte den Pausenhof und ging zurück zum Durchgang, dessen Wand dort, wo er sie mit dem nassen Lappen abgewischt hatte, noch dunkle, kreisförmige Flecken aufwies.

Er suchte sich eine trockene Stelle, holte seine Kreide hervor und begann mit großer Sorgfalt einen Kopf im Profil zu malen; das Haar zeichnete er lang und voll, für das Gesicht ließ er sich Zeit, löschte hier und da mit feuchten Fingern und gestaltete alles wieder neu, bis es das schönste Gesicht war, das er jemals gezeichnet hatte: eine zierliche Nase, leicht geöffnete Lippen, ein Auge mit Wimpern, die so anmutig geschwungen waren wie die Flügel eines Vogels. Er legte eine Pause ein und bewunderte sein Werk mit der feierlichen Miene eines Liebhabers; dann zog er von den Lippen her einen Strich und formte ihn zu einer großen Sprechblase, in die er so zornig, daß ihm immer wieder die Kreide zwischen den Fingern zerbrach, alle Wörter schrieb, die er mittags an die Mauer gekritzelt hatte. Er wandte sich wieder dem Kopf zu, fügte ihm einen schlanken Hals an, leicht hängende Schultern und, mit kühnen Strichen, den Körper einer nackten Frau: große Brüste mit festen, kleinen Warzen, eine schmale Taille, einen Punkt als Bauchnabel, breite Hüften und Schenkel, die um ein Dreieck wütend hingekritzelter Schamhaare prangten. Zu guter Letzt schrieb er unter das Bild den Titel: »Miss Price«.

Eine kurze Weile stand er tief durchatmend da und betrachtete sein Werk; dann ging er nach Hause.

Alles, alles Gute

Niemand erwartete von Grace, daß sie am Freitag vor ihrer Hochzeit noch arbeitete. Nein, niemand hätte das zugelassen, ob sie wollte oder nicht.