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Die labile Millionärstochter Colette Goldschmidt nimmt Morphin aufgrund einer Rückenverletzung und besucht in Hamburg mit ihrer koksenden Freundin einen Sex-Club. Dort lernt sie einen attraktiven Pharmavertreter kennen. Obwohl er Colette liebt und sie Kinder bekommt, wird sie in eine katastrophale Sucht therapiert.
Es handelt sich um eine neue Ausgabe der gesellschaftskritischen Erotiknovelle. Der Autor gehört nicht zu den Impfgegnern. Tom Knocker ist ein Pseudonym von Thomas Neukum.
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Seitenzahl: 109
Tom Knocker
C O L E T T E
DER AUSGEHÖHLTE PFIRSICH
Neuveröffentlichung © 2022
Diese Wesen mögen verunreinigtes Glück genießen,
doch sie sind dem Leiden der Vergänglichkeit unterworfen
und daher des Mitgefühls würdig.
BUDDHISTISCHE WEISHEIT
Colette legte im Zug eine Morphin-Tablette auf ihre makellose rote Zunge und spülte sie mit aromatisiertem Mineralwasser aus einer Plastikflasche herunter. Dann rauschte wieder das tragische Erlebnis wie ein Bilderkarussel hinter ihrer blonden Stirn vorüber.
Sie hatte in jener Nacht eine Rasierklinge an ihre Pulsadern gehalten, als diese kleine Schlampe in das Zimmer geschlichen war. Colette versuchte ihren Namen zu vergessen. Denn ihre Freundschaft war so falsch wie ihre Titten. Sie hatte Colette's Partner – jetzt ihrem Ex-Partner – zugeflüstert, dass er wieder und wieder betrogen wurde. Es gab einen Streit.
Aber war es das wirklich wert, Selbstmord zu begehen? Und warum hatte Colette die Wohnungstür nicht verschlossen? Jedenfalls wich sie vor der Schnalle zurück, die ihr aufgrund eines schlechten Gewissens und zugleich einer guten Intuition eigentlich zur Hilfe eilen wollte. Dabei stürzte Colette allerdings so unglücklich in die Zimmerpalme, dass sie sich an der Wirbelsäule verletzte.
Ohne verschreibungspflichtige Medikamente waren die Schmerzen nicht auszuhalten. Das alles hatte sich in Bayern zugetragen. Colette war nach einem schwachen Abitur dorthin gezogen, um eine Ausbildung zur Hotelfachfrau zu machen und somit unabhängiger von ihren reichen Eltern zu werden. Doch nun kehrte sie wie ein Flüchtling durch die vorbeiziehende Herbstlandschaft zurück in ihre Heimatstadt Hamburg.
„Alles klar?“, fragte Mona auf dem Sitz nebenan. Sie war auf Colettes ausdrücklichen Wunsch alleine nach Bayern geeilt, um alles Nötige zu regeln und sie abzuholen. Monas schlanker Körper steckte in einem silbernen Mäntelchen, und ihr schwarzes Haar fiel zackig bis zur Mitte ihres hellen Halses.
Colettes Mutter mochte sie nicht. Obwohl Mona ihren Abschluss als Journalistin im zweiten Anlauf geschafft hatte, verdiente sie ihr Geld nun mit einer ganz anderen, ganz unanständigen Sache. Menschen wie sie fühlten sich grundsätzlich zu Colette hingezogen. Doch Mona war in der Nähe wie in der Ferne eine echte Freundin geblieben.
„Kennst du diese Bonbons, die nicht mehr schmecken, sobald die Füllung rausläuft?“, sagte Colette. „Genauso fühle ich mich.“
Mona tätschelte sie. „Wir rollen bereits auf den Hauptbahnhof zu.“
In der riesigen Halle wartete Colettes Familie, die Goldschmidts.
Ihr Vater erschien stämmig, rotblond und fröhlich. In jüngeren Jahren war er durch Belgien gereist. Inspiriert durch die dortige Küche, hatte er in Deutschland eine Firma für Tiefkühlpommes namens GoldschmidtZ gegründet und wurde Millionär. Manchmal hob er halb im Spaß den Zeigefinger und raunte, dies sei der Beweis für die Familienlegende, dass der Name von Juden abstamme.
Die Mutter, eine brünette Belgierin, arbeitete in einem Hospiz. In ihrer Jugend hatte sie vor Romantik geglüht. Obwohl sie noch immer Verständnis für die Leidenschaften ihrer Mitmenschen aufbrachte, bedeuteten ihr heute die stillen Freuden mehr.
Colettes jüngere Schwester, Stefanie, studierte Soziologie und Englisch mit Bestnoten. Hochgewachsen stach sie mit ihrer kastanienbraunen Mähne und einer jadegrünen Jacke aus der Masse. Sie sparte ihre Unschuld für den Richtigen auf.
Aus den Waggontüren strömten die Fahrgäste.
„Colette, mein Liebes!“, öffnete der Vater grüßend seine Arme und drückte sie leicht. „Immerhin wirkst du nicht so bucklig wie nach einem Trip zur Pfefferkuchenhexe. Dafür schnaufst du ziemlich stark. Lass mich das Gepäck tragen. Hallo auch, Mona.“
„Hallo zusammen!“
„Danke für deine aufopferungsvolle Hilfe“, lächelte Stefanie.
„Ach wo“, erwiderte Mona. „Meiner besten Freundin nicht zu helfen, das wäre ein Opfer.“
„Ihr habt die Reise also gut überstanden“, sagte die Mutter zu Colette. „Oder sind deine Beschwerden schlimm?“
„Müde bin ich hauptsächlich.“
„Ein altbewährtes Zuhause hat noch jeden Menschen neu zusammengefügt“, sagte ihr Vater. Er wandte sich zur Rolltreppe und lud Mona ein: „Du kommst doch noch auf einen Willkommensschluck mit, oder?“
„Sicher.“
Auf dem dämmrigen Parkplatz stieg Mona in ihren kleinen VW. Die große Limousine der Goldschmidts fuhr voraus.
Colette fühlte sich neben Stefanie so unsicher, dass sie deren Mitgefühl und Freude über das Wiedersehen gar nicht realisierte. Die jüngere Schwester war für die ältere in Moralfragen überlegen. Exemplarisch lebte Stefanie in einem Studentenwohnheim und beanspruchte nur selten die Annehmlichkeiten ihres Elternhauses. Dagegen würde Colette dort wieder einziehen.
Als die Autos im Hof parkten, wich die Beklemmung ein wenig von ihr. Zusammen gingen sie in die mondweiße Villa.
Eine bunte Girlande begrüßte Colette im Wohnzimmer, als hätte sie Geburtstag. Dumpf hörte sie einen Korken knallen und den Champagner in die Gläser sprudeln.
Doch ihre Mutter zögerte. „Darfst du unter Schmerzmitteln überhaupt Alkohol trinken?“
„Na, ein Glas“, nahm Colette es gedankenlos in die Hand, „das wird mich schon nicht ins Grab bringen.“
Peinliches Schweigen trat ein.
Mona wischte die Befangenheit weg: „Ja, nur in Massen genossen, macht es die Menschen verdrossen. Auf Colette!“
„Auf Colette!“
Die Blondine süffelte es leer. Doch sowie ihre Mutter das Abendessen zubereiten wollte, entschuldigte sich Colette mit schleppender Stimme: „Ich will mich einfach nur ins Bett legen.“
Stefanie hatte noch nicht mal ihren Schaum getrunken. Aber natürlich beabsichtigte niemand, Colette ihre Bedürfnisse abzusprechen.
Mona bedankte sich für das Glas Champagner. „Hiernach kann man wenigstens noch geradeaus fahren“, zwinkerte sie herausfordernd. Schließlich flüsterte sie Colette an der Haustür zu: „Erhol dich gut! Morgen machen wir 'ne richtige Party.“
Mona war die stellvertretende Managerin eines Sexclubs namens Hedonica. Als großer Raum mit roten Ledersofas, nachtblauer Bar und Drogenecken konnte er zwar nicht als innovativ gelten. Doch zum einen war das Rotlichtviertel St. Pauli nicht mehr das quirlige Mordsloch, das es in den 1980er-Jahren gewesen war, und zum anderen verstand sich Mona auf gute Publicity. Wenn sie nicht gerade Edelnutten einlud, pflegte sie auch selber Kontakt mit den Kunden und Kundinnen.
„Wir sorgen mit Kondomen und medizinischen Tests für Sicherheit“, erklärte sie Colette am Handy. „Nichtsdestoweniger bleibt jeder in unserem Club ein freies Individuum. Du musst dich am Treiben nicht beteiligen, du kannst auch einfach nur zugucken. Hast du Lust, mitzukommen?“
„Lust ... ja, schon ... aber mein traumatisches Erlebnis ...“ Colettes Antwort verlor sich in Keuchen und Schnaufen.
Gemeinsam gingen sie zu Dr. Singer, einem Allgemeinmediziner und Lungenfacharzt. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein brillanter Auswendiglerner, sportlich, einem mittelmäßigen Lebensstil treu und gleichwohl Monas Cousin. Daher tadelte und bewunderte er sie dafür, wie sie aus dem Vollen lebte.
Nach Röntgenaufnahmen, Lungenfunktions- und Blutgastests diagnostizierte er, dass Colette an Asthma litt.
„Und woher kommt das?“, fragte Mona im Sprechzimmer. „Das hatte sie doch vorher nicht.“
„Vorher hat man auch nicht, nun ja, ein gebrochenes Bein oder Krebs“, antwortete Dr. Singer und wandte sich an Colette. „Opiate wie Morphin können zwar die Atmung beeinträchtigen, aber nicht in diesem Maße. Da Sie mir gesagt haben, dass Sie unter Stress und Ängsten leiden, würde ich das für die Ursache halten.“
Colette hörte mit den Händen im Schoß zu.
„Hinsichtlich der Rückenverletzung muss ich meinem bayerischen Kollegen zustimmen, dass eine Physiotherapie sinnvoller als eine Operation ist. Ich halte insgesamt aber das Folgende für angebracht. Erstens würde ich Ihnen gerne ein Asthmaspray verschreiben, Viani. Zweitens empfehle ich ein Beruhigungsmittel als Angstblocker, und zwar einfach Valium, das Sie allerdings nur schwach dosiert in kritischen Situationen einnehmen sollten. Und drittens sollten wir das Morphin auf Tapentadol umstellen. Obwohl dieses Opioid nicht so stark ist, hat es sich bei chronischen Rückenschmerzen hervorragend bewährt. Ohne diese Änderung könnten Sie in Kombination mit dem Valium nämlich zu müde und kurzatmig werden. Sind Sie damit einverstanden?“
Woher soll ich das wissen?, dachte Colette. Dann antwortete sie: „Ja.“
„Prima, meine Assistentin wird Ihnen die Rezepte, die Anwendungserklärungen und einen weiteren Termin geben. Gute Besserung!“, verabschiedete sich Dr. Singer.
Colette gammelte zu Hause rum. Abends knabberte sie neben ihren Eltern gelangweilt Salzstangen, während alle drei eine Fernsehreportage anschauten. Ihre Mutter erzählte unaufgefordert:
„Im Hospiz haben wir einen neuen Koch, so einen Katholiken. Er wollte gesunde Gerichte wie braunen Reis mit Fenchelsalat und Olivenöl zubereiten, damit es den Sterbenden besser gehe. Aber sie haben sich alle beschwert. Was zum Henker heißt hier «besser»?, krächzte einer. Wenn ich Pech, wenn ich noch MEHR Pech habe, dann wird schon dieses Weihnachten im Welttheater ohne mich stattfinden. Drum will ich noch einmal die überzuckerten Gerichte aus meiner Kindheit schmecken! Jetzt hat es der Koch kapiert.“